Gesellschaftsrecht: Bestimmung des maßgeblichen Sitzes einer Gesellschaft in der EU nach Art. 22 Nr. 2 EuGVVO

bei uns veröffentlicht am30.10.2011

Autoren

Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

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Zusammenfassung des Autors
Sitz der Gesellschaft bestimmt sich nach der Gründungstheorie und damit grundsätzlich nach dem Satzungssitz im Herkunftsstaat-BGH-Urteil vom 12.07.11 -Az:II ZR 28/10
Der BGH hat mit dem Urteil vom 12.07.2011 (Az: II ZR 28/10) folgendes entschieden:

Wo sich der für die ausschließliche internationale Zuständigkeit nach Art. 22 Nr. 2 EuGVVO maßgebliche Sitz der Gesellschaft in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union befindet, bestimmt sich bei Klagen nach dieser Vorschrift nach der Gründungstheorie und damit grundsätzlich nach dem Satzungssitz im Herkunftsstaat.


Tatbestand:

Die Beklagte ist eine am 22. Januar 2007 nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete Private Limited Company (Limited) mit eingetragenem Sitz in B. , England. Sie ist die persönlich haftende Gesellschafterin der V. Ltd. & Co. KG, die ihren Sitz in M. , Deutschland, hat und dort ein Sportstudio betreibt. Hierauf beschränkt sich die Geschäftstätigkeit der Beklagten.

In Nr. 31 (A) des Gesellschaftsvertrags der Beklagten heißt es:

Alle Streitigkeiten zwischen Gesellschaftern sowie der Gesellschafter mit der Gesellschaft oder ihren Organen werden den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland zugewiesen, sofern die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in der Bundesrepublik Deutschland unterhält. Örtlich zuständig in der Bundesrepublik Deutschland ist dann das Gericht am Verwaltungssitz der Gesellschaft.

Der Kläger ist mit 90 von 200 Geschäftsanteilen neben T. S. Gesellschafter der Beklagten. Am 27. März 2008 beschloss die Gesellschafterversammlung in Abwesenheit des Klägers, dass er als Director der Beklagten ausscheidet und S. alleiniger Director bleibt. Außerdem wurde der Beschluss gefasst, mit S. einen Dienstvertrag über seine Unternehmensführungstätigkeit zu schließen.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger, die Beschlüsse für nichtig zu erklären, da die Gesellschafterversammlung der Beklagten, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in M. habe, nicht ordnungsgemäß einberufen worden und nicht beschlussfähig gewesen sei. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Berufungsgericht hat sie als unzulässig abgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers.


Entscheidungsgründe:

Die Revision hat keinen Erfolg.

Über die Revision des Klägers ist, obwohl die Beklagte im Verhandlungstermin vor dem Senat nicht vertreten war, durch streitiges Endurteil (unechtes Versäumnisurteil), nicht durch Versäumnisurteil, zu entscheiden, da sich die Revision auf der Grundlage des von dem Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts als unbegründet erweist.

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Die Klage sei unzulässig, weil die deutschen Gerichte international nicht zuständig seien. Ausschließlich zuständig seien gemäß Art. 22 Nr. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen  die Gerichte des Mitgliedstaates, in dem die Gesellschaft ihren Sitz habe. Bei Anwendung dieser Vorschrift sei der Sitz der Gesellschaft nach der Gründungstheorie zu bestimmen. Ausschlaggebend sei danach, in welchem Land, das heißt nach welchem Recht die Gesellschaft gegründet worden sei. Da sich der Gründungssitz der Beklagten in B. /England befinde, seien für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ausschließlich die englischen Gerichte zuständig. Die im Gesellschaftsvertrag enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung sei unwirksam.

Das Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand. Das Berufungsgericht hat die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte zu Recht verneint.

Zutreffend hält das Berufungsgericht Art. 22 Nr. 2 EuGVVO für anwendbar. Diese Vorschrift regelt die ausschließliche Zuständigkeit für Klagen, welche die Gültigkeit, die Nichtigkeit oder die Auflösung einer Gesellschaft oder juristischen Person oder die Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe zum Gegenstand haben. Ihr Anwendungsbereich ist jedenfalls dann eröffnet, wenn sich die Klage - wie im Streitfall - unmittelbar gegen Beschlüsse der Gesellschafterversammlung richtet und beantragt wird, diese Beschlüsse für nichtig zu erklären.

Die Anwendung des Art. 22 Nr. 2 EuGVVO führt, wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, zur ausschließlichen Zuständigkeit der Gerichte des Vereinigten Königreichs, da sich der Satzungssitz der Beklagten dort befindet.

Die Vorschrift des Art. 22 Nr. 2 EuGVVO weist die ausschließliche Zuständigkeit für die dort aufgeführten Klagen den Gerichten des Mitgliedstaats zu, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft oder juristische Person ihren Sitz hat. Bei der Entscheidung darüber, wo sich der für die Zuständigkeit maßgebliche Sitz der Gesellschaft oder juristischen Person befindet, hat das angerufene Gericht gemäß Art. 22 Nr. 2 Satz 2 EuGVVO die Vorschriften seines internationalen Privatrechts anzuwenden. Abzustellen ist damit - im Unterschied zu Art. 59 Abs. 1 und Art. 60 Abs. 1 EuGVVO - auf die im Forumstaat geltenden Kollisionsnormen, aus denen in Fällen der Auslandsberührung zu entnehmen ist, welches materielle Recht Anwendung findet.

Diese Regelung dient im Wesentlichen dem Zweck, die Zuständigkeit für die Entscheidung der genannten Rechtsstreitigkeiten an einem Ort zu lokalisieren, um einander widersprechende Entscheidungen über das Bestehen von Gesellschaften und die Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe zu verhindern. Zudem soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Gesellschaft ihren Sitz hat, am besten in der Lage sind, über derartige Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden. Dementsprechend wird der Zweck des Art. 22 Abs. 2 EuGVVO auch darin gesehen, die Entscheidung dem Gericht zuzuweisen, dessen materielles Recht angewendet wird.

In Deutschland ist das internationale Privatrecht, das bei Klagen gegen eine Auslandsgesellschaft festlegt, welcher Rechtsordnung deren Gesellschaftsstatut zu unterstellen ist, nicht kodifiziert. Es ergibt sich aus den - jeweils ungeschriebenen - Regeln der Sitztheorie, nach der auf den tatsächlichen Verwaltungssitz der Gesellschaft abzustellen ist, oder der Gründungstheorie, die besagt, dass das Personalstatut der Auslandsgesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats zu beurteilen ist.

Im Streitfall ist die Gründungstheorie anwendbar, da die beklagte Gesellschaft in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union gegründet wurde.

Der Senat folgt zwar im Grundsatz weiterhin der Sitztheorie.

Er hat sich aber - wie zuvor schon der VII. Zivilsenat - aufgrund der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Entscheidungen „Centros, „Überseering" und „Inspire Art" für diejenigen Auslandsgesellschaften, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums oder in einem mit diesen aufgrund eines Staatsvertrages in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit gleichgestellten Staat gegründet worden sind, der Gründungstheorie angeschlossen.

Hieran ist auch nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union „Cartesio“ festzuhalten. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof, anknüpfend an die Entscheidung „Daily Mail“, das Recht des Herkunftsstaates bekräftigt, die Voraussetzungen festzulegen, die eine Gesellschaft erfüllen muss, um als eine nach seinem Recht gegründete Gesellschaft die Niederlassungsfreiheit zu erlangen und zu erhalten. Für den Aufnahmestaat ergibt sich daraus keine Relativierung der auf die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV - früher Art. 43, 48 EGV) gestützten Vorgaben, die in der Gründungstheorie ihren Ausdruck gefunden haben.

Die Anwendung der Gründungstheorie auf Auslandsgesellschaften, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union gegründet wurden, hängt nicht davon ab, ob ein über den reinen Registertatbestand hinausgehender realwirtschaftlicher Bezug zum Gründungsstaat („genuine link“) gegeben ist.

Aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union „Cadbury Schweppes“ ergibt sich nichts Gegenteiliges. Nach dieser Entscheidung kann eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch den Herkunftsstaat gerechtfertigt sein, wenn die Beschränkung darauf abzielt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Niederlassungsfreiheit die Eingliederung in den Aufnahmemitgliedstaat ermöglichen solle, nämlich eine tatsächliche Ansiedlung der betreffenden Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat und die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem (aaO Rn. 54).
 
Demgegenüber betrifft die Forderung nach einem „genuine link“ nicht die wirtschaftliche Tätigkeit im Aufnahmestaat, sondern eine (zusätzliche) realwirtschaftliche Präsenz im Herkunftsstaat. Außerdem ist sie auf eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch den Aufnahmestaat gerichtet, nicht durch den Herkunftsstaat, der hierzu in weiterem Umfang befugt wäre.

Danach bestimmt sich der aus der Niederlassungsfreiheit folgende Schutz einer Auslandsgesellschaft vor Beschränkungen durch den Aufnahmestaat weiterhin nach den Entscheidungen „Centros“ und „Inspire Art“ des Ge-richtshofs der Europäischen Union. Der Umstand, dass eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nur gegründet wurde, um in den Genuss vorteilhafterer Rechtsvorschriften zu kommen, stellt keinen Missbrauch der vom Aufnahmestaat zu beachtenden Niederlassungsfreiheit dar, und zwar auch dann nicht, wenn die betreffende Gesellschaft ihre Tätigkeiten hauptsächlich oder ausschließlich im Aufnahmemitgliedstaat ausübt.

Da sich das im Streitfall anwendbare internationale Privatrecht aus den Regeln der Gründungstheorie ergibt, sind sie maßgebend für die Entscheidung darüber, wo sich der gemäß Art. 22 Nr. 2 Satz 2 EuGVVO zuständigkeitsbegründende Sitz der Beklagten befindet. Dies dient auch dem im Interesse einer sachkundigen Entscheidung wünschenswerten Gleichlauf von internationaler Zuständigkeit und anwendbarem materiellen Recht.

Auf die weitere Frage, ob eine Anwendung der Sitztheorie in Fällen wie dem vorliegenden zu einer (eigenständigen) Beeinträchtigung der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit führen würde kommt es danach nicht an.

Der nach der Gründungstheorie anzunehmende Sitz der Gesellschaft ist grundsätzlich der im Herkunftsstaat bestehende Satzungssitz.

Nach verbreiteter Auffassung im Schrifttum führt der Rückgriff auf die Gründungstheorie zur Bestimmung des Sitzes gemäß Art. 22 Abs. 2 Satz 2 EuGVVO ohne weiteres zur Zuständigkeit der Gerichte des Gründungsstaates, in dem sich typischerweise zugleich der Satzungssitz befindet.

Vereinzelt wird aber bezweifelt, ob die Gründungstheorie in dem Sinn an einen in bestimmter Weise definierten Gesellschaftssitz anknüpft, dass sie eine unmittelbare Aussage darüber trifft, wo sich nach ihren Regeln „der Sitz“ der Gesellschaft befindet.

Dem ist entgegenzuhalten, dass das auf die Niederlassungsfreiheit gestützte Recht einer Gesellschaft, nach dem Recht des Gründungsstaates in einem anderen Mitgliedstaat (ausschließlich) tätig zu werden, voraussetzt, dass die Gesellschaft im Gründungsstaat einen Sitz im Sinne von Art. 54 AEUV (früher Art. 48 EGV) hat, durch den ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung des Gründungsstaates festgelegt wird. Insofern ist der im Gründungsstaat bestehende Sitz einer Gesellschaft wesentlich für die Anwendung der auf der Niederlassungsfreiheit beruhenden Gründungstheorie. Dies rechtfertigt es, den im Gründungsstaat bestehenden Sitz als den für die Zuständigkeitsbestimmung gemäß Art. 22 Nr. 2 EuGVVO bei Anwendung der Gründungstheorie maßgebenden Sitz anzusehen.
 
Nach Art. 22 Nr. 2 EuGVVO sind danach grundsätzlich die Gerichte des Herkunftsstaates zuständig. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann in Betracht zu ziehen, wenn nach dem internationalen Privatrecht des Herkunftsstaates ein dortiger Sitz der Gesellschaft im Sinne von Art. 22 Nr. 2 EuGVVO zu verneinen ist.

Dieser Fall kann eintreten, wenn der Herkunftsstaat der Sitztheorie folgt und auf den tatsächlichen Verwaltungssitz im Aufnahmestaat abstellt oder wenn er den nach seinem Recht gegründeten Gesellschaften eine Verlegung ihres Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat unter Beibehaltung ihres Gesellschaftsstatuts untersagt und deren Satzungssitz im Falle eines Wegzugs aufgehoben wird.

Im Streitfall trifft aber beides nicht zu. Das Vereinigte Königreich folgt der Gründungstheorie. Überdies enthält das Recht des Vereinigten Königreichs, wie der Senat selbst feststellen kann, zu Art. 22 Nr. 2 EuGVVO eine Regelung, die im vorliegenden Fall zur Zuständigkeit der dortigen Gerichte führt. Nach Schedule 1 paragraph 10 der Civil Jurisdiction and Judgments Order 2001 hat eine Gesellschaft, die nach dem in einem Teil des Vereinigten Königreichs geltenden Recht gegründet wurde, ihren Sitz im Vereinigten Königreich (par. 10 [2 a]). Auf einen in einem anderen Mitgliedstaat bestehenden Verwaltungssitz (vgl. par. 10 [3 b]) kommt es neben dem Gründungssitz im Vereinigten Königreich nicht an (par. 10 [4 a]).

Die im Gesellschaftsvertrag getroffene Gerichtsstandsvereinbarung hat das Berufungsgericht zu Recht als unwirksam angesehen, da die nachArt. 22 Nr. 2 EuGVVO zu bestimmende Zuständigkeit eine ausschließliche ist (Art. 23 Abs. 5 EuGVVO).