Bundesgerichtshof Beschluss, 01. März 2011 - 3 StR 22/11

bei uns veröffentlicht am01.03.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 22/11
vom
1. März 2011
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 1. März 2011 gemäß § 349 Abs. 4
StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 1. September 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die Verfahrensrügen nicht ankommt.
2
1. Das Urteil muss insgesamt aufgehoben werden, da die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei den Taten nicht belegt ist.
3
Das Landgericht ist "zu Gunsten des Angeklagten" jeweils von einer "erheblich verminderten Schuldfähigkeit" ausgegangen, weil es angesichts des vom Angeklagten vor beiden Taten genossenen Alkohols nicht hat ausschließen können, dass der Angeklagte dadurch "in seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt" (UA S. 17 hinsichtlich der zweiten Tat) bzw. dass dessen "Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit aufgrund des vorher konsumierten Alkohols vermindert" war (UA S. 27 hinsichtlich der ersten Tat).
4
Mit der Annahme erheblich verminderter Einsichtsfähigkeit hat das Landgericht hier dem Schuldspruch den Boden entzogen, denn es fehlt die notwendige Feststellung, welche Wirkung dies im konkreten Fall für die Unrechtseinsicht des Angeklagten hatte. § 21 StGB regelt, ebenso wie § 20 StGB, soweit er auf die Einsichtsfähigkeit abstellt, einen Fall des Verbotsirrtums. Fehlt dem Täter die Einsicht wegen seiner krankhaften seelischen Störung oder aus einem anderen in § 20 StGB benannten Grund, ohne dass ihm dies zum Vorwurf gemacht werden kann, so ist - auch bei an sich nur verminderter Einsichtsfähigkeit - nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anzuwenden. Die Vorschrift des § 21 StGB kann in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann angewendet werden, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2003 - 2 StR 215/03 mwN juris; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 21 Rn. 3).
5
Der Senat kann hier auch bei Würdigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe nicht davon ausgehen, dass es sich nur um ein offensichtliches Versehen im Ausdruck handelt und das Landgericht tatsächlich von der Unrechtseinsicht überzeugt war. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Schuldunfähigkeit abgelehnt hat (UA S. 16 und 26), beziehen sich erkennbar nur auf die Steuerungsfähigkeit infolge des Alkoholgenusses. Die Sache muss deshalb erneut verhandelt und entschieden werden.
6
2. Es kommt somit nicht mehr darauf an, dass die Beweiswürdigung zum Fall 1 einen Widerspruch enthält: Das Landgericht stellt fest, dass das Mädchen Jessica ihrer Mutter zeitnah von den Missbrauchshandlungen erzählt, diese der Schilderung aber keinen Glauben geschenkt hatte. Das Landgericht teilt mit, die Mutter habe ihrer Tochter zunächst nicht geglaubt, weil diese sich öfters Sachen ausdenke, die nicht stimmten. Die Kammer folgt gleichwohl der Darstellung von Jessica und relativiert die festgestellten Bedenken der Mutter damit, dass sich diese Neigung von Jessica zur Erzählung erfundener Geschichten erst nach der Einschulung entwickelt habe; zum Zeitpunkt der Tat sei Jessica aber erst fünf Jahre alt gewesen. Dies steht im Widerspruch zu der Relativierung der Aussage der Mutter durch die Kammer. Bei der Schilderung gegenüber der Mutter war die Geschädigte noch nicht eingeschult. Damit konnten Lügen noch nicht der Grund dafür sein, dass die Mutter ihrer Tochter nicht geglaubt hatte.
7
3. Der neue Tatrichter ist durch die im Grundsatz zutreffenden Darlegungen des Landgerichts zur Notwendigkeit der Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Gutachters auf Seite 24 des angefochtenen Urteils nicht gehindert , aufgrund erneuter, eigener Prüfung besondere, zu solcher Hinzuziehung Anlass gebende Umstände festzustellen.
Becker Pfister Hubert Schäfer Mayer

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 01. März 2011 - 3 StR 22/11

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 01. März 2011 - 3 StR 22/11

Referenzen - Gesetze

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der
Bundesgerichtshof Beschluss, 01. März 2011 - 3 StR 22/11 zitiert 4 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

Referenzen - Urteile

Bundesgerichtshof Beschluss, 01. März 2011 - 3 StR 22/11 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).

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Bundesgerichtshof Beschluss, 30. Juli 2003 - 2 StR 215/03

bei uns veröffentlicht am 30.07.2003

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 2 StR 215/03 vom 30. Juli 2003 in dem Sicherungsverfahren gegen Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 30. Juli 2003 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO

Referenzen

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 215/03
vom
30. Juli 2003
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 30. Juli 2003 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 4. Februar 2003 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Feststellungen zu den der Maßregelanordnung zugrundeliegenden rechtswidrigen Taten und die Einziehungsanordnung bleiben jedoch aufrechterhalten. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus und Einziehung von Arzneimittel und medizinischen Geräten angeordnet. Nach den Feststellungen hat sich beim Angeklagten ein verfestigter "Größenwahn" unter anderem auf dem Gebiet der Heilkunde entwickelt. Er ist überzeugt, über extreme Begabungen im Bereich der Heilkunde zu verfügen. In der Zeit von August 2001 bis 22. März 2003 behandelte er sechs Personen, denen er sich als Heilpraktiker vorstellte und versprach,
ihre gesundheitlichen Beschwerden zu heilen. Er verabreichte ihnen bei der Behandlung Spritzen, deren Zusammensetzung er ausgependelt hatte. Für seine Behandlung verlangte und erhielt er Beträge zwischen 250 bis 6.650 DM.
Die Strafkammer geht - sachverständig beraten - davon aus, der Beschuldigte sei an einer atypischen chronisch verlaufenden schizomanischen Psychose erkrankt. Diese Erkrankung habe dazu geführt, daß "seine Einsicht, bei der Begehung der Taten, Unrecht zu tun, jedenfalls erheblich vermindert war; es sei auch nicht auszuschließen, daß die Unrechtseinsicht sogar völlig aufgehoben war". Dem Beschuldigten sei zwar bewußt gewesen, daß er nicht über die für seine Heiltätigkeit erforderliche Zulassung als Heilpraktiker verfügte und diese aufgrund seiner Vorverurteilungen auch nicht hätte erhalten können, er handelte aber aus tiefer Überzeugung von der Richtigkeit seines Tuns und ging davon aus, daß seine Heilbehandlungen zur Rettung höherwertiger Rechtsgüter notwendig und damit gerechtfertigt waren (UA S. 30, 47/48). Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB sei anzuordnen, da die Anlaßtaten ein erhebliches Gewicht aufwiesen, denn der Beschuldigte habe nicht nur gegen das Heilpraktikergesetz verstoßen und die Geschädigten betrogen, sondern darüber hinaus auch noch deren körperliche Integrität verletzt und sie durch die Verabreichung von Spritzen erheblichen Gefahren ausgesetzt. Es sei auch zu erwarten, daß der Beschuldigte infolge seines Zustandes ohne die Unterbringung wieder erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde. Nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. S. , der die Kammer folgt, beruhe die Gefahr, daß der Beschuldigte wieder therapeutische Handlungen vornehmen wird, insbesondere auf seiner fehlenden Unrechtseinsicht (UA S. 50).
Gegen das Urteil wendet sich der Beschuldigte mit seiner auf die Verletzung materiellen und formellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge überwiegend Erfolg.
Die Anordnung der Unterbringung kann keinen Bestand haben, weil die Voraussetzungen des § 20 oder 21 StGB nicht - wie für die Maßregel nach § 63 StGB notwendig (vgl. u. a. BGHSt 34, 22, 26/27) - zweifelsfrei festgestellt sind. Auch die vom Landgericht positiv angenommene erhebliche Verminderung der Einsichtsfähigkeit erfüllt diese Voraussetzungen nicht. § 21 StGB regelt , ebenso wie § 20 StGB, soweit er auf die Einsichtsfähigkeit abstellt, einen Fall des Verbotsirrtums. Fehlt dem Täter die Einsicht wegen seiner krankhaften seelischen Störung oder aus einem anderen in § 20 StGB benannten Grund, ohne daß ihm dies zum Vorwurf gemacht werden kann, so ist - auch bei an sich nur verminderter Einsichtsfähigkeit - nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anzuwenden. Die Vorschrift des § 21 StGB kann in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann angewendet werden, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist. Der Täter, der trotz generell gegebener verminderter Einsichtsfähigkeit im konkreten Fall die Einsicht gehabt hat, ist voll schuldfähig (vgl. u.a. BGHSt 21, 27, 28; 34, 22, 25; 40, 341, 349 m.w.N.; BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 1- 6; § 63 Tat 4; BGH NStZ-RR 2002, 328; BGH, Beschl. vom 23. März 2001 - 3 StR 59/01; vom 24. Juli 2001 - 4 StR 268/01; vgl. auch Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 63 Rdn. 6 m.w.N.). Solange die Verminderung der Einsichtsfähigkeit nicht das Fehlen der Einsicht ausgelöst und dadurch zu Straftaten geführt hat, ist die Sicherung der Allgemeinheit durch Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht veranlaßt (BGHSt 34, 22, 26/27).
Die Urteilsgründe lassen besorgen, daß sich die Strafkammer dieser Problematik nicht bewußt war. Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe selbst ergibt nicht, daß das Landgericht ein Fehlen der Einsicht positiv festgestellt hat. Zwar deuten die Ausführungen UA S. 47 ("Die Äußerungen des Beschuldigten , daß er alles in tiefer Überzeugung auf seine Sachkenntnisse und zur Rettung höherwertiger Rechtsgüter getan habe, belegen, daß er aufgrund seiner Erkrankung keine Einsicht in das Unrecht seines Handelns hatte, sondern vielmehr von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war und daher auch einen Freispruch forderte") und UA S. 50 (... beruht die Gefahr ... auf seiner "fehlenden Unrechtseinsicht") darauf hin, daß gute Gründe für eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit sprachen. Davon hat sich die Strafkammer ersichtlich aber nicht überzeugen können, da sie immer wieder ausdrücklich auf die "erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit" und die "nicht auszuschließende fehlende Unrechtseinsicht" als Grundlage der Unterbringung abstellt (UA S. 30; 47/48).
Die Sache muß deshalb neu verhandelt werden. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den der Maßregelanordnung zugrundeliegenden rechtswidrigen Taten (UA S. 31- 37: Fälle 1- 6) und die Einziehungsanordnung können jedoch aufrechterhalten bleiben.
VRinBGH Dr. Rissing-van Saan Detter Bode befindet sich in Urlaub und ist deshalb an der Unterzeichnung gehindert. Detter Otten Fischer