Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Mai 2019 - 1 StR 651/18

bei uns veröffentlicht am22.05.2019

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 651/18
vom
22. Mai 2019
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes u.a.
ECLI:DE:BGH:2019:220519B1STR651.18.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts – zu 2. auf dessen Antrag – am 22. Mai 2019 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten vom 9. August 2018 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung und wegen Wohnungseinbruchdiebstahls zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

2
Das Landgericht hat Folgendes festgestellt und gewertet:
3
1. Der an einer "mit Krankheitswert versehenen Persönlichkeitsstörung" mit "emotional instabilen und dissozialen Anteilen gemäß ICD.10 F61.0" leidende Angeklagte hatte bereits im Kindesalter das Elternhaus verlassen und in Rumänien mehrere Gewalttaten, unter anderem Raub und Vergewaltigung, begangen. Deswegen war er in Rumänien mehrmals zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, darunter zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren; er war dreimal inhaftiert, unter anderem von März 2004 bis Mai 2015. In Deutschland hatte er sich wegen einer am 30. April 2016 versuchten Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung bis zum Tag der Urteilsverkündung am 28. Februar 2017 in Untersuchungshaft befunden.
4
Der Angeklagte drang am Abend des 8. März 2017 gewaltsam in die verschlossene Einliegerwohnung eines abseits gelegenen Hauses in L. ein und entwendete mehrere Alltagsgegenstände, die er zum späteren Abholen etwa 150 Meter vom Haus entfernt deponierte. Die Mieter waren für sechs Monate ortsabwesend.
5
Anschließend verschaffte sich der Angeklagte mit Gewalt Zugang zur im selben Haus befindlichen verschlossenen Wohnung des Geschädigten H. , um auch dort Gegenstände zu entwenden. Dort traf er auf den 76-jährigen am Herzen und an Diabetes erkrankten Geschädigten. Ab diesem Zeitpunkt befand sich der Angeklagte aufgrund seiner "psychiatrischen Grunderkrankung" nicht ausschließbar in einem "derart starken Anspannungszustand", "in dem er möglicherweise im Rahmen seiner schweren Persönlichkeitsstörung nicht mehr ausreichend in der Lage gewesen sein könnte, seine aggressiven Handlungsimpulse zu steuern". Er brach dem Geschädigten durch einen kräftigen Schlag oder Tritt den Kiefer und versetzte ihm mehrere Schläge bzw. Tritte gegen den Kopfbereich , den Rücken, die Arme sowie gegen den Brustkorb und die Handgelenke. In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Gewaltanwendung fasste der Angeklagte den Entschluss, H. zu töten, um zu verhindern, dass dieser ihn als Täter der Einbruchtat identifizieren werde. Der Angeklagte würgte den Geschädigten zu Tode, wobei Zungenbeinfortsatz und -hörner abbrachen, platzierte ihn entkleidet in der Duschkabine und ließ Wasser einlaufen, um den Tod als einen Badeunfall aussehen zu lassen. Um sämtliche Tatspuren des Einbruchs und der Tötung zu beseitigen, setzte der Angeklagte, der zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt 150 € Bargeld an sich nahm, das Wohnzimmer durch Entzünden geeigneter Gegenstände in Brand; die Flammen breiteten sich über die Decke des Wohnzimmers über das gesamte Haus aus, das vollständig abbrannte.

II.

6
Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils deckt zum Schuld- und Rechtsfolgenausspruch Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
7
1. Das Landgericht hat rechtsfehlerhaft auf den Wohnungseinbruchdiebstahl in die Einliegerwohnung (§ 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB) die Vorschrift des § 244 Abs. 4 StGB nF, eingeführt durch das fünfundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Wohnungseinbruchdiebstahl (BGBl. I 2017, 2442), angewendet. Dieser Qualifikationstatbestand ist indes erst zum 22. Juli 2017 in Kraft getreten (§ 2 Abs. 1 StGB). Da das Landgericht im Tenor die Qualifikation (entsprechend der alten Rechtslage) nicht als "schweren Wohnungseinbruchdiebstahl" (BGH, Beschlüsse vom 2. April 2019 – 3 StR 63/19 Rn. 2 und vom 19. März 2019 – 3 StR 2/19 Rn. 6) oder "Privatwohnungseinbruchdiebstahl" (BGH, Beschluss vom 29. August 2018 – 5 StR 371/18) zum Ausdruck gebracht hat, bedarf die Urteilsformel allerdings keiner Korrektur.
8
Dass das Landgericht bezüglich des zweiten Eindringens in das Wohnhaus der Frage eines weiteren, zumindest versuchten Wohnungseinbruchdiebstahls nicht nachgegangen ist, beschwert den Angeklagten nicht.
9
2. Der Rechtsfolgenausspruch hält der Nachprüfung ebenfalls nicht stand. Das Landgericht hat weder nähere Feststellungen zur Persönlichkeitsstörung noch zu deren Schwere getroffen oder diese einem der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB zugeordnet. Dies bedingt die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs und der Maßregelanordnung.
10
a) Das Landgericht hat sich bei dieser bislang unklaren Persönlichkeitsstörung nicht von einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit überzeugt, sondern eine solche nur für nicht ausschließbar gehalten. Eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB hat es dem Angeklagten verwehrt. Es ist indes nicht auszuschließen, dass das Landgericht den Strafrahmen des § 211 Abs. 2 dritte Gruppe StGB gemildert hätte, wenn es die Störung näher aufgeklärt und sie gegebenenfalls bei begründeter Annahme eines tatsächlich höheren Schweregrads im Rahmen der Gesamtabwägung stärker gewichtet hätte. Im Einzelnen gilt:
11
aa) Die richterliche Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass beim Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Für die Tatsachenbewertung ist das Tatgericht auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem psychiatrischen Befund um eine Rechtsfrage. Gleiches gilt für die Prüfung und Beantwortung der weiteren Frage, ob die festgestellte und einem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zuzuordnende Störung sich bei Tatbegehung auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts - oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 30. März 2017 – 4 StR 463/16 Rn. 10 und vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16 Rn. 11; Beschlüsse vom 27. Juni 2018 – 2 StR 112/18 Rn. 9; vom 30. Mai 2018 – 1 StR 36/18 Rn. 20 und vom 1. Juni 2017 – 2 StR 57/17 Rn. 4; jeweils mwN).
12
Bei nicht pathologisch bestimmten Störungen muss das Tatgericht ohne Bindung an die Wertung des Sachverständigen in einer Gesamtschau klären, ob sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten und einengen (BGH, Beschlüsse vom 27. Juni 2018 – 2 StR 112/18 Rn. 11; vom 9. Mai 2012 – 4 StR 120/12 Rn. 7; vom 2. Dezember 2004 – 4 StR 452/04 Rn. 11 und vom 20. Mai 2003 – 4 StR 174/03 Rn. 6 mwN).
13
Das Tatgericht ist gehalten, zum einen konkrete Feststellungen zu den handlungsleitenden Auswirkungen der Störung zum Zeitpunkt der Tat (vgl. § 20 StGB) zu treffen und zum anderen auf der Grundlage einer umfassenden Wür- digung von Persönlichkeit, Lebensgeschichte, Lebensumständen und Verhalten des Angeklagten in nachprüfbarer Weise dazulegen, worin der "Zustand" des Täters besteht. Die bloße Angabe einer Diagnose im Sinne eines der Klassifikationsmerkmale ICD-10 genügt nicht (BGH, Beschlüsse vom 12. November 2004 – 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347, 352 und vom 14. Juli 1999 – 3 StR 160/99 Rn. 7, BGHR StGB § 63 Zustand 34). Ebenso wenig genügt die Bezeichnung als "Persönlichkeitsstörung"; dabei handelt es sich um einen Oberbegriff zu verschiedenen Varianten, die unterschiedliches Gewicht haben. Diese reichen von einer Vielzahl normalpsychologisch wirkender Ausprägungen des Empfindens und Verhaltens bis zu einer abnormen Persönlichkeit, deren Störungsgrad Krankheitswert zukommt. Gelangt der Sachverständige zur Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, ist dies noch nicht mit der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" in § 20 StGB gleichzusetzen. Vielmehr sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit für die Beurteilung der Schuldfähigkeit entscheidend (vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52 und vom 22. Mai 2019 – 2 StR 530/18 Rn. 14).
14
bb) An diesen Grundsätzen gemessen bleibt schon offen, welches Ausmaß die Persönlichkeitsstörung des Angeklagten hatte und wie sie sich auf die Begehung des Mordes und der besonders schweren Brandstiftung (§ 306b Abs. 2 Nr. 2, § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB) auswirkte. Ihre Einstufung als "dissozial" und "emotional instabil" gibt noch keine psychische Beeinträchtigung wieder; welchem Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB das Störungsbild unterfallen soll, ist ebenfalls ungeklärt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Februar 2019 – 3 StR 479/18 Rn. 16 und vom 12. Oktober 2017 – 5 StR 364/17 Rn. 9). Die festgestellten Charakter- und Verhaltensauffälligkeiten lassen keine Besonderheiten erkennen, welche nicht bereits der Begehung von schweren Straftaten immanent sind, ohne dass sie die Schuldfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB berührten. Die festgestellten Taten und Vortaten könnten sich noch "normalpsychologisch" erklären lassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 1999 – 3 StR 160/99 Rn. 7, BGHR StGB § 63 Zustand 34; vom 23. August 2000 – 2 StR 162/00 Rn. 4; vom 13. Juli 2004 – 4 StR 548/03 Rn. 7 und vom 20. Mai 2003 – 4 StR 174/03 Rn. 6). Überdies beschränken sich die Urteilsgründe im Wesentlichen darauf, das Ergebnis des Sachverständigen zu referieren und sich diesem pauschal anzuschließen. Sie entbehren damit einer eigenen Überprüfung der Ausführungen und Anknüpfungstatsachen des Sachverständigen und lassen die gebotene selbständige tatrichterliche Bewertung vermissen, ob ein Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB vorliegt und inwieweit dieses gegebenenfalls die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit erheblich beeinflusste.
15
Soweit in der Strafzumessung eine andere seelische Abartigkeit erwähnt wird, ist dem nicht zu entnehmen, dass sich das Landgericht auf dieses Eingangsmerkmal festgelegt hätte. Auch mit dem Schweregrad der Persönlichkeitsstörung hat es sich nicht auseinandergesetzt. Die Ausführungen sind so knapp und allgemein gehalten, dass sich nicht zuverlässig beurteilen lässt, ob die Störungen des Angeklagten den für die Annahme des § 21 StGB erforderlichen Schweregrad erreichen. Es fehlt an der Beschreibung und Gewichtung der einzelnen Befunde (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 1999 – 3 StR 160/99 Rn. 7, BGHR StGB § 63 Zustand 34). Eine Impulskontrollstörung (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 20. Mai 2003 – 4 StR 174/03 Rn. 7) wird nicht näher dargelegt.
16
cc) Diese lückenhaften Feststellungen wirken sich auf die Strafrahmenwahl wie folgt aus:
17
(1) Zwar sieht § 21 StGB auch bei der absolut bestimmten Strafandrohung des § 211 StGB nur eine fakultative Strafmilderung vor. Ob eine Milderung des Strafrahmens nach § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen oder zu versagen ist, hat das Tatgericht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Bei verminderter Schuldfähigkeit ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt und damit die Strafwürdigkeit der Tat verringert sind, sodass regelmäßig eine Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen ist, wenn nicht andere schulderhöhende Umstände, die diese Schuldminderung kompensieren, dem entgegenstehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 10. November 1954 – 5 StR 476/54, BGHSt 7, 28, 30 f. und vom 26. Mai 2004 – 2 StR 386/03 Rn. 10; Beschluss vom 24. Juli 2017 – GSSt 3/17, BGHSt 62, 247 Rn. 42 mwN). Das Ausmaß der fakultativen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB lässt dabei erkennen , dass der Gesetzgeber die Tatschuld als typischerweise beträchtlich verringert ansieht, wenn der Täter vermindert schuldfähig war. Hieraus folgt, dass es für die Verweigerung der Milderung eines besonderen Grundes bedarf, der umso gewichtiger sein muss, je gravierender sich die Beibehaltung des Regelstrafrahmens auswirkt. Hat das Tatgericht – wie hier – die Wahl zwischen lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe, müssen besondere erschwerende Gründe vorliegen, um die mit der verminderten Schuldfähigkeit verbundene Schuldminderung so auszugleichen, dass von einer Milderung des Strafrahmens abgesehen werden darf (BGH, Beschlüsse vom 24. Juli 2017 – GSSt 3/17, BGHSt 62, 247 Rn. 42 und vom 7. Januar 2003 – 4 StR 490/02 Rn. 9; Urteil vom 26. Mai 2004 – 2 StR 386/03 Rn. 10; vgl. zum Schuldprinzip BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1978 – 1 BvR 983/78, BVerfGE 50, 5, 9 ff.).
18
(2) Diesen Grundsätzen werden die Strafzumessungserwägungen infolge der aufgezeigten Rechtsfehler bei Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB nicht gerecht. Sollte sich das Landgericht von einer schweren Persönlich- keitsstörung überzeugen, könnte der vertypte Strafmilderungsgrund bei der Gesamtabwägung innerhalb der Strafrahmenwahl größeres Gewicht erlangen.
19
(3) Hinzu kommt: Das Landgericht hat die Milderung auch mit der Erwägung abgelehnt, der Angeklagte habe mit dem Wohnungseinbruch seinen "Anspannungszustand" vorwerfbar hervorgerufen; insbesondere aufgrund einer rumänischen Vorverurteilung habe sich ihm aufdrängen müssen, dass er in einer vergleichbaren Tatsituation seine aggressiven Handlungsimpulse nicht mehr habe kontrollieren können.
20
Auch dies begegnet durchgreifenden Bedenken. Zwar kann die Ablehnung der Strafrahmenverschiebung gerechtfertigt sein, wenn der Täter den Defektzustand schuldhaft herbeiführt. Dies gilt aber dann nicht, wenn dem Täter das Vorverhalten nicht oder nicht in vollem Umfang vorgeworfen werden kann (BGH, Urteil vom 26. Mai 2004 – 2 StR 386/03 Rn. 11). Da die Persönlichkeitsstörung nicht weiter aufgeklärt ist, kann nicht beurteilt werden, ob der Angeklagte den möglicherweise nicht mehr kontrollierbaren Anspannungszustand schuldhaft durch den Wohnungseinbruchdiebstahl verursachte.
21
dd) Eine vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit ist indes auszuschließen.
22
b) Die Aufhebung des Strafausspruchs lässt auch die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung entfallen. Hinzu kommt:
23
Sollte im Rahmen erneuter Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit gesichert festgestellt werden, wird auch eine Unterbringung nach § 63 StGB zu prüfen sein, die zwar kein "geringeres" , sondern ein "anderes" Übel gegenüber die Sicherungsverwahrung darstellt; sie erweist sich aber schon deshalb regelmäßig als die weniger be- schwerende Maßregel, weil sie grundsätzlich vor der Strafe vollzogen und auf die Strafe angerechnet wird (§ 67 Abs. 1, 4 StGB). Auch aus diesem Grund ist – und zwar unabhängig von der Frage der Therapierbarkeit – der Maßregelanordnung nach § 63 StGB in der Regel gegenüber der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung der Vorrang einzuräumen (BGH, Urteile vom 27. November 1996 – 3 StR 317/96, BGHSt 42, 306, 308 und vom 20. September 2011 – 1 StR 71/11 Rn. 21; Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 4 StR530/06 Rn. 7). Sind beide Maßnahmen (§§ 63, 66 StGB) gleichermaßen geeignet, den erstrebten Zweck zu erreichen, so ist der Maßregel der Vorzug zu geben, die den Täter am wenigsten beschwert (§ 72 Abs. 1 Satz 2 StGB).

III.

24
Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird – naheliegender Weise unter Heranziehung eines weiteren Sachverständigen – die Voraussetzungen des § 21 StGB erneut zu prüfen haben. Bei der etwaigen Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird zu bedenken sein, ob die 1999 und 2004 in Rumänien ergangenen Urteile in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Verfahren zustande gekommen sind (vgl. LK-StGB/Rissing-van Saan/Peglau, 12. Aufl., § 66 Rn. 56; Fischer, StGB, 66. Aufl., § 66 Rn. 45; BeckOK StGB/Ziegler, 42. Ed., §
66
Rn. 9; S/S-Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 66 Rn. 70; MüKoStGB/Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern, 3. Aufl., § 66 Rn. 248). Nach Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (Abl. L 220/32 vom 15. August 2008) haben zwar die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass im Strafverfahren Verurteilungen aus einem anderen Mitgliedstaat wie inländische Vorverurteilungen berücksichtigt werden. Indes kann im Einzelfall das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens im anderen Mitgliedstaat erschüttert sein (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317 Rn. 67 ff., 73 f. und vom 16. August 2018 – 2 BvR 237/18 Rn. 26).
Raum Jäger Hohoff Leplow Pernice

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Bundesgerichtshof Beschluss, 29. Aug. 2018 - 5 StR 371/18

bei uns veröffentlicht am 29.08.2018

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 5 StR 371/18 vom 29. August 2018 in der Strafsache gegen wegen Wohnungseinbruchdiebstahls u.a. ECLI:DE:BGH:2018:290818B5STR371.18.0 Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und

Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Nov. 2004 - 2 StR 367/04

bei uns veröffentlicht am 12.11.2004

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 2 StR 367/04 vom 12. November 2004 in der Strafsache gegen Nachschlagewerk: ja BGHSt: ja (vor 1 bis 4) Veröffentlichung: ja StGB §§ 20, 63; StPO § 244 Abs. 4 Satz 2 Zu den Anforderungen an ein psychiatrisches Sachverst

Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Jan. 2003 - 4 StR 490/02

bei uns veröffentlicht am 07.01.2003

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Bundesgerichtshof Beschluss, 20. Mai 2003 - 4 StR 174/03

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Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Mai 2012 - 4 StR 120/12

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Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 16. Aug. 2018 - 2 BvR 237/18

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Tenor Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 19. Januar 2018 - 1 AR 543/17 - und vom 9. Februar 2018 - 1 AR 543/17 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Ab

Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Okt. 2017 - 5 StR 364/17

bei uns veröffentlicht am 12.10.2017

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 5 StR 364/17 vom 12. Oktober 2017 in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung u.a. ECLI:DE:BGH:2017:121017B5STR364.17.0 Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanw

Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Juli 2017 - GSSt 3/17

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS GSSt 3/17 vom 24. Juli 2017 Nachschlagewerk: ja BGHSt: ja BGHR: ja Veröffentlichung: ja StGB §§ 21, 49 Abs. 1 Im Rahmen der bei der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung über die Strafrahmenverschiebung

Bundesgerichtshof Urteil, 30. März 2017 - 4 StR 463/16

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 4 StR 463/16 vom 30. März 2017 in der Strafsache gegen alias: wegen Verdachts des versuchten Mordes u.a. ECLI:DE:BGH:2017:300317U4STR463.16.0 Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Si

Bundesgerichtshof Urteil, 21. Dez. 2016 - 1 StR 399/16

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 399/16 vom 21. Dezember 2016 in der Strafsache gegen wegen Körperverletzung u.a. ECLI:DE:BGH:2016:211216U1STR399.16.0 Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung

Bundesverfassungsgericht Beschluss, 15. Dez. 2015 - 2 BvR 2735/14

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Tenor 1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, so

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer

1.
einen Diebstahl begeht, bei dem er oder ein anderer Beteiligter
a)
eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
b)
sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden,
2.
als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds stiehlt oder
3.
einen Diebstahl begeht, bei dem er zur Ausführung der Tat in eine Wohnung einbricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug eindringt oder sich in der Wohnung verborgen hält.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 bis 3 ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.

(4) Betrifft der Wohnungseinbruchdiebstahl nach Absatz 1 Nummer 3 eine dauerhaft genutzte Privatwohnung, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.

(2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt.

(3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.

(4) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt.

(5) Für Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.

(6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt.

2
1. Der Schuldspruch bedarf insoweit der Klarstellung, als der Angeklagte wegen schweren Wohnungseinbruchdiebstahls, nicht nur wegen Wohnungseinbruchdiebstahls verurteilt ist. Denn die Verwirklichung des Qualifikationstatbestands des § 244 Abs. 4 StGB ist kenntlich zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. März 2019 - 3 StR 2/19, juris Rn. 6).

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 2/19
vom
19. März 2019
in der Strafsache
gegen
wegen Wohnungseinbruchdiebstahls u.a.
ECLI:DE:BGH:2019:190319B3STR2.19.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 19. März 2019 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 354 Abs. 1 analog StPO einstimmig
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 4. September 2018
a) im Schuldspruch im Fall 1 der Urteilsgründe dahin klargestellt , dass der Angeklagte des versuchten schweren Wohnungseinbruchdiebstahls in Tateinheit mit Diebstahl schuldig ist;
b) in der Einziehungsentscheidung dahin geändert, dass die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 42.400 € gegen den Angeklagten als Gesamtschuldner an- geordnet wird.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in zwei Fällen, "versuchten Einbruchsdiebstahls in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung" in Tateinheit mit Diebstahl und wegen gewerbsmäßiger Hehlerei in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt sowie eine Einziehungsentscheidung getroffen. Dagegen wendet sich die auf zwei Verfahrensbeanstandungen und die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Beschwerdeführers. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen geringfügigen Teilerfolg; im Übrigen erweist es sich als unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Den Verfahrensrügen bleibt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen der Erfolg versagt.
3
2. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Schuld- und des Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zu Ungunsten des Angeklagten ergeben. Ergänzend zu der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
4
Zu Recht ist das Landgericht im Fall 1 der Urteilsgründe davon ausgegangen , dass der versuchte Einbruchdiebstahl in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung konkurrenzrechtlich nicht hinter dem vollendeten Einbruchdiebstahl an dem Fahrzeug des Geschädigten zurücktritt. Durch die Einführung von § 244 Abs. 4 StGB wollte der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass Wohnungseinbruchdiebstähle einen schwerwiegenden Eingriff in den persönlichen Lebensbereich des Betroffenen darstellen, der neben den finanziellen Auswirkungen gravierende psychische Folgen und eine massive Schädigung des Sicherheitsgefühls zur Folge haben kann (BT-Drucks. 18/12359 S. 7). Der auch mit einem nur versuchten Einbruchdiebstahl in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung verbundene Eingriff in das von dem Qualifikationstatbestand geschützte Rechtsgut würde nicht zum Ausdruck kommen, ließe man den Versuch hinter einem vollendeten Einbruchdiebstahl zurücktreten; die Klarstellungsfunktion des § 52 Abs. 1 StGB (vgl. dazu LK/Rissing-van Saan, StGB, 12. Aufl., § 52 Rn. 3 ff.) gebietet damit die Annahme von Idealkonkurrenz.
5
Weiter hat die Strafkammer bei der Strafrahmenbestimmung zu diesem Fall zutreffend ausgeführt, dass die Annahme eines minder schweren Falles gemäß § 244 Abs. 3 bei der Verwirklichung des Tatbestands des § 244 Abs. 4 StGB nicht in Betracht kommt. Dies entspricht dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, der eine Anwendung des minder schweren Falles für den Wohnungseinbruchdiebstahl in die dauerhaft genutzte Privatwohnung explizit ausschließen wollte und dies dadurch zum Ausdruck gebracht hat, dass die Strafzumessungsregelung des § 244 Abs. 3 StGB nur auf die Vergehenstatbestände nach § 244 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB verweist (BT-Drucks. 18/12359 S. 8).
6
Der Senat hat die auf "Einbruchsdiebstahl in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung" lautende Urteilsformel dahin klargestellt, dass sie nunmehr auf "schwerer Wohnungseinbruchdiebstahl" lautet. Anders als der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 29. August 2018 - 5 StR 371/18, juris) hält er es für geboten, aus Gründen der Klarstellung des begangenen Unrechts die Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes im Schuldspruch erkennbar zu machen. Die Soll-Vorschrift des § 260 Abs. 4 Satz 2 StPO schließt eine solche Klarstellung nicht aus, wie etwa ein Blick auf die Tenorierung einer Tat nach § 250 Abs. 2, § 249 Abs. 1 StGB - abweichend von der gesetzlichen Überschrift des § 250 StGB - als besonders schwerer Raub zeigt.
7
3. Bei der Einziehungsentscheidung hat das Landgericht nicht bedacht, dass nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe der Angeklagte in den Fällen eins bis drei der Urteilsgründe die Verfügungsgewalt über die gestohlenen Fahrzeuge jedenfalls gemeinsam mit dem gesondert Verfolgten P. erlangte. Mithin haftet der Angeklagte für den Wert der Taterträge in Höhe von 42.400 € lediglich als Gesamtschuldner, was der Senat in entspre- chender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO selbst entscheiden konnte.
8
4. Der geringfügige Erfolg des Rechtsmittels lässt es nicht unbillig erscheinen , den Angeklagten insgesamt mit den Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).
Schäfer Gericke Spaniol Wimmer Tiemann

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
5 StR 371/18
vom
29. August 2018
in der Strafsache
gegen
wegen Wohnungseinbruchdiebstahls u.a.
ECLI:DE:BGH:2018:290818B5STR371.18.0

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 29. August 2018 gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 10. April 2018 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat: Das Landgericht hat den Angeklagten zutreffend des „Wohnungseinbruchdiebstahls in Tateinheit mit Diebstahl mit Waffen“ schuldig gesprochen. Zwar mag das tateinheitliche Zusammentreffen der Tatbestände des § 244 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB als „Wohnungseinbruchdiebstahl mit Waffen“ zu tenorieren sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Dezember 2013 – 4 StR 367/13; vom 11. Mai 2015 – 3 StR 115/15, NStZ 2016, 98, und vom 5. Juli 2018 – 5 StR 176/18). Ein derartiges Zusammenfassen unterschiedlicher Tatbestän- de verbietet sich aber, wenn der Gesetzgeber diesen unterschiedliche Qualität zuerkannt, hier nämlich § 244 Abs. 4 StGB als Verbrechen und § 244 Abs. 1 StGB als Vergehen ausgestaltet hat.
Der Senat hat erwogen, die Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes im Schuldspruch erkennbar zu machen, diesen etwa als „Privatwohnungseinbruchdiebstahl“ oder als „schweren Wohnungseinbruchdiebstahl“ zu bezeich- nen. Im Hinblick auf die Vorgabe des § 260 Abs. 4 Satz 2 StPO hat er hiervon jedoch abgesehen. Er hat sich insbesondere nicht aus Gründen der Klarstellung des verwirklichten Unrechts dazu berechtigt gesehen, von der bezeichneten Sollvorschrift abzuweichen. Denn dieses lässt sich aus der unmittelbar anschließenden , gemeinsam mit dem Urteilstenor in das Bundeszentralregister einzutragenden Liste der angewendeten Vorschriften entnehmen (§ 260 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 5 Abs. 1 Nr. 6 BZRG).
Das Landgericht hat einen Hang im Sinne des § 64 StGB angesichts des festgestellten Abhängigkeitssyndroms für Alkohol und Cannabinoide rechtsfehlerhaft verneint. Der Senat nimmt die Nichtanordnung der Unterbringung in der Entziehungsanstalt jedoch mit Blick auf die Verneinung einer Erfolgsaussicht hin.
Mutzbauer Sander Schneider Mosbacher Köhler

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:

1.
An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
2.
Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.
3.
Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sichim Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre,im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate,im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate,im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.

(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

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1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16 Rn. 11; vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320; Beschluss vom 12. März 2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520; vgl. auch Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt , die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16 aaO; Beschlüsse vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135; vom 17. Juni 2014 – 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306).
11
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (BGH, Urteil vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319 und Beschluss vom 12. März 2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519 jeweils mwN). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung jeweils auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beur- teilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135 und vom 19. Dezember 2012 – 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146).
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a) Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 6. Juli 2017 – 4 StR 65/17, NStZ-RR 2017, 269 und vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16, NStZ-RR 2017, 170; Senat, Beschluss vom 1. Juni 2017 – 2 StR 57/17 mwN; Urteil vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei der Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind in einem weiteren Schritt der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2017 – 4 StR 65/17, NStZ-RR 2017, 269 [Ls.]). Zwar ist das Tatgericht für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds um eine Rechtsfrage. Gleiches gilt für die Prüfung und Beantwortung der weiteren Frage, ob die festgestellte und einem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zuzuordnende Störung sich bei Tatbegehung auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2017 – 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165, 166; Beschluss vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135 [Ls.]). Die Beurteilung dieser Rechtsfragen erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16, NStZ-RR 2017, 170, 171; Beschluss vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135 [Ls.]). Haben bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen mehrere Eingangsmerkmale in Betracht, so dürfen diese nicht isoliert abgehandelt, sondern müssen einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2016 – 4 StR 161/16, StV 2017, 588).
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Die Frage, ob bei Vorliegen eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei – mit sachverständiger Hilfe festgestelltem – gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds die Schuldfähigkeit des Täters aufgehoben oder im Sinne von § 21 StGB erheblich beeinträchtigt war, ist eine Rechtsfrage. Um sie beantworten zu können und zudem eine revisionsgerichtliche Kontrolle der tatgerichtlichen Entscheidung darüber zu ermöglichen (vgl. BGH, Urteil vom 29. September 2015 – 1 StR 287/15, NJW 2016, 341 f.; Beschlüsse vom 4. April 2018 – 1 StR 116/18 und vom 29. Juni 2016 – 1 StR 254/16, StV 2017, 592 f.), ist in den Urteilsgründen darzulegen, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2017 – 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165, 166; Beschlüsse vom 4. April 2018 – 1 StR 116/18, vom 21. November 2017 – 2 StR 32 StR 375/17, Rn. 5 und vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135) und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden Zustand zurückzuführen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 3 StR 119/17). Solche Darlegungen sind auch deshalb geboten, weil die im Rahmen des § 63 StGB zu erstellende Gefährlichkeitsprognose maßgeblich auch an den Zustand des Täters bei Begehung der Anlasstaten anknüpft (BGH, Beschluss vom 18. November 2013 – 1 StR 594/13, NStZ-RR 2014, 76 f.; Urteil vom 29. September 2015 – 1 StR 287/15, NJW 2016, 341 f.).
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a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Unterzubringenden zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165, 166 und Senat, Urteil vom 1. Juli 2015 - 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320; vgl. auch Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57 ff.). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Täter eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165, 166; Beschluss vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135).
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a) Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 6. Juli 2017 – 4 StR 65/17, NStZ-RR 2017, 269 und vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16, NStZ-RR 2017, 170; Senat, Beschluss vom 1. Juni 2017 – 2 StR 57/17 mwN; Urteil vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei der Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind in einem weiteren Schritt der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2017 – 4 StR 65/17, NStZ-RR 2017, 269 [Ls.]). Zwar ist das Tatgericht für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds um eine Rechtsfrage. Gleiches gilt für die Prüfung und Beantwortung der weiteren Frage, ob die festgestellte und einem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zuzuordnende Störung sich bei Tatbegehung auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2017 – 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165, 166; Beschluss vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135 [Ls.]). Die Beurteilung dieser Rechtsfragen erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16, NStZ-RR 2017, 170, 171; Beschluss vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135 [Ls.]). Haben bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen mehrere Eingangsmerkmale in Betracht, so dürfen diese nicht isoliert abgehandelt, sondern müssen einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden (BGH, Beschluss vom 21. Juni 2016 – 4 StR 161/16, StV 2017, 588).
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a) Zwar können auch nicht pathologisch bedingte Störungen Anlass für eine Unterbringung nach § 63 StGB sein, allerdings nur dann, wenn sie ihrem Gewicht nach der krankhaften seelischen Störung entsprechen. Bei der Erörterung der vom Landgericht auf der Grundlage der Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen beschriebenen Persönlichkeitsstörung besteht regelmäßig die Gefahr, dass Eigenschaften und Verhaltensweisen, die sich innerhalb der Bandbreite des Verhaltens voll schuldfähiger Menschen bewegen, zu Unrecht als Symptome einer die Schuldfähigkeit erheblich beeinträchtigenden schweren seelischen Abartigkeit bewertet werden. Das gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor allem dann, wenn es um die Beurteilung kaum messbarer, objektiv schwer darstellbarer Befunde und Ergebnisse geht, wie es bei einer „kombinierten Persönlichkeitsstörung“ der Fall ist (Se- natsbeschluss vom 11. November 2003 – 4 StR 424/03, NStZ 2004, 197; vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. Juni 1997 – 2 StR 251/97, BGHR StGB § 63 Zustand 24; Beschluss vom 14. Juli 1999 – 3 StR 160/99, BGHR StGB § 63 Zustand 34). Entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit sind der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit. Für die Beurteilung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend , ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als viertes Merkmal des § 20 StGB, der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ angesehen werden (BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52 f. m.w.N.).

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 174/03
vom
20. Mai 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 20. Mai 2003 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 1. November 2002 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge zum Maßregelausspruch Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 17. April 2003.
2. Dagegen hat der Maßregelausspruch keinen Bestand. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) kommt nur bei solchen Personen in Betracht, deren Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit durch einen positiv festgestellten länger bestehenden und nicht nur vorübergehenden Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB hervorgerufen ist (st. Rspr.; BGHSt 34, 22, 27). Daß bei dem Angeklagten ein solcher Zustand vorliegt, ist nicht rechtsfehlerfrei dargelegt.

a) Der vom Landgericht hinzugezogene psychiatrische Sachverständige hat ausgeführt, dem Angeklagten sei eine "emotionale instabile Persönlichkeitsstörung" im Sinne F 60.30 der ICD-10 (impulsiver Typus) zu "attestieren", wobei bei ihm auch Elemente des "Borderline-Typus" vorlägen. Daneben sei eine "dissoziale Persönlichkeitsstörung" im Sinne F 60.2 der ICD-10 zu diagnostizieren (UA 39/40). Das Landgericht hat die Ausführungen des Sachverständigen "für überzeugend gehalten und diese nach kritischer Würdigung für sich übernommen.“ Es hat die Schuldfähigkeit des Angeklagten trotz dieser Störungen, die nach seiner Auffassung das Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 erfüllen, mit - insoweit rechtsfehlerfreien Erwägungen – bejaht und ausgeführt, "gleichwohl“ gehe „die Kammer von dem Vorliegen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 StGB des Angeklagten zum Tatzeitpunkt aus" (UA 41).

b) Der Senat stellt die Diagnose einer Borderline- und dissozialen Per- sönlichkeitsstörung durch den Sachverständigen nicht in Frage. Diese Diagnose belegt aber für sich allein den für die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB vorausgesetzten Zustand zumindest erheblich verminderter Schuldfähigkeit noch nicht (BGHSt 42, 385, 388; BGH NStZ 2002, 142). Die mitgeteilten Persönlichkeitsmerkmale reichen für die sichere Feststellung einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht aus. Die bei dem Angeklagten festgestellten Charakter- und Verhaltensauffälligkeiten liegen bei Straftätern häufig vor und lassen für sich genommen eine generalisierende Aussage zur Frage der Schuldfähigkeit nicht zu. Die von dem Sachverständigen beschriebenen Auffälligkeiten in der Persönlichkeit des Angeklagten sind deshalb von Eigenschaften und Verhaltensweisen abzugrenzen, die sich noch innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens bewegen und Ursache für strafbares Tun sein können, ohne daß sie die Schuldfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB berühren (BGHSt 42, 385, 388; BGH StV 1997, 630). In einer Gesamtschau muß der Tatrichter ohne Bindung an die Auffassung des Sachverständigen (BGHSt 43, 66, 77) klären, ob die nicht pathologisch bestimmten Störungen in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 34, 22, 28; 37, 397, 401). Daran fehlt es.
Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten begegnet schließlich auch deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht, obwohl nicht aufzuklären war, was den Angeklagten veranlaßt hat, das Tatopfer in dessen Wohnung aufzusuchen, zu seinen Gunsten von einem auf seiner Perönlichkeitsstörung beruhenden Impulsdurchbruch ausgegangen ist. Diese
Anwendung des Zweifelsgrundsatzes ist zwar rechtlich nicht zu beanstanden, soweit sie zur Milderung des Strafrahmens wegen einer erheblichen Verminde- rung der Schuldfähigkeit nach §§ 21, 49 StGB geführt hat. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB wirkt sie sich aber zu Ungunsten des Angeklagten aus. Insoweit hätte sich das Landgericht deshalb in Anwendung Zweifelsgrundsatzes mit der nach seiner Auffassung naheliegenden Möglichkeit auseinandersetzen müssen, daß der Angeklagte aus einem rational nachvollziehbaren Motiv handelte, nämlich um sich von dem Tatopfer, das ihm bereits mehrfach Geldbeträge zugewendet hatte, Geld zu beschaffen (UA 30), und deshalb bei Begehung der Tat möglicherweise voll schuldfähig war.
Die Sache bedarf daher, soweit es die Frage der Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB betrifft, neuer Verhandlung und Entscheidung.
RiBGH Maatz ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben. Tepperwien Tepperwien Athing
RiBGH Dr. Ernemann ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben. Tepperwien

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 367/04
vom
12. November 2004
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja (vor 1 bis 4)
Veröffentlichung: ja
Zu den Anforderungen an ein psychiatrisches Sachverständigengutachten über
die Schuldfähigkeit des Angeklagten und die Voraussetzungen seiner Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie zu den Prüfungsanforderungen
an das Gericht bei Vorliegen eines methodenkritischen Gegengutachtens.
BGH, Beschluß vom 12. November 2004 - 2 StR 367/04 - Landgericht -
Schwurgerichtskammer - Koblenz
wegen Mordes
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. November 2004 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 1. Dezember 2003 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts als Schwurgericht zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die allein vom Angeklagten eingelegte Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. 1. Das Landgericht hat festgestellt, daß der zur Tatzeit 21-jährige, bislang unauffällige Angeklagte im Januar 2002 seine Cousine, mit der zusammen er eine Wohnung im Haus seiner Großmutter bewohnte, ohne feststellbaren Grund durch Ersticken tötete. An einem unbekannten Ort außerhalb der Wohnung zerlegte er in der Folge die Leiche in aufwendiger Weise, wobei er namentlich auch die Haut abzog, die Brüste und das Geschlechtsteil gesondert abtrennte, die lange Rückenstrecker-Muskulatur vom Torso entfernte, einzelne
Knochen auslöste und innere Organe entnahm. Erhebliche Teile der Leiche erhitzte er im Backofen seiner Wohnung. Er verpackte die Leichenteile in Plastiktüten, die er zunächst in der Wohnung versteckte. Den Kopf und die Beckenknochen verbrachte er in einen Steinbruch, wo er den Kopf zusätzlich mit einem Beil zertrümmerte und vergrub. An den später in der Wohnung und in dem Steinbruch von der Polizei aufgefundenen Leichenteilen fanden sich eine Vielzahl von Reiskörnern. Wesentliche Teile der Leiche wurden nie aufgefunden. Daß der Angeklagte diese Teile verzehrt hat, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden. 2. Das Landgericht hat, da es die Voraussetzungen eines Mordmerkmals im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB als nicht bewiesen angesehen hat, dieses Geschehen als tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verbrechen des Totschlags angesehen. Zur Schuldfähigkeit des Angeklagten hat es festgestellt, zur Tatzeit sei die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sicher erheblich vermindert , möglicherweise aufgehoben gewesen. Die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei möglicherweise voll erhalten, möglicherweise gänzlich aufgehoben gewesen. Im Zweifel sei daher von der Schuldunfähigkeit des Angeklagten auszugehen. Das Landgericht hat den Angeklagten daher freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das Landgericht hat sich bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit "den gut verständlichen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen (Dr. B.) angeschlossen" und sie sich zu eigen gemacht (UA S. 37). Diese hat es im wesentlichen wie folgt wiedergegeben: "Insgesamt wirke der Angeklagte in seinem Gesamtverhalten hoch auffällig (…) Der Zustand des Angeklagten gehe über eine bloße Persönlichkeitsstörung deutlich hinaus. Für das Vorliegen einer Persönlich-
keitsstörung sprächen zwar eine emotionale Verflachung, die Nivellierung von Gefühlen und das Einzelgängertum des Angeklagten. Für die Annahme einer Persönlichkeitsstörung müßten sich diese Symptome jedoch bis in die Jugend verfolgen lassen. Schulbildung, Lehre und Beruf des Angeklagten seien jedoch unauffällig (…). Auch eine klassische schizophrene Psychose und mithin eine Geisteskrankheit im engeren Sinne liege … nicht vor. Bei der Störung des Angeklagten handle es sich um eine solche, welche zwar in seiner Persönlichkeitsstörung verankert sei, jedoch schizophrenietypische Züge trage. Hierfür spreche auch der erhebliche Konsum von Betäubungsmitteln (…). Ein Suchtmittelmißbrauch sei für das vorliegende Krankheitsbild symptomatisch. Es sei auch nicht auszuschließen, daß der Gebrauch von Haschisch die Entwicklung und Verschlimmerung des Krankheitsbildes befördert habe. Aufgrund der festgestellten Erkrankung des Angeklagten sei seine Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich vermindert, möglicherweise auch ausgeschlossen. Hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit sei von deren vollen Erhalt bis hin zu deren völligen Verlust alles denkbar" (UA S. 36, 37) … Die festgestellte schizotype Persönlichkeitsstörung sei entweder unter das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung oder unter das der anderen seelischen Abartigkeit zu fassen (UA S. 38). Auch im Hinblick auf die Gefährlichkeitsprognose im Sinne von § 63 StGB ist das Landgericht "den gut verständlichen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. (gefolgt)", die das Urteil wie folgt wiedergibt : "Bei der festgestellten schizophrenen Psychose handle es sich um eine überdauerte Störung der Geistestätigkeit. Die Krankheit des Angeklag-
ten sei chronisch. Das Rückfallrisiko des Angeklagten sei extrem hoch. Krankheitstypisch sei die Begehung von Straftaten, welche sich durch ein Übermaß an Gewalt auszeichneten und auch zum Tode des Opfers führen könnten. Hierbei sei von einer Tatbegehung vornehmlich im Verwandten - und näheren Bekanntenkreis auszugehen. Insgesamt sei damit zu rechnen, daß der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung weitere, der vorliegenden Tat vergleichbare Handlungen vornehmen werde" (UA S. 39). 3. In der Hauptverhandlung stellte die Verteidigerin, nachdem der Sachverständige Dr. B. sein Gutachten erstattet hatte, den Beweisantrag, ein (weiteres ) medizinisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten unter anderem zum Beweis der Tatsachen einzuholen, daß der Angeklagte nicht, wie vom Sachverständigen Dr. B. angenommen, an einer Schizophrenia simplex oder einer schizotypen Persönlichkeitsstörung leide, vielmehr seelisch und geistig gesund sei. Sie stützte diesen Antrag auf ein von ihr vorgelegtes methodenkritisches Gutachten des Sachverständigen Dr. W., der sich mit dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. B. kritisch auseinandersetzte und sowohl formale Mängel rügte als auch "in inhaltlicher Hinsicht erhebliche Zweifel (formulierte ), ob die im Gutachten dargelegten Anknüpfungspunkte die von Dr. B. vorgenommenen diagnostischen Zuordnungen tragen." Es seien kaum objektivierbare psychopathologische Anknüpfungspunkte dargelegt; eine Ableitung der Diagnose aus diagnostisch relevanten biographischen Besonderheiten fehle weitgehend ebenso wie eine Auseinandersetzung mit dem unauffälligen Verlaufsbericht über die vorläufige Unterbringung nach § 126 a StPO. In dem dem Landgericht vorgelegten schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. W. waren diese inhaltlichen Zweifel im einzelnen ausgeführt. Es enthielt unter anderem auch folgende Hinweise:
"Psychodiagnostische Überlegungen dazu, wie sich die von Dr. B. angenommene - Störung in der vorgeworfenen Tatsituation konkret ausgewirkt haben soll, enthält das Gutachten nicht (…), was insoweit den gutachtlichen Ausführungen einen eigentümlich spekulativ-beliebigen Charakter verleiht". (…) "(Es besteht) eine nicht unerhebliche Gefahr eines logischen Zirkelschlusses: Ausgehend von den bizarr-erschreckenden Umständen des Leichenfundes, die die Mutmaßung nahe legen, daß es sich hier um einen schwer psychisch gestörten Täter gehandelt haben dürfte, könnte man versucht sein, den Tatverdächtigen zu 'psychopathologisieren' , um ihn für die ihm unterstellte Tat 'passend' zu machen - gewissermaßen nach dem Motto: Wer so etwas tut, der muß verrückt sein. Diese Gefahr sehe ich im vorliegenden Fall um so mehr, als die von Dr. B. vorgenommenen diagnostischen Zuordnungen mir ausgesprochen schwach begründet erscheinen (…)." Das Landgericht hat den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, das Gegenteil der behaupteten Tatsache sei bereits erwiesen. Die Sachkunde des Sachverständigen sei nicht zweifelhaft. Die gerügten Mängel beträfen lediglich das vorläufige schriftliche Gutachten; der Sachverständige habe sein Ergebnis jedoch mündlich vorgetragen. Er habe seinem Gutachten im Gegensatz zu dem Sachverständigen Dr. W. den Akteninhalt und das Ergebnis der Beweisaufnahme zugrunde gelegt. 4. Mit der Ablehnung hat das Landgericht gegen § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO verstoßen, denn die Sachkunde des früheren Gutachters war nach Lage der Dinge zweifelhaft, sein Gutachten nicht ohne Widersprüche.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann für die Anwendung der §§ 20, 21 StGB regelmäßig nicht offen bleiben, welche der
Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB vorliegt. Das gilt gleichermaßen für die Anordnung des § 63 StGB (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 232; BGH StraFo 2003, 282; Beschl. vom 21. September 2004 - 3 StR 333/04), denn dieser setzt einen länger dauernden psychischen Defektzustand des Betroffenen voraus, auf welchem dessen Gefährlichkeit beruht (vgl. etwa BGHSt 34, 24, 28; 42, 385, 388; BGH NStZ 1991, 528; BGH NStZ-RR 1997, 166; 2000, 298; Hanack in LK StGB 11. Aufl. § 63 Rdn. 66; Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl. § 63 Rdn. 6 f., 12, jeweils m.w.N.). Selbst wenn im Einzelfall die Grenzen zwischen diagnostischen Zuordnungen nach einem der gängigen Klassifikationssysteme fließend und die Einordnung unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB schwierig sein mögen, weil z. B. mehrere Merkmale gleichzeitig vorliegen oder keines in "reiner" Form gegeben ist, ist das Tatgericht gehalten, zum einen konkrete Feststellungen zu den handlungsleitenden Auswirkungen der Störung zum Zeitpunkt der Tat (vgl. § 20 StGB) zu treffen und zum anderen auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung von Persönlichkeit, Lebensgeschichte , Lebensumständen und Verhalten des Angeklagten und der Anlaßtat in nachprüfbarer Weise darzulegen, worin der "Zustand" des Beschuldigten besteht und welche seiner Auswirkungen die Anordnung der gravierenden, unter Umständen lebenslangen Maßregel nach § 63 StGB gebieten. Die bloße Angabe einer Diagnose im Sinne eines der Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-IV ersetzt weder die Feststellung eines der Merkmale des § 20 StGB noch belegt sie für sich schon das Vorliegen eines Zustands im Sinne des § 63 StGB (vgl. BGH, Beschl. vom 21. September 2004 - 3 StR 333/04 m.w.N.).
b) Das Gericht, das sich zur Prüfung der genannten Voraussetzungen der Hilfe eines Sachverständigen zu bedienen hat (§ 246 a StPO), muß dessen Tätigkeit überwachen und leiten. Dazu gehört insbesondere auch die Prüfung, ob Grundlagen, Methodik und Inhalt des Gutachtens den anerkannten fachwis-
senschaftlichen Anforderungen genügen (zur Sachleitungs- und Prüfungspflicht des Gerichts vgl. Jähnke in LK 11. Aufl., § 20 Rdn. 89, 92 f.; Tröndle/Fischer aaO § 20 Rdn. 63, 64 a ff. mit Nachweisen zur Rechtsprechung). Vorliegend hatte die Verteidigung mit dem Antrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zutreffend auf erhebliche Mängel jedenfalls des vorbereitenden schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. B. hingewiesen. Daß der Sachverständige diese im Beweisantrag und im Gutachten des Sachverständigen Dr. W. konkret angesprochenen Mängel in seinem mündlichen Gutachten behoben oder die Einwände ausgeräumt hat, hat das Landgericht in dem den Antrag zurückweisenden Beschluß nicht dargelegt. Die Urteilsgründe belegen eher das Gegenteil. Das Gutachten entsprach in formaler und inhaltlicher Hinsicht nicht den Anforderungen, die in der Rechtsprechung und forensisch-psychiatrischen wissenschaftlichen Literatur an entsprechende Gutachten gestellt werden (vgl. dazu im einzelnen etwa Foerster/Venzlaff, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. 2004, S. 31 ff.; Foerster/Leonhardt, ebd. S. 43, 47 f.; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1996, S. 274, 282 ff.; Rasch, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1999, S. 313 ff.; Heinz, Fehlerquellen forensischpsychiatrischer Gutachten, 1992; Venzlaff, Fehler und Irrtümer in psychiatrischen Gutachten, NStZ 1983, 199; Maisch, Fehlerquellen psychologischpsychiatrischer Begutachtung im Strafprozeß, StV 1985, 517; jeweils m.w.N.). aa) In formaler Hinsicht war auffällig, daß das schriftliche Gutachten weder eine Sexualanamnese noch eine detaillierte Beziehungsanamnese enthielt. Auch die bewertenden Darlegungen zur Biographie und zur psychiatrischen Entwicklung (Gutachten S. 36 ff.) erscheinen teilweise auf formale Aspekte beschränkt.
bb) Soweit der Sachverständige hier zu Bewertungen gelangte, sind diese teilweise auch im Zusammenhang nur schwer verständlich, etwa wenn von "einer gewissen magisch-mystischen Sicht- und Denkweise", von "umfassender Exzentrizität", "großen soziointegrativen Fähigkeiten" u.s.w. die Rede ist (ebd. S. 44 f.), ohne daß diese zusammenfassenden, stark subjektiv wertenden Beschreibungen hinlänglich konkretisiert werden. Die Zusammenfassung, wonach "man hier allenfalls an eine sogenannte vor sich hindümpelnde psychische Erkrankung denken (würde), die mit einer gewissen sozialen 'Unmöglichkeit', bizarr manirierten Verhaltensmustern und einer gewissen affektiven (…?) inadäquat vergesellschaftet als sogenannte schizophrenia simplex … in Erscheinung treten könnte" (ebd. S. 47), macht die Diagnose nach ICD-10, F 20.6, auf welche hingewiesen wird, kaum nachvollziehbar. cc) Hinzu kommt, daß das Gutachten im Zusammenhang mit der Wiedergabe der Explorationsgespräche eine Vielzahl abwertender Beschreibungen und Bewertungen der Person und des Verhaltens des Angeklagten enthält, die durch die Notwendigkeit diagnostisch-wertender Beschreibung nicht stets geboten erscheinen. Beispielhaft hierfür sind etwa die Beschreibungen, es hätten sich "immer wieder süffisante Grinseinlagen (gefunden)"; der Angeklagte habe "pathologische Witzelsüchtigkeit mit sarkastischer Unterlegung" (S. 29) und "ein von Theoretisierereien und persönlichen Interpretationen geprägtes Schildern der Tat" (S. 30) gezeigt; er habe sich "in läppisch distanzloser Art auf den Schreibtisch positioniert, eine Zigarette rauchend, den Rauch aus den Mundwinkeln ausblasend (…), sichtlich die Macht genießend, eine gewisse Hilflosigkeit bei Unterzeichner auszulösen …" (S. 28); er habe sich "in seiner Informationspolitik wenig durchsichtig" und "sich in der Verweigerung suhlend" gezeigt (S. 29).
In ihrer Häufung konnten diese Beschreibungen, welche die Grenze zwischen der Darstellung von Befundtatsachen und allgemein persönlichen Abwertungen teilweise überschritten, nicht nur die Objektivität des Gutachters in Frage stellen (vgl. Nedopil aaO S. 282). Sie konnten damit auch die Besorgnis begründen , daß der Sachverständige den Erfordernissen einer differentialdiagnostischen Befunderhebung möglicherweise nicht die gebotene Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen. Soweit von einem "Schildern der Tat" die Rede war, war dies schon mit dem Umstand nicht vereinbar, daß der Angeklagte die Tat stets - auch gegenüber dem Sachverständigen - bestritten hat. Das zur Frage der Schuldfähigkeit und zu den Voraussetzungen des § 63 StGB einzuholende Gutachten wird zwar, um die Diagnose rational nachvollziehbar und für das Gericht verständlich und überprüfbar zu machen, auf Verhaltensbeschreibungen, wertungsbehaftete Charakterisierungen und alltagssprachliche Umsetzungen klinischer Befunde nicht verzichten können. Dies ergibt sich auch aus den Merkmalsbeschreibungen der Klassifikationssysteme , so wenn etwa die Diagnose der "schizotypen Störung" (ICD-10, F 21) durch die Feststellung "eigentümlichen Verhaltens", "seltsamer Glaubensinhalte" , der Exzentrizität oder von gekünstelter Sprache getragen werden kann. Eine solche Darstellung ist aber kein Selbstzweck. dd) Inhaltliches Ziel des Gutachtens ist es, dem Gericht eine Beurteilung zu ermöglichen, ob zum Zeitpunkt der Tat eine der Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB vorgelegen hat und ob, ggf. wie diese sich auf die Unrechtseinsicht des Beschuldigten oder auf seine Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Für die Frage einer möglichen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist darüber hinaus zu klären, ob aufgrund der die Schuldfähigkeit bei der
Anlaßtat beeinträchtigenden psychischen Störung ein längerfristiger Zustand des Beschuldigten besteht, welcher dessen Gefährlichkeit im Sinne von § 63 StGB begründet und daher die Unterbringung gebietet. Hierfür können in der Regel die Diagnose der psychischen Störung sowie ihre Einordnung unter die Eingangsmerkmale des § 20 StGB nicht offen bleiben. Vorliegend hatte der Sachverständige in seinem vorbereitenden schriftlichen Gutachten offen gelassen, ob bei dem Angeklagten eine "schizotype Störung" (ICD-10, F 21) oder eine "schizophrenia simplex" (ICD-10, F 20.6) vorliege, die beide dem Merkmal "krankhafte seelische Störung" im Sinne von § 20 StGB zuzuordnen seien; eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit" (SASA) liege nicht vor (Gutachten S. 47 ff., 51). In seinem in der Hauptverhandlung erstatteten mündlichen Gutachten kam er dagegen zu der Ansicht, es sei "die festgestellte schizotype Persönlichkeitsstörung entweder unter das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung oder unter das der anderen seelischen Abartigkeit zu fassen" (UA S. 38); eine schizophrene Psychose liege nicht vor (UA S. 37). Eine Persönlichkeitsstörung sei gleichfalls nicht gegeben (UA S. 36/37), vielmehr eine in der Persönlichkeit verankerte Störung mit schizophrenietypischen Zügen , für welche ein Suchtmittelmißbrauch symptomatisch sei (UA S. 37). Die letztgenannte Diagnose ist - gerade auch unter Heranziehung der Beschreibungen in den Klassifikationssystemen - schon aus sich heraus kaum nachvollziehbar. Sowohl im Ablehnungsbeschluß des Landgerichts als auch im Urteil fehlt jede Darlegung, aus welchen objektivierbaren Gründen der Sachverständige in der Hauptverhandlung von seinem vorbereitenden Gutachten abwich und ob diese Gründe mit ihm erörtert worden sind.
ee) Feststellung und Begründung der Diagnose einer Störung belegen nicht deren strafrechtliche Relevanz im Sinne von §§ 20, 21 StGB (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03 = NJW 2004, 1810, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; BGH, Beschluß vom 21. September 2004 - 3 StR 333/04; vgl. auch Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl., § 20 Rdn. 44; Jähnke in LK 11. Aufl., § 20 Rdn. 34 f.; jew. m.w.N.). Entscheidend für die inhaltliche Brauchbarkeit des Gutachtens ist, ob es wissenschaftlich hinreichend begründete Aussagen über den Zusammenhang zwischen einer diagnostizierten psychischen Störung und der Tat enthält, welche Gegenstand des Verfahrens ist. Es ist also - unabhängig von der Einordnung unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB - im einzelnen konkret darzulegen, ob und ggf. wie sich die Störung auf das Einsichts- oder Hemmungsvermögen des Beschuldigten tatsächlich ausgewirkt hat (vgl. Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster aaO, S. 51, 77 f.; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 20 Rdn. 31). Nichts anderes gilt für die Beurteilung des "Zustands" im Sinne von § 63 StGB, denn es gibt weder eine abstrakte "Schuldunfähigkeit" ohne Bezug zu einem konkreten Delikt noch einen abstrakten "Zustand" ohne diesen Bezug , aus welchem sich symptomatisch die die Unterbringung erfordernde Gefährlichkeit des Beschuldigten ergibt. An einer Darlegung dieses Zusammenhangs fehlte es in dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. B. gänzlich; ein solcher Zusammenhang ergibt sich auch aus der Wiedergabe des mündlich erstatteten Gutachtens im angefochtenen Urteil nicht. Hier bleibt schon offen, in welchen forensisch relevanten Eigenschaften, Dispositionen oder Einschränkungen der Einsichts - oder Steuerungsfähigkeit die festgestellte "chronische Krankheit" (UA S. 39) des Angeklagten sich überhaupt ausdrückt. Als "symptomatisch" wird insoweit allein der Suchtmittelmißbrauch genannt; Feststellungen zu Ausmaß oder
Auswirkungen des Konsums von Haschisch oder anderen Rauschmitteln am Tattag fehlen jedoch. Auch im übrigen ergibt sich weder aus dem schriftlichen Gutachten noch den Darlegungen im Urteil, in welcher konkreten Weise sich die beim Angeklagten festgestellten psychischen Auffälligkeiten bei der Tat ausgewirkt haben könnten. Zutreffend hat der Sachverständige Dr. W. in seinem von der Verteidigung zur Begründung des Beweisantrags vorgelegten Gutachten darauf hingewiesen, das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. zeige eine gewisse Zirkelschlüssigkeit und habe einen "eigentümlich spekulativ -beliebigen Charakter". ff) Eine kritische Beurteilung des Gutachtens und der Sachkunde des Gutachters lag jedenfalls unter Berücksichtigung der Begründung des Beweisantrags für den Tatrichter auch deshalb nahe, weil das Gutachten ausschließlich zu Diagnosen (entweder "schizophrenia simplex" oder "schizotype Störung" ) gelangte, von deren Verwendung im Klassifikationssystem ICD-10 ausdrücklich abgeraten wird. Überdies lagen wichtige Merkmale der festgestellten "schizotypen Störung", namentlich zeitlich überdauernde Auswirkungen auf Biographie, Verhalten oder Auffälligkeiten des Betroffenen, gerade nicht vor; das Gutachten befaßte sich damit nur vage und unklar. Darüber hinaus ließ das Gutachten eine hinreichende differenzialdiagnostische Erörterung vermissen ; die diagnostischen Schlußfolgerungen waren letztlich auf wenig mehr gestützt als die (unterstellte) Begehung der Tat selbst. gg) Auch die Schlußfolgerungen, die der Sachverständige aus diesen eher unklaren und unsicheren Feststellungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten vom Tatzeitpunkt gezogen hatte, hätten dem Gericht Anlaß zur kritischen Überprüfung geben müssen. In seinem schriftlichen Gutachten hatte der Sachverständige ausgeführt, der Angeklagte sei
zwar "grundsätzlich als psychisch gestört und geisteskrank zu betrachten". Die Auffälligkeiten hätten aber mangels akuter paranoider Symptomatik und akuter Derealisation "eben nicht einen vollumfänglichen Verlust seiner Einsichtsfähigkeit nach sich gezogen" (Gutachten S. 52). Es sei jedoch festzustellen, daß der Angeklagte in seiner Wahrnehmung und Interpretation von Sicht- und Denkweisen des alltäglichen Lebens und seiner Beziehung zu dem Tatopfer "beeinträchtigt gewesen sein muß". Das habe "eine gewisse Verzerrung der Realität" nach sich gezogen, was wiederum "zu einer Uminterpretation von realen Begebenheiten führte"; dadurch seien "die Sicht- und Denkweisen beeinträchtigt" worden. Daher sei die Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert gewesen (ebd.). In seinem mündlichen Gutachten führte der Sachverständige ausweislich des Urteils dann im ausdrücklichen Gegensatz hierzu aus, hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei "von dessen vollem Erhalt bis hin zu dessen völligem Verlust alles denkbar" (UA S. 37). Für diesen grundlegenden Wechsel in der Beurteilung findet sich keine Begründung; aus der Wiedergabe des Gutachtens kann auch nicht nachvollzogen werden, wie die von dem Sachverständigen für möglich gehaltenen Alternativen der Unrechtseinsicht mit dem psychodiagnostischen Krankheitsbild des Angeklagten in Einklang zu bringen sein könnten. Die hypothetische Feststellung, entweder die Einsichtoder die Steuerungsfähigkeit habe gefehlt, würde voraussetzen, daß der psychische Defekt des Betroffenen sich tatsächlich in einer solchen alternativen Weise konkret auswirken konnte. Zur Begründung dieser Feststellung bedürfte es jedenfalls eingehender Darlegungen zur Diagnose der Störung und zu ihrer konkreten Auswirkung auf die Tatbegehung. Hieran fehlte es hier offensichtlich; die vage Aussage des Sachverständigen zur Auswirkung der Störung beruhte vielmehr gerade auf der Unschärfe der diagnostischen Zuordnung.

c) Angesichts dieser erheblichen Mängel und Unklarheiten des vorbereitenden schriftlichen und des mündlich erstatteten Gutachtens durfte das Landgericht den Beweisantrag auf Einholung eines weiteren medizinischpsychiatrischen Sachverständigengutachtens nicht mit der Begründung ablehnen , das Gegenteil der behaupteten Tatsache sei bereits erwiesen, und die Sachkunde des Sachverständigen Dr. B. sei nicht zweifelhaft, ohne sich eingehend mit den erhobenen Beanstandungen auseinanderzusetzen. Die gravierenden Einwände, welche das Gutachten des Sachverständigen Dr. W. gegen Methodik und Ergebnisse des schriftlichen Gutachtens erhob, mußten Anlaß sein, die vom Sachverständigen mündlich vorgetragenen Ergebnisse sowie die Abweichungen und ggf. deren Begründung besonders kritisch zu prüfen. Dies hat das Landgericht nicht getan; vielmehr hat es die in vielfacher Hinsicht zweifelhaften Ausführungen des Sachverständigen allein dahingehend gewürdigt, sie seien "gut verständlich und nachvollziehbar" gewesen und die Kammer schließe sich ihnen an (UA S. 37, 40). Mit der im Ablehnungsbeschluß gegebenen Begründung hat sich das Landgericht daher seiner Aufgabe einer kritischen Überprüfung und Würdigung des Sachverständigengutachtens gerade entzogen, indem es die Mängel des vorbereitenden schriftlichen Gutachtens mit dem Hinweis auf das mündliche Gutachten beiseite schob. Dies wäre nur dann tragfähig, wenn das mündlich erstattete Gutachten seinerseits fehlerfrei gewesen und wenn die Abweichungen zum schriftlichen Gutachten nachvollziehbar erklärt wären. Hieran fehlte es; nach der Wiedergabe des Gutachtens in den Urteilsgründen setzten sich die von dem Sachverständigen Dr. W. angesprochenen Fehler vielmehr im mündlichen Gutachten fort und führten darüber hinaus zu neuen Widersprüchen (vgl. BGHSt 23, 176, 185; BGH NStZ 1990, 244; 1991, 448; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl., § 244 Rdn. 76 m.w.N.).

d) Danach war hier die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft; die Beweiserhebung war daher erforderlich. Eigene, unter Umständen durch das erste Gutachten vermittelte Sachkunde des Gerichts, welche die Ablehnung hätte tragen können, lag nicht vor. 5. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt. Daß die Staatsanwaltschaft das Urteil nicht angefochten hat und daß § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO einer Bestrafung entgegenstünde, auch wenn der neue Tatrichter jedenfalls eine Aufhebung der Schuldfähigkeit ausschließen könnte, steht der Aufhebung nicht entgegen, denn wenn die Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB nicht vorlägen, so dürfte sie selbstverständlich auch dann nicht erfolgen, wenn die Verhängung einer Strafe aus Rechtsgründen ausschiede. Im Hinblick auf die überaus enge Verflechtung der Feststellungen zum Tathergang, zur Motivation des Angeklagten und zu seinem Nachtatverhalten mit denjenigen zu den Voraussetzungen des § 63 StGB scheidet eine Aufrechterhaltung von Feststellungen hier aus, auch wenn das Urteil insoweit rechtsfehlerfrei ist. Insoweit merkt der Senat an, daß die Rüge einer Verletzung des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO aus den vom Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführten Gründen jedenfalls unbegründet ist. Der neue Tatrichter wird Gelegenheit zu umfassenden neuen Feststellungen haben. Es erscheint naheliegend, zur Frage der Schuldfähigkeit und der Maßregelanordnung (auch) einen anderen Sachverständigen mit der Gutach - tenerstattung zu beauftragen. Rissing-van Saan Detter Bode
Rothfuß Fischer

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung ja
Zur Beurteilung des Schweregrads einer anderen seelischen Abartigkeit (hier
„dissoziale und schizoide Persönlichkeitsstörung“) und der Erheblichkeit der
Einschränkung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat (Fortführung von BGHSt
37, 397).
BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03 – LG Stuttgart

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 346/03
vom
21. Januar 2004
in der Strafsache
gegen
wegen erpresserischen Menschenraubs u. a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. Januar
2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Hebenstreit,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 8. April 2003 wird verworfen. 2. Die Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels sowie die durch dieses Rechtsmittel entstandenen notwendigen Ausla- gen der Nebenklägerin zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen räuberischen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Die Überprüfung des Schuldspruchs aufgrund der Sachrüge hat keinen die Angeklagte belastenden Rechtsfehler ergeben.

II.

Die Beschwerdeführerin deckt mit ihrem Revisionsvorbringen auch im Strafausspruch keinen Rechtsfehler auf. Näherer Erörterung bedarf allerdings die Rüge, die Angeklagte leide unter einer schweren Persönlichkeitsstörung
und habe sowohl bei dem verfahrensgegenständlichen räuberischen Diebstahl im Oktober 2001 als auch beim erpresserischen Menschenraub im Juli 2002 unter einem so starken Motivationsdruck gestanden, daß sie für beide Taten - anders als vom Landgericht angenommen - strafrechtlich nicht voll verantwortlich gewesen sei. 1. Die sachverständig beratene Strafkammer hat zur Persönlichkeitsentwicklung der Angeklagten und zum Tatgeschehen folgende Feststellungen getroffen :
a) Die Angeklagte, deren Eltern aus Kroatien stammen, wuchs in Deutschland gemeinsam mit einer Schwester auf. Sie hatte trotz durchschnittlicher Begabung bereits früh Probleme in der Grundschule. Nachdem sie die zweite Klasse wiederholen mußte, kam sie in die Sonderschule. Diese verließ sie im Jahre 1988 nach der 9. Klasse ohne Abschluß und besuchte danach ein Jahr eine Hauswirtschaftsschule. Die Kammer hat zu Gunsten der Angeklagten als wahr unterstellt, sie sei von ihrem Vater seit ihrem siebten Lebensjahr bis kurz vor ihrer Verhaftung immer wieder sexuell mißbraucht und regelmäßig geschlagen worden. Ab dem zehnten Lebensjahr unternahm sie mehrere Suizidversuche. Im Jugendalter wurde sie dreimal in stationäre psychiatrische Behandlung nach Kroatien gebracht, wurde allerdings nach wenigen Tagen wieder entlassen, ohne daß eine klare Diagnose gestellt werden konnte. Es wurden ihr Antidepressiva und regelmäßig ein Schmerzmittel verschrieben. Sie konsumierte außerdem seit dem 14. Lebensjahr in erheblichem Umfang Alkohol , ohne daß sich jedoch eine Suchtproblematik herausgebildet hätte. Gelegentlich konsumierte die Angeklagte auch Haschisch. Im Jahre 1991 heiratete die Angeklagte. Aus der Ehe gingen zwei Kinder im Alter von nunmehr elf und sechs Jahren hervor. Nach der Heirat arbeitete
sie halbtags als Textilverkäuferin; später übte sie verschiedene Tätigkeiten aus, zuletzt war sie in einem Fitneß-Studio tätig, wo sie rund 500 Euro im Monat verdiente. Etwa Mitte der neunziger Jahre spitzten sich ihre persönlichen Probleme zu. Sie praktizierte einen gehobenen Lebensstil, der nicht ihren bescheidenen finanziellen Verhältnissen entsprach, unter anderem mit häufigen Urlauben, teurer Kleidung für sich und ihre Kinder und häufigem Ausgehen mit Einladungen von Freunden. Diesen Lebensstil konnte sie nur durch zahlreiche Vermögensstraftaten finanzieren. Deshalb wurde sie am 24. Mai 1995 u. a. wegen Diebstahls in vier Fällen sowie wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug in 104 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Strafe wurde 1999 erlassen. Am 23. Mai 2000 wurde sie wegen Betrugs in zehn Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung in neun Fällen und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde nochmals zur Bewährung ausgesetzt. Im Jahr 1999 lernte sie während eines Urlaubs in Tunesien einen Tunesier kennen, der Mitglied einer sektenartigen Bewegung war, in der sich die Angeklagte aufgehoben fühlte. Seit 2000 leben die Eheleute getrennt.
b) Der räuberische Diebstahl Im Oktober 2001 betrat die Angeklagte gegen Mittag ein Schreibwarengeschäft mit Lottoannahmestelle und ließ sich einschließen. Sie entnahm der Lottokasse Bargeld in Höhe von mindestens 1.200 DM und packte drei Plastiktüten mit rund 320 Schachteln Zigaretten ein. Als die Ladenbesitzerin nach der Pause das Geschäftslokal betrat, gab die Angeklagte vor, versehentlich eingeschlossen worden zu sein. Die Ladenbesitzerin wollte die Angeklagte einschließen und die Polizei benachrichtigen. Dies verhinderte die Angeklagte
mit einem kräftigen Stoß, bei der die Frau zu Boden ging. Sie forderte nach einem Faustschlag von ihr das Mobilteil des Telefons, das sie in die Tasche steckte. Dann flüchtete sie. Die Angeklagte konnte aufgrund von Fingerabdrükken ermittelt und am 12. März 2002 festgenommen werden. Nach einem über ihren Verteidiger abgegebenen Geständnis wurde sie am 26. März 2002 wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Angeklagte rechnete wegen dieser Tat mit einer erheblichen Freiheitsstrafe ohne Bewährung und befürchtete den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung aus einer früheren Verurteilung. Außerdem hatte sie Probleme mit ihrem Vater, der sich im Jahre 2001 von ihrer Mutter getrennt hatte und seitdem bei ihr der Wohnung wohnte. Die Probleme trieben einem Höhepunkt zu, als der Vater den Wunsch äußerte, mit ihrer Tochter ein Wochenende allein im Schwarzwald zu verbringen. Die Kammer hat zu Gunsten der Angeklagten angenommen, sie habe befürchtet, der Vater könne sich auch an ihrer Tochter vergehen. Um den Problemen zu entgehen, faßte die Angeklagte den Plan, Deutschland zu verlassen und in Tunesien eine neue Existenz aufzubauen. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft feierte sie dort aufwendig die Verlobung mit dem Tunesier, obwohl sie noch verheiratet war. Sie versprach dem Verlobten, dem gegenüber sie sich als wohlhabend ausgab, daß sie im Juli 2002 mit ihren Kindern endgültig zu ihm nach Tunesien ziehen werde. Dabei werde sie einen großen Geldbetrag mitbringen, mit dem man dort gemeinsam ein Mietwagenunternehmen aufbauen könne.
c) Die Kindesentführung
Anfang Juli 2002 faßte die Angeklagte den Entschluß, sich die Mittel zur Durchführung ihrer Tunesien-Pläne durch eine Kindesentführung mit Lösegeldforderung zu beschaffen. Als Erpressungsopfer erschien ihr hierfür die als wohlhabend geltende Familie R. geeignet, die nach ihren Informationen in der Lage sein würde, einen größeren Geldbetrag auch kurzfristig besorgen zu können. Der Plan der Angeklagten ging dahin, die 7jährige Tochter J. auf dem Schulweg in ihre Gewalt zu bringen und für ihre Freilassung ein "Löse- ! " # %$ &' ( &' *)+ , - ' . 0/1& geld" von 250.000 dem Geld sofort nach Tunesien absetzen. Zur Vorbereitung der Tat observierte die Angeklagte ab Anfang Juli 2002 die Verhaltensgewohnheiten der Familie R. . Insbesondere erforschte sie durch zahlreiche Anrufe, bei denen sie sich nicht meldete, zu welchem Zeitpunkt sich die Mitglieder der Familie zu Hause aufhielten. Zur Durchführung der Tat, die zunächst für den 12. Juli 2002 geplant war, kaufte sie einen gebrauchten Pkw BMW der 7er-Klasse. Da sie das Fahrzeug mit nach Tunesien mitnehmen wollte, ließ sie das Fahrzeug mit Ausfuhrkennzeichen zu. Am gleichen Tag buchte sie unter ihrem eigenen Namen zwei Flugreisen für den 12. Juli 2002 von Stuttgart nach Tunesien. Als Passagiere gab sie ihren Sohn und eine Person namens E. an. Sie war auf unbekannte Weise in Besitz eines Personalausweises mit diesem Namen gelangt und wollte unter diesem Namen nach Tunesien reisen. Am 10. Juli 2002 suchte sie ihre Cousine und deren Ehemann auf und teilte diesen mit, sie habe die Absicht nach Tunesien auszuwandern. Beide erklärten sich bereit, das Fahrzeug nach Tunesien zu überführen und die Tochter der Angeklagten mitzunehmen. Am 12. Juli 2002 gab sich die Angeklagte gegenüber der Sekretärin der Schule, in der J. in die erste Klasse ging, als deren Mutter aus und forderte sie auf, das Kind nach Hause zu schicken. Da J. jedoch krankheits-
bedingt nicht in der Schule war, brach die Angeklagte den Entführungsversuch an diesem Tag ab. Sie stornierte den geplanten Flug nach Tunesien und buchte den Flug auf den nächsten Tag um, in der Hoffnung die Tat an diesem Tag durchzuführen. Der Entführungsversuch fand aus nicht feststellbaren Gründen jedoch nicht statt.
Am 15. Juli 2002 überlegte die Angeklagte, wie sie auf anderer Weise Jasmin in ihre Gewalt bringen könnte. Sie wurde dabei gesehen, wie sie gegen 8.00 Uhr morgens aus ihrem Fahrzeug das Wohnhaus der Eheleute R. beobachtete. Die Angeklagte entschloß sich schließlich, die Entführung am 18. Juli 2002 durchzuführen. Sie buchte am 16. Juli 2002 für dieselben Personen einen Flug nach Tunesien für den 19. Juli 2002. Der Flug sollte jedoch von München stattfinden, wo sie die Nacht verbringen wollte. Sie buchte für sich und ihre Tochter eine Übernachtung im Hotel K. . Nachdem die Angeklagte am 18. Juli 2002 mehrere Kontrollanrufe bei der Familie R. getätigt hatte, fuhr sie mit ihrem Fahrzeug, in dem sie eine geladene Schreckschußpistole und ein Elektroschockgerät mit sich führte, gegen 8.00 Uhr zu der Schule. Gegen 9.00 Uhr sprach sie auf dem Schulgelände zwei 8jährige Schüler an und bat sie, J. aus dem Klassenzimmer zu holen ; sie solle zu der Sekretärin ins Rektorat kommen. Die Schüler, die die Angeklagte als Mutter von J. ansahen, holten J. mit Zustimmung der Klassenlehrerin heraus und begleiteten sie in Richtung Rektorat. Die Angeklagte paßte die beiden Schüler und J. zwischen dem Klassenraum und dem Rektorat ab. Die arglosen Jungen ließen J. mit der Angeklagten al-
lein. Sie vergewisserte sich, ob es sich bei dem Kind um J. handele und schüchterte es mit dem mitgebrachten Elektroschockgerät ein, indem sie dieses am Hals des Mädchens auslöste. Als J. zu schreien begann, drohte ihr die Angeklagte, sie werde sie töten, wenn sie nicht ruhig sei. Das Kind verhielt sich ruhig, weigerte sich aber, mit der Angeklagten zu gehen. Die Angeklagte nahm es unter den Arm und trug es zu ihrem Fahrzeug. J. wehrte sich dagegen mit Strampeln und verlor dabei ihre Sandalen und ihre Brille. Die Angeklagte setzte J. zunächst auf den Beifahrersitz und drückte das Kind nach unten, um zu verhindern, daß es bei der Abfahrt gesehen wurde. Um J. weiterhin gefügig zu machen, löste die Angeklagte das Elektroschockgerät nochmals an ihrer Wange aus, wodurch es zu einer leichten Verbrennung kam. Gegen 9.50 Uhr rief die Angeklagte J. s Vater an und forderte ihn auf nach Hause zu kommen, weil J. nach Hause gegangen sei. Er begab sich sofort nach Hause. Dort rief die Angeklagte den Vater erneut an und teilte ihm mit, daß sie J. in ihrer Gewalt habe. Er solle ruhig sein und keine Polizei rufen. Für den Fall, daß er sich nicht an ihre Anweisungen halte, drohte die Angeklagte, es würde für seine Tochter auf dem Markt einen guten Preis geben. Der Vater sollte die Befürchtung haben, sie wolle J. an einen Mädchenhändler verkaufen. Der Vater fuhr danach sofort in die Schule, wo inzwischen die Schuhe und die Brille des Kindes gefunden waren. Die Angeklagte fuhr mit dem Wagen ziellos im Raum L. herum. Da das Kind verängstigt und verzweifelt jammerte, verbrachte sie es spätestens gegen 11.00 Uhr in den Kofferraum des Fahrzeugs, wo es bis zu seiner Befreiung bis gegen 16.00 Uhr verblieb. Gegen 11.50 Uhr rief die Angeklagte den Vater J. s an und forderte ihn auf, binnen einer Stunde 250.000 243 die Freilassung seiner Tochter bereitzustellen. Nachdem der Vater einwandte, er benötige für die Beschaffung des Geldes Zeit bis 16.00 Uhr, erklärte sie sich
bereit, abzuwarten. In der Folgezeit rief sie mehrfach beim Vater an, um sich nach dem Stand der Vorbereitungen für die Geldübergabe zu erkundigen. Um 14.25 Uhr sprach die Angeklagte am Bahnhof in L. einen Taxifahrer an und forderte ihn auf, zum Haus der Familie R. zu fahren, dort ein Päckchen abzuholen und zu ihr zu bringen. Sie einigte sich mit dem Taxifahrer auf 50 Euro für die Fahrt. Um 14.40 Uhr teilte die Angeklagte dem Vater von J. mit, daß sie einen Boten schicken werde, der das Geld abholen werde. Um 14.50 Uhr rief sie den Vater erneut an und erklärte, er werde seine Tochter nicht wiedersehen, da er die Polizei eingeschaltet habe. In Absprache mit der inzwischen eingeschalteten Polizei gab der Vater gegenüber dem Taxifahrer an, daß das Paket noch nicht da sei, er möge noch etwas warten. Der Vater erfuhr dabei, daß der Taxifahrer das Paket zum Bahnhof nach L. bringen solle. Daraufhin begann die Polizei mit der Observation des Bahnhofsgebietes in L. . Dort entdeckte die Polizei die Angeklagte gegen 15.19 Uhr in ihrem Fahrzeug; bis zu ihrer Festnahme um 15.48 Uhr wurde sie lückenlos observiert. J. wurde im Kofferraum des Fahrzeugs in einem zwar erschöpften, jedoch insgesamt zufriedenstellenden Zustand aufgefunden.
2. Die sachverständig beratene Strafkammer hat eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei der Angeklagten verneint und sie für beide Taten für strafrechtlich voll verantwortlich gehalten. Die Kammer ist dem psychiatrischen Sachverständigen darin gefolgt, die Angeklagte leide an einer schweren gemischten Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und schizoiden Anteilen, die weitgehend auf einem hochproblema-
tischen Verhältnis zum Vater beruhe. Dazu ist in den Urteilsgründen näher ausgeführt, die Störung äußere sich in einer unausgeglichenen Affektivität mit autoaggressiven Zügen, einer gestörten Beziehungsfähigkeit und einer Neigung , insbesondere problematische Dinge von sich abzuspalten. Die Persönlichkeitsstörung , die auch durch sexuelle Mißbrauchserlebnisse mitbedingt sein könne, sei deshalb so erheblich, daß Symptome vorlägen, die rechtlich als "schwere andere seelische Abartigkeit" im Sinne des § 20 StGB eingeordnet würden. Die Strafkammer ist den Ausführungen des Sachverständigen auch insoweit gefolgt, als keine Anhaltspunkte dafür bestünden, daß sich die Persönlichkeitsstörung bei der konkreten Tat auf ihre Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt habe. Die Angeklagte sei in der Lage, die Realität zu erkennen und richtig einzuschätzen. Angesichts der hohen Komplexität der Tatabläufe , insbesondere der umfänglichen Tatplanung und der Vorbereitungshandlungen , sowie der Tatsache, daß die Angeklagte längerfristige, zukunftsgerichtete Pläne verfolgt habe, lägen keine Hinweise dafür vor, daß sie ihr Verhalten nicht habe steuern können. Dagegen hat die die Revision eingewendet, die Beurteilung der Schuldfähigkeit sei in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft. Die Strafkammer habe bezüglich des ersten Tatvorwurfs, dem räuberischen Diebstahl, die Frage der erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit überhaupt nicht geprüft. Hinsichtlich der Kindesentführung habe sie sich zwar mit der Problematik auseinandergesetzt , jedoch schon verkannt, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichthofes die Annahme einer schweren seelischen Abartigkeit eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zumindest nahe lege. Ein überlegtes, geplantes, logisches und zielgerichtetes Handeln schließe eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nicht aus, da auch "bei geplantem und geordnetem Vorgehen" die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein könne,
Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegen- einander abzuwägen und danach den Willensentschluß zu bilden. Deshalb habe die Kammer in erster Linie prüfen müssen, ob die Angeklagte infolge ihrer Persönlichkeitsstörung in der fraglichen Zeit einem zur Tat führenden starken Motivationsdruck ausgesetzt gewesen sei, wie er sonst in vergleichbaren Situationen bei anderen Straftätern nicht vorhanden sei, und ob dadurch ihre Fähigkeit , sich normgerecht zu verhalten, deutlich vermindert gewesen sei. Die Kammer sei zwar davon ausgegangen, daß die schwere Persönlichkeitsstörung möglicherweise auf dem hochproblematischen Verhältnis zum Vater beruhe , habe jedoch außer acht gelassen, daß die Angeklagte mit ihrer Tochter und ihrem Sohn Deutschland verlassen und nach Tunesien auswandern wollte, „weil ihr Vater - der bereits sie über Jahre sexuell mißbraucht und geschlagen hatte - den Wunsch äußerte, mit der Tochter der Angeklagten ein Wochenende allein im Schwarzwald verbringen zu wollen und die Angeklagte befürchtete, daß ihr Vater sich auch an ihrer Tochter vergehen würde“ (UA S. 5, 20). 3. Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, daß die Strafkammer die Angeklagte trotz der angenommenen Persönlichkeitsstörung für beide Taten als strafrechtlich voll verantwortlich angesehen hat.
a) Persönlichkeitsstörung als andere seelische Abartigkeit
aa) Ersichtlich ist der Sachverständige bei der Beurteilung der persönlichen Entwicklung der Angeklagten und ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach den Kriterien der in der forensischen Psychiatrie gebräuchlichen diagnostischen und statistischen Klassifikationssysteme vorgegangen (ICD-10 Kapitel V (F), Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Dil-
ling/Mombour/Schmidt [Hrsg.], 4. Aufl.; DSM-IV, Diagnostisches und Statisti- sches Manual Psychischer Störungen 2. Aufl., Saß/Wittchen/Zaudig [Hrsg.].).
bb) Bei der in ICD-10 F 60.0 (DSM-IV 301.0) genannten Störungsgruppe „Persönlichkeitsstörung“ handelt es sich um einen Oberbegriff. Es werden völlig unterschiedliche typologisch definierte Varianten beschrieben, die je nach Ausprägung als normal oder abnorm zugeordnet werden. Sie reichen von einer Vielzahl normalpsychologisch wirksamer Ausprägungen und Beeinträchtigungen des Empfindens und Verhaltens bis zu einer abnormen Persönlichkeit, die von ihrem Gewicht her durchaus Krankheitswert erreichen kann (Rasch, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 261 f.). Der Begriff der Persönlichkeitsstörung beschreibt abnorme Persönlichkeiten, deren Eigenschaften von einer nicht näher bezeichneten gesellschaftlichen Norm abweichen. Von psychopathischen Persönlichkeiten wird dann gesprochen, wenn die Person an ihrer Abnormität leidet oder wenn die Gesellschaft unter ihrer Abnormität leidet (vgl. Venzlaff und Pfäfflin in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 4. Aufl. S. 248, 250; Rasch, StV 1991, 126, 127; Nedopil, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 149, 152 f.; Saß in Saß/Herpertz, Persönlichkeitsstörungen S. 177, 180).
cc) Für die forensische Unterscheidung zwischen strafrechtlich nicht relevanten Auffälligkeiten in Charakter und Verhalten einer Persönlichkeit und einer psychopathologischen Persönlichkeitsstörung, die Symptome aufweist, die in einer Beziehung zu psychischen Erkrankungen im engeren Sinne bestehen , enthalten die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV eine Vielzahl diagnostischer Kriterien, anhand derer der psychiatrische Sachverständige einzelne Persönlichkeitsstörungen spezifizieren und deren Ausprägungsgrad bewerten kann. Diagnostische Hilfsmittel bei psychischen Störungen sind ne-
ben technischen Untersuchungen (EEG, Laboruntersuchungen etc.) sowie den Selbst- und Fremdbeurteilungen vor allem strukturierte Checklisten und diagnostische Interviews (vgl. DSM-IV aaO S. XVII). Bei der forensischen Begut- achtung hat sich der Sachverständige methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Existieren mehrere anerkannte und indizierte Verfahren, so steht deren Auswahl in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Dabei ist der Sachverständige – unbeschadet der Sachleitungsbefugnis durch das Gericht - frei, von welchen inhaltlichen Überlegungen und wissenschaftlichen Methoden er bei Erhebung der maßgeblichen Informationen ausgeht und welche Gesichtspunkte er für seine Bewertung des Ausprägungsgrades für maßgeblich hält. In seinem Gutachten hat er nach den Geboten der Nachvollziehbarkeit und der Transparenz für alle Verfahrensbeteiligten nach Möglichkeit darzulegen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen und auf welchem Weg er zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist (vgl. BGHSt 44, 26, 33; 45, 164, 169; st. Rspr.).
dd) Der Senat hat der forensisch-psychiatrischen Literatur entnommen, daß sich nach dem bestehenden wissenschaftlichen Kenntnisstand für die forensische Schuldfähigkeitsbeurteilung von Persönlichkeitsstörungen folgende Vorgehensweise anbietet, ohne daß die Nichteinhaltung einzelner Schritte nach rechtlichen Maßstäben fehlerhaft sein muß. Dazu gehört, daß der Sachverständige die sozialen und biographischen Merkmale unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen Konstanz der pathologischen Auffälligkeiten erhebt. Darüber hinaus bedarf es der Darstellung der pathologischen Reaktionsweisen unter konflikthaften Belastungen und deren Veränderungen infolge der natürlichen Reifungs- und Entwicklungsschritte sowie der therapeutischen Maßnahmen (Saß in Saß/Herpertz, Persönlichkeitsstörungen, 2003, S. 177,
178). Weist die untersuchte Person Persönlichkeitszüge auf, die nur auf ein unangepaßtes Verhalten oder auf eine akzentuierte Persönlichkeit hindeuten und die Schwelle einer Persönlichkeitsstörung nicht erreichen, wird schon aus psychiatrischer Sicht eine Zuordnung zum vierten Merkmal des § 20 StGB auszuschließen sein.

b) Schweregrad der Abartigkeit
Gelangt der Sachverständige – wie hier - zur Diagnose einer „dissozialen oder antisoziale Persönlichkeitsstörung“ (ICD-10 F 60.2 und DSM-IV 301.7: „Mißachtung sozialer Normen“) und einer „schizoiden Persönlichkeitsstörung“ (ICD-10 F 60.1. und DSM-IV 301.20: „Distanziertheit in sozialen Beziehungen, eingeschränkte emotionale Ausdrucksmöglichkeiten“), so ist diese psychiatrische Diagnose indes nicht mit der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ in § 20 StGB gleichzusetzen. Für die forensische Praxis ist mit der bloßen Feststellung, bei dem Angeklagten liege eine Persönlichkeitsstörung vor, nichts gewonnen. Vielmehr sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluß auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit (Rasch, Die psychiatrisch-psychologische Beurteilung der sogenannten schweren anderen seelischen Abartigkeit, StV 1991 S. 126, 127). Hierfür sind die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit (etwa hinsichtlich der Wahrnehmung der eigenen und dritter Personen, der emotionalen Reaktionen, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Impulskontrolle) durch die festgestellten pathologischen Verhaltensmuster im Vergleich mit jenen krankhaft seelischer Störungen zu untersuchen (vgl. Kröber NStZ 1998, 80 f.). Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des
beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (DSM-IV aaO S. 715, 716; Nedopil aaO S. 152). Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als viertes Merkmal des § 20 StGB, der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ angesehen werden.
Für das Vorliegen der Voraussetzungen einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ werden aus psychiatrischer Sicht genannt: Hervorgehen der Tat aus neurotischen Konflikten; konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor der Tat; abrupter, impulshafter Tatablauf; aktuelle konstellative Faktoren wie z. B. Alkohol und andere Drogen, Ermüdung, affektive Erregung. Gegen das Vorliegen des vierten Merkmals des § 20 StGB können sprechen: Tatvorbereitung; planmäßiges Vorgehen bei der Tat; Fähigkeit zu warten; lang hingezogenes Tatgeschehen; komplexer Handlungsablauf in Etappen; Vorsorge gegen Entdeckung; Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen; Hervorgehen des Delikts aus dissozialen Charakterzügen (Saß in Saß/Herpertz aaO S. 179, 180; Versuche einer empirischwissenschaftlichen Auswertung der am häufigsten in forensischen Gutachten vorkommenden Indikatoren bei Scholz/Schmidt, Schuldfähigkeit bei schwerer anderer seelischer Abartigkeit, 2003).

c) Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat
Ob die Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat "erheblich" im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage. Diese hat der Tatrichter ohne Bin-
dung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten. Hierbei fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt (vgl. für den „berauschten Täter“ BGHSt 43, 66, 77; BGH NStZ-RR 1999, 295, 296 jew. m.w.N.). Diese Anforderungen sind um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist (BGH, Urt. v. 21. März 2001 - 1 StR 32/01).
Da Persönlichkeitsstörungen in der Regel die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit nicht vollständig aufheben, wird der Tatrichter Gesichtspunkte bewerten, die für oder gegen eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sprechen können, ohne daß es wegen der fließenden Übergänge zwischen Normalität sowie allen Schweregraden und Konstellationen abnormer Persönlichkeit feste skalierbare Regelungen gibt (Saß in Saß/Herpertz aaO S. 179).
aa) Zudem kommt es nach dem Gesetz nicht darauf an, ob die Steuerungsfähigkeit generell eingeschränkt ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob sie bei Begehung der Tat – und zwar erheblich – eingeschränkt war. Zur Beurteilung dieser Rechtsfrage wird der Tatrichter auf der Grundlage des Beweisergebnisses über den Ablauf der Tathandlung – auch unter Beachtung möglicher alternativer Tatvarianten - die vom Sachverständigen gestellte Diagnose, den Schweregrad der Störung und deren innere Beziehung zur Tat in eigener Verantwortung nachprüfen. Stellt er in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen fest, daß das Störungsbild die Merkmale eines oder mehrerer Muster oder einer Mischform die Klassifikationen in ICD-10 oder DSM-IV erfüllen, besagt dies rechtlich noch nichts über das Ausmaß psychischer Störungen (vgl. BGH NStZ 1997, 383). Eine solche Zuordnung hat eine Indizwirkung dafür, daß eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung vorliegt (vgl. zu bestimmten Fallgrup-
pen BGH StV 1998, 342; StV 2002, 17, 18; BGH, Urt. vom 27. August 2003 – 2 StR 267/03). Der Tatrichter wird in einer Gesamtbetrachtung die Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Entwicklung bewerten, wobei auch Vorgeschichte , unmittelbarer Anlaß und Ausführung der Tat sowie das Verhalten danach von Bedeutung sind (st. Rspr.; vgl. BGHSt 37, 397, 401 f.; BGH NStZ 1997, 485; BGH, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 10, 20, 23, 36; BGH NStZ 1996, 380; BGH StraFo 2001, 249; BGH StV 2002, 17, 18; vgl. in diesem Sinne auch Venzlaff und Pfäfflin in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung aaO S. 270 f.; Saß in Saß/Herpertz, Persönlichkeitsstörungen S. 177, 180).
bb) Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die mitgeteilte Diagnose des Sachverständigen zum Vorliegen einer schweren Persönlichkeitsstörung zutreffend war. Dagegen könnte sprechen, daß die in den Urteilsgründen mitgeteilte Tatsachengrundlage wenig tragfähig erscheint. Der Sachverständige hat seine Diagnose im wesentlichen auf die persönlichen Angaben der Angeklagten bei der Exploration gestützt und ausgeführt, „die Persönlichkeitsstörung die durchaus auch auf sexuelle Mißbrauchserlebnisse mitbedingt sein könne, sei auch so erheblich, daß eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB anzunehmen sei“. Auch die Strafkammer ist „ entsprechend ihren Angaben zu ihren Gunsten davon ausgegangen“, die Angeklagte sei vom Vater seit ihrem siebten Lebensjahr immer wieder sexuell mißbraucht worden. Konkrete Feststellungen oder objektivierbare Indizien, die die Behauptungen der Angeklagten stützen, enthalten die Urteilsgründe nicht. Die als Zeugen vernommenen Mutter und Schwester haben sogar ausgesagt, sie hätten zu keinem Zeitpunkt Anhaltspunkte für einen sexuellen Mißbrauch der Angeklagten gehabt (UA S. 15).
Die Strafkammer hat zum räuberischen Diebstahl im Oktober 2001 keine näheren Ausführungen zu einer möglichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit gemacht. Eine solche lag auch eher fern, denn hinsichtlich dieser Tat behauptet die Revision selbst nicht, daß die Angeklagte infolge ihrer Persönlichkeitsstörung schon zu diesem Zeitpunkt einem so starken Motivationsdruck ausgesetzt war, daß sie die Wegnahme des Geldes und dessen Sicherung durch Gewaltanwendung nicht habe steuern können.
Die Strafkammer hat auch hinsichtlich der im Juli 2002 begangenen Entführung der siebenjährigen J. nachvollziehbar einen erheblichen Einfluß der Persönlichkeitsstörung auf das komplexe Tatgeschehen ausgeschlossen. Die Angeklagte sei zwar aufgrund ihrer Lebensgeschichte, zu der auch die Mißbrauchsgeschichte gehören könne, in vieler Hinsicht kritikgemindert. Sie sei aber in der Lage, die Realität zu erkennen und richtig einzuschätzen. Ihre gelegentliche Impulsivität sei keine pathologisch überhöhte Erregbarkeit, insbesondere sei auch keine hirnorganisch begründete Affektlabilität festzustellen.
Als Beleg für eine vollständig erhaltene Steuerungsfähigkeit hat die Strafkammer herangezogen, daß es der Angeklagten bei ihrer Tat in erster Linie darum ging, sich mittels des erwarteten Lösegeldes die Basis für ihr zukünftiges Leben in Tunesien zu schaffen. Die Behauptung der Angeklagten, sie habe wegen eines möglichen Übergriffs des Vaters auf ihre Tochter unter einem schwer beherrschbaren Motivationsdruck gestanden, darf die Kammer als widerlegt ansehen. Sie hat ausgeführt, die Angeklagte habe diese Pläne schon seit ihrem Besuch und ihrer Verlobung in Tunesien im April 2002 verfolgt und
sich endgültig im Juli 2002 zu dieser Straftat entschlossen. Das Lösegeld sollte das ihrem neuen Lebensgefährten zugesagte Startkapital sein.
Gegen die erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat sprachen hier die bis ins einzelne gehende Planung der Entführung, die vorbereitende Beobachtung der Familie über mehrere Tage sowie das mehrmalige Umbuchen der Flüge nach Tunesien. Die Kammer hat mit Recht auch als überlegtes kriminelles Handeln angesehen, daß die Angeklagte dem Vater des Entführungsopfers jeweils nur kurze Fristen zur Geldbeschaffung setzte, um ihn aus Furcht um sein Kind unter Druck zu setzen. Die Strafkammer konnte schließlich als Belege für ein kontrolliertes und zielgerichtetes Handeln der Angeklagten auch die kaltblütige Durchführung der Entführung auf dem öffentlichen Schulgelände heranziehen. Sie hat ausgeführt, das Sichbemächtigen des Kindes auf dem Schulgelände zeige, in welchem Maße die Angeklagte in der Lage war, situationsadäquat zu handeln und ihre Impulse instrumental zu steuern. Obwohl sie auf dem Schulgelände mit Zeugen rechnen mußte, habe sie das Kind in der Nähe des Rektorats abgefangen und gezielt - und für das Kind J. äußerst schmerzhaft - das Elektroschockgerät einsetzte und das sich wehrende Kind in den bereitgestellten Pkw verbracht. Damit ist die Strafkammer zu Recht davon ausgegangen, daß bei der Angeklagten eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht vorlag.
Nack Wahl Boetticher Schluckebier Hebenstreit
14
a) Bei der „Persönlichkeitsstörung“ handelt es sich um einen Oberbegriff zu verschiedenen Varianten, die unterschiedliches Gewicht haben. Diese reichen von einer Vielzahl normalpsychologisch wirkender Ausprägungen des Empfindens und Verhaltens bis zu einer abnormen Persönlichkeit, deren Störungsgrad Krankheitswert zukommt. Gelangt der Sachverständige zur Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, ist dies noch nicht mit der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ in § 20 StGB gleichzusetzen. Vielmehr sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfä- higkeit entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52).

(1) Wer durch eine Brandstiftung nach § 306 oder § 306a eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen oder eine Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.

(2) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter in den Fällen des § 306a

1.
einen anderen Menschen durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt,
2.
in der Absicht handelt, eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken oder
3.
das Löschen des Brandes verhindert oder erschwert.

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
ein Gebäude, ein Schiff, eine Hütte oder eine andere Räumlichkeit, die der Wohnung von Menschen dient,
2.
eine Kirche oder ein anderes der Religionsausübung dienendes Gebäude oder
3.
eine Räumlichkeit, die zeitweise dem Aufenthalt von Menschen dient, zu einer Zeit, in der Menschen sich dort aufzuhalten pflegen,
in Brand setzt oder durch eine Brandlegung ganz oder teilweise zerstört.

(2) Ebenso wird bestraft, wer eine in § 306 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 bezeichnete Sache in Brand setzt oder durch eine Brandlegung ganz oder teilweise zerstört und dadurch einen anderen Menschen in die Gefahr einer Gesundheitsschädigung bringt.

(3) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

16
Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung ist dabei am Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit, nicht an demjenigen der krankhaften seelischen Störung zu messen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2017 - 5 StR 364/17, juris Rn. 9 mwN). In den Urteilsgründen ist der geistigseelische Zustand der Angeklagten hingegen wiederholt als "psychische Erkrankung" gewertet (UA S. 14; s. auch UA S. 11 ["krankheitsbedingt"]). Unter den gegebenen Umständen lässt dies besorgen, dass es der Sachverständige nicht vermocht hat, der Strafkammer eine genügende Vorstellung von der von ihm gestellten psychiatrischen Diagnose zu vermitteln.
9
Die Sachverständige und ihr folgend das Landgericht ordnen die beim Angeklagten diagnostizierte Persönlichkeitsstörung dem Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung des § 20 StGB zu. Derartige Defekte sind jedoch am Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ zu messen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. November 2013 – 2 StR 463/13, NStZ-RR 2014, 72, und vom 21. Juli 2015 – 2 StR 163/15; SSW-StGB/Kaspar, 3. Aufl., § 20 Rn. 71, 79 ff.). Dieses Eingangsmerkmal wird allein durch den Befund einer Persönlichkeitsstörung nicht belegt. Erforderlich ist bei einer nicht pathologisch begründeten Persönlichkeitsstörung, dass sie in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkommt. Dabei sind der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters von Bedeutung. Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist im Allgemeinen maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des Deliktes zu Einschränkungen des sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (vgl. zum Ganzen BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45,52 und vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319 f.; Beschluss vom 4. Dezember 2007 – 5 StR 398/07, NStZ-RR 2008, 104).

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 162/00
vom
23. August 2000
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 23. August 2000 gemäß § 349
Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 17. Januar 2000 insoweit mit den Feststellungen aufgehoben, als gegen ihn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist; im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung in sieben Fällen und der versuchten gefährlichen Körperverletzung in einem weiteren Fall wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen, jedoch seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dagegen richtet sich seine Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechtes rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat festgestellt, daß der Angeklagte eine Reihe von Anlaßtaten begangen, nämlich in den Jahren 1992, 1993 und 1995 seine Le-
bensgefährtin mit verschiedenen Gegenständen (Messer, Kaffeekanne, Bierflasche , Stuhllehne, Wäscheständer, Zementsack) erheblich mißhandelt hat. Allerdings ist der Fall 8 nicht datiert. Auch hat keine Beachtung gefunden, daß der Fall 1 (Tatzeit: Januar/Februar 1992) und womöglich auch der Fall 2 (Tatzeit : 1992) verjährt sind, weil die für § 223 a a.F. StGB geltende Verjährungsfrist von fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) bereits abgelaufen war, bevor am 21. November 1997 mit Anordnung der ersten Vernehmung des damaligen Beschuldigten eine zur Verjährungsunterbrechung geeignete Handlung (§ 78 c Abs. 1 Nr. 1 StGB) stattfand. Unzulänglich sind aber vor allem die Ausführungen des Landgerichts dazu, ob den Taten des Angeklagten ein länger andauernder Zustand (zumindest ) erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zugrunde lag. Es bejaht - dem hierzu gehörten Sachverständigen folgend - das Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit. Obgleich die Urteilsgründe durchaus Anhaltspunkte hierfür bieten, ist ihnen doch nicht zu entnehmen, welche Form der schweren anderen seelischen Abartigkeit das Landgericht annimmt und ob es dabei von zutreffenden Maßstäben ausgegangen ist. Denn es beschränkt sich auf die Feststellung einer "dissozialen Persönlichkeitsstörung" und beschreibt deren Kriterien nach dem Merkmalskatalog der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen internationalen Klassifikation ICD 10 (International Classification of Diseases, 10th revision, deutsche Fassung Dilling/Mombour/Schmidt [Hrsg.] 2. Aufl.). Das genügt nicht. Abgesehen davon, daß diese Kriterien in den Urteilsgründen nicht mit Tatsachen belegt werden, ergeben sie auch noch keinen Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit; denn die ICD, die vor allem der internationalen fachlichen Verständigung dient, zählt lediglich Erkrankungen und Verhaltensstörungen auf und ordnet sie ein, trifft aber keine Aussage darüber, ob und inwieweit die beschriebenen Defekte
die Schuldfähigkeit des Täters beeinträchtigen (BGH NStZ 1997, 383 = BGHR StGB § 21 Psychose 1; BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 29). Die Feststellung einer "dissozialen Persönlichkeitsstörung" besagt wenig; denn dieser Begriff kann auch Eigenschaften und Verhaltensweisen umspannen, die sich innerhalb der Bandbreite des Verhaltens uneingeschränkt schuldfähiger Menschen bewegen, also keine schwere andere seelische Abartigkeit begründen (BGHR StGB § 63 Zustand 24). Es bedarf daher einer näheren Beschreibung und Eingrenzung des psychischen Defekts vor dem Hintergrund einer eingehenden Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und ihrer Entwicklung (BGHR StGB § 63 Zustand 34). Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Insbesondere fehlen hinlänglich konkrete Angaben zur Art der Störung und zur Entwicklung der Persönlichkeit des Angeklagten. Diese werden aus den Feststellungen zu seinen früheren Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern und den dabei gestellten Diagnosen ebensowenig deutlich wie aus der nicht weiter erläuterten, die Schilderung der Anlaßtaten aussparenden Angabe , der Angeklagte habe sich "rund 17 Jahre in Haft" befunden. Die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB ist aber auch deshalb unzureichend begründet, weil das Landgericht feststellt, der Angeklagte sei alkohol- und medikamentensüchtig, leide unter Entzugserscheinungen und bedürfe einer Behandlung, ohne sich mit der Frage seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) auseinanderzusetzen. Dies drängte sich auf, falls - was die Feststellungen wiederum offenlassen - bei den Anlaßtaten Alkohol - oder Medikamentenmißbrauch eine auslösende Rolle gespielt haben sollte. In diesem Fall erübrigte sich eine Erörterung nicht schon deshalb, weil - wie die Strafkammer mit dem Sachverständigen annimmt - bei dem Angeklagten "die Suchtmittelproblematik vordergründiger als die Persönlichkeitsproblematik" ist; denn das schließt nicht ohne weiteres aus, daß die Behandlung in einer
Entziehungsanstalt die Aussicht bietet, ihn soweit zu therapieren, daß von ihm keine Gefahr der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten mehr ausgeht. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist demgemäß aufzuheben, wohingegen der Freispruch bestehen bleibt. Da nach den bisherigen Feststellungen die letzte Anlaßtat im Jahre 1995 begangen ist, also lange zurückliegt, wird die nunmehr sachbefaßte Strafkammer zu den Vorfällen aus den Monaten Januar und Oktober 1999 angesichts ihrer möglichen Bedeutung für die Gefahrprognose genauere Feststellungen treffen müssen. Jähnke Niemöller Otten Rothfuß Fischer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 174/03
vom
20. Mai 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 20. Mai 2003 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 1. November 2002 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge zum Maßregelausspruch Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 17. April 2003.
2. Dagegen hat der Maßregelausspruch keinen Bestand. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) kommt nur bei solchen Personen in Betracht, deren Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit durch einen positiv festgestellten länger bestehenden und nicht nur vorübergehenden Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB hervorgerufen ist (st. Rspr.; BGHSt 34, 22, 27). Daß bei dem Angeklagten ein solcher Zustand vorliegt, ist nicht rechtsfehlerfrei dargelegt.

a) Der vom Landgericht hinzugezogene psychiatrische Sachverständige hat ausgeführt, dem Angeklagten sei eine "emotionale instabile Persönlichkeitsstörung" im Sinne F 60.30 der ICD-10 (impulsiver Typus) zu "attestieren", wobei bei ihm auch Elemente des "Borderline-Typus" vorlägen. Daneben sei eine "dissoziale Persönlichkeitsstörung" im Sinne F 60.2 der ICD-10 zu diagnostizieren (UA 39/40). Das Landgericht hat die Ausführungen des Sachverständigen "für überzeugend gehalten und diese nach kritischer Würdigung für sich übernommen.“ Es hat die Schuldfähigkeit des Angeklagten trotz dieser Störungen, die nach seiner Auffassung das Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 erfüllen, mit - insoweit rechtsfehlerfreien Erwägungen – bejaht und ausgeführt, "gleichwohl“ gehe „die Kammer von dem Vorliegen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 StGB des Angeklagten zum Tatzeitpunkt aus" (UA 41).

b) Der Senat stellt die Diagnose einer Borderline- und dissozialen Per- sönlichkeitsstörung durch den Sachverständigen nicht in Frage. Diese Diagnose belegt aber für sich allein den für die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB vorausgesetzten Zustand zumindest erheblich verminderter Schuldfähigkeit noch nicht (BGHSt 42, 385, 388; BGH NStZ 2002, 142). Die mitgeteilten Persönlichkeitsmerkmale reichen für die sichere Feststellung einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht aus. Die bei dem Angeklagten festgestellten Charakter- und Verhaltensauffälligkeiten liegen bei Straftätern häufig vor und lassen für sich genommen eine generalisierende Aussage zur Frage der Schuldfähigkeit nicht zu. Die von dem Sachverständigen beschriebenen Auffälligkeiten in der Persönlichkeit des Angeklagten sind deshalb von Eigenschaften und Verhaltensweisen abzugrenzen, die sich noch innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens bewegen und Ursache für strafbares Tun sein können, ohne daß sie die Schuldfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB berühren (BGHSt 42, 385, 388; BGH StV 1997, 630). In einer Gesamtschau muß der Tatrichter ohne Bindung an die Auffassung des Sachverständigen (BGHSt 43, 66, 77) klären, ob die nicht pathologisch bestimmten Störungen in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 34, 22, 28; 37, 397, 401). Daran fehlt es.
Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten begegnet schließlich auch deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht, obwohl nicht aufzuklären war, was den Angeklagten veranlaßt hat, das Tatopfer in dessen Wohnung aufzusuchen, zu seinen Gunsten von einem auf seiner Perönlichkeitsstörung beruhenden Impulsdurchbruch ausgegangen ist. Diese
Anwendung des Zweifelsgrundsatzes ist zwar rechtlich nicht zu beanstanden, soweit sie zur Milderung des Strafrahmens wegen einer erheblichen Verminde- rung der Schuldfähigkeit nach §§ 21, 49 StGB geführt hat. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB wirkt sie sich aber zu Ungunsten des Angeklagten aus. Insoweit hätte sich das Landgericht deshalb in Anwendung Zweifelsgrundsatzes mit der nach seiner Auffassung naheliegenden Möglichkeit auseinandersetzen müssen, daß der Angeklagte aus einem rational nachvollziehbaren Motiv handelte, nämlich um sich von dem Tatopfer, das ihm bereits mehrfach Geldbeträge zugewendet hatte, Geld zu beschaffen (UA 30), und deshalb bei Begehung der Tat möglicherweise voll schuldfähig war.
Die Sache bedarf daher, soweit es die Frage der Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB betrifft, neuer Verhandlung und Entscheidung.
RiBGH Maatz ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben. Tepperwien Tepperwien Athing
RiBGH Dr. Ernemann ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben. Tepperwien

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 174/03
vom
20. Mai 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 20. Mai 2003 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 1. November 2002 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge zum Maßregelausspruch Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 17. April 2003.
2. Dagegen hat der Maßregelausspruch keinen Bestand. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) kommt nur bei solchen Personen in Betracht, deren Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit durch einen positiv festgestellten länger bestehenden und nicht nur vorübergehenden Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB hervorgerufen ist (st. Rspr.; BGHSt 34, 22, 27). Daß bei dem Angeklagten ein solcher Zustand vorliegt, ist nicht rechtsfehlerfrei dargelegt.

a) Der vom Landgericht hinzugezogene psychiatrische Sachverständige hat ausgeführt, dem Angeklagten sei eine "emotionale instabile Persönlichkeitsstörung" im Sinne F 60.30 der ICD-10 (impulsiver Typus) zu "attestieren", wobei bei ihm auch Elemente des "Borderline-Typus" vorlägen. Daneben sei eine "dissoziale Persönlichkeitsstörung" im Sinne F 60.2 der ICD-10 zu diagnostizieren (UA 39/40). Das Landgericht hat die Ausführungen des Sachverständigen "für überzeugend gehalten und diese nach kritischer Würdigung für sich übernommen.“ Es hat die Schuldfähigkeit des Angeklagten trotz dieser Störungen, die nach seiner Auffassung das Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 erfüllen, mit - insoweit rechtsfehlerfreien Erwägungen – bejaht und ausgeführt, "gleichwohl“ gehe „die Kammer von dem Vorliegen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 StGB des Angeklagten zum Tatzeitpunkt aus" (UA 41).

b) Der Senat stellt die Diagnose einer Borderline- und dissozialen Per- sönlichkeitsstörung durch den Sachverständigen nicht in Frage. Diese Diagnose belegt aber für sich allein den für die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB vorausgesetzten Zustand zumindest erheblich verminderter Schuldfähigkeit noch nicht (BGHSt 42, 385, 388; BGH NStZ 2002, 142). Die mitgeteilten Persönlichkeitsmerkmale reichen für die sichere Feststellung einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht aus. Die bei dem Angeklagten festgestellten Charakter- und Verhaltensauffälligkeiten liegen bei Straftätern häufig vor und lassen für sich genommen eine generalisierende Aussage zur Frage der Schuldfähigkeit nicht zu. Die von dem Sachverständigen beschriebenen Auffälligkeiten in der Persönlichkeit des Angeklagten sind deshalb von Eigenschaften und Verhaltensweisen abzugrenzen, die sich noch innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens bewegen und Ursache für strafbares Tun sein können, ohne daß sie die Schuldfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB berühren (BGHSt 42, 385, 388; BGH StV 1997, 630). In einer Gesamtschau muß der Tatrichter ohne Bindung an die Auffassung des Sachverständigen (BGHSt 43, 66, 77) klären, ob die nicht pathologisch bestimmten Störungen in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 34, 22, 28; 37, 397, 401). Daran fehlt es.
Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten begegnet schließlich auch deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht, obwohl nicht aufzuklären war, was den Angeklagten veranlaßt hat, das Tatopfer in dessen Wohnung aufzusuchen, zu seinen Gunsten von einem auf seiner Perönlichkeitsstörung beruhenden Impulsdurchbruch ausgegangen ist. Diese
Anwendung des Zweifelsgrundsatzes ist zwar rechtlich nicht zu beanstanden, soweit sie zur Milderung des Strafrahmens wegen einer erheblichen Verminde- rung der Schuldfähigkeit nach §§ 21, 49 StGB geführt hat. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB wirkt sie sich aber zu Ungunsten des Angeklagten aus. Insoweit hätte sich das Landgericht deshalb in Anwendung Zweifelsgrundsatzes mit der nach seiner Auffassung naheliegenden Möglichkeit auseinandersetzen müssen, daß der Angeklagte aus einem rational nachvollziehbaren Motiv handelte, nämlich um sich von dem Tatopfer, das ihm bereits mehrfach Geldbeträge zugewendet hatte, Geld zu beschaffen (UA 30), und deshalb bei Begehung der Tat möglicherweise voll schuldfähig war.
Die Sache bedarf daher, soweit es die Frage der Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB betrifft, neuer Verhandlung und Entscheidung.
RiBGH Maatz ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben. Tepperwien Tepperwien Athing
RiBGH Dr. Ernemann ist wegen Urlaubs gehindert zu unterschreiben. Tepperwien

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.

(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:

1.
An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
2.
Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.
3.
Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sichim Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre,im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate,im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate,im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.

(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.

42
d) Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist im Rahmen der Ermessensausübung im Ausgangspunkt Bedacht darauf zu nehmen, dass auf Grund der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit der Schuldgehalt der Tat in aller Regel verringert ist (BGH, Urteile vom 10. November 1954 - 5 StR 476/54, BGHSt 7, 28, 30; vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15, aaO Rn. 24; Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15, juris Rn. 4). Um dem Prinzip zu genügen , dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten darf, erfordert die Versagung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB schulderhöhende Umstände, die diese Schuldminderung kompensieren (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2016 - 1 ARs 21/15 mwN; Roxin, aaO, § 20 Rn. 37 ff.; Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 561, 562). Es ist im Grundsatz anerkannt und wird auch durch den vorlegenden Senat nicht in Zweifel gezogen (vgl. Vorlegungsbeschluss Rn. 29 ff.), dass sich die auf einer Gesamtabwägung beruhende Ermessensentscheidung des Tatgerichts an diesem Kompensationsgedanken auszurichten hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 17. August 2004 - 5 StR 93/04, aaO; vom 15. Februar 2006 - 2 StR 419/05, aaO; vom 26. Mai 2004 - 2 StR 386/03, NStZ 2004, 619; MüKo/StGB/Streng, aaO, § 21 Rn. 22; SSW-StGB/Kaspar, aaO, § 21 Rn. 28; Fischer, aaO, § 21 Rn. 18; jeweils mwN). Das Ausmaß der fakultativen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB lässt dabei erkennen, dass der Gesetzgeber die Tatschuld als typischerweise beträchtlich verringert ansieht, wenn der Täter vermindert schuldfähig war. Hieraus folgt, dass es für die Verweigerung der Milderung eines besonderen Grundes bedarf, der umso gewichtiger sein muss, je gravierender sich die Beibehaltung des Regelstrafrahmens auswirkt (vgl. BGH, Beschluss vom 4. September 1992 - 2 StR 380/92, aaO; vom 25. Oktober 1989 - 2 StR 350/89, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 18 mwN; LK/Jähnke, StGB, 11. Aufl., § 21 Rn. 19; SSW-StGB/Kaspar, aaO, § 21 Rn. 18).

(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:

1.
An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
2.
Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.
3.
Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sichim Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre,im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate,im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate,im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.

(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.

42
d) Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist im Rahmen der Ermessensausübung im Ausgangspunkt Bedacht darauf zu nehmen, dass auf Grund der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit der Schuldgehalt der Tat in aller Regel verringert ist (BGH, Urteile vom 10. November 1954 - 5 StR 476/54, BGHSt 7, 28, 30; vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15, aaO Rn. 24; Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15, juris Rn. 4). Um dem Prinzip zu genügen , dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten darf, erfordert die Versagung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB schulderhöhende Umstände, die diese Schuldminderung kompensieren (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2016 - 1 ARs 21/15 mwN; Roxin, aaO, § 20 Rn. 37 ff.; Salger/Mutzbauer, NStZ 1993, 561, 562). Es ist im Grundsatz anerkannt und wird auch durch den vorlegenden Senat nicht in Zweifel gezogen (vgl. Vorlegungsbeschluss Rn. 29 ff.), dass sich die auf einer Gesamtabwägung beruhende Ermessensentscheidung des Tatgerichts an diesem Kompensationsgedanken auszurichten hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 17. August 2004 - 5 StR 93/04, aaO; vom 15. Februar 2006 - 2 StR 419/05, aaO; vom 26. Mai 2004 - 2 StR 386/03, NStZ 2004, 619; MüKo/StGB/Streng, aaO, § 21 Rn. 22; SSW-StGB/Kaspar, aaO, § 21 Rn. 28; Fischer, aaO, § 21 Rn. 18; jeweils mwN). Das Ausmaß der fakultativen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB lässt dabei erkennen, dass der Gesetzgeber die Tatschuld als typischerweise beträchtlich verringert ansieht, wenn der Täter vermindert schuldfähig war. Hieraus folgt, dass es für die Verweigerung der Milderung eines besonderen Grundes bedarf, der umso gewichtiger sein muss, je gravierender sich die Beibehaltung des Regelstrafrahmens auswirkt (vgl. BGH, Beschluss vom 4. September 1992 - 2 StR 380/92, aaO; vom 25. Oktober 1989 - 2 StR 350/89, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 18 mwN; LK/Jähnke, StGB, 11. Aufl., § 21 Rn. 19; SSW-StGB/Kaspar, aaO, § 21 Rn. 18).

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 490/02
vom
7. Januar 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 7. Januar 2003 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 18. Juli 2002 im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes und Vergewaltigung zu lebenslanger Freiheitsstrafe (als Gesamtstrafe) verurteilt und die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten festgestellt. Es hat außerdem dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, daß 15 Jahre der Freiheitsstrafe vor der Unterbringung zu vollziehen sind. Die Revision des Angeklagten, mit der er allgemein die Verletzung sachlichen Rechts rügt, führt zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs. Im übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte die Halbschwester seiner Ehefrau erdrosselt, um die zuvor von ihm begangene Vergewaltigung des Tatopfers zu verdecken. Das Landgericht hat für den Mord auf lebenslange , für die Vergewaltigung auf sechs Jahre Freiheitsstrafe als Einzelstrafe erkannt. Es hat bei beiden Taten nicht auszuschließen vermocht, daß die Hemmungsfähigkeit des Angeklagten infolge Alkoholgenusses im Zusammenwirken mit einer Persönlichkeitsstörung erheblich vermindert war (§ 21 StGB). Gleichwohl hat die Strafkammer von der danach gegebenen Möglichkeit, den jeweiligen Strafrahmen gemäß § 49 Abs. 1 StGB zu mildern, weder beim Mord noch bei der Vergewaltigung Gebrauch gemacht. Zur Begründung hat das Landgericht bei beiden Straftaten maßgeblich darauf abgestellt, der Angeklagte sei wegen Gewaltdelikten, die er unter Alkoholeinfluß begangen habe, vorverurteilt gewesen. Ihm sei deshalb vorzuwerfen, daß er sich, "noch frei in seinen Entscheidungen" , entschlossen habe, wieder zu trinken. Seinen Zustand habe er in Kenntnis seiner Gefährlichkeit gerade Frauen gegenüber herbeigeführt. Diese Begründung begegnet in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Zwar kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB abgelehnt werden, wenn der Täter schon früher unter Alkoholeinfluß straffällig geworden ist und deshalb wußte oder sich dessen hätte bewußt sein können, daß er in einem solchen Zustand zu Straftaten neigt (BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 3, 6, 9 und 14 m.w.N.). Allerdings dürfen dem vermindert schuldfähigen Täter solche Taten nicht schulderhöhend angerechnet werden, mit deren Begehung er aufgrund des Ausmaßes und der Intensität seiner bisher unter Alko-
holeinwirkung begangenen Straftaten nicht rechnen konnte (BGHSt 35, 143, 145; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 6 und 14).
Weitere Voraussetzung für eine Versagung der Strafrahmenmilderung ist, daß dem Angeklagten die Alkoholaufnahme zum Vorwurf gemacht werden kann. Dies kommt in der Regel dann nicht in Betracht, wenn der Täter alkoholkrank ist oder wenn der Alkohol den Täter zumindest weitgehend beherrscht, wenn also in der aktuellen Alkoholaufnahme kein schulderhöhender Umstand gesehen werden kann (BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 19; BGH NStZ-RR 1999, 12).
Daß diese Voraussetzungen hier vorliegen, hat das Landgericht nicht ausreichend festgestellt.
Es hätte hierzu zunächst der näheren Darlegung der Straftaten bedurft, die nach Überzeugung der Strafkammer zur Tatzeit auf eine alkoholbedingt erhöhte Gewaltbereitschaft des Angeklagten insbesondere Frauen gegenüber schließen lassen. Allein die pauschale Feststellung, der Angeklagte sei bereits früher unter Alkoholeinfluß straffällig geworden und wegen Raubes und Körperverletzung sowie wegen versuchten (schweren) Diebstahls bereits vorbestraft gewesen, vermag dies nicht zu belegen. Soweit die Strafkammer davon ausgeht, es sei vor den hier abgeurteilten Taten "schon zweimal vorgekommen , daß der Angeklagte alkoholisiert seine Ehefrau vergewaltigt" habe (UA 8), fehlt es ebenfalls an der Mitteilung von Einzelheiten zu den Umständen dieser Taten, insbesondere zum Ausmaß der vom Angeklagten angewandten Gewalt und zum Grad seiner Alkoholisierung. Die beiden massiven Sexualdelikte, derentwegen der Angeklagte in den Jahren 1993 und 1997 verurteilt wurde, be-
ging er erst nach den hier ausgeurteilten Straftaten. Diese Taten können deshalb bei der Prüfung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB keine Berücksichtigung finden.
Nach den getroffenen Feststellungen liegt es zudem nahe, daß dem Angeklagten der Alkoholkonsum nur eingeschränkt zum Vorwurf gemacht werden kann, weil er zur Tatzeit alkoholkrank war. Aus den Urteilsgründen ergibt sich, daß der Angeklagte bereits im Alter von 15 Jahren begann, regelmäßig Alkohol zu trinken und sich bei ihm schon früh das "Vollbild einer Alkoholkrankheit" ausbildete. Er hatte sich zu einem jungen Erwachsenen mit selbstunsicherer Persönlichkeit entwickelt, der sich unter Alkoholeinfluß stärker fühlte. Das Trinken gehörte zu seinem Leben. Die sachverständig beratene Strafkammer ist deshalb zu dem Ergebnis gelangt, der Angeklagte sei zur Tatzeit alkoholabhängig gewesen.
Angesichts dieser Umstände durfte sich das Landgericht nicht darauf beschränken festzustellen, der Angeklagte habe sich am Tattag zum Alkoholkonsum entschlossen, als er "noch frei in seiner Entscheidung war". Es hätte sich vielmehr ausdrücklich damit auseinandersetzen müssen, ob angesichts seiner Alkoholabhängigkeit in der Alkoholaufnahme überhaupt ein Umstand gesehen werden kann, der es rechtfertigt, von der Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB abzusehen.
Schließlich wird das Urteil auch nicht den erhöhten Anforderungen gerecht , die an die Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung zu stellen sind, wenn, wie hier beim Mord, allein die Wahl zwischen lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe besteht. In einem solchen Fall müssen besondere erschweren-
de Umstände vorliegen, um die mit den Voraussetzungen des § 21 StGB verbundene Schuldminderung so auszugleichen, daß die gesetzliche Höchststrafe verhängt werden darf (BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 18 m.w.N.). Es fehlt insoweit bereits an der gebotenen Gesamtabwägung aller für und gegen den Täter sprechenden schuldrelevanten Umstände (BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 24).
2. Demgemäß muß für beide Taten die Strafe neu zugemessen werden. Die Aufhebung des Strafausspruchs erfaßt zwangsläufig auch die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld des Angeklagten (§ 57 a StGB).
Daß sich der Angeklagte im Tatzeitpunkt in einem Zustand befunden hat, in dem seine Einsichtsfähigkeit gefehlt hat oder seine Steuerungsfähigkeit vollständig aufgehoben war, kann der Senat angesichts der getroffenen Feststellungen ausschließen.
3. Der Senat hat auch den Maßregelausspruch aufgehoben, um dem neuen Tatrichter Gelegenheit zu geben, über den Rechtsfolgenausspruch gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen insgesamt neu zu entscheiden. Darüber hinaus wird hinsichtlich der rechtlich bedenklichen Feststellungen zum Vorliegen eines Hanges, alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen, und zu der rechtsfehlerhaften Anordnung des Vorwegvollzugs der Strafe (vgl. insoweit BGHSt 37, 160) auf
die Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 25. November 2002 verwiesen.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

(1) Wird die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63 und 64 neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen.

(2) Das Gericht bestimmt jedoch, daß die Strafe oder ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird. Bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitigen Freiheitsstrafe von über drei Jahren soll das Gericht bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Dieser Teil der Strafe ist so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und einer anschließenden Unterbringung eine Entscheidung nach Absatz 5 Satz 1 möglich ist. Das Gericht soll ferner bestimmen, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn die verurteilte Person vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und zu erwarten ist, dass ihr Aufenthalt im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird.

(3) Das Gericht kann eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 1 oder Satz 2 nachträglich treffen, ändern oder aufheben, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. Eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 kann das Gericht auch nachträglich treffen. Hat es eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 getroffen, so hebt es diese auf, wenn eine Beendigung des Aufenthalts der verurteilten Person im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe nicht mehr zu erwarten ist.

(4) Wird die Maßregel ganz oder zum Teil vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.

(5) Wird die Maßregel vor der Strafe oder vor einem Rest der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 zur Bewährung aussetzen, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist. Wird der Strafrest nicht ausgesetzt, so wird der Vollzug der Maßregel fortgesetzt; das Gericht kann jedoch den Vollzug der Strafe anordnen, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen.

(6) Das Gericht bestimmt, dass eine Anrechnung nach Absatz 4 auch auf eine verfahrensfremde Strafe erfolgt, wenn deren Vollzug für die verurteilte Person eine unbillige Härte wäre. Bei dieser Entscheidung sind insbesondere das Verhältnis der Dauer des bisherigen Freiheitsentzugs zur Dauer der verhängten Strafen, der erzielte Therapieerfolg und seine konkrete Gefährdung sowie das Verhalten der verurteilten Person im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. Die Anrechnung ist in der Regel ausgeschlossen, wenn die der verfahrensfremden Strafe zugrunde liegende Tat nach der Anordnung der Maßregel begangen worden ist. Absatz 5 Satz 2 gilt entsprechend.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

21
3. Das Landgericht hat durchaus gesehen, dass gemäß § 72 Abs. 2 StGB die kumulative Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Sicherungsverwahrung möglich ist, weil erstere gegenüber letzterer "kein geringeres, sondern ein anderes Übel" ist (st. Rspr., BGH, Beschluss vom 6. August 1997 - 2 StR 199/97, NStZ 1998, 35 mwN). Es hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hier ausreicht, um die Allgemeinheit dauerhaft vor weiteren, vom Angeklagten drohenden Straftaten zu schützen. Die Gefahrenabwehr ist der gemeinsame Zweck beider Maßregeln. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zielt auf Heilung des psychischen Zustandes ab, um diesen Zweck zu erreichen. Ihr kann gegenüber der Sicherungsverwahrung der Vorrang eingeräumt werden, wenn der Hang zu erheblichen Straftaten auf einen psychischen Defekt zurückzuführen ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Sicherungsverwahrung ultima-ratio-Charakter zukommt (vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. Rn. 112, NJW 2011, 1931, 1938).

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

(1) Sind die Voraussetzungen für mehrere Maßregeln erfüllt, ist aber der erstrebte Zweck durch einzelne von ihnen zu erreichen, so werden nur sie angeordnet. Dabei ist unter mehreren geeigneten Maßregeln denen der Vorzug zu geben, die den Täter am wenigsten beschweren.

(2) Im übrigen werden die Maßregeln nebeneinander angeordnet, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt.

(3) Werden mehrere freiheitsentziehende Maßregeln angeordnet, so bestimmt das Gericht die Reihenfolge der Vollstreckung. Vor dem Ende des Vollzugs einer Maßregel ordnet das Gericht jeweils den Vollzug der nächsten an, wenn deren Zweck die Unterbringung noch erfordert. § 67c Abs. 2 Satz 4 und 5 ist anzuwenden.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt; er wird in diesem Umfang aufgehoben. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - gegenstandslos.

2. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangenen Strafurteils erlassen wurde.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit rechtskräftigem Urteil der Corte di Appello von Florenz aus dem Jahr 1992 wurde er in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie der Einfuhr und des Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahr 2014 wurde er aufgrund eines Auslieferungsersuchens der Italienischen Republik, das sich auf einen Europäischen Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft bei der Corte di Appello von Florenz aus demselben Jahr stützt, in Deutschland festgenommen.

3

a) Mit dem Europäischen Haftbefehl wird die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe begehrt. Aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass dem Beschwerdeführer das zugrunde liegende Urteil aus dem Jahr 1992 nicht persönlich zugestellt wurde. Das Formblatt zum Europäischen Haftbefehl lautet insoweit:

d) Geben Sie an, ob die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen ist:

1. Ja, die Person ist zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen.

2. Nein, die Person ist zu der Verhandlung, die zur Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen.

3. Bitte geben Sie zu der unter Nummer 2 angekreuzten Möglichkeit an, dass eine der folgenden Möglichkeiten zutrifft:

3.4 der Person wurde die Entscheidung nicht persönlich zugestellt, aber

- sie wird die Entscheidung unverzüglich nach der Übergabe zugestellt erhalten, und

- sie wird bei der Zustellung der Entscheidung ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

- sie wird von der Frist in Kenntnis gesetzt werden, über die sie verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen, die … Tage beträgt.

4

Punkt 3.4 hatte die Generalstaatsanwaltschaft Florenz angekreuzt. Punkt 2, wonach die ersuchende Behörde bestätigt, dass die auszuliefernde Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, ließ sie hingegen offen. Die Länge der in Punkt 3.4 des Formblatts zum Europäischen Haftbefehl genannten Antragsfrist gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz ebenfalls nicht an.

5

b) Buchstabe d, Punkt 3.4 des Formblatts zum Europäischen Haftbefehl geht auf Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl EU Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bzw. RbEuHb) zurück. Art. 4a Abs. 1 RbEuHb lautet:

Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist

(1) Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a) rechtzeitig

i) entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii) davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b) in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c) nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

i) ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

ii) innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d) die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i) sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann

und

ii) von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.

6

Italien hat eine nach Artikel 8 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI zulässige Erklärung abgegeben (ABl Nr. L 97 vom 16. April 2009, S. 26), infolge derer der Rahmenbeschluss spätestens ab dem 1. Januar 2014 Anwendung findet auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen der zuständigen italienischen Behörden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war.

7

c) Die für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls maßgeblichen nationalen Vorschriften finden sich im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG - (BGBl I 1982 S. 2071). In der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1721) lauteten § 73 und § 83:

§ 73 Grenze der Rechtshilfe

Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.

§ 83 Ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzungen

Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn

3. bei Ersuchen zur Vollstreckung das dem Ersuchen zugrunde liegende Urteil in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist und der Verfolgte zu dem Termin nicht persönlich geladen oder nicht auf andere Weise von dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden war, es sei denn, dass der Verfolgte in Kenntnis des gegen ihn gerichteten Verfahrens, an dem ein Verteidiger beteiligt war, eine persönliche Ladung durch Flucht verhindert hat oder ihm nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft wird, und auf Anwesenheit bei der Gerichtsverhandlung eingeräumt wird … .

8

d) Mit Beschluss vom 14. August 2014 entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf, dass mit Blick auf das Vorliegen eines Abwesenheitsurteils die sich aus § 83 Nr. 3 IRG ergebenden Voraussetzungen derzeit nicht feststellbar seien.

9

Aus den Angaben der italienischen Behörden folge nicht mit der erforderlichen Sicherheit, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit habe, nachträglich eine umfassende gerichtliche Überprüfung der in seiner Abwesenheit erfolgten Verurteilung im Sinne einer neuen tatsächlichen Überprüfung der Feststellungen zum Schuldvorwurf und der erkannten Rechtsfolge zu erreichen. Dem Europäischen Haftbefehl lasse sich nicht entnehmen, dass der Beschwerdeführer dies durch einen einfachen Rechtsbehelf erreichen könne, der nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft sei und der ihm keine Beweislast auferlege. Die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß Art. 630 ff. CPP (Codice di procedura penale - italienische Strafprozessordnung) sei als außerordentlicher Rechtsbehelf ein Instrument mit Ausnahmecharakter und als solches an streng geregelte Wiederaufnahmegründe - insbesondere das Vorliegen neuer Beweise - gebunden. Das Oberlandesgericht forderte von den italienischen Behörden deshalb ergänzende Auskünfte zur tatsächlichen Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und seiner anwaltlichen Vertretung sowie eine Zusicherung, dass ihm nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt werde, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werde.

10

Mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 teilte die Generalstaatsanwaltschaft Florenz mit, dass nach Art. 175 CPP der Verurteilte innerhalb von dreißig Tagen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Rechtsmittelfrist beantragen könne, welche im Fall der Auslieferung aus dem Ausland mit dem Datum der Überstellung beginne. Über diesen Antrag werde der Richter entscheiden, der bei Antragstellung tätig sei, im Falle einer Verurteilung der Richter, der für die Rechtsmitteleinlegung zuständig sei. Gegen die Anordnung, die den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückweise, könne Kassationsbeschwerde eingelegt werden. Ferner heißt es (zitiert nach der im Ausgangsverfahren in Auftrag gegebenen Übersetzung):

Falls dem Antrag stattgegeben wird, muss erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden, welcher erneut durch Anordnung geladen wird. Dem Verurteilten wird sein Verteidigungsrecht ohne Vorbehalt zugesichert.

11

Außerdem fügte die Generalstaatsanwaltschaft den Wortlaut des Art. 175 CPP in der Fassung des Gesetzes Nr. 60 vom 22. April 2005, also in der vor der Strafprozessreform aus dem Jahr 2014 geltenden Fassung, bei. Dieser lautet auszugsweise (zitiert nach der im Ausgangsverfahren in Auftrag gegebenen Übersetzung):

2. Falls ein Versäumnisurteil oder ein Strafbefehl erlassen wurde, wird der Verurteilte auf seinen Antrag in die Rechtmittelfristen oder Einspruchsfristen wiedereingesetzt, es sei denn, dass dieser in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung war und freiwillig auf Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet hat. Zu diesem Zwecke wird die Justizbehörde jede erforderliche Prüfung vornehmen.

12

Über die Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und seine anwaltliche Vertretung gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz keine näheren Auskünfte.

13

e) Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2014 machte der Beschwerdeführer geltend, er sei in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden. Ferner trug er unter Berufung auf deutschsprachige Literatur vor, die Wiedereinsetzung zur Einlegung eines Rechtsmittels stehe einem Recht auf das entzogene erstinstanzliche Verfahren nicht gleich. Die "verspätete" Berufung genüge wegen der beschränkten Prüfungskompetenz grundsätzlich nicht den Anforderungen an eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs. Im Regelfall finde in der Hauptverhandlung keine erneute Beweisaufnahme statt. Es handele sich um ein reines Aktenverfahren, in dem eine Beweisaufnahme nur in Ausnahmefällen möglich sei. Nach aktueller Gesetzeslage sei eine erneute Beweisaufnahme im Falle einer Abwesenheitsverurteilung nicht vorgesehen. Der Beschwerdeführer teilte dem Oberlandesgericht den Inhalt des einschlägigen Art. 603 CPP in italienischer und deutscher Sprache mit. Dieser ist in seinen Absätzen 1 bis 3 seit seinem Inkrafttreten 1988 unverändert und lautet (Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991):

1. Hat eine Partei in der Berufungsschrift oder in den gemäß Artikel 585 Absatz 4 hinterlegten Gründen die neuerliche Aufnahme von Beweisen, die bereits im Verfahren erster Instanz aufgenommen worden sind, oder die Aufnahme neuer Beweise beantragt, so ordnet das Gericht, wenn es der Ansicht ist, dass es auf Grund der Aktenlage nicht entscheiden kann, die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an.

2. Sind die neuen Beweise erst nach dem Verfahren erster Instanz entstanden oder aufgefunden worden, so ordnet das Gericht in den in Artikel 495 Absatz 1 vorgesehenen Grenzen die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an.

3. Die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung wird von Amts wegen angeordnet, wenn das Gericht sie für unumgänglich notwendig erachtet (604 Abs. 6).

14

Der Beschwerdeführer machte geltend, nach dem möglicherweise anwendbaren (mittlerweile allerdings durch Gesetz vom 28. April 2014 abgeschafften) Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 werde eine neue Gerichtsverhandlung nur durchgeführt, wenn der Verurteilte nachweise, dass er von dem gegen ihn geführten Verfahren in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt Kenntnis gehabt und diesen Umstand auch nicht zu vertreten habe. Der Beschwerdeführer teilte auch den Inhalt von Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 in italienischer und deutscher Sprache mit. Dieser lautet (Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991):

4. Das Gericht ordnet außerdem die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an, wenn der in erster Instanz säumige Angeklagte einen entsprechenden Antrag stellt und den Beweis erbringt, dass er wegen Zufalls, wegen höherer Gewalt oder deswegen, weil er keine Kenntnis vom Ladungsdekret erhalten hatte, nicht erscheinen konnte, freilich vorausgesetzt, dass dieser Umstand im gegebenen Fall nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist oder dass er sich, wenn die Ladung zum Verfahren erster Instanz durch Aushändigung an den Verteidiger in den in Artikeln 159, 161, Absatz 4, und 169 vorgesehenen Fällen erfolgt ist, nicht willentlich der Kenntnisnahme von den Verfahrenshandlungen entzogen hat.

15

Die in Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 geregelte Beweis- und Darlegungslast sei identisch mit der Regelung in den früheren (vor 2005 geltenden) Fassungen des Art. 175 Abs. 2 CPP. Diese hätten dem Verurteilten die Beweis- und Darlegungslast hinsichtlich seiner Nichtkenntnis über das Verfahren auferlegt, was nach der einhelligen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein Auslieferungshindernis begründet habe. Es liege nahe, dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn anwendbar sei, weil nach einer Entscheidung der italienischenCorte di Cassazione vom 17. Juli 2014 (No. 36848) auf Abwesenheitsverfahren, die vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. April 2014 durchgeführt worden seien, die alte Rechtslage Anwendung finde. Die Entscheidung der Corte di Cassazione teilte der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht im Wortlaut mit. Dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn anwendbar sei, werde auch dadurch belegt, dass die Generalstaatsanwaltschaft Florenz den Wortlaut des Art. 175 CPP in der vor der Strafprozessreform des Jahres 2014 geltenden Fassung von 2005 übersandt habe.

16

f) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 7. November 2014 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung für zulässig. § 83 Nr. 3 IRG stehe ihr nicht entgegen. Nach den ergänzenden Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 gehe der Senat davon aus, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren habe, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft werde und in dem ihm auch ein Recht auf Anwesenheit zustehe. Eine solche Überprüfung des Anklagevorwurfs sei durch den Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP in der dort mitgeteilten Fassung gewährleistet. Danach werde der Verurteilte "auf seinen Antrag in die Rechtsmittel- oder Einspruchsfristen wieder eingesetzt, es sei denn, dass dieser in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung" gewesen sei "und freiwillig auf den Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet" habe.

17

Es sei davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer ein tatsächlich wirksamer, von seinem Antrag abhängiger und nicht im Ermessen der italienischen Justizbehörden stehender Rechtsbehelf auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung stehe. Zugleich sei eine umfassende Überprüfung des Abwesenheitsurteils gewährleistet. Offen bleiben könne, ob diese Prüfung im Rahmen einer Berufungshauptverhandlung oder in einem neuen erstinstanzlichen Verfahren stattfinde. Es sei schon fraglich, ob der Einwand des Beschwerdeführers, das Berufungsverfahren nach italienischem Recht biete keine umfassende Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG, überhaupt durchgreifen könne. Selbst wenn - wie vom Beschwerdeführer vorgetragen - im Rahmen des italienischen Berufungsverfahrens ("appello", Art. 593 ff. CPP) in der Hauptverhandlung im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde, so handele es sich doch um ein Rechtsmittel, mit dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage der erneuten Prüfung unterworfen würden (unter Verweis auf Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 237). Daraus ergebe sich, dass in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde, in deren Rahmen eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei.

18

Ein solches Verfahren genüge den Anforderungen des § 83 Nr. 3 IRG. Die Vorschrift gehe auf Art. 5 Nr. 1 RbEuHb (in der Fassung vom 13. Juni 2002, ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) zurück. Bei dessen Umsetzung in deutsches Recht seien (zwar) die Voraussetzungen, unter denen ein Abwesenheitsurteil Grundlage der Auslieferung sein könne, an die von Rechtsprechung und Schrifttum zu § 73 IRG entwickelten Grundsätze angenähert worden. Aus den zu § 73 IRG entwickelten Grundsätzen ergebe sich indes kein Anspruch auf ein neues Gerichtsverfahren im Sinne einer vollständigen ersten Tatsachen- und Rechtsinstanz. Vielmehr reiche die Möglichkeit, sich nach Erlangung der Kenntnis von dem Urteil rechtliches Gehör verschaffen und wirksam verteidigen zu können. Dass mit der Einführung von § 83 Nr. 3 IRG eine Anhebung des zu § 73 IRG entwickelten Standards habe verbunden werden sollen, sei nicht ersichtlich.

19

Unabhängig von diesen allgemeinen Erwägungen ergebe sich für den vorliegenden Fall auch aus dem Antwortschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 hinreichend deutlich, dass der Vorwurf gegen den Beschwerdeführer in einem neuen Gerichtsverfahren umfassend überprüft werde. Nach diesem Schreiben bestehe im Falle der Wiedereinsetzung ausdrücklich ein Anspruch auf eine neue Hauptverhandlung und eine erneute Ladung; auch werde dem Beschwerdeführer sein Verteidigungsrecht ohne Vorbehalt zugesichert. Auf die Frage, ob dieser gegebenenfalls einen Anspruch auf Nichtigkeitsfeststellung und/oder auf eine Wiederaufnahme gemäß Art. 603 Abs. 4 CPP habe, komme es nach alledem nicht mehr an. Die Einholung eines Rechtsgutachtens zur aktuellen Rechtslage in Italien sei nicht erforderlich gewesen.

20

2. a) Mit Gegenvorstellung vom 13. November 2014 machte der Beschwerdeführer geltend, mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP könne er nach italienischem Strafprozessrecht überhaupt nur erreichen, in die Rechtsmittelfrist einer Berufung eingesetzt zu werden. Das ergebe sich bereits aus dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft vortrage, es werde erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden, könne damit nur die Durchführung einer Berufungshauptverhandlung (Art. 593 ff. CPP) gemeint sein, da Art. 175 CPP lediglich die Wiedereinsetzung in eine Rechtsmittelfrist der Berufung ermögliche. Das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen oder die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten, hätte der Beschwerdeführer nach italienischem Strafprozessrecht nur ganz ausnahmsweise, da er die Beweislast dafür trage, dass er von dem damaligen Verfahren keine Kenntnis gehabt habe. Ob eine erneute Beweisaufnahme stattfinde oder nicht, stehe zudem im Ermessen des Richters.

21

b) Mit Beschluss vom 27. November 2014 wies das Oberlandesgericht die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers als unbegründet zurück. Der Senat halte an seiner Auffassung fest, dass dem Beschwerdeführer bereits mit der - effektiv gegebenen - Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist des italienischen Berufungsverfahrens die Möglichkeit einer umfassenden Überprüfung des gegen ihn gerichteten Vorwurfs im Sinne von § 83 Nr. 3 IRG zur Verfügung stehe, da auf diese Weise eine vollständige Überprüfung der Stichhaltigkeit des gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwurfs nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht gewährleistet sei. Dass die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers gemäß Art. 6 Abs. 3 EMRK im Rahmen der Berufungshauptverhandlung eingeschränkt wären, vermöge der Senat mit Blick auf die ergänzende Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 nicht zu erkennen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestehe im Übrigen bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens; vielmehr solle eine Neuverhandlung vor einem Rechtsmittelgericht genügen.

22

Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahre 1985 die verspätete Berufung nach italienischem Recht als nicht ausreichende Überprüfungsmöglichkeit angesehen habe, führe vorliegend zu keiner anderen Beurteilung. Nach den damals maßgeblichen Vorschriften habe das Berufungsgericht über die Stichhaltigkeit der Anklage unter tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nur entscheiden dürfen, wenn es der Ansicht gewesen sei, dass ein Verstoß der zuständigen Behörden gegen die bei der Erklärung einer strafverfolgten Person für "latitante" (untergetaucht) oder gegen die bei der Zustellung von Verfahrensdokumenten zu beachtenden Bestimmungen vorgelegen habe; zudem habe der Angeklagte beweisen müssen, dass er sich der Gerechtigkeit nicht habe entziehen wollen.

23

Eine derartige Beschränkung des italienischen Berufungsgerichts vermöge der Senat jedoch auch unter Berücksichtigung der von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Bedenken für das auf diesen nunmehr anwendbare Berufungsverfahren nicht zu erkennen. Die danach jedenfalls bestehende Möglichkeit einer erneuten Erhebung bereits in erster Instanz erhobener Beweise bei der Überprüfung des Abwesenheitsurteils genüge den vom Senat in seinem Beschluss vom 7. November 2014 bereits ausführlich dargelegten Anforderungen an eine umfassende Überprüfung des Anklagevorwurfs im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG. Die konkrete Ausgestaltung und Praxis des Berufungsverfahrens nach deutschem Recht könne im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union insoweit kein Maßstab sein.

II.

24

Auf den mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 27. November 2014 entschieden, die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Italienischen Republik bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen auszusetzen. Mit Beschluss vom 13. Mai 2015 hat die 3. Kammer des Zweiten Senats und mit Beschluss vom 3. November 2015 der Zweite Senat die einstweilige Anordnung vom 27. November 2014 für die Dauer von jeweils weiteren sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, wiederholt (§ 32 Abs. 6 Satz 2 BVerfGG).

III.

25

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2, Art. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG, seines Grundrechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 3 EMRK), eine Verletzung der nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards sowie einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK. Er habe zu keinem Zeitpunkt davon Kenntnis gehabt, dass in Italien ein Ermittlungs- beziehungsweise Strafverfahren gegen ihn geführt worden sei. Zudem sei nicht gewährleistet, dass ihm nach seiner Auslieferung das Recht auf ein Gerichtsverfahren eingeräumt werde, in dem die Tatvorwürfe in seiner Anwesenheit erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft würden.

26

Eine ausreichende Zusicherung der italienischen Regierung liege insoweit nicht vor. Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 komme nicht die notwendige völkerrechtliche Verbindlichkeit zu. Das Oberlandesgericht habe die fehlende ausdrückliche Zusicherung nicht durch eine eigenständige Würdigung des Schreibens der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 ersetzen dürfen. Es hätte überprüfen müssen, ob dieser Zusicherung mit absoluter Sicherheit vertraut werden könne. Bestehende Aufklärungsmöglichkeiten, etwa die Einholung eines Sachverständigengutachtens des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, habe es nicht ausgeschöpft.

27

Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz lasse sich auch nicht entnehmen, in welcher Weise und in welchem Rechtszug neu verhandelt würde. Da Art. 175 CPP nur die Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähre, sei nach italienischem Strafverfahrensrecht (Art. 593 ff. CPP) eine erneute Beweisaufnahme nicht garantiert. Das Berufungsverfahren sei ein reines "Aktenverfahren", bei dem es nur in Ausnahmefällen zu einer erneuten Beweisaufnahme komme. Dies hänge davon ab, ob dem Beschwerdeführer der Nachweis der Unkenntnis von dem in Abwesenheit gegen ihn geführten Verfahren gelinge. Ob eine neue Beweisaufnahme durchgeführt werde, stehe zudem im Ermessen des Richters. Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft lasse sich nicht entnehmen, dass mit der neuen Verhandlung eine erstinstanzliche Hauptverhandlung gemeint sei.

IV.

28

Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Senat vorgelegen. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, alle Landesregierungen, der Generalbundesanwalt und die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf hatten Gelegenheit zur Äußerung. Von den Äußerungsberechtigten hat nur der Generalbundesanwalt Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

29

Die Rechtsanwendung durch das Oberlandesgericht sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Die fachgerichtliche Würdigung der Erklärungen der italienischen Strafverfolgungsbehörden sei jedenfalls vertretbar. Die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 habe das Oberlandesgericht als völkerrechtlich verbindliche Zusicherung eines neuen Verfahrens unter Wahrung der vollständigen Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers verstehen dürfen. Die Erklärung enthalte sowohl die Zusicherung eines Verfahrens, in welchem der Tatvorwurf in tatsächlicher Hinsicht geprüft werde, als auch der Wahrung der Verteidigungsrechte.

30

Das Oberlandesgericht sei verfassungsrechtlich nicht gehalten gewesen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Es sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vertraue. Italien sei ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, der bei der Anwendung seiner nationalen Rechtsnormen an die Vorgaben der Rahmenbeschlüsse der Europäischen Union und die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden sei. Dass Italien die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzen würde, habe das Oberlandesgericht nicht unterstellen müssen, zumal dies dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuwiderlaufe, der das Recht der Europäischen Union präge.

31

Der Einwand des Beschwerdeführers, das Oberlandesgericht habe die Regelungen des italienischen Strafverfahrensrechts unzureichend interpretiert, gehe fehl. Die Behauptung, aus der Rechtsprechung der italienischen Corte di Cassazione ergebe sich, dass auf Verurteilungen, die vor dem 28. April 2014 erfolgt seien, Art. 175 CPP in seiner früheren Fassung anzuwenden sei, greife nicht durch. Eine solche Lesart sei im Antragsvorbringen nicht belegt. Dass die italienische Corte di Cassazione - unter eklatantem Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention und entgegen dem eindeutigen Willen des italienischen Gesetzgebers - zu der vor 2005 geltenden Rechtslage zurückgekehrt sei, erscheine derart fernliegend, dass es keiner weiteren Ausführungen hierzu bedurft habe. Zudem bezögen sich die Darlegungen des Beschwerdeführers primär auf die - offenbar im Jahr 2014 aufgehobene - Regelung zum Nichtigkeitsverfahren.

32

Der vom Beschwerdeführer behaupteten Umkehr der Beweislast zu seinen Lasten stehe jedenfalls die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 entgegen, die die Anwendbarkeit der Beweislastregeln in der seit 2005 geltenden Fassung von Art. 175 CPP bestätigt habe. Dieser Fassung sei eine Beweislast zum Nachteil des Angeklagten nicht zu entnehmen. Das Oberlandesgericht habe deshalb keinen Grund zu der Annahme gehabt, der Antragsteller müsse - im Wiederaufnahmeverfahren - seine fehlende Kenntnis von dem gegen ihn in Abwesenheit geführten Verfahren beweisen.

33

In Anbetracht der Zusicherung der italienischen Behörden habe das Oberlandesgericht auch nicht der Frage nachgehen müssen, ob dem Beschwerdeführer die neue Hauptverhandlung in einem erstinstanzlichen Verfahren oder - bei mangelndem Erfolg eines Antrags auf Feststellung der Nichtigkeit des Abwesenheitsurteils aus dem Jahre 1992 - in einem Berufungsverfahren eröffnet würde. Es habe entscheidend darauf abstellen dürfen, dass der gegen den Beschwerdeführer erhobene Tatvorwurf nach seiner Überstellung in einer Tatsacheninstanz unter Wahrung sämtlicher Verteidigungsrechte geprüft werde. Die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 sichere dies unter Buchstabe d zu. Im Übrigen genüge es den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und wirksame Verteidigung in einem Verfahren wahrnehmen könne. Die Einhaltung dieser Mindestvoraussetzungen habe das Oberlandesgericht angesichts der vorliegenden Zusicherung als gewährleistet betrachten dürfen.

B.

34

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die strengen Voraussetzungen für eine Identitätskontrolle (vgl. Rn. 49) sind erfüllt. Im Kern zutreffend setzt sich die Beschwerdeschrift mit den verfassungsrechtlichen Aspekten von in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteilen sowie mit den damit zusammenhängenden Aufklärungspflichten der Gerichte auseinander. Aus der Verfassungsbeschwerde ergibt sich nachvollziehbar die Möglichkeit, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung nach Italien kein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen wird, durch den das in seiner Abwesenheit ergangene Strafurteil in einer Weise angefochten werden kann, die seine nach dem Grundgesetz unabdingbaren und von der Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfassten Verteidigungsrechte gewährleistet (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Wird die Verletzung der Menschenwürdegarantie geltend gemacht, so prüft das Bundesverfassungsgericht - ungeachtet der bisherigen Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und Vorlagen, mit denen die Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht gerügt wurde (vgl. BVerfGE 73, 339 <378 ff.>; 102, 147 <161 ff.>) - einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle (vgl. BVerfGE 113, 273 <295 ff.>; 123, 267 <344, 353 f.>; 126, 286 <302 f.>; 129, 78 <100>; 134, 366 <384 f. Rn. 27>; dazu sogleich unter C.I.2.bis 5.).

C.

35

Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG.

I.

36

Hoheitsakte der Europäischen Union und - soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden - Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen (1.). Der Anwendungsvorrang findet seine Grenze jedoch in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung (2.). Dazu gehören namentlich die Grundsätze des Art. 1 GG einschließlich des in der Menschenwürdegarantie verankerten Schuldprinzips im Strafrecht (3.). Die Gewährleistung dieser Grundsätze ist auch bei der Anwendung des Rechts der Europäischen Union oder unionsrechtlich determinierter Vorschriften durch die deutsche öffentliche Gewalt im Einzelfall sicherzustellen (4.). Eine Verletzung dieses unabdingbaren Maßes an Grundrechtsschutz kann vor dem Bundesverfassungsgericht allerdings nur gerügt werden, wenn substantiiert dargelegt wird, dass die Würde des Menschen im konkreten Fall tatsächlich beeinträchtigt wird (5.).

37

1. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union mit. Für den Erfolg der Europäischen Union ist die einheitliche Geltung ihres Rechts von zentraler Bedeutung (vgl. BVerfGE 73, 339 <368>; 123, 267 <399>; 126, 286 <301 f.>). Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die einheitliche Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/ENEL, 6/64, Slg. 1964, S. 1251 <1269 f.>). Art. 23 Abs. 1 GG enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale Recht (vgl. BVerfGE 126, 286 <302>).

38

Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz daher die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78 <100>) und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit (vgl. BVerfGE 126, 286 <301>).

39

Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen (vgl. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 247 ff.). Das gilt nicht zuletzt für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen (vgl. BVerfGE 118, 79 <95>; 122, 1 <20>). Umgekehrt sind die bei Bestehen eines Gestaltungsspielraums zur Ausfüllung erlassenen Rechtsakte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich (vgl. BVerfGE 122, 1 <20 f.>; 129, 78 <90 f.>).

40

2. Der Anwendungsvorrang reicht jedoch nur soweit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen (vgl. BVerfGE 73, 339 <375 f.>; 89, 155 <190>; 123, 267 <348 ff.>; 126, 286 <302>; 129, 78 <99>; 134, 366 <384 Rn. 26>). Der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <402>). Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich - jenseits des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms in seiner konkreten Ausgestaltung - aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes (a). Dies ist mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) vereinbar (b) und wird auch dadurch bestätigt, dass sich im Verfassungsrecht der meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergleichbare Grenzen finden (c).

41

a) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts wird im Wesentlichen durch die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungs- und integrationsfest ausgestaltete Verfassungsidentität des Grundgesetzes begrenzt (aa). Zu deren Sicherstellung dient die Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (bb).

42

aa) Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge (vgl. BVerfGE 113, 273 <296>; 123, 267 <348>; 134, 366 <384 Rn. 27>). Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte (vgl. BVerfGE 134, 366 <384 Rn. 27>).

43

bb) Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <344, 353 f.>; 126, 286 <302>; 129, 78 <100>; 134, 366 <384 f. Rn. 27>). Diese Prüfung kann - wie der Solange-Vorbehalt (vgl. BVerfGE 37, 271 <277 ff.>; 73, 339 <387>; 102, 147 <161 ff.>) oder die Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 58, 1 <30 f.>; 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <188>; 123, 267 <353 ff.>; 126, 286 <302 ff.>; 134, 366 <382 ff. Rn. 23 ff.>) - im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>). Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muss (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>). Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354 f.>).

44

b) Die Identitätskontrolle verstößt nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 3 EUV. Sie ist vielmehr in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV der Sache nach angelegt (vgl. zur Berücksichtigung der nationalen Identität auch EuGH, Urteil vom 2. Juli 1996, Kommission/Luxemburg, C-473/93, SIg. 1996, I-3207, Rn. 35; Urteil vom 14. Oktober 2004, Omega, C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 31 ff.; Urteil vom 12. Juni 2014, Digibet und Albers, C-156/13, EU:C:2014:1756, Rn. 34) und entspricht insoweit auch den besonderen Gegebenheiten der Europäischen Union. Die Europäische Union ist ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund, der seine Grundlagen letztlich in völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten findet. Als Herren der Verträge entscheiden diese durch nationale Geltungsanordnungen darüber, ob und inwieweit das Unionsrecht im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung und Vorrang beanspruchen kann (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <190>; 123, 267 <348 f., 381 ff.>; 126, 286 <302 f.>; 134, 366 <384 Rn. 26>). Nicht entscheidend ist, ob die Geltungsanordnung - wie in Frankreich (Art. 55 FrzVerf.), Österreich (Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, BGBl für die Republik Österreich Nr. 744/1994) oder Spanien (Art. 96 Abs. 1 SpanVerf.) - im nationalen Verfassungsrecht oder - wie in Großbritannien - im Zustimmungsgesetz (European Communities Act 1972; vgl. Court of Appeal, Macarthys v. Smith, <1981> 1 All ER 111 <120>; Macarthys v. Smith, <1979> 3 All ER 325 <329>; House of Lords, Garland v. British Rail Engineering, <1982> 2 All ER 402 <415>) ausdrücklich niedergelegt ist, ob sie - wie in Deutschland - aufgrund einer systematischen, teleologischen und historischen Auslegung dem Zustimmungsgesetz entnommen oder ob die Nachrangigkeit des nationalen Rechts gegenüber dem Unionsrecht - wie in Italien - durch eine einzelfallbezogene Handhabung des nationalen Rechts erreicht wird (vgl. Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 170/1984, Granital, EuGRZ 1985, S. 98).

45

Es bedeutet daher keinen Widerspruch zur Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Präambel, Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), wenn das Bundesverfassungsgericht unter eng begrenzten Voraussetzungen die Maßnahme eines Organs oder einer Stelle der Europäischen Union für in Deutschland ausnahmsweise nicht anwendbar erklärt (vgl. BVerfGE 37, 271 <280 ff.>; 73, 339 <374 ff.>; 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <174 f.>; 102, 147 <162 ff.>; 123, 267 <354, 401>).

46

Eine substantielle Gefahr für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ergibt sich daraus nicht. Zum einen wird gerade im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Grundsätze des Art. 1 GG eine Verletzung schon deshalb nur selten vorkommen, weil Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte und die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten (vgl. nur EuGH, Urteil vom 9. November 2010, Schecke und Eifert, C-92/09 und C-93/09, Slg. 2010, I-11063, Rn. 43 ff.; Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland und Seitlinger, C-293/12 und C-594/12, EU:C:2014:238, Rn. 23 ff.; Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C-131/12, EU:C:2014:317, Rn. 42 ff., 62 ff., 89 ff.; Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C-362/14, EU:C:2015:650, Rn. 91 ff.). Zum anderen sind die dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltenen Kontrollbefugnisse zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (vgl. BVerfGE 126, 286 <303>). Soweit erforderlich, legt es seiner Prüfung dabei die Maßnahme in der Auslegung zugrunde, die ihr in einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV durch den Gerichtshof der Europäischen Union gegeben wurde. Das gilt nicht nur im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle, sondern auch vor der Feststellung der Unanwendbarkeit einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union in Deutschland wegen einer Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und 20 GG geschützten Verfassungsidentität (vgl. BVerfGE 123, 267 <353>; 126, 286 <304>; 134, 366 <385 Rn. 27>).

47

c) Die Vereinbarkeit der verfassungsgerichtlichen Identitätskontrolle mit dem Unionsrecht wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sich, mit Modifikationen im Detail, auch im Verfassungsrecht zahlreicher anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vorkehrungen zum Schutz der Verfassungsidentität und der Grenzen der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Europäische Union finden (vgl. insoweit BVerfGE 134, 366 <387 Rn. 30>). Die weitaus überwiegende Zahl der Verfassungs- und Obergerichte der anderen Mitgliedstaaten teilt für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass der (Anwendungs-)Vorrang des Unionsrechts nicht unbegrenzt gilt, sondern dass ihm durch das nationale (Verfassungs-)Recht Grenzen gezogen werden (vgl. für das Königreich Dänemark: Højesteret, Urteil vom 6. April 1998 - I 361/1997 -, Abschn. 9.8; für die Republik Estland: Riigikohus, Urteil vom 12. Juli 2012 - 3-4-1-6-12 -, Abs.-Nr. 128, 223; für die Französische Republik: Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 2006-540 DC vom 27. Juli 2006, 19. Erwägungsgrund; Entscheidung Nr. 2011-631 DC vom 9. Juni 2011, 45. Erwägungsgrund; Conseil d'État, Urteil vom 8. Februar 2007, Nr. 287110 , Société Arcelor Atlantique et Lorraine, EuR 2008, S. 57 <60 f.>; für Irland: Supreme Court of Ireland, Crotty v. An Taoiseach, <1987>, I.R. 713 <783>; S.P.U.C. Ltd. v. Grogan, <1989>, I.R. 753 <765>; für die Italienische Republik: Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 98/1965, Acciaierie San Michele, EuR 1966, S. 146; Entscheidung Nr. 183/1973, Frontini, EuR 1974, S. 255; Entscheidung Nr. 170/1984, Granital, EuGRZ 1985, S. 98; Entscheidung Nr. 232/1989, Fragd; Entscheidung Nr. 168/1991; Entscheidung Nr. 117/1994, Zerini; für die Republik Lettland: Satversmes tiesa, Urteil vom 7. April 2009 - 2008-35-01 -, Abs.-Nr. 17; für die Republik Polen: Trybunal Konstytucyjny, Urteile vom 11. Mai 2005 - K 18/04 -, Rn. 4.1., 10.2.; vom 24. November 2010 - K 32/09 -, Rn. 2.1. ff.; vom 16. November 2011 - SK 45/09 -, Rn. 2.4., 2.5.; für das Königreich Spanien: Tribunal Constitucional, Erklärung vom 13. Dezember 2004, DTC 1/2004, Punkt 2 der Entscheidungsgründe, EuR 2005, S. 339 <343> und Entscheidung vom 13. Februar 2014, STC 26/2014, Punkt 3 der Entscheidungsgründe, HRLJ 2014, S. 475 <477 f.>; für die Tschechische Republik: Ústavni Soud, Urteil vom 8. März 2006, Pl. ÚS 50/04, Abschn. VI.B.; Urteil vom 3. Mai 2006, Pl. ÚS 66/04, Rn. 53; Urteil vom 26. November 2008, Pl. ÚS 19/08, Rn. 97, 113, 196; Urteil vom 3. November 2009, Pl. ÚS 29/09, Rn. 110 ff.; Urteil vom 31. Januar 2012, Pl. ÚS 5/12, Abschn. VII.; für das Vereinigte Königreich: High Court, Urteil vom 18. Februar 2002, Thoburn v. Sunderland City Council, <2002> EWHC 195 , Abs.-Nr. 69; UK Supreme Court, Urteil vom 22. Januar 2014, R v. The Secretary of State for Transport, <2014> UKSC 3, Abs.-Nr. 79, 207; Urteil vom 25. März 2015, Pham v. Secretary of State for the Home Department, <2015> UKSC 19, Abs.-Nr. 54, 58, 72 bis 92).

48

3. Zu den Schutzgütern der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt sind, gehören die Grundsätze des Art. 1 GG, also die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), aber auch der in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 123, 267 <413>).

49

4. Die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter dulden auch keine Relativierung im Einzelfall (vgl. BVerfGE 113, 273 <295 ff.>; 123, 267 <344>; 126, 286 <302 f.>; 129, 78 <100>; 129, 124 <177 ff.>; 132, 195 <239 ff. Rn. 106 ff.>; 134, 366 <384 ff. Rn. 27 ff.>). Dies gilt insbesondere mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde stellt den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 30, 173 <193>; 32, 98 <108>; 117, 71 <89>). Ihre Achtung und ihr Schutz gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 131, 268 <286>; stRspr), denen auch der in der Präambel und in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Integrationsauftrag und die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>; 126, 286 <303>; 129, 124 <172>; 132, 287 <292 Rn. 11>) Rechnung tragen müssen. Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.

50

5. Die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle schlagen sich in erhöhten Zulässigkeitsanforderungen an entsprechende Verfassungsbeschwerden nieder. Es muss im Einzelnen substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall die durch Artikel 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt ist.

II.

51

Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts überschreitet die durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen. Der Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl betrifft das Schuldprinzip, das in der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelt und Teil der unverfügbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes ist (1.). Dies rechtfertigt und gebietet eine auf dieses Schutzgut beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist (2.). Zwar genügen die der Entscheidung zugrunde liegenden Vorgaben des Unionsrechts und das zu dessen Umsetzung ergangene deutsche Recht den Anforderungen des Art. 1 Abs. 1 GG, da sie die notwendigen Rechte des Verfolgten bei Auslieferungen zur Vollstreckung von in Abwesenheit ergangenen Strafurteilen gewährleisten und eine angemessene Sachverhaltsaufklärung der mit der Auslieferung befassten Gerichte nicht nur zulassen, sondern fordern (3.). Ihre Anwendung durch das Oberlandesgericht verletzt das Schuldprinzip und damit den Beschwerdeführer jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG, weil sie der Bedeutung und Tragweite der Menschenwürde bei der Auslegung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nicht hinreichend Rechnung trägt (4.).

52

1. Durch den Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl kann Art. 1 Abs. 1 GG verletzt werden, weil bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils eine strafrechtliche Reaktion auf ein sozialethisches Fehlverhalten durchgesetzt wird, die ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar wäre (a). Auch in dem unionsrechtlich determinierten Verfahren der Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls müssen daher die der Ermittlung des wahren Sachverhalts dienenden rechtsstaatlichen Mindestgarantien an Verfahrensrechten des Beschuldigten sichergestellt sein, die zur Verwirklichung des materiellen Schuldprinzips erforderlich sind (b).

53

a) Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz (BVerfGE 123, 267 <413>; 133, 168 <197 Rn. 53>). Dieser den gesamten Bereich staatlichen Strafens beherrschende Grundsatz ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert (vgl. BVerfGE 45, 187 <259 f.>; 86, 288 <313>; 95, 96 <140>; 120, 224 <253 f.>; 130, 1 <26>; 133, 168 <197 Rn. 53>). Mit seiner Grundlage in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gehört der Schuldgrundsatz zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist (vgl. BVerfGE 123, 267 <413>). Er muss daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils gewahrt werden.

54

aa) Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" (nulla poena sine culpa) setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 123, 267 <413>; 133, 168 <197 Rn. 54>). Deshalb bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG auf dem Gebiet der Strafrechtspflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96 <140>) sowie den Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 80, 367 <378>; 90, 145 <173>; 123, 267 <413>; 133, 168 <197 f. Rn. 54>). Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 110, 1 <13>; 133, 168 <198 Rn. 54>). Das damit verbundene Unwerturteil berührt den Betroffenen in seinem in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch (vgl. BVerfGE 96, 245 <249>; 101, 275 <287>). Eine solche staatliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 133, 168 <198 Rn. 54>).

55

bb) Der Schuldgrundsatz ist somit zugleich ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (BVerfGE 20, 323 <331>; 133, 168 <198 Rn. 55>). Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt (BVerfGE 95, 96 <130>). Das Rechtsstaatsprinzip umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 7, 89 <92>; 7, 194 <196>; 45, 187 <246>; 74, 129 <152>; 122, 248 <272>) und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate ein (vgl. BVerfGE 84, 90 <121>). Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechtsstaatlichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird (BVerfGE 95, 96 <130 f.>; 133, 168 <198 Rn. 55>). Gemessen an der Idee der Gerechtigkeit müssen Straftatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 25, 269 <286>; 27, 18 <29>; 50, 205 <214 f.>; 120, 224 <241>; stRspr). Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 45, 187 <228>; 50, 5 <12>; 73, 206 <253>; 86, 288 <313>; 96, 245 <249>; 109, 133 <171>; 110, 1 <13>; 120, 224 <254>; 133, 168 <198 Rn. 55>). In diesem Sinne hat die Strafe die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. BVerfGE 45, 187 <253 f.>; 109, 133 <173>; 120, 224 <253 f.>; 133, 168 <198 Rn. 55>).

56

b) Die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes ist gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhalts nicht sichergestellt ist (aa). Die Zumessung einer angemessenen Strafe, die zugleich einen sittlich-ethischen Vorwurf darstellt, setzt die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten und damit grundsätzlich dessen Anwesenheit voraus. Der Schuldgrundsatz macht daher Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess erforderlich, durch die gewährleistet wird, dass der Beschuldigte Umstände vorbringen und prüfen lassen kann, die zu seiner Entlastung führen oder für die Strafzumessung relevant sein können (bb). Diese Garantien müssen auch bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils gewahrt werden (cc).

57

aa) Die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt, ist zentrales Anliegen des Strafprozesses (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 118, 212 <231>; 122, 248 <270>; 130, 1 <26>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Dessen Aufgabe ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Der Strafprozess hat das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen (vgl. BVerfGE 122, 248 <270>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden (vgl. BVerfGE 9, 167 <169>; 74, 358 <371>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Bis zum Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet (vgl. BVerfGE 35, 311 <320>; 74, 358 <371>; stRspr).

58

bb) Ziel und Aufgabe des Strafverfahrens ist es, die dem Täter und der Tat angemessene Strafe auszusprechen. Im deutschen Rechtskreis ist mit Strafe weit mehr als ein belastender Rechtseingriff oder ein Übel, das den Täter trifft, gemeint. Als Charakteristikum der Kriminalstrafe wird hier neben einem solchen Eingriff oder Übel mit dem Strafausspruch auch ein Tadel oder Vorwurf zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich um einen sozial-ethischen Vorwurf oder um eine besondere sittliche Missbilligung. Mit Strafe im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur der Vorwurf irgendeiner Rechtsverletzung gemeint, sondern die Verletzung eines Teils des Rechts, das eine tiefere, nämlich eine sozial-ethische Fundierung besitzt (vgl. BVerfGE 25, 269 <286>; 90, 145 <200 - abw. M.>; 95, 96 <140>; 96, 10 <25>; 96, 245 <249>; 109, 133 <167>; 109, 190 <217>; 120, 224 <240>; 123, 267 <408>; siehe im Vergleich hierzu die Bewertung von Geldbußen in BVerfGE 42, 261 <263>; aus der Literatur siehe nur Weigend, in: Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Aufl. 2007, Einleitung Rn. 1; Radtke, in: MüKo, StGB, 2. Aufl. 2012, Vorbem. zu §§ 38 ff., Rn. 14; ders., GA 2011, S. 636 <646>; Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 46, S. 89). Daraus folgt aber, dass eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters nicht umfassend berücksichtigt, keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein kann. Dies wiederum setzt grundsätzlich voraus, dass das Gericht in der öffentlichen Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhält. Jedenfalls muss für den Angeklagten das Recht gewährleistet sein, insbesondere rechtfertigende, entschuldigende oder strafmildernde Umstände dem Gericht persönlich, im Gegenüber von Angeklagtem und Richter, darzulegen. Denn der Vorwurf eines sozial-ethischen Fehlverhaltens ist ein die Persönlichkeit des Verurteilten treffender Vorwurf (vgl. BVerfGE 96, 245 <249>; 101, 275 <287>), der ihn in seinem Wert- und Achtungsanspruch, der in der Menschenwürde wurzelt, berührt.

59

cc) Die durch den Schuldgrundsatz gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess sind auch bei der Entscheidung über die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils zu beachten (1). Die deutschen Gerichte trifft insoweit eine "Gewährleistungsverantwortung" mit Blick auf den ersuchenden Staat (2).

60

(1) In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass bei der Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; BVerfGK 3, 27 <32>; 3, 314 <317>; 6, 13 <18>; 6, 334 <341 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. November 1986 - 2 BvR 1255/86 -, NJW 1987, S. 830 <830>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>) beziehungsweise der unverzichtbare Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung (BVerfGE 63, 332 <338>) zu beachten sind. Der Senat hat daher die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen ausländischen Strafurteils für unzulässig erklärt, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens unterrichtet noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet war, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und effektiv zu verteidigen (vgl. BVerfGE 63, 332 <338>; BVerfGK 3, 27 <32 f.>; 3, 314 <318>; 6, 13 <18>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>).

61

Soll der Verfolgte im ersuchenden Staat nicht zum bloßen Objekt eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden, muss er die Möglichkeit haben, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen.

62

(2) Die zuständigen Auslieferungsgerichte tragen insoweit auch für die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat Verantwortung. Zwar endet die grundrechtliche Verantwortlichkeit der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich dort, wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden souveränen Staat nach dessen eigenem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird (vgl. BVerfGE 66, 39 <56 ff., 63 f.>). Gleichwohl darf die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 f.>; 60, 348 <355 ff.>; 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136 f.>; 113, 154 <162 f.>).

63

Das über die Auslieferung entscheidende Gericht trifft deshalb eine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, die ebenfalls dem Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt (a). Dies gilt unbeschadet des den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens (b).

64

(a) Inhalt und Umfang der prozessualen Aufklärungspflicht im gerichtlichen Auslieferungsverfahren lassen sich nicht abstrakt-generell festlegen, sondern hängen von den Gegebenheiten des Einzelfalls ab.

65

Zu dem von den deutschen Gerichten zu ermittelnden Sachverhalt gehört insbesondere die Behandlung, die der Verfolgte im ersuchenden Staat zu erwarten hat. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung haben sie grundsätzlich die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung einer behaupteten Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze von Amts wegen durchzuführen; den Betroffenen trifft insoweit keine Beweislast (vgl. BVerfGE 8, 81 <84 f.>; 52, 391 <406 f.>; 63, 215 <225>; 64, 46 <59>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Dezember 1996 - 2 BvR 2407/96 -, juris, Rn. 6; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. September 2000 - 2 BvR 1560/00 -, NJW 2001, S. 3111 <3112>).

66

Umfang und Ausmaß der Ermittlungen, zu deren Vornahme das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung des Schuldprinzips verpflichtet ist, richten sich nach Art und Gewicht der vom Verfolgten vorgetragenen Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandards. Als Beweismittel kommen dabei sämtliche Erkenntnismittel in Betracht, die nach den Grundsätzen der Logik, allgemeiner Erfahrung oder wissenschaftlicher Erkenntnis geeignet sind oder geeignet sein können, die Überzeugung des Gerichts vom Vorhandensein entscheidungserheblicher Tatsachen und von der Richtigkeit einer Beurteilung oder Wertung von Tatsachen zu begründen (vgl. W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 98 Rn. 3; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 30 Rn. 22). Auch bietet sich eine Anfrage beim ersuchenden Staat an (vgl. § 30 Abs. 1, § 78 Abs. 1 IRG). Gegebenenfalls kann es erforderlich werden, ein Gutachten oder eine amtliche Auskunft einzuholen.

67

(b) Dies bedeutet nicht, dass die Grundlagen eines Auslieferungsersuchens von deutschen Gerichten stets umfassend nachvollzogen werden müssten. Gerade im europäischen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Dieses Vertrauen kann jedoch erschüttert werden. Die Grundsätze, die den Auslieferungsverkehr auf völkerrechtlicher Grundlage beherrschen (aa), sind auf Auslieferungen im Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl im hier in Rede stehenden Umfang übertragbar (bb).

68

(aa) Im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten ist dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dieser Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>). Ausnahmen sind nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 60, 348 <355 f.>; 63, 197 <206>; 109, 13 <33>; 109, 38 <59>).

69

Der Verfolgte hat - wie auch im asylrechtlichen Verfahren - eine Darlegungslast, mit der er den an der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung beteiligten Stellen hinreichende Anhaltspunkte für ihre Ermittlungen geben muss (vgl. BVerfGK 6, 334 <342>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>). Anlass zur Prüfung, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard an Grundrechtsschutz vereinbar sind, kann insbesondere bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; 63, 332 <337>; BVerfGK 3, 27 <31 f.>; 6, 13 <17>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>).

70

Eine entsprechende, im Auslieferungsverfahren erteilte, völkerrechtlich verbindliche Zusicherung ist grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfGE 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; BVerfGK 2, 165 <172 f.>; 3, 159 <165>; 6, 13 <19>; 6, 334 <343>; 13, 128 <136>; 13, 557 <561>; 14, 372 <377>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2008 - 2 BvR 2386/08 -, juris, Rn. 16).

71

Die von einem Verfolgten behauptete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung steht einer Auslieferung nicht schon dann entgegen, wenn sie aufgrund eines bekanntgewordenen früheren Vorfalls nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Vielmehr müssen begründete Anhaltspunkte für die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung vorliegen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, juris, Rn. 4; vom 31. Mai 1994 - 2 BvR 1193/93 -, NJW 1994, S. 2883 <2884>; vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>). Es müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die völkerrechtlichen Mindeststandards nicht beachtet werden. Auf konkrete Anhaltspunkte kommt es in der Regel nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht. Die Auslieferung in Staaten, die eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweisen, wird regelmäßig die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der elementaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung begründen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2007 - 2 BvR 1680/07 -, NVwZ 2008, S. 71 <72>).

72

(bb) Dies gilt, soweit es um die Gewährleistung des Schuldprinzips geht, auch für Auslieferungen, die auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl stattfinden.

73

Zwar ist einem Mitgliedstaat der Europäischen Union im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Die Europäische Union bekennt sich zur Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören (vgl. Art. 2 EUV). Ihre Mitgliedstaaten haben sich sämtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstellt. Soweit sie Unionsrecht durchführen, sind sie überdies an die Gewährleistungen der Charta der Grundrechte gebunden (vgl. Art. 51 Abs. 1 GRCh). Das Vertrauen in die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes umfasst namentlich die im Europäischen Haftbefehl getätigten Angaben des um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaats. Das für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständige Gericht ist daher grundsätzlich nicht verpflichtet, bestehende Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen oder positiv festzustellen, dass dem um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaat hinsichtlich der Wahrung des Schuldprinzips vertraut werden kann.

74

Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wird jedoch dann erschüttert, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Falle einer Auslieferung die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde nicht eingehalten würden. Das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Gericht trifft insoweit die Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und der Praxis im ersuchenden Mitgliedstaat vorzunehmen, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte für solche Ermittlungen dargelegt hat. Anlass zur Prüfung, ob die Auslieferung mit der Verfassungsidentität des Grundgesetzes vereinbar ist, besteht nicht allein deswegen, weil das Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist. Ein Mitgliedstaat, der um die Auslieferung zur Vollstreckung einer in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Entscheidung nach Art. 4a Abs. 1 RbEuHb ersucht, erklärt durch seine ordnungsgemäß getätigten Angaben im Formblatt, dass der Verfolgte entweder tatsächlich von der Verhandlung und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch in seiner Abwesenheit ergehen kann (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe a RbEuHb), dass der Verfolgte in Kenntnis der Verhandlung von einem Rechtsbeistand vertreten wurde (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe b RbEuHb) oder dass der Verfolgte berechtigt ist, einen Rechtsbehelf gegen die Verurteilung einzulegen, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe c und d RbEuHb).

75

Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären.

76

2. Die Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips rechtfertigt und gebietet eine auf diese verfahrensrechtlichen Mindestgarantien beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist. Dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl kommt in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich Anwendungsvorrang zu (a). Dieser enthält nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Bezug auf die Auslieferung bei Abwesenheitsurteilen eine abschließende Regelung (b). Das entbindet das Oberlandesgericht jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Schuldgrundsatzes sicherzustellen (c).

77

a) Am Anwendungsvorrang des Unionsrechts nehmen auch Rahmenbeschlüsse teil. In diesem Zusammenhang verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel in Einklang steht (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer, C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 115 f.; Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C-42/11, EU:C:2012:517, Rn. 56).

78

In der Sache hat der Gerichtshof bereits mehrfach festgestellt, dass die nationalen Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur in den im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgesehenen Fällen ablehnen können (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 51; Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 36 m.w.N.). In der Rechtssache Melloni hat er betont, dass die Geltung des Rahmenbeschlusses nicht dadurch beeinträchtigt werden könne, dass ein Staat Vorschriften des nationalen Rechts, und hätten sie auch Verfassungsrang, gegen diesen ins Feld führt (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 59). Grenzen einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts hat er bislang nicht thematisiert, obwohl das spanische Tribunal Constitucional seine Vorlage damit begründet hatte, dass die Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen eine Verletzung des Wesensgehalts eines fairen Verfahrens im Sinne der spanischen Verfassung in einer Weise darstellen könne, die die Menschenwürde berühre (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 20; das spanische Tribunal Constitucional hat daraufhin allerdings betont, dass für den Fall, dass das Recht der Europäischen Union in seiner weiteren Entwicklung nicht mehr mit der spanischen Verfassung in Einklang zu bringen wäre, die Wahrung der Souveränität des spanischen Volkes und der Vorherrschaft, mit der sich die Verfassung versehen hat, in letzter Instanz verlangen könnten, die Probleme über die einschlägigen verfassungsrechtlichen Verfahren anzugehen, so Entscheidung vom 13. Februar 2014, STC 26/2014, Punkt 3 der Entscheidungsgründe, HRLJ 2014, S. 475 <478>).

79

b) Art. 4a RbEuHb regelt die Bedingungen, von denen Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen abhängig gemacht werden können, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs abschließend.

80

Nach Art. 1 Abs. 2 RbEuHb vollstrecken die Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses. Sie sind grundsätzlich verpflichtet, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, und dürfen seine Vollstreckung nur in den Fällen an Bedingungen knüpfen, die in den Art. 3 bis 5 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 51; Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 36 m.w.N.).

81

Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darf - wie im 10. Erwägungsgrund der Präambel zum Rahmenbeschluss vorgesehen - nach Auffassung des Gerichtshofs daher nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 2 EUV festgestellt worden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 49). Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage seien, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten. Daher müssten Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen worden sei, etwaige Rechtsschutzmöglichkeiten im Ausstellungsmitgliedstaat nutzen, um die Rechtmäßigkeit des Verfahrens der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder auch des strafrechtlichen Hauptverfahrens, das zur Verhängung dieser Strafe oder Maßregel geführt habe, in Frage zu stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010, Aguirre Zarraga, C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247, Rn. 70 f.).

82

In der Rechtssache Melloni hat der Gerichtshof speziell mit Blick auf Art. 4a RbEuHb entschieden, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden dürfe, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden könne (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 46), wenn der Betroffene einer der vier in dieser Bestimmung aufgeführten Fallgestaltungen unterfalle (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 61). Überdies gestatte es auch Art. 53 GRCh den Mitgliedstaaten nicht, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden könne (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 64).

83

c) Diese Vorgaben entbinden deutsche Behörden und Gerichte jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG sicherzustellen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG). Sie sind vielmehr gehalten, beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden, oder - wo dies nicht möglich ist - von einer Auslieferung abzusehen. Insoweit wird der den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschende Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt. In diesem Umfang trifft das Gericht auch die beschriebene verfassungsrechtliche Ermittlungspflicht.

84

3. Einer unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründeten Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs bedarf es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst (a) als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (b) eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt. Insofern genügen die einschlägigen Vorgaben des Unionsrechts den durch das Grundgesetz zur Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten.

85

a) Die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, ist schon unionsrechtlich begrenzt (vgl. Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 82 AEUV Rn. 37 ; Gaede, NJW 2013, S. 1279 <1280>). Das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, das ausweislich des 10. Erwägungsgrundes der Präambel des Rahmenbeschlusses Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist, kann erschüttert werden; erhebliche Grundrechtsverletzungen im Einzelfall sind selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich in der Lage sind, einen dem Grundgesetz gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten. Einem Europäischen Haftbefehl ist auch nach unionsrechtlichen Maßstäben nicht Folge zu leisten, wenn er den Anforderungen des Rahmenbeschlusses nicht genügt (aa) oder die Auslieferung mit einer Verletzung der unionalen Grundrechte einherginge (bb). Auch aus der Sicht des Unionsrechts gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens insoweit nicht unbegrenzt (cc), so dass die Verweigerung der Auslieferung wegen eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann (dd).

86

aa) Nach Art. 4a Abs. 1 RbEuHb kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn nicht bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

87

Art. 4a Abs. 1 Buchstabe a und b RbEuHb sieht eine Pflicht zur Auslieferung zwecks Vollstreckung von Entscheidungen vor, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, wenn diese Person tatsächlich offiziell von der Verhandlung und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch bei Abwesenheit ergehen kann, beziehungsweise diese Person in Kenntnis der Verhandlung von einem Rechtsbeistand vertreten wurde. Insofern handelt es sich um Fälle, in denen die Person auf ihr persönliches Anwesenheitsrecht aus freiem Willen und unmissverständlich verzichtet hat.

88

Art. 4a Abs. 1 Buchstabe c und d RbEuHb erfasst dagegen Konstellationen, in denen die betroffene Person berechtigt ist, einen Rechtsbehelf gegen die Verurteilung einzulegen, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann. Dem Angeklagten wird es in diesen Fällen also ermöglicht, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe durch ein Gericht auch in tatsächlicher Hinsicht überprüfen zu lassen. Das setzt voraus, dass auch das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten anhört und prozessrechtlich dazu in der Lage ist, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen. Soweit Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb ein Verfahren vorschreibt, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden "kann", wird dem mit der Sache befassten Gericht damit kein Ermessen eingeräumt. Das in Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb verwendete Verb "kann" dient vielmehr der Kennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und bedeutet so viel wie "in der Lage ist". Treffender ist in der englischen Fassung von einem "retrial, or an appeal, in which the person has the right to participate and which allows the merits of the case, including fresh evidence, to be re-examined", die Rede oder in der französischen Fassung von einer "nouvelle procédure de jugement ou (…) une procédure d'appel, à laquelle l'intéressé a le droit de participer et qui permet de réexaminer l'affaire sur le fond, en tenant compte des nouveaux éléments de preuve".

89

Dieses Verständnis von Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb entspricht auch dem Willen des europäischen Gesetzgebers. Die Regelung wurde durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24 - "Rahmenbeschluss über Abwesenheitsurteile") in den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingefügt. Ziel des Rahmenbeschlusses war es gemäß dessen Art. 1 Abs. 1, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. Erwägungsgrund 11 des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile lautet:

Die gemeinsamen Lösungen in Bezug auf die Gründe für die Nichtanerkennung in den einschlägigen geltenden Rahmenbeschlüssen sollten den unterschiedlichen Gegebenheiten in Bezug auf das Recht der betroffenen Person auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren Rechnung tragen. Eine solche Wiederaufnahme des Verfahrens oder Berufung bezweckt die Wahrung der Verteidigungsrechte und ist durch folgende Aspekte gekennzeichnet: Die betroffene Person hat das Recht, anwesend zu sein, der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, wird (erneut) geprüft und das Verfahren kann zur Aufhebung der ursprünglich ergangenen Entscheidung führen.

Die Formulierung "der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, wird (erneut) geprüft" zeigt, dass der Rat ersichtlich nicht von einem Ermessen des mit dem Berufungs- oder Wiederaufnahmeverfahren betrauten Richters, sondern davon ausging, dass die betroffene Person einen Anspruch darauf hat, dass die Beweismittel, die sie zu ihrer Entlastung vorbringt, erneut oder erstmals geprüft werden.

90

Teleologische Überlegungen erhärten diesen Befund. Könnte das Gericht von einer erneuten Prüfung des Sachverhalts gegen den Willen des in Abwesenheit Verurteilten absehen, könnte es eine erneute Prüfung der ihm zur Last gelegten Vorwürfe vereiteln. Der Verteidigung würde die Möglichkeit genommen, in einem Wiederaufnahmeverfahren die Zulassung neuer Beweise zu beantragen (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 85). Die prozessuale Möglichkeit, das Abwesenheitsurteil anzufechten, würde sich in diesem Fall als unwirksam erweisen (vgl. auch EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55).

91

bb) Auch die Bindung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union an die Grundrechte (1), die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht (2) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte, die für die Bestimmung der sachlichen Tragweite des Art. 4a Abs. 1 RbEuHb beachtlich ist, sprechen für die dargelegte Auslegung des Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb (3).

92

(1) Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dürfen - ungeachtet des Art. 7 EUV - einander nicht die Hand zu Menschenrechtsverletzungen reichen (Art. 6 Abs. 1 EUV; vgl. OLG München, Beschluss vom 15. Mai 2013 - OLG Ausl 31 Ausl A 442/13 <119/13> -, StV 2013, S. 710 <711>). Bei der Durchführung des Unionsrechts müssen sie die Unionsgrundrechte beachten (vgl. Art. 51 Abs. 1 GRCh; EuGH, Urteil vom 12. November 1969, Stauder, 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7; Urteil vom 13. Juli 1989, Wachauf, 5/88, Slg. 1989, S. 2609, Rn. 19; Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 58 f.). Diese sind daher auch für die Auslegung (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Dezember 1983, Kommission/Rat, C-218/82, Slg. 1983, S. 4063, Rn. 15; Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 58 ff.) und Rechtmäßigkeit (vgl. Art. 263, 267 Abs. 1 Buchstabe b AEUV; Art. 51 Abs. 1 GRCh; EuGH, Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Rn. 45; Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 48 ff.) des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl maßgeblich.

93

In diesem Sinne heißt es in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb ausdrücklich, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten. Nach dem 12. Erwägungsgrund achtet der Rahmenbeschluss die Grundrechte und wahrt die in Art. 6 EUV anerkannten Grundsätze, die in der Grundrechtecharta, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen (Satz 1). Konsequenterweise darf keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses in dem Sinne ausgelegt werden, dass eine Pflicht zur Übergabe einer Person besteht, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann (Satz 2). Gemäß dem 13. Erwägungsgrund soll zudem niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

94

Vor diesem Hintergrund ist ein Europäischer Haftbefehl dann nicht zu vollstrecken, wenn dem die gegenüber dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorrangige Grundrechtecharta entgegensteht (vgl. Kommissionsdokumente KOM <2006> 8 endgültig vom 24. Januar 2006, S. 7 und KOM <2011> 175 endgültig vom 11. April 2011, S. 7; BTDrucks 15/1718, S. 14; BRDrucks 70/06, S. 31; Schlussanträge GA Bot zu EuGH, Wolzenburg, C-123/08, Slg. 2009, I-9621, Rn. 147 ff. und zu EuGH, Mantello, C-261/09, Slg. 2010, I-11477, Rn. 87 f.; GA Cruz Villalón zu EuGH, I.B., C-306/09, Slg. 2010, I-10341, Rn. 43 f.; GA Mengozzi zu EuGH, Lopes da Silva Jorge, C-42/11, EU:C:2012:151, Rn. 28; GA Sharpston zu EuGH, Radu, C-396/11, EU:C:2012:648, Rn. 69 ff.).

95

Das wird durch die Entstehungsgeschichte des Rahmenbeschlusses bestätigt. Zwar konnte sich der Vorschlag, als weiteren Ablehnungsgrund vorzusehen, dass das Auslieferungsersuchen mit den Grundprinzipien des Vollstreckungsstaats oder der öffentlichen Ordnung unvereinbar ist, nicht durchsetzen. Dieser Vorschlag fand allerdings nur deshalb keinen Niederschlag im Text des Rahmenbeschlusses, weil sowohl in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb als auch in den Erwägungsgründen 10, 12, 13 und 14 darauf verwiesen wird, dass für die strikte Wahrung der Grundrechte und individuellen Freiheiten, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben (Art. 6 Abs. 2 EUV), Sorge zu tragen ist (vgl. RatsDok 14867/01 vom 4. Dezember 2001, S. 3).

96

(2) Die Grundrechtecharta verlangt im Hinblick auf Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsverurteilungen, dass auch das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten hört und prozessrechtlich in der Lage ist, die diesem zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen.

97

Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Mai 1986, Johnston, C-222/84, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 19; Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl EU Nr. C 303 vom 14. Dezember 2007, S. 17 <29>). Dazu gehört - als Teilgewährleistung - auch der Anspruch auf rechtliches Gehör in einem gerichtlichen Verfahren nach Art. 47 GRCh (vgl. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, nach Art. 6 EUV Rn. 369 ). Dieser Anspruch gewährleistet, dass der Richter erst nach der Anhörung der Parteien und der Würdigung der Beweismittel über den Antrag entscheidet und seine Entscheidung begründet (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 1998, Schröder und Thamann/Kommission, C-221/97 P, Slg. 1998, I-8255, Rn. 24).

98

(3) Nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh haben die Rechte der Grundrechtecharta, soweit sie den durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der Konvention verliehen wird. Das Recht der Union kann zwar einen weitergehenden Schutz gewähren (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh); das Schutzniveau nach der Grundrechtecharta darf jedoch nicht unter jenes der Konvention sinken. Nach den Erläuterungen zur Grundrechtecharta entspricht Art. 47 Abs. 2 GRCh dem Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 48 GRCh dem Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK (vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl EU Nr. C 303 vom 14. Dezember 2007, S. 17 <30>). Vor diesem Hintergrund stellen die Garantien des Art. 6 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Mindestgarantien auch für den Rahmenbeschluss auf, hinter die dieser nicht zurückfallen darf.

99

Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Auslieferung unzulässig, wenn begründete Tatsachen ("substantial grounds") für die Annahme vorliegen, dass die betreffende Person im Falle ihrer Auslieferung einem realen Risiko ("real risk") der Folter, einer unmenschlichen oder herabwürdigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. EGMR , Soering vs. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, § 91) oder eine eklatante Verweigerung eines fairen Verfahrens droht ("risks suffering a flagrant denial of a fair trial"; vgl. EGMR , Soering vs. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, § 113).

100

Insoweit verpflichtet Art. 6 EMRK jedes nationale Gericht zur Prüfung, ob der Verfolgte Kenntnis vom Verfahren erlangt hat (vgl. EGMR, Somogyi v. Italien, Urteil vom 18. Mai 2004, Nr. 67972/01, § 72). Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt zudem einen Anspruch auf rechtliches Gehör und in der Sache ein Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren. Jede Partei muss grundsätzlich die Möglichkeit haben, Beweise anzubieten, und sich zu allen erbrachten Beweisen oder Vorbringen äußern können, die darauf gerichtet sind, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. EGMR, Mantovanelli v. Frankreich, Urteil vom 18. März 1997, Nr. 21497/93, § 33). Das Gericht hat die Pflicht, die Ausführungen und Beweisangebote der Parteien ernsthaft zu prüfen (vgl. EGMR, Van de Hurk v. Niederlande, Urteil vom 19. April 1994, Nr. 16034/90, § 59). In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung die Möglichkeit haben müssen, zu Vortrag und Beweismitteln der anderen Seite Stellung zu nehmen (vgl. EGMR, Lietzow v. Deutschland, Urteil vom 13. Februar 2001, Nr. 24479/94, § 44).

101

Für ein faires Strafverfahren ist es von zentraler Bedeutung, dass der Angeklagte persönlich am Verfahren teilnimmt (vgl. EGMR, Poitrimol v. Frankreich, Urteil vom 23. November 1993, Nr. 14032/88, § 35). Das dient nicht nur allgemein seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, sondern gibt dem Gericht auch die Möglichkeit, die Stichhaltigkeit seiner Aussagen zu prüfen und sie mit denen des Opfers und der Zeugen zu vergleichen (vgl. EGMR, a.a.O., § 35). Auch wenn dies nicht ausdrücklich in Art. 6 Abs. 1 EMRK angeführt wird, so folgt doch aus Sinn und Zweck dieses Rechts, dass eine Person, die einer Straftat angeklagt ist, das Recht hat, an der Verhandlung teilzunehmen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 27). Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten können allerdings mit der Konvention vereinbar sein, wenn dieser auf sein Anwesenheits- und Verteidigungsrecht verzichtet hat oder ein Gericht die ihm zur Last gelegten Vorwürfe erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüft, nachdem es den Angeklagten gehört hat (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 29 f.; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55).

102

Die Anwesenheit der Strafverteidigung - sei es im Ausgangsverfahren oder bei nochmaliger Prüfung - gehört zu den wesentlichen Anforderungen von Art. 6 EMRK. Ist es der Verteidigung in einem Wiederaufnahmeverfahren gestattet, an der Verhandlung vor dem (Berufungs-)Gericht teilzunehmen und die Zulassung neuer Beweise zu beantragen, ist eine neue Bewertung des Schuldvorwurfs in faktischer und rechtlicher Hinsicht möglich. Das Verfahren kann dann in seiner Gesamtheit als fair angesehen werden (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 85). Umgekehrt führt die Weigerung des Gerichts, das Verfahren wiederzueröffnen, im Falle einer Abwesenheitsverurteilung - von den erwähnten Ausnahmen abgesehen - regelmäßig zu einem Verstoß gegen Art. 6 EMRK und die ihm zugrunde gelegten Prinzipien (vgl. EGMR, Stoichkov v. Bulgarien, Urteil vom 24. März 2005, Nr. 9808/02, § 56).

103

Ein Rechtsmittel muss in dieser Hinsicht effektiv sein. Deshalb darf dem Angeklagten nicht der Nachweis dafür obliegen, dass er sich einer Verurteilung nicht entziehen wollte oder seine Abwesenheit auf höhere Gewalt zurückgeht (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30). Den nationalen Behörden bleibt es allerdings unbenommen zu prüfen, ob der Angeklagte gute Gründe für seine Abwesenheit hatte oder ob sich in seiner Prozessakte etwas findet, das eine unverschuldete Abwesenheit stützt (vgl. EGMR, Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 57; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 88).

104

Verzichtet eine Person aus freiem Willen ausdrücklich oder konkludent auf die Garantie eines fairen Verfahrens, stehen dem weder Wortlaut noch Geist von Art. 6 EMRK entgegen (vgl. EGMR, Kwiatkowska v. Italien, Entscheidung vom 30. November 2000, Nr. 52868/99; Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 86). Der Verzicht muss allerdings unmissverständlich ausgedrückt werden und gewissen Mindestanforderungen genügen (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02). Dass ein Angeklagter, der nicht persönlich informiert wurde, auf mangelhafter faktischer Grundlage als flüchtig ("latitante") eingestuft wird, rechtfertigt jedenfalls nicht die Annahme eines freiwilligen Verzichts auf Anwesenheits- und Verteidigungsrechte (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 28; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 87).

105

cc) Dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch nach Unionsrecht nicht schrankenlos ist, bedeutet zugleich, dass die nationalen Justizbehörden bei entsprechenden Anhaltspunkten unionsrechtlich berechtigt und verpflichtet sind, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen, selbst wenn der Europäische Haftbefehl in formaler Hinsicht den Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses entspricht (vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., Vor § 78 Rn. 26, 35 ). Das Unionsrecht steht daher Ermittlungen hinsichtlich der Wahrung der in der Grundrechtecharta garantierten rechtsstaatlichen Anforderungen durch die nationalen Justizbehörden nicht nur nicht im Wege, es verlangt sie. Zu Recht entfällt nach Ansicht der Europäischen Kommission die Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn die vollstreckende Justizbehörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls davon überzeugt ist, dass die Übergabe zu einem Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen führen würde (vgl. Kommissionsdokument KOM <2011> 175 endgültig vom 11. April 2011, S. 7). Entstehende Verzögerungen im Auslieferungsverkehr sind hinzunehmen, auch wenn dies dem Ziel des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zuwiderläuft, die Auslieferung zu beschleunigen (vgl. Erwägungsgrund 1 und 5 Präambel RbEuHb). Dementsprechend sieht der Rahmenbeschluss auch keine starren Fristen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vor (vgl. Art. 17 Abs. 2<"sollte">, Abs. 3 <"sollte">, Abs. 4 <"Sonderfällen">, Abs. 7 <"bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände"> RbEuHb).

106

Ausweislich des 12. Erwägungsgrunds belässt der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten unter anderem die Freiheit zur Anwendung ihrer verfassungsmäßigen Regelungen über ein ordnungsgemäßes und faires Gerichtsverfahren (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 53). Außerdem müssen Entscheidungen zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einer ausreichenden Kontrolle durch die Gerichte der Mitgliedstaaten unterliegen (8. Erwägungsgrund; vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 46). Eine effektive gerichtliche Kontrolle im Sinne der Art. 47, 52 Abs. 3 GRCh, Art. 6, 13 EMRK setzt jedoch auch aus der Sicht des Unionsrechts voraus, dass das zuständige Gericht in der Lage ist, entsprechende Ermittlungen anzustellen, solange nur die praktische Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss errichteten Auslieferungssystems nicht in Frage gestellt wird (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 53; zum parallelen Problem im Asylrecht: EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S., C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 94).

107

dd) Damit bleiben die unionsrechtlichen Anforderungen an die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht hinter denjenigen zurück, die das Grundgesetz als von Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten enthält. Ob und inwieweit zur Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV zurückzugreifen ist, wonach die Europäische Union die jeweilige nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, und der Rahmenbeschluss daher unter Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Rechtslage auszulegen ist (vgl. v. Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 4 EUV Rn. 13 ), kann deshalb offen bleiben.

108

b) Auch das den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen begegnet im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und seine in der Garantie der Menschenwürde verankerten Gewährleistungsinhalte insoweit keinen Bedenken. § 73 Satz 2 IRG sieht vor, dass bei Ersuchen nach dem Achten Teil ("Auslieferungs- und Durchlieferungsverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union") die Leistung von Rechtshilfe unzulässig ist, wenn die Erledigung zu den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde. Wie immer diese Verweisung im Einzelnen zu verstehen sein mag, hindert sie Behörden und Gerichte jedenfalls nicht daran, bei der Auslegung der §§ 78 ff. IRG den norminternen Direktiven des Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen (vgl. allgemein BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; 115, 320 <367>; stRspr).

109

4. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts wird diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht. Zwar hat es zutreffend gesehen, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers nur zulässig ist, wenn ihm nach seiner Überstellung ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Es hat jedoch den Umfang der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts und damit Bedeutung und Tragweite von Art. 1 Abs. 1 GG (a) verkannt. Der Beschwerdeführer hat substantiiert dargelegt, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit eröffne, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken. Dem ist das Oberlandesgericht nicht in ausreichendem Maße nachgegangen. Es hat sich damit zufrieden gegeben, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien "jedenfalls nicht ausgeschlossen sei". Dies verletzt die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 GG (b).

110

a) Beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen müssen die Gerichte im Einzelfall sicherstellen, dass die Rechte des Verfolgten zumindest insoweit gewahrt werden, als sie am Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG teilhaben. Mit Blick auf den in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Schuldgrundsatz gehört dazu, dass dem Verfolgten, der in Abwesenheit verurteilt wurde und nicht über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens unterrichtet war, zumindest die tatsächliche Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Kenntniserlangung wirksam zu verteidigen, insbesondere Umstände vorzubringen und prüfen zu lassen, die zu seiner Entlastung führen können. Das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Gericht trifft eine Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und Praxis im ersuchenden Staat vorzunehmen, wenn der Verfolgte hinreichende Anhaltspunkte für entsprechende Ermittlungen dargelegt hat. Inhalt und Umfang dieser Aufklärungspflicht bemessen sich nach den vom Verfolgten vorgebrachten Anhaltspunkten für eine Unterschreitung des durch die Menschenwürde garantierten Mindeststandards. Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass dieser Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären.

111

b) Zwar ist der Italienischen Republik - wie allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - auch im Auslieferungsverkehr grundsätzlich Vertrauen im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes entgegenzubringen. Im vorliegenden Fall haben sich jedoch Fragen ergeben, die eine weitere Aufklärung des Sachverhalts erforderlich gemacht hätten.

112

Die Generalstaatsanwaltschaft Florenz hat mit dem Europäischen Haftbefehl erklärt, dass dem Beschwerdeführer die Entscheidung, mit der die Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt worden ist, nicht persönlich zugestellt worden sei, er diese aber unverzüglich nach der Übergabe erhalten werde. Der Beschwerdeführer habe zudem ein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren, an dem er teilnehmen könne und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden könne. Sie hat damit konkludent erklärt, dass es dem Beschwerdeführer ermöglicht werde, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe nach Anhörung durch ein Gericht in faktischer und rechtlicher Hinsicht überprüfen zu lassen. Darüber hinaus hat die Generalstaatsanwaltschaft Florenz mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 erklärt, dass der Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Rechtsmittelfrist innerhalb von dreißig Tagen beantragen und sich ohne Vorbehalt verteidigen könne.

113

Das allein genügte im vorliegenden Fall jedoch nicht, um den von Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandard an Beschuldigtenrechten und damit die Subjektstellung des Beschwerdeführers in dem in Italien durchzuführenden Strafprozess sicherzustellen. Denn der Beschwerdeführer hat begründete Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass ihm trotz der Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz keine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet sei, sich zu verteidigen, insbesondere Umstände vorzubringen und prüfen zu lassen, die zu seiner Entlastung führen können (aa). Die Begründung des Oberlandesgerichts, es reiche aus, dass im Berufungsverfahren eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei, ist nicht geeignet, die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Bedenken auszuräumen (bb). Auch mit Blick auf weitere Umstände hätte für das Oberlandesgericht Anlass bestanden, die Wahrung des dem Beschwerdeführer zustehenden Mindestbestands an prozessualen Verteidigungsmöglichkeiten eingehender zu prüfen (cc).

114

aa) Der Beschwerdeführer hat gegenüber dem Oberlandesgericht mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2014 erklärt, dass er in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden sei, ohne auf sein Anwesenheitsrecht aus freiem Willen und unmissverständlich verzichtet zu haben. Dabei hat er plausibel dargelegt, dass er mit der ihm nach italienischem Recht eröffneten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur erreichen könne, in die Rechtsmittelfrist für eine Berufung eingesetzt zu werden. Auch hat er unter Hinweis auf Fundstellen zum italienischen Strafprozessrecht in der deutschsprachigen Literatur vorgetragen, dass die nach italienischem Recht mögliche verspätete Berufung den Anforderungen an eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs wegen der beschränkten Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts nicht genüge, weil in der Berufungshauptverhandlung im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde. Um dies zu belegen, hat er dem Oberlandesgericht den Inhalt von Art. 603 CPP in der Fassung des Gesetzes vom 28. April 2014 wie auch nach der Gesetzeslage vor Inkrafttreten dieses Gesetzes in italienischer und deutscher Sprache mitgeteilt.

115

Aus dem Wortlaut des Art. 603 CPP scheint zu folgen, dass im Berufungsverfahren grundsätzlich keine Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung stattfindet. Nach dessen Absatz 3 wird die erneute Durchführung des Beweisverfahrens von Amts wegen nur angeordnet, wenn sie das Gericht für unbedingt erforderlich hält. Beantragt eine Partei die Erhebung von Beweisen, verfügt das Gericht die Beweisaufnahme, wenn es nicht in der Lage ist, aufgrund der Aktenlage zu entscheiden (Abs. 1), oder die neuen Beweise erst nach dem Verfahren erster Instanz entstanden sind oder entdeckt wurden (Abs. 2). Nach Art. 603 Abs. 4 CPP a.F. (1988), der nach Angaben des Beschwerdeführers erst durch Gesetz vom 28. April 2014 abgeschafft worden ist, verfügt der Richter die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung nur dann, wenn der in der ersten Instanz abwesende Beschuldigte dies beantragt und nachweist, dass er nicht in der Lage war, vor Gericht zu erscheinen, und zwar aufgrund von Ereignissen zufälligen Charakters oder höherer Gewalt oder weil er keine Kenntnis von der Ladungsschrift erhalten hat, sofern dies nicht durch seine Schuld geschehen ist, oder er sich nicht aus freiem Willen der Kenntnisnahme des Verfahrens entzogen hat. Der Beschwerdeführer hat plausibel dargelegt, dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn Anwendung finden könnte. Zur Begründung hat er auch auf eine Entscheidung ("Sentenza") der italienischen Corte di Cassazione vom 17. Juli 2014 verwiesen, wonach für Rechtsmittel gegen Verurteilungen in Abwesenheit, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. April 2014 ergangen seien, die alte Rechtslage gelte. Diese Entscheidung hat er dem Oberlandesgericht im Wortlaut mitgeteilt. Dass im vorliegenden Fall tatsächlich die alte Rechtslage gelten könnte, erscheint auch deshalb nicht fernliegend, weil die Generalstaatsanwaltschaft Florenz in ihrem Schreiben vom 7. Oktober 2014 den Wortlaut des Art. 175 CPP in der vor der Strafprozessreform des Jahres 2014 geltenden Fassung übersandt hat. Auch hierauf hat der Beschwerdeführer das Oberlandesgericht hingewiesen.

116

Das Vorbringen des Beschwerdeführers lässt daher befürchten, dass ihm die Möglichkeit, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken, nach italienischem Recht nicht sicher eröffnet ist. Findet Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 Anwendung, müsste er den negativen Beweis erbringen, dass er wegen Zufalls, wegen höherer Gewalt oder deswegen, weil er keine Kenntnis von der Ladungsschrift erhalten hat, nicht in der Lage war, vor Gericht zu erscheinen, vorausgesetzt, dass dies nicht durch seine Schuld geschehen ist oder - wenn die Ladungsschrift vom Gericht erster Instanz mittels Übergabe an den Verteidiger zugestellt wurde - er sich nicht aus freiem Willen der Kenntnisnahme des Verfahrens entzogen hat. Diese Formel entspricht jener des Art. 175 CPP in der bis 2005 geltenden Fassung. Hiernach konnte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erhebung eines Rechtsmittels vom Angeklagten beantragt werden, wenn dieser nachwies, dass er von der Verfügung tatsächlich keine Kenntnis erlangt hatte, sofern der Umstand nicht auf eigenes Verschulden zurückzuführen war, oder er sich nicht bewusst der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen entzogen hatte, wenn das Säumnisurteil durch Aushändigung an den Verteidiger zugestellt worden war (vgl. Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991). Da ein Beweis von Negativtatsachen kaum zu führen ist, wurde die alte Fassung des Art. 175 CPP von den Oberlandesgerichten (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 19. Dezember 1991 - Ausl A 413/91 -, StV 1993, S. 207; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Juli 1997 - Ausl. 9/97 -, StV 1997, S. 648 <649>; ThürOLG, Beschluss vom 2. Februar 1998 - Ausl 2/97 -, StV 1999, S. 265 <267 f.>; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. August 1998 - 4 Ausl (A) 201/98 - 259 - 250/98 III -, StV 1999, S. 270 <272>; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. August 1998 - 1 AK 14/98 -, StV 1999, S. 268 <270>; OLG Köln, Beschluss vom 15. Januar 2003 - Ausl 913/01 -, juris, Rn. 38; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. September 2004 - 1 AK 0/04 -, juris, Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 13. September 2004 - 1 AK 6/04 -, StV 2004, S. 547 <548>), vom Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 47, 120 <126>) sowie von der Ersten Sektion und der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Blick auf die hier in Rede stehenden Schutzgüter beanstandet (vgl. EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 10. November 2004, Nr. 56581/00, § 40; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 103 ff.). Schon 1985 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Sache Colozza v. Italien die Wirksamkeit des Rechtsmittels der "scheinbar verspäteten Berufung" nach italienischem Recht gerügt, weil das Berufungsgericht unter tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nur entscheiden durfte, wenn die betreffende Person beweisen konnte, dass sie sich der Justiz nicht habe entziehen wollen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 31).

117

Selbst wenn Art. 603 CPP in seiner durch Gesetz vom 28. April 2014 geänderten Fassung Anwendung finden sollte, ist denkbar, dass dem Beschwerdeführer keine wirksame Möglichkeit eröffnet wird, sich zu verteidigen. Nach Art. 603 CPP findet eine Beweisaufnahme nämlich nur statt, wenn die Beweise erst nach dem Urteil erster Instanz entstanden oder entdeckt worden sind (Abs. 2), wenn der Richter nicht in der Lage ist, nach dem Stand der Akten zu entscheiden (Abs. 1) oder wenn er die Durchführung einer Beweisaufnahme für unbedingt erforderlich hält (Abs. 3). Der Wortlaut von Art. 603 CPP in der der Entscheidung des Oberlandesgerichts zugrunde gelegten Version legt nahe, dass dem Berufungsgericht ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung über eine erneute Beweisaufnahme zukommt. Eine Pflicht des Berufungsgerichts, auf Antrag des Verfolgten überhaupt Beweis zu erheben, ergibt sich daraus nicht. Jedenfalls ist mit Blick auf den wenig bestimmten Wortlaut des Art. 603 Abs. 1 bis 3 CPP unklar, ob der Pflicht zur Ermittlung der Wahrheit im Strafverfahren hinreichend Rechnung getragen wird.

118

Die vom Beschwerdeführer mit Blick auf das italienische Berufungsverfahren vorgetragenen Bedenken werden dadurch verstärkt, dass in der Vergangenheit mehrere Oberlandesgerichte die Auslieferung nach Italien aufgrund einer Abwesenheitsverurteilung mit der Begründung abgelehnt haben, dass nach italienischem Recht in der Berufungsinstanz eine erneute umfassende gerichtliche Überprüfung der Sachentscheidung nicht stattfinde (vgl. OLG Frankfurt, 2 Ausl. 54/82, 2. September 1983, Nr. U 75, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 285 <288 f.>; OLG München, OLG Ausl. 77/85, 26. Juni 1985, Nr. U 112, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 412 <416>; KG Berlin, (4) Ausl. A. 277/85 (143/85), 24. März 1986, Nr. U 123, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 435 <438>; SchlHOLG, Beschluss vom 14. Januar 1994 - 1 Ausl 8/93 -, StV 1996, S. 102 <103>). Die damit verbundenen Bedenken werden auch in der Literatur geteilt (vgl. Schomburg/Hackner und Lagodny, jeweils in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 15 IRG Rn. 33e bzw. § 73 IRG Rn. 86).

119

bb) Den substantiierten und plausiblen Einwänden des Beschwerdeführers hätte das Oberlandesgericht nachgehen müssen. Seine Ermittlungen stellen sich als unzureichend dar.

120

Das Oberlandesgericht versucht, die Bedenken des Beschwerdeführers mit dem Argument auszuräumen, es genüge, wenn im italienischen Berufungsverfahren in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Abwesenheitsverurteilung stattfinde, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei. Damit ist jedoch nicht sichergestellt, dass dem Beschwerdeführer tatsächlich eine Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung der Kenntnis von der Abwesenheitsverurteilung wirksam zu verteidigen, insbesondere entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls Berücksichtigung zu erreichen.

121

Der Einwand, dass es sich, selbst wenn im italienischen Berufungsverfahren im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde, doch um ein Rechtsmittel handele, mit dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage der erneuten Prüfung unterworfen würden, vermag ebenso wenig zu überzeugen. Wie eine umfassende Überprüfung der Tatfrage ohne Beweisaufnahme erfolgen soll, erschließt sich nicht. Darüber hinaus stützt sich das Oberlandesgericht für seine Ansicht lediglich auf eine einzige Quelle (Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 237). Eine genaue Darstellung des strafrechtlichen Berufungsverfahrens nach italienischem Recht lässt sich dieser Fundstelle nicht entnehmen. Vielmehr wird auch hier darauf hingewiesen, dass das Verfahren in zweiter Instanz grundsätzlich ein Aktenverfahren sei und keine erneute Beweisaufnahme stattfinde. Wie sich dieser Umstand mit einer erneuten Prüfung der Tatfrage vereinbaren lässt, wird nicht erläutert. Dass in der Sache eine umfassende tatsächliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde und die uneingeschränkte Möglichkeit einer erneuten Erhebung von bereits in erster Instanz erhobenen Beweisen bestehe, wie vom Oberlandesgericht angenommen, ergibt sich aus der zitierten Quelle nicht.

122

Der Hinweis des Oberlandesgerichts in seinem Beschluss vom 27. November 2014, dass bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens bestehe, vielmehr eine Neuverhandlung vor einem Rechtsmittelgericht ausreiche, trägt seine Entscheidung ebenfalls nicht. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung auch der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 83, 119 <128>; 111, 307 <317>; 120, 180 <200 f.>; 128, 326 <367 f.>), ist geklärt, dass das Gericht verpflichtet ist, die dem Verurteilten zur Last gelegten Vorwürfe erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen, nachdem es diesen gehört hat (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 29; Einhorn v. Frankreich, Entscheidung vom 16. Oktober 2001, Nr. 71555/01, § 33). Zudem müssen sich die prozeduralen Möglichkeiten nach Recht und Praxis des Vertragsstaates als effektiv erweisen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55). Zwar folgt aus der Entscheidung in der Sache Colozza v. Italien, wie das Oberlandesgericht zutreffend feststellt, dass bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens besteht. Der Entscheidung kann allerdings nicht entnommen werden, dass dem in Abwesenheit Verurteilten, der keine Kenntnis von dem erstinstanzlichen Verfahren hatte, von vornherein kein Recht auf Durchführung einer Beweisaufnahme zustünde. Vielmehr betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung das aus Art. 6 Abs. 1 EMRK fließende Recht, Beweis anzubieten und sich zu allen erbrachten Beweisen oder Vorbringen, die darauf gerichtet sind, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen, äußern zu können (vgl. EGMR, Mantovanelli v. Frankreich, Urteil vom 18. März 1997, Nr. 21497/93, § 33; Lietzow v. Deutschland, Urteil vom 13. Februar 2001, Nr. 24479/94, § 44).

123

Die Auffassung des Oberlandesgerichts, es genüge, wenn im italienischen Berufungsverfahren in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei, greift insoweit zu kurz.

124

cc) Darüber hinaus ist mit Blick auf die Aufklärungspflicht des Oberlandesgerichts zu bedenken, dass die Rechtslage in Italien angesichts der in der Vergangenheit erfolgten Beanstandungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und der zahlreichen Änderungen des italienischen Codice Penale für einen deutschen Richter nicht ohne weiteres zu überblicken ist. Auch hat die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 nur wenig zur Aufklärung beigetragen. Die italienischen Justizbehörden wurden vom Oberlandesgericht gebeten, ergänzende Auskunft über die tatsächliche Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und dessen anwaltlicher Vertretung beziehungsweise eine Zusicherung zu erteilen, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt wird, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werden wird. Ergänzende Auskunft über die Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und dessen anwaltlicher Vertretung gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz nicht, obwohl sie im Europäischen Haftbefehl nicht angegeben hatte, ob der Beschwerdeführer zu der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, persönlich erschienen war oder nicht. Eine Zusicherung, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt wird, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werden wird, erteilte sie ebenfalls nicht. Trotz des präzisen Ersuchens um Auskunft und Zusicherung durch das Oberlandesgericht wies sie lediglich abstrakt darauf hin, dass unter der Bedingung, dass "dem Antrag stattgegeben wird", erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden werde. Dem Verurteilten wurde sein Verteidigungsrecht zwar ohne Vorbehalt zugesichert; der Umfang dieses Verteidigungsrechts blieb jedoch unklar.

D.

125

Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt ("acte clair", vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, Slg. 1982, S. 3415, Rn. 16 ff.). Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken. Dass die Grenzen der Ermittlungspflicht, insbesondere mit Blick auf den Umfang der nach Unionsrecht zulässigen Ermittlungen und der hiermit verbundenen Verzögerungen beim Vollzug des Haftbefehls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht geklärt sind, ändert daran nichts. Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des Oberlandesgerichts, die Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers eingehender zu prüfen, entgegen stand. Das gilt vor allem mit Blick auf die substantiierten Anhaltspunkte, die der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht dafür vorgetragen hat, dass ihm nach italienischem Prozessrecht keine Möglichkeit eröffnet sei, sich wirksam zu verteidigen.

E.

126

Da die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist, sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG vollständig zu erstatten.

Tenor

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 19. Januar 2018 - 1 AR 543/17 - und vom 9. Februar 2018 - 1 AR 543/17 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, soweit sie die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklären; sie werden in diesem Umfang aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.

Die Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft München vom 25. Januar 2018 - 33 Ausl A 1656/17 c - wird damit gegenstandslos.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe

A.

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, eines serbischen Staatsangehörigen, nach Ungarn zur Strafverfolgung wegen einer Betrugstat auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls vom 2. November 2017.

2

1. Der am 27. Dezember 2017 vorläufig festgenommene und seitdem in Haft befindliche Beschwerdeführer führte im fachgerichtlichen Verfahren gegen seine Auslieferung unter anderem an, er bestreite die Anlasstat und diese sei außerdem in Deutschland nicht strafbar. Auch stehe der Auslieferung entgegen, dass sein Lebensmittelpunkt Deutschland sei. Hier lebten seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind. Seine Auslieferung werde zudem dadurch gehindert, dass er nach einem Herzinfarkt operiert worden sei und weiterhin medikamentös behandelt werde. Neben der Einhaltung der europäischen Mindeststandards in ungarischer Haft sei jedenfalls sicherzustellen, dass seine Erkrankung dort ausreichend behandelt werden könne. Dies sei zweifelhaft, weil in Ungarn höchst problematische Haftbedingungen herrschten. So habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 10. März 2015 entschieden, dass die Situation jedenfalls in sieben ungarischen Haftanstalten nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar sei (unter Verweis auf EGMR, Varga and Others v. Hungary, Urteil vom 10. März 2015, Nr. 14097/12u.a.). Diese Defizite seien auch Gegenstand eines durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen am 12. September 2016 angestrengten Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gewesen (unter Verweis auf Hanseat. OLG Bremen, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 Ausl A 3/15 -, juris).

3

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 19. Januar 2018 ordnete das Oberlandesgericht München die Auslieferungshaft gegen den Beschwerdeführer an und erklärte dessen Auslieferung für zulässig. Die Entscheidung zur Zulässigkeit der Auslieferung begründete das Oberlandesgericht wie folgt: Auslieferungshindernisse seien nicht ersichtlich. Einwendungen gegen die dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Tat seien vor den ungarischen Behörden vorzutragen. Der Europäische Haftbefehl enthalte eine ausreichende Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen worden sein solle, einschließlich der Tatzeit, des Tatorts und der Tatbeteiligung der gesuchten Person. Auf die Haftbedingungen in Ungarn ging das Oberlandesgericht dagegen nicht ein.

4

3. Mit angegriffener Verfügung vom 25. Januar 2018 bewilligte die Generalstaatsanwaltschaft München die Auslieferung.

5

4. Mit Schriftsatz vom 2. Februar 2018 beantragte der Beschwerdeführer, gemäß § 33 IRG erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden. Das Oberlandesgericht habe sich mit seinem Vortrag zu den defizitären Haftbedingungen in Ungarn nicht auseinandergesetzt. Nach der Rechtsprechung des EGMR seien Gefangene in Ungarn in zu kleinen Hafträumen untergebracht, und die Haftanstalten seien massiv überbelegt (18.000 Gefangene auf 12.500 Haftplätzen). Dies habe zur Folge, dass auf einzelne Gefangene lediglich ein Platz von 1,5 Quadratmetern entfalle. Auch die hygienischen Bedingungen in ungarischen Haftanstalten habe der EGMR beanstandet und festgestellt, dass aus den engen Raumverhältnissen, dem Mangel an Intimsphäre bei der Toilettennutzung, Insektenplagen, schlechter Belüftung und restriktiv gehandhabtem Hofgang eine entwürdigende Behandlung folge (unter Verweis auf EGMR, Varga and Others v. Hungary, Urteil vom 10. März 2015, Nr. 14097/12 u.a.). Es sei, da es sich um strukturelle Mängel handele, davon auszugehen, dass auch der Beschwerdeführer diese Haftbedingungen in Ungarn zu erwarten habe. Auch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen habe noch im Jahr 2016 "objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben" dafür erkannt, dass die Haftbedingungen in Ungarn systemische Mängel aufwiesen (unter Verweis auf Hanseat. OLG Bremen, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 Ausl A 3/15 -, juris). Das Oberlandesgericht Karlsruhe gehe ebenfalls von aktuell bestehenden Hindernissen bei Auslieferungen nach Ungarn aus und habe zusammengefasst, wie konkret eine Zusicherung sein müsse, um diese auszuräumen (unter Verweis auf OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. Februar 2016 - 1 AK 4/16 -, juris). Es sei bisher nicht einmal absehbar, in welcher Justizvollzugsanstalt der Beschwerdeführer gegebenenfalls inhaftiert werde. Die Generalstaatsanwaltschaft habe im vorliegenden Verfahren keine Zusicherung zu den Haftbedingungen eingeholt. Insofern bestehe ein Auslieferungshindernis nach § 73 Satz 2 IRG in Verbindung mit Art. 6 EUV und Art. 3 EMRK. Ohne Kenntnis der Haftanstalt sei kein konkreterer Vortrag möglich.

6

5. Die Generalstaatsanwaltschaft München nahm mit Schreiben vom 7. Februar 2018 zu dem Antrag Stellung. Der von dem Beschwerdeführer zitierten Rechtsprechung des EGMR lägen Sachverhalte zugrunde, die bereits viele Jahre zurücklägen. In einer aktuellen Entscheidung des Gerichtshofs (unter Verweis auf EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14. November 2017, Nr. 5433/17) habe dieser an seiner Rechtsprechung zu den Haftbedingungen in Ungarn nicht mehr festgehalten, weil sich die Haftbedingungen zwischenzeitlich verbessert hätten. Daher sei die Einholung konkreter Zusicherungen weder erforderlich noch geboten.

7

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. Februar 2018 entschied das Oberlandesgericht München, dass es mit dem Beschluss vom 19. Januar 2018 sein Bewenden habe. Es bestünden keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Auslieferung. Die aktuellen Haftbedingungen in Ungarn, die der Beschwerdeführer zu erwarten habe, stünden einer Auslieferung nicht entgegen. Die von dem Beschwerdeführer zitierte Rechtsprechung des EGMR sei nicht mehr aktuell. In Ungarn sei zum 1. Januar 2017 ein neues Gesetz in Kraft getreten, durch das sich die Belegung der ungarischen Gefängnisse reduziert habe, weil Inhaftierte vor der Vollverbüßung einer Freiheitsstrafe aus dem Gefängnis entlassen und unter Hausarrest gestellt werden könnten. Der EGMR habe daraufhin an seiner Rechtsprechung nicht mehr festgehalten und eine Beschwerde abgewiesen (unter Verweis auf EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14. November 2017, Nr. 5433/17). Auch das Oberlandesgericht Köln habe kürzlich eine Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung nach Ungarn für zulässig erklärt (unter Verweis auf OLG Köln, Beschluss vom 22. November 2017 - 6 AuslA 125/17 - 102 -, juris). Vor diesem Hintergrund sei die Einholung konkreter Zusicherungen zu den Haftbedingungen weder erforderlich noch geboten.

II.

8

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 11. Februar 2018, die der Beschwerdeführer mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, richtet er sich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München und die Bewilligung seiner Auslieferung durch die Generalstaatsanwaltschaft München. Er rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie der Sache nach eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG.

9

Die strengen Voraussetzungen für eine Identitätskontrolle seien erfüllt. Der Beschwerdeführer habe schon im fachgerichtlichen Verfahren unter Hinweis auf die von anderen Gerichten in jüngster Zeit festgestellten strukturellen Mängel im ungarischen Strafvollzug vorgetragen, dass die Haftbedingungen nicht den Mindestanforderungen genügten. Inwieweit die Tatsachenannahmen der vom Beschwerdeführer zitierten Entscheidungen aktuell zuträfen, habe das Oberlandesgericht nicht geprüft, obschon hierzu Anlass bestanden habe. Die Haftbedingungen in Ungarn verstießen gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Schon die Einhaltung der Mindesthaftraumgröße und die Gewährleistung einer ausreichenden ärztlichen Versorgung von Gefangenen sei nicht sichergestellt, wie etwa der EGMR im Urteil vom 10. März 2015 entschieden habe (vgl. EGMR, Varga and Others v. Hungary, Nr. 14097/12 u.a.). Dies gelte nach wie vor, denn Ungarns Gefängnisse blieben weiterhin erheblich überbelegt. Bis jetzt gebe es zwar Berichte über Verbesserungsbemühungen, aber keine konkreten Berichte über Ergebnisse.

10

Die Begründung des Oberlandesgerichts im Beschluss vom 9. Februar 2018 sei inakzeptabel. Mit seiner Entscheidung vom 14. November 2017 habe der EGMR seine frühere Rechtsprechung nicht aufgegeben, sondern lediglich eine Beschwerde verworfen, weil der nationale Rechtsweg zuvor nicht erschöpft worden sei. In der Entscheidung würden nach wie vor bestehende Missstände in den ungarischen Haftanstalten beschrieben. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln, auf die sich das Oberlandesgericht München ebenfalls stütze, sei zudem vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden (unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2017 - 2 BvR 2655/17 -, juris). Ferner seien die verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland geltenden verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard unvereinbar. Das Oberlandesgericht sei seiner verfassungsrechtlichen Prüfungs- und Aufklärungspflicht nicht nachgekommen. Schließlich verletzten die verfahrensgegenständlichen Beschlüsse auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Zu klären sei insbesondere gewesen, inwieweit Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR auszulegen sei. Der Beschwerdeführer habe im Verfahren auf die Pflicht zur Vorlage an den EuGH hingewiesen.

11

2. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 12. Februar 2018 die Übergabe des Beschwerdeführers an die ungarischen Behörden gemäß § 32 Abs. 1 und 2 BVerfGG einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Wochen, untersagt. Mit Beschluss vom 21. März 2018 hat das Bundesverfassungsgericht die einstweilige Anordnung bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, wiederholt.

12

3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat mit Schreiben vom 9. März 2018 zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Hinsichtlich einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG bestünden Zweifel an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer erläutere bezüglich der Haftbedingungen nicht ausreichend, ob die Verbesserungen seit dem neuen Gesetzgebungsakt vom 1. Januar 2017 zu einer wesentlichen Änderung der im Jahr 2015 durch den EGMR vorgenommenen Bewertung der Haftbedingungen führe. Er setze sich nicht mit den in dessen Entscheidung vom 14. November 2017 (Domján v. Hungary, Nr. 5433/17) aufgeführten Aspekten in Bezug auf die Verbesserungen der Haftbedingungen und die Einführung wirksamer Rechtsbehelfe auseinander.

13

Jedenfalls sei die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Es lägen keine gebührend aktualisierten Angaben dafür vor, dass in Ungarn derzeit noch systemische Mängel hinsichtlich der Haftbedingungen bestünden. Grundsätzlich sei das Urteil des EGMR vom 10. März 2015 (EGMR, Varga and Others v. Hungary, Nr. 14097/12 u.a.) geeignet, systemische Mängel zu belegen. Allerdings dürfe - wie bereits das Oberlandesgericht München ausführe - nicht außer Betracht gelassen werden, dass das Urteil vor drei Jahren gefällt worden sei und Sachverhalte aus den Jahren 2006 bis 2014 beschrieben seien. Die ungarischen Behörden hätten diverse Maßnahmen ergriffen, unter anderem sei am 1. Januar 2017 ein Gesetz in Kraft getreten, in dem alternative Haftformen verankert worden seien. Bereits zum 1. Januar 2017 habe die Überbelegung der Gefängnisse von 43 % auf 31 % reduziert werden können (unter Verweis auf eine Entschließung des Ministerkomitees des Europarates vom 7. Juni 2017, CM/Notes/1288/H46-16). Zudem sollten bis Ende 2019 6.207 neue Haftplätze geschaffen werden. Aus einer Zusicherung, die in einem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Naumburg eingeholt worden sei, ergebe sich, dass die Haftanstalten in Szombathely und in Tiszalök den europäischen Mindeststandards entsprächen. Darüber hinaus habe Ungarn effektive Rechtsbehelfe eingeführt, um menschenrechtswidrigen Haftbedingungenvorbeugend entgegenzuwirken (unter Verweis auf EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14. November 2017, Nr. 5433/17). Schließlich verfingen die Ausführungen hinsichtlich des gesetzlichen Richters nicht. Das Oberlandesgericht München sei unter Berücksichtigung der Ausführungen in den Entscheidungen des EGMR vom 14. November 2017 (Domján v. Hungary, Nr. 5433/17) und des Oberlandesgerichts Köln vom 22. November 2017 (Beschluss vom 22. November 2017 - 6 AuslA 125/17 - 102 -) zu dem Schluss gekommen, dass die Haftbedingungen in Ungarn wesentliche Änderungen erfahren hätten, so dass die Ausführungen in dessen Urteil vom 10. März 2015 (EGMR, Varga and Others v. Hungary, Nr. 14097/12 u.a.) nicht mehr als Grundlage für die Annahme systemischer Mängel hätten herangezogen werden können. Damit habe sich für das Oberlandesgericht München auch keine Pflicht zur Einholung weiterer Informationen von den ungarischen Behörden ergeben. Angesichts des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens sei das Oberlandesgericht vielmehr gehalten gewesen, die Zulässigkeitsentscheidung ohne die Einholung weiterer Informationen zu treffen. Im Übrigen würde die Feststellung systemischer Mängel - im Lichte des Urteils des EuGH vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, EU:C:2016:198 - nicht dazu führen, dass konkrete Zusicherungen im Einzelfall einzuholen wären. Vielmehr würde die Einholung ergänzender Informationen genügen.

14

Mit weiterem Schreiben vom 7. Mai 2018 legte das Bayerische Staatsministerium der Justiz ein Schreiben des Bundesamts für Justiz vom 23. April 2018 zu den ungarischen Haftbedingungen vor. Danach habe Ungarn gesetzliche, organisatorische und bauliche Maßnahmen für eine Verbesserung der Haftbedingungen ergriffen. Der Grad der Überbelegung habe von 143 % auf 126 % verringert werden können, und für Auslieferungsfälle werde eine den Art. 3 und Art. 13 EMRK entsprechende Unterbringung garantiert. Die Maßnahmen seien teilweise noch nicht abgeschlossen. Ende März hätten sich 374 Personen in Reintegrationshaft befunden, die zum 1. Januar 2017 eingeführt worden sei. Zum 26. März 2018 hätten 17.653 Häftlinge in ungarischen Haftanstalten eingesessen, die Plätze für 14.011 Gefangene vorsähen. In bereits bestehenden Gefängnissen seien 1.142 neue Plätze geschaffen worden. Bis Ende 2018 sollten neun neue Gefängnisse mit einer Kapazität von 6.000 Haftplätzen errichtet werden. Die Ausschreibung der Bauvorhaben sei daran gescheitert, dass sich die Projekte mit den dafür zur Verfügung stehenden Mitteln nicht hätten realisieren lassen. Derzeit prüfe man, ob die Planung durch den Umbau von bereits bestehenden staatlichen Gebäuden realisiert werden könne. Die Haftanstalten Szombathely und Tiszalök seien für die Unterbringung von nach Ungarn ausgelieferten Häftlingen bestimmt worden. Ungarn sei bereit, im Rahmen von Auslieferungsfällen konkrete und detaillierte Zugeständnisse hinsichtlich der Unterbringung von Häftlingen zu machen. Deutsche Behörden könnten daher im Direktverkehr auf die Einhaltung konkreter Zusagen sowie auf Unterbringung in konkreten Haftanstalten bestehen.

15

4. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

B.

16

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die Entscheidungskompetenz der Kammer ist gegeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG); die für die Entscheidung des Falls maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

I.

17

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der Beschwerdeführer hat zwar ausdrücklich nur eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 sowie Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gerügt. Das hindert jedoch eine Prüfung der angegriffenen Beschlüsse auch am Maßstab des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht. Die aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen setzen voraus, dass der die Rechtsverletzung enthaltende Vorgang substantiiert und schlüssig vorgetragen werden muss. Es muss deutlich werden, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. BVerfGE 99, 84 <87>; 130, 1 <21>; stRspr). Dabei ist nicht erforderlich, dass der Beschwerdeführer alle in Betracht kommenden Grundrechte (vgl. BVerfGE 47, 182 <187>; 59, 98 <101>; 115, 166 <180>) oder den als verletzt gerügten Grundrechtsartikel (vgl. BVerfGE 47, 182 <187>; 84, 366 <369>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 2010 - 2 BvR 1710/10 -, juris, Rn. 16) ausdrücklich benennt; seinem Vortrag muss sich jedoch entnehmen lassen, inwiefern er sich durch den angegriffenen Hoheitsakt in seinen Rechten verletzt sieht (vgl. BVerfGE 23, 242 <250>; 79, 203 <209>; 99, 84 <87>; 108, 370 <386>; 115, 166 <180>).

18

Der Beschwerdeführer hat den maßgeblichen Sachverhalt und einen möglichen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG - der Sache nach - dargelegt und somit dem Begründungserfordernis der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügt. Er hat gerügt, dass das Oberlandesgericht seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen sei.

II.

19

Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet.

20

Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 19 Abs. 4 GG, weil das Oberlandesgericht München den Sachverhalt hinsichtlich der Gefahr, dass der Beschwerdeführer in Ungarn menschenunwürdige Haftbedingungen erleidet, nicht hinreichend aufgeklärt hat.

21

1. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts steht dem nicht entgegen. Der Auslieferungsverkehr mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist durch den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl EU Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bzw. RbEuHb) unionsrechtlich weitgehend determiniert (vgl. BVerfGE 140, 317 <342 f. Rn. 52>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2017 - 2 BvR 424/17 -, juris, Rn. 32). Dies gilt jedoch nicht für das diesbezügliche Prozessrecht, wie sich aus Erwägungsgrund 12 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ausdrücklich ergibt. Danach belässt der Rahmenbeschluss jedem Mitgliedstaat u.a. die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren.

22

Soweit der Rahmenbeschluss entsprechende Regelungen enthält, sind diese überdies durch weitreichende Verweise auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten gekennzeichnet (Art. 11 Abs. 1 und 2, Art. 12, Art. 13 Abs. 1, 2, 3 und 4, Art. 14 RbEuHb). Hinsichtlich der Frage, welche Maßstäbe für eine gerichtliche Sachverhaltsaufklärung im Auslieferungsverfahren gelten, enthält er keine Regelungen. Unterlässt ein Fachgericht im Verfahren über die Zulässigkeit einer Auslieferung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses Ermittlungen zur Sachverhaltsaufklärung, so findet daher Art. 19 Abs. 4 GG Anwendung.

23

2. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2015 - 2 BvR 1206/13 -, juris, Rn. 19, und vom 30. November 2016 - 2 BvR 1519/14 -, juris, Rn. 33). Er gewährleistet nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern verleiht dem Einzelnen, der behauptet, durch einen Akt öffentlicher Gewalt verletzt zu sein, oder der im Vorgriff einer belastenden hoheitlichen Maßnahme geltend macht, diese würde in unzulässiger Weise in seine Rechte eingreifen, einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 101, 106 <122 f.>; 103, 142 <156>; 113, 273 <310>; 129, 1 <20>).

24

Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten Interessen nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. BVerfGE 101, 275 <294 f.>; BVerfGK 9, 390 <395>; 9, 460 <463>; 13, 472 <476>; 13, 487 <493>; 17, 429 <430 f.>; 19, 157 <164>; 20, 107 <112>). Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf das Fachgericht auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten daher nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind. Dagegen darf es von einer Beweisaufnahme nicht schon dann absehen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwendig erscheint (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2017 - 2 BvR 2584/12 -, juris, Rn. 18). Auch im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, juris, Rn. 26).

25

Zu dem von den deutschen Gerichten zu ermittelnden Sachverhalt gehört insbesondere die Behandlung, die der Verfolgte im ersuchenden Staat zu erwarten hat. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung haben sie grundsätzlich die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung einer behaupteten Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze von Amts wegen durchzuführen; den Betroffenen trifft insoweit keine Beweislast (vgl. BVerfGE 8, 81 <84 f.>; 52, 391 <406 f.>; 63, 215 <225>; 64, 46 <59>; 140, 317 <348 Rn. 65>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Dezember 1996 - 2 BvR 2407/96 -, juris, Rn. 6; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 2000 - 2 BvR 1560/00 -, NJW 2001, S. 3111 <3112>).

26

Einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ist zwar im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Die Europäische Union bekennt sich zur Achtung von Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören (vgl. Art. 2 EUV). Ihre Mitgliedstaaten haben sich sämtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstellt. Soweit sie Unionsrecht durchführen, sind sie überdies an die Gewährleistungen der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) gebunden (vgl. Art. 51 GRCh). Das für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständige Gericht ist daher grundsätzlich nicht verpflichtet, bestehende Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen oder positiv festzustellen, dass dem um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaat hinsichtlich der Wahrung des Mindeststandards vertraut werden kann. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wird jedoch dann erschüttert, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Falle einer Auslieferung die aus Art. 4 GRCh folgenden Anforderungen nicht eingehalten würden. Das zuständige Gericht trifft insoweit die Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und der Praxis im ersuchenden Mitgliedstaat vorzunehmen, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte für solche Ermittlungen dargelegt hat (vgl. BVerfGE 140, 317 <350 f. Rn. 73 f.>). Stellt sich danach heraus, dass der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären (vgl. BVerfGE 140, 317 <352 Rn. 75>).

27

Diese Verpflichtung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH zur Durchführung des Europäischen Haftbefehls (vgl. EuGH, Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, EU:C:2016:198 und Urteil vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589). Das Bestehen einer Rechtsschutzmöglichkeit genügt für sich genommen nicht, um das Vorliegen einer echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Betroffenen im Sinne von Art. 4 GRCh auszuschließen. Das zuständige Gericht bleibt verpflichtet, bei Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte die konkreten Haftbedingungen in Bezug auf jede betroffene Person individuell zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass die Entscheidung über die Übergabe dieser Person diese nicht einer echten Gefahr aussetzt, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589,Rn.73ff.). Dazu muss es gegebenenfalls zusätzliche Informationen oder Zusicherungen der ausstellenden Justizbehörde einholen (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 108 ff.).

28

3. Nach diesen Maßstäben hat das Oberlandesgericht den Sachverhalt hinsichtlich der Gefahr, dass der Beschwerdeführer in Ungarn menschenunwürdige Haftbedingungen erleidet, nicht genügend aufgeklärt. Der Beschwerdeführer hat hinreichende Anhaltspunkte dafür dargelegt, dass in den Haftanstalten in Ungarn systemische Mängel vorliegen. Diese Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere aus dem Urteil des EGMR vom 10. März 2015 (EGMR, Varga and Others v. Hungary, Nr. 14097/12 u.a.) sowie aus der Vorlage des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen (Hanseat. OLG Bremen, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 Ausl A 3/15 -, juris). Das Oberlandesgericht hätte dies prüfen und weitere Informationen, insbesondere zu der Haftanstalt, in der der Beschwerdeführer inhaftiert werden würde, einholen müssen.

29

Der bloße Verweis auf die Entscheidung des EGMR vom 14. November 2017 in der Sache Domján v. Hungary (Nr. 5433/17) stützt nicht ohne weiteres die Annahme, dass dem Beschwerdeführer keine im Auslieferungsverfahren zu beanstandenden Haftbedingungen im Zielstaat drohen (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 76). Zwar enthält diese Entscheidung den Hinweis auf das am 1. Januar 2017 in Kraft getretene ungarische Gesetz, das präventive und nachträgliche Rechtsbehelfe gegen menschenrechtswidrige Haftbedingungen vorsieht (vgl. EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14. November 2017, Nr. 5433/17, Rn. 9 ff.). Der Gerichtshof hat in dieser Sache - unter Bekräftigung der allgemeinen Zulässigkeitsanforderungen - jedoch lediglich entschieden, dass die geschaffenen Rechtsbehelfe nicht a priori ungeeignet und unwirksam sind. Ein Gefangener, der nach seinem Vortrag in Ungarn menschenrechtswidrigen Haftbedingungen ausgesetzt war, müsse sie daher gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK als Teil des nationalen Rechtswegs im Rahmen ihrer Statthaftigkeit nutzen, um eine Entschädigung für das Erleiden solcher Haftbedingungen zu erlangen, bevor er sich mit einem entsprechenden Begehren an den Gerichtshof wenden könne (vgl. EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14. November 2017, Nr. 5433/17, Rn. 35 ff.). Die Annahme des Oberlandesgerichts, dass der EGMR mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung dahingehend geändert habe, dass systemische Mängel im ungarischen Strafvollzug nicht mehr bestünden und unmenschliche Haftbedingungen nicht mehr drohten, ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil der EGMR weiterhin auf defizitäre, wenn auch verbesserte Haftbedingungen im ungarischen Strafvollzug hingewiesen hat (EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14. November 2017, Nr. 5433/17, Rn. 2 ff.). Dass nunmehr Rechtsbehelfe geschaffen wurden, die eine (vor allem finanzielle) Wiedergutmachung für erlittene unmenschliche Haftbedingungen ermöglichen, muss zwar im Rahmen des Art. 35 Abs. 1 EMRK Bedeutung erlangen (so wäre auch im verfassungsrechtlichen Kontext vor dem Hintergrund von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu entscheiden, vgl. BVerfGK 19, 424 <426 f.>), führt im Auslieferungsverfahren aber nicht ohne weiteres dazu, dass eine Auslieferung trotz bestehender Gefahr unmenschlicher Haftbedingungen zulässig wäre. Demnach hätte das Oberlandesgericht unabhängig von der Frage einer möglichen späteren Wiedergutmachung prüfen müssen, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Betroffene eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erleidet (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 74 f.; Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona vom 4. Juli 2018 in der Rs. C-220/18 PPU, ML, EU:C:2018:547, Rn. 57).

30

Auch der bloße Verweis des Oberlandesgerichts auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln (Beschluss vom 22. November 2017 - 6 AuslA 125/17 - 102 -, juris) ersetzt nicht die Aufklärung der konkreten Umstände im vorliegenden Auslieferungsverfahren, zumal das in Bezug genommene Gericht eine solche Aufklärung - anders als das Oberlandesgericht München im vorliegenden Fall - als erforderlich angesehen hat. Bei der zitierten Entscheidung handelte es sich zudem um eine Auslieferungshaftentscheidung, in der das Oberlandesgericht Köln dementsprechend auch nur ausgeführt hat, die Auslieferung sei nicht von vornherein unzulässig (§ 15 Abs. 2 IRG). Dies hat es damit begründet, dass eine von ihm veranlasste Anfrage an die ungarischen Behörden mit dem Ziel, in Erfahrung zu bringen, in welche Haftanstalt der Betroffene im Falle seiner Überstellung verbracht werde und welche Haftbedingungen ihn dort erwarteten, noch nicht beantwortet worden war. Die Beantwortung dieser Anfrage hat das Oberlandesgericht Köln in nachvollziehbarer Weise als Voraussetzung der Prüfung angesehen, ob die Einwendungen des Betroffenen, er befürchte menschenunwürdige Haftbedingungen in Ungarn, der Zulässigkeit seiner Auslieferung entgegenstünden. Damit ist das Oberlandesgericht Köln seiner Pflicht nachgekommen, die Umstände im Zielstaat im weiteren Verfahren aufzuklären.

31

Von dem im vorliegenden Verfahren vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz vorgelegten Schreiben des Bundesamts für Justiz vom 23. April 2018, das konkrete Angaben zu den aktuellen Veränderungen der Haftbedingungen in Ungarn enthält, hatte das Oberlandesgericht bei Erlass seiner Entscheidungen keine Kenntnis. Es kann deshalb nicht im Nachhinein zu einer anderen rechtlichen Bewertung führen. Überdies hat das Bundesamt für Justiz weiterhin systemische Defizite im ungarischen Strafvollzug beschrieben und das Bedürfnis (aber auch die Möglichkeit) der Einholung konkreter Zusicherungen von den ungarischen Behörden thematisiert (zur Möglichkeit eines solchen Vorgehens siehe auch EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, ML, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 108 ff.).

C.

I.

32

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München vom 19. Januar 2018 - 1 AR 543/17 - und vom 9. Februar 2018 - 1 AR 543/17 - werden aufgehoben, soweit sie die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklären. Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft München vom 25. Januar 2018 - 33 Ausl A 1656/17 c -, mit der die Auslieferung des Beschwerdeführers bewilligt wird, wird damit gegenstandslos.

II.

33

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.