Bundesgerichtshof Beschluss, 15. März 2000 - 1 StR 35/00

bei uns veröffentlicht am15.03.2000

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 35/00
vom
15. März 2000
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. März 2000 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 27. September 1999 im Strafausspruch mit den Feststellungen zur eingeschränkten Schuldfähigkeit aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat aufgrund der Verfahrensrüge teilweise Erfolg.

I.


1. Die Strafkammer hat angenommen, beim Angeklagten habe zur Tatzeit um 2.40 Uhr eine maximale Blutalkoholkonzentration von ca. 1,7 o/oo vorgelegen. Diesen Wert hat sie auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung verlesenen Blutalkoholgutachtens über die in der Tatnacht um 4.02 Uhr entnommenen ersten Blutprobe errechnet. Eine zweite, um 4.32 Uhr entnommene Blutprobe des Angeklagten wurde auf Betäubungsmittelrückstände untersucht. Dazu hat die Kammer einen als ”Vortest” bezeichneten immunologischen Untersuchungsbericht des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg vom 24. Februar 1999 verlesen. Der Vortest war in bezug auf Drogen negativ. Er enthielt jedoch den Hinweis, Ergebnisse immunologischer Tests seien nicht beweisend, weil falschpositive oder falschnegative Befunde nicht ausschließbar seien. Der Vortest müsse durch beweissichere Untersuchungsverfahren - insbesondere Gaschromatographie und Massenspektroskopie - zur differenzierenden Untersuchung oder Konzentrationsbestimmung von Einzelsubstanzen bestätigt werden. Die Anklageschrift vom 11. Mai 1999 enthält im Ergebnis der Ermittlungen den Hinweis an das Landgericht , es seien keine Rückstände von Betäubungsmitteln festgestellt worden.
Die nicht sachverständig beratene Strafkammer hat auf der Grundlage der ärztlichen Untersuchung im Blutentnahmeprotokoll gleichwohl angenommen , der Angeklagte habe deutlich unter Alkohol- und Drogeneinfluß gestanden.
2. Die Revision trägt zutreffend vor, die Staatsanwaltschaft habe am 11. Mai 1999 ein ausführliches Gutachten beim Institut für Rechtsmedizin in
Auftrag gegeben. Dieses am 19. Juli 1999 erstellte Gutachten sei jedoch erst nach der Urteilsverkündung an das Landgericht weitergeleitet worden. Nach diesem Gutachten, das mit der Revisionsbegründung vorgelegt worden ist, enthielt das Serum des Angeklagten Kokain in einer Konzentration von 0,145 mg/L bzw. 0,042 mg/L. Dazu heißt es, Kokain sei in Serumproben nicht stabil. Es sei davon auszugehen, die Kokainkonzentration zum Zeitpunkt der Blutentnahme sei höher gewesen. Der Nachweis von Kokain im Serum sei ein Beleg für eine erhebliche akute Beeinflussung durch Kokain zum Zeitpunkt der Blutentnahme; Alkohol könne die Wirkung des Kokains verstärken. Der Angeklagte habe ”zum Zeitpunkt der Blutentnahme unter dem akuten, kombinierten Einfluß von Kokain und Alkohol” gestanden.

II.


1. Die Überprüfung des Urteils hat aufgrund der Revisionsrechtfertigung im Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. Die vollständige Aufhebung seiner Schuldfähigkeit im Sinne von § 20 StGB ist nach den Urteilsfeststellungen auszuschließen.
2. Der Strafausspruch kann jedoch keinen Bestand haben. Die Revision beanstandet zu Recht als verfahrensfehlerhaft (§ 244 Abs. 2 StPO), das Landgericht habe die verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB auf einer unvollständigen Beweisgrundlage ausgeschlossen.

a) Soweit allerdings die Strafkammer eine bereits länger andauernde Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten aufgrund eigener Sachkunde ausgeschlossen hat, ist diese tatrichterliche Würdigung rechtlich nicht zu be-
anstanden. Seiner als Zeugin gehörten Freundin ist längerer Drogenmißbrauch nicht aufgefallen. Der Angeklagte - er hat zu seiner Person und zum Tatgeschehen keine Angaben gemacht – hat in der Hauptverhandlung einen psychisch und körperlich gesunden Eindruck vermittelt.

b) Zur Beurteilung der verminderten Schuldfähigkeit durch einen akuten Rausch hätte sich die Strafkammer aufgrund der sich aus dem ärztlichen Untersuchungsbericht des Blutentnahmeprotokolls ergebenden Hinweise gedrängt sehen müssen, die Einflüsse der Kombination aus Alkohol- und Kokainintoxikation auf das Leistungsverhalten des Angeklagten durch die Einholung eines rechtsmedizinischen, notfalls eines fachpsychiatrischen Gutachtens aufzuklären. Ohne nähere Erkenntnisse über die Konzentration der Einzelsubstanzen reicht die Begründung, mit der die Strafkammer sowohl eine erhebliche krankhafte seelische Störung als auch eine tiefgreifende Bewußtseinsstörung im Sinne von § 21 StGB ausgeschlossen hat, nicht aus.
Für die Beurteilung des Leistungsverhaltens standen der Strafkammer nur wenige psychopathologische Befundtatsachen zur Verfügung (vgl. zu deren Bedeutung für die alkoholische Intoxikation BGHSt 43, 66, 68 f.). Sie hat sich für deren Bewertung auf Aussagen des Geschädigten und weiterer Zeugen zum Handlungsablauf und zu etwaigen Ausfallerscheinungen gestützt. Danach sei der Angeklagte in der Tatanlaufzeit affektiv stark erregt gewesen, habe aber die Situation beherrscht und zielgerichtet gesteuert. Das Folgeverhalten sei rational gesteuert gewesen, denn er habe das Messer von keinem wahrnehmbar eingesteckt und auf raffinierte Art verschwinden lassen. Dazu habe er das Umfeld mit einer Erschöpfung signalisierenden Haltung getäuscht. Keiner
der Zeugen habe relevante Ausfallerscheinungen festgestellt, auch wenn der Angeklagte vielfach als angetrunken bezeichnet worden sei.
Diese Zeugenaussagen zum äußeren Geschehen tragen ohne den vollständigen objektiven Befund über das Ausmaß der Intoxikation den auf eigener Sachkunde beruhenden Schluß der Strafkammer nicht, das Erscheinungsbild des Angeklagten passe nicht zu einem akuten Rausch im Sinne einer krankhaft seelischen Störung, sondern spreche eher für eine leichte alkoholische Stimulierung. Auch die Wertung, die Verhaltensweisen des Angeklagten sprächen - trotz der festgestellten starken Erregung – für einen rational gesteuerten Affekt – einen sogenannten Zorneffekt mit leichter Bewußtseinseinengung – und gegen eine krankhafte Störung des Seelenlebens, ist nicht ausreichend belegt.
Die Strafkammer hätte konkret feststellen müssen, in welchem Umfang der Kokaingenuß die Alkoholverträglichkeit des Angeklagten beeinflußt hat. Sie hätte dann in einer Gesamtbetrachtung dessen Leistungsverhalten unter besonderer Berücksichtigung der Kombinationswirkung beider Faktoren würdigen
müssen. Eine solche Gesamtbetrachtung war geboten, weil der Kokaingenuß das Hemmungsvermögen zusätzlich mindern kann (BGH, Beschl. v. 14. Juni 1991 – 2 StR 179/91; vgl. BGH StV 1992, 569 für die Kombination Heroin und Alkohol; vgl. zu allem Körner, BtMG 4. Aufl. § 29 Rdn. 824).
Maul Granderath Wahl Boetticher Schluckebier

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 15. März 2000 - 1 StR 35/00

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 15. März 2000 - 1 StR 35/00

Referenzen - Gesetze

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der
Bundesgerichtshof Beschluss, 15. März 2000 - 1 StR 35/00 zitiert 5 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

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Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn

1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist,
2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist,
3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist,
4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist,
5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder
6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.

(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.

(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.