Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 23. Okt. 2003 - 5 Ss 409/2003; 5 Ss 409/03

bei uns veröffentlicht am23.10.2003

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts B. vom 21. Februar 2002 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere jugendrichterliche Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

Gründe

 
I.
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - B. hat den Angeklagten am 21. Februar 2002 wegen versuchten Diebstahls sowie wegen Körperverletzung in fünf Fällen schuldig gesprochen und ihn deswegen zu der einheitlichen Jugendstrafe von acht Monaten verurteilt. Die Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung blieb einem nachträglichen Beschluss vorbehalten. Gegen dieses Urteil hat allein der Angeklagte zunächst unbestimmt Rechtsmittel eingelegt und dieses dann innerhalb der Revisionsbegründungsfrist unter Erhebung der Sachrüge als Revision bezeichnet. Gleichzeitig hat er die Revision auf den Schuldspruch wegen versuchten Diebstahls beschränkt.
II.
Die infolge wirksamer Revisionsbeschränkung insoweit lediglich erforderliche Nachprüfung des Schuldspruchs wegen versuchten Diebstahls hat aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
III.
Das Rechtsmittel hat jedoch zum mitangefochtenen Rechtsfolgenausspruch Erfolg.
Zwar hat auch die Überprüfung der vom Jugendschöffengericht festgesetzten Jugendstrafe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Gleichwohl unterliegt der Rechtsfolgenausspruch hier deshalb der Aufhebung, weil das Verfahren nach Erlass des tatrichterlichen Urteils in erheblicher Weise unter Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verzögert worden ist. Dieser im Revisionsverfahren grundsätzlich nur auf entsprechende Verfahrensrüge hin zu prüfende Umstand ist, wenn er im wesentlichen erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eintritt und vom Beschwerdeführer nicht mit der Verfahrensrüge geltend gemacht werden kann, auf die zulässige Revision eines Angeklagten in entsprechender Anwendung des § 354 a StPO von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl. etwa BGH NStZ 2001, 52).
Der seit der Verkündung des angefochtenen Urteils am 21. Februar 2002 verstrichene Zeitraum von mehr als 18 Monaten - die Akten waren nach Wiederholung der zunächst unwirksamen Urteilszustellung durch das Amtsgericht bereits Anfang September 2002 bei der Staatsanwaltschaft eingegangen - bis zur Vorlage beim Revisionsgericht Anfang September 2003, den der Senat durch Auswertung des Akteninhalts im Wege des Freibeweises festgestellt hat, ist hier unangemessen lang (vgl. ebenso, vergleichbare Zeiträume betreffend, BGH NStZ 1997, 29; NStZ 1998, 28 Nr. 16 [bei Kusch]; StV 1998, 377; NStZ-RR 2000, 41 Nr. 31 [bei Kusch]; OLG Stuttgart Justiz 2002, 375). Es liegt mithin eine erhebliche Verfahrensverzögerung vor, die allein auf die Sachbehandlung im Bereich der Justiz zurückzuführen und damit als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist.
Besonderes Gewicht erhält der Verstoß vorliegend durch das spezielle Beschleunigungsgebot im Anwendungsbereich des am Erziehungsgedanken orientierten Jugendstrafrechts (vgl. Eisenberg, JGG 9. Aufl., § 18 Rn. 15e).
An einer in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO zur Vermeidung jeder weiteren Verfahrensverzögerung an sich gebotenen eigenen abschließenden Sachentscheidung sieht sich der Senat gehindert. Eine solche kommt hier bereits deswegen nicht in Betracht, weil das Jugendschöffengericht die Verhängung von Jugendstrafe - damals zu Recht - auf das Vorhandensein von schädlichen Neigungen gestützt hat; denn diese müssen nicht nur im Zeitpunkt der Tatbegehung, sondern auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen (vgl. Eisenberg aaO § 17 Rn. 23 m. w. Nachw.), mithin auch bei einer vom Revisionsgericht entsprechend § 354 Abs. 1 StPO zu treffenden eigenen Sachentscheidung. Ob aber nach einem Zeitablauf von 19 Monaten noch von schädlichen Neigungen auszugehen ist, entzieht sich ersichtlich auch der erweiterten Beurteilungskompetenz des Revisionsgerichts.
Der Rechtsfolgenausspruch bedarf somit neuer Verhandlung und Entscheidung.

Urteilsbesprechung zu Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 23. Okt. 2003 - 5 Ss 409/2003; 5 Ss 409/03

Urteilsbesprechungen zu Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 23. Okt. 2003 - 5 Ss 409/2003; 5 Ss 409/03

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung


(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erört
Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 23. Okt. 2003 - 5 Ss 409/2003; 5 Ss 409/03 zitiert 4 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung


(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erört

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.

(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.

(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.

(2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.

(3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.