Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2013 - 5 StR 191/13

bei uns veröffentlicht am10.06.2013

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 191/13

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 10. Juni 2013
in der Strafsache
gegen
wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Juni 2013

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Görlitz vom 27. November 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts verabredete sich der Angeklagte mit den Beteiligten M. und T. , künftig in einer Vielzahl von Fällen vom Angeklagten zu beschaffendes Crystal in Mengen von jeweils 500 Gramm von Polen nach Deutschland zu verbringen und dort zu verkaufen. Dem gemeinsamen Tatplan entsprechend sollte das Rauschgift durch M. zu Fuß über den Grenzübergang Altstadtbrücke in Görlitz gebracht und von dort durch einen Kurier zu dem für den Absatz zuständigen T. verbracht werden. Als Kurier wurde der frühere Mitangeklagte G. gewonnen ; der Angeklagte beschaffte im Zeitraum Mai bis Oktober 2007 in sechs Fällen absprachegemäß jeweils 500 Gramm Crystal, die G. hinter dem Grenzübergang auf deutscher Seite von M. – in einem Fall auch vom Angeklagten – entgegennahm und mit seinem Pkw zu T. verbrachte , der das Rauschgift anschließend weiterverkaufte.
3
Das Landgericht hat seine Feststellungen im Wesentlichen auf die eine eigene Tatbeteiligung eingestehenden Aussagen des ehemaligen Mitangeklagten G. gestützt, die dieser im Dezember 2007 und März 2008 gegenüber der Polizei gemacht hatte. In der Hauptverhandlung hat G. dieses Geständnis widerrufen und erklärt, er habe durch die damaligen Angaben erreichen wollen, dass er aus der gegen ihn seinerzeit in einem Ermittlungsverfahren wegen Betruges vollzogenen Untersuchungshaft entlassen werde. Dass eine solche Aussage unter Einschluss eigener Tatbeteiligung Voraussetzung für die Außervollzugsetzung des Haftbefehls sei, sei ihm von den Vernehmungsbeamten deutlich gemacht worden.
4
2. Die tatgerichtliche Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
5
a) Das Landgericht hat sich seine Überzeugung vom Tatgeschehen aufgrund der Angaben der Vernehmungsbeamten B. , Gu. und K. zum Inhalt der früheren Aussagen des ehemaligen Mitangeklagten G. verschafft. Bei den Vernehmungsbeamten handelt es sich somit um Zeugen vom Hörensagen, auf deren Bekundungen den Angeklagten belastende Feststellungen nur dann hätten gestützt werden dürfen, wenn sie durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt worden wären (Sander in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 83a mwN; vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 9. April 2013 – 5 StR 138/13 – und vom 8. Mai 2007 – 4 StR 591/06). Dies gilthier in besonderem Maße, weil der vormalige Mitangeklagte G. , von dessen Angaben die Verurteilung letztlich allein abhing, seine früheren Aussagen in der Hauptverhandlung ausdrücklich widerrufen und selbst als bewusst unwahr gekennzeichnet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 12. September 2012 – 5 StR 401/12; Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.).
6
Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die vom Landgericht angeführten sonstigen Indizien bestätigen zwar in Randbereichen frühere Angaben G. s. Sie weisen jedoch sämtlich keinen unmittelbaren Bezug zum Tatgeschehen auf und stellen weder für sich betrachtet noch in ihrer Gesamtschau Beweisanzeichen von Gewicht für die Täterschaft des Angeklagten dar.
7
aa) Dass die von G. geschilderten Taten in einen Zeitraum fallen , in dem M. nicht inhaftiert war, ist im Rahmen der Beurteilung des Wahrheitsgehalts der Aussage G. s kaum aussagekräftig; es schließt im Wesentlichen nur eine gesicherte Widerlegung von G. s Angaben aus. Da G. und M. zeitweise gemeinsam inhaftiert waren, liegt es äußerst nahe, dass G. die Haftzeiten M. s kannte und diese auch im Falle einer falschen Aussage hätte berücksichtigen können. Zudem besagt die Tatsache, dass die Haftzeiten M. s zeitlich zur Schilderung G. s passen, noch nichts über eine Tatbeteiligung des Angeklagten.
8
bb) Der Wechsel der Telefonnummer durch G. wenige Tage nach der Inhaftierung M. s mag zwar als gewisser Hinweis auf eine Beteiligung G. s an von M. begangenen Taten gewertet werden können; einen Schluss auf Tatbeiträge des Angeklagten erlaubt dieser Umstand jedoch ebenso wenig wie er auf die konkreten von G. behaupteten Taten hinweist.
9
cc) Die Ergebnisse der Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen lassen lediglich einen einzigen Kontakt zwischen dem Angeklagten und seinem angeblichen Mittäter T. erkennen. Dies allein kann ebenfalls noch nicht als gewichtiges zusätzliches Indiz für die Täterschaft des Angeklagten gewertet werden, zumal Kontakte des Angeklagten und der angeblichen weiteren Tatbeteiligten zu G. damit nicht festgestellt werden konnten. Der Inhalt der SMS des Angeklagten an T. lässt vielmehr eine Einbindung G. s in ein etwaiges Tatgeschehen eher zweifelhaft erscheinen.
10
dd) Die von der Strafkammer angeführten Anhaltspunkte aus dem Jahr 2008 für das Bestehen eines Absatzmarktes für Einzellieferungen von 500 Gramm Crystal im Raum Görlitz sind für die Frage nach einer Beteiligung des Angeklagten an den verfahrensgegenständlichen Taten irrelevant und vermögen die diesbezüglichen Angaben G. s auch im Übrigen nicht zu bestätigen.
11
ee) Das vom Landgericht festgestellte Verhalten G. s anlässlich der bei einer Vernehmung im März 2008 erfolgten Vorlage von Lichtbildern des Angeklagten und T. s erlaubt zwar den von der Strafkammer gezogenen Schluss, dass die in der Hauptverhandlung abgegebene Erklärung G. s unzutreffend war, er habe den Angeklagten und T. zum Zeitpunkt der Lichtbildvorlage überhaupt nicht gekannt. Ein Anhaltspunkt von Gewicht für die Richtigkeit der von G. in den früheren Vernehmungen erbrachten Tatschilderungen und für eine Beteiligung des Angeklagten kann hierin jedoch nicht gefunden werden.
12
ff) Von ebenso geringer Aussagekraft für die Richtigkeit des vonG. behaupteten Tatgeschehens ist der vom Landgericht herangezogene Umstand, dass G. offenbar tatsächlich wusste, wo T. wohnt und welches Auto dieser fuhr.
13
gg) Die Tatsache, dass auch der Zeuge M. den Angeklagten in der Hauptverhandlung des Handeltreibens mit Crystal bezichtigt hat, vermag in der vorliegenden Konstellation die aufgrund der polizeilichen Vernehmungen G. s gewonnene Überzeugung der Strafkammer nicht zu stützen. Eine Bestätigung der fraglichen Angaben G. s kann in der Aussage M. s nicht gesehen werden, da M. zwar seine eigene und des Angeklagten Tatbeteiligung eingeräumt, eine Mitwirkung G. s, den er erst im No- vember/Dezember 2007 in der Justizvollzugsanstalt kennengelernt haben will, aber vehement in Abrede gestellt hat. Mit den Bekundungen M. s übereinstimmende Mindestfeststellungen zu Rauschgiftgeschäften unter Beteiligung von M. und dem Angeklagten, die bei entsprechender tatgerichtlicher Würdigung möglicherweise denkbar gewesen wären, hat das Landgericht nicht getroffen. Unmittelbar auf seine Aussage kann sie ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten in den abgeurteilten Fällen nicht gestützt haben.
14
b) Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung des Landgerichts lückenhaft , weil sie die Gründe des dem Urteil zufolge in der Hauptverhandlung verlesenen freisprechenden Urteils im Verfahren gegen T. vom 11. August 2010 unerörtert gelassen hat. Außerdem ist das ebenfalls verlesene Urteil gegen M. vom 11. Juni 2012, das offenbar von den Angaben G. s abweichende Feststellungen enthielt, nicht näher erläutert worden. Im Übrigen ist auch zu dem weiteren Ablauf und dem Ergebnis des Betrugsverfahrens , in dem G. 2007 inhaftiert war, nichts festgestellt.
15
3. Die Sache bedarf danach einer erneuten umfassenden tatgerichtlichen Überprüfung und Bewertung. Da von dem vorliegenden Verfahren nur noch der bei Tatbegehung bereits erwachsene Beschwerdeführer betroffen ist, verweist der Senat die Sache an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück.
16
Sofern sich in der neuen Hauptverhandlung eine Tatbeteiligung des Angeklagten feststellen lassen sollte, wird das neue Tatgericht gegebenenfalls auch die Rolle des Vaters des Angeklagten, der nach den Angaben G. s „die ganzen Fäden zieht“, in den Blick zu nehmen und deren Auswirkungen auf die Bewertung etwa festzustellender Tatbeiträge des Angeklagten zu prüfen haben. Eine führende Stellung des Angeklagten in einer Bande belegt das Urteil nicht.
17
Insbesondere angesichts des immensen Abstandes zwischen G. s belastenden Angaben und der Anklageerhebung wird das neue Tatgericht die Frage rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eingehender zu prüfen haben. In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass auch die bislang unterbliebene effektive Strafverfolgung des sich selbst belastenden G. gänzlich unzulänglich erklärt ist.
Basdorf Sander Schneider
Dölp Bellay

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2013 - 5 StR 191/13

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2013 - 5 StR 191/13

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric
Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2013 - 5 StR 191/13 zitiert 3 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Referenzen - Urteile

Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2013 - 5 StR 191/13 zitiert oder wird zitiert von 2 Urteil(en).

Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juni 2013 - 5 StR 191/13 zitiert 2 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Sept. 2012 - 5 StR 401/12

bei uns veröffentlicht am 12.09.2012

5 StR 401/12 BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS vom 12. September 2012 in der Strafsache gegen wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen u.a. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. September 2012 beschlossen: 1. Auf die Revision de

Bundesgerichtshof Beschluss, 08. Mai 2007 - 4 StR 591/06

bei uns veröffentlicht am 08.05.2007

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 591/06 vom 8. Mai 2007 in der Strafsache gegen 1. 2. wegen Diebstahls u. a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 8. Mai 2007

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 591/06
vom
8. Mai 2007
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Diebstahls u. a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 8. Mai 2007 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
I. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 17. Juli 2006 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, 1. soweit die Angeklagten wegen versuchten Diebstahls (Tat 7 der Urteilsgründe) verurteilt worden sind, 2. in den sie betreffenden Gesamtstrafenaussprüchen. II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. III. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen Diebstahls in vier Fällen, versuchten Diebstahls und Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten E. hat es des Diebstahls in zwei Fällen, des versuchten Diebstahls und der Sachbeschädigung schuldig gesprochen und gegen ihn eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verhängt. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen, haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen erweisen sich die Rechtsmittel als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Die Verurteilungen der Angeklagten wegen versuchten Diebstahls (Tat 7 der Urteilsgründe) haben keinen Bestand. Hierzu hat der Generalbundesanwalt jeweils in seinen Antragsschriften ausgeführt: "Die Beweiswürdigung zu Fall 7 (UA S. 42 f.) begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Strafkammer stützt ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten ausschließlich auf die Angaben eines 'Zeugen vom Hörensagen' , der im Ermittlungsverfahren den eigentlichen - im Aussageverhalten dazu noch wechselhaften - Belastungszeugen R. als Beschuldigten polizeilich vernommen hat. Die Aussage eines 'Zeugen vom Hörensagen' vermag jedoch für sich genommen ohne zusätzliche Indizien von einigem Gewicht einen Schuldspruch nicht zu tragen (BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02 m.w.N.; Schoreit in KK, 5. Aufl., § 261 Rdn. 29 m.w.N.). Die der Strafkammer durch die Aussage eines polizeilichen Vernehmungsbeamten vermittelten Angaben des Zeugen R. werden gerade nicht durch wichtige Beweisanzeichen bestätigt. Zwar ist es nicht zu beanstanden, dass die Strafkammer aus der Anzahl der von R. im Kofferraum seines Kraftfahrzeuges mitgeführten Diebeswerkzeuge auf die Anwesenheit mehrerer Täter am Tatort geschlossen hat. Die Anzahl der Diebeswerkzeuge lässt hier jedoch keine Aussage über die Identität der Mittäter des R. zu. Insoweit bleibt es allein bei den vom 'Zeugen vom Hörensagen' wiedergege- benen Angaben des Ursprungszeugen zur Identität seiner Mittäter. Dessen Angaben werden auch nicht durch eine Gesamtschau der sonst vorliegenden Beweiserkenntnisse bestätigt. Insbesondere vermögen die Feststellungen zu den weiteren urteilsgegenständlichen - meist in wechselnder Tatbeteiligung verübten - Taten unter keinem Gesichtspunkt die Angaben des 'Zeugen vom Hörensagen' zur Tatbeteiligung des Angeklagten zu bestätigen."
3
Dem vermag sich der Senat nicht zu verschließen.
4
2. Die Teilaufhebungen entziehen den gegen die Angeklagten verhängten Gesamtstrafen die Grundlage; diese sind ebenfalls aufzuheben.
Maatz Kuckein Athing Ernemann Sost-Scheible
5 StR 401/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 12. September 2012
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. September 2012

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 24. April 2012 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben; der Angeklagte wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zu seinem Freispruch.
2
1. Der Angeklagte lebt mit seiner Ehefrau und deren am 17. Mai 1999 geborener Tochter, der Zeugin M. K. , in einem gemeinsamen Haushalt. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils kam es dazu, dass der Angeklagte ihr unter das T-Shirt fasste und zur Befriedigung seiner sexuellen Interessen ihre unbedeckte linke Brust massierte. Als sie versuchte wegzulaufen, hielt der Angeklagte sie am Arm fest, um sie weiter an der Brust berühren zu können.
3
Ferner lag ihm zur Last, M. – erfolglos – aufgefordert zu haben, ihm ihr unbedecktes Geschlechtsteil zu zeigen. Insoweit hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, da es nicht auszuschließen vermochte, dass er freiwillig vom Versuch des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zurückgetreten sei. Darüber hinaus hat ihm die Anklage vorgeworfen, seiner Stieftochter bei zwei weiteren Gelegenheiten unter die Schlafanzughose an das unbedeckte Geschlechtsteil gegriffen zu haben, wobei er in einem Fall einen Finger in die Scheide des Kindes eingeführt habe. Hinsichtlich dieser beiden Anklagepunkte ist das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden.
4
2. Von dem zur Verurteilung führenden Tatgeschehen hat sich das Landgericht auf der Grundlage der Aussage des Kindes bei der Ermittlungsrichterin überzeugt, die durch Vernehmung der Richterin in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist. M. K. sowie ihre Mutter, Großmutter und Schwester haben in der Hauptverhandlung jeweils von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Der Angeklagte hat sich nicht zur Sache geäußert. Weitere unmittelbare Tatzeugen gibt es nicht. Ihrer Tante hatte M. lediglich berichtet, dass der Angeklagte sie aufgefordert habe, sich ihm nackt zu zeigen, damit er sehen könne, ob ihre Brüste und ihre Schambehaarung schon wüchsen (Freispruchsfall). Hinsichtlich der bei der Polizei zwei Tage vor ihrer richterlichen Vernehmung geschilderten weiteren Vorfälle gab sie gegenüber der Ermittlungsrichterin an, gelogen zu haben.
5
3. Da bereits die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils und zum Freispruch des Angeklagten führt, kommt es auf die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen nicht an. Hinsichtlich der Rüge der Verletzung des § 168c Abs. 5 Satz 1 StPO, weil der Angeklagte von der richterlichen Vernehmung seiner Stieftochter nicht rechtzeitig benachrichtigt wurde, merkt der Senat Folgendes an:
6
Allein das Vorliegen eines Ausschlussgrundes nach § 168c Abs. 3 StPO, von dem das Landgericht ausgeht, machte die Benachrichtigung des Beschuldigten von dem Vernehmungstermin nicht entbehrlich, denn diese dient der Wahrung seiner Rechte auch über ein Ermöglichen des Erscheinens hinaus (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2011 – 3 StR 34/11, StV 2011, 336; Urteil vom 11. Mai 1976 – 1 StR 166/76, BGHSt 26, 332). Aus demselben Grund ist es – entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts – auch unerheblich, dass sich der Angeklagte am Vernehmungstag bereits in Untersuchungshaft befand und nach § 168c Abs. 4 StPO nur dann einen Anspruch auf Anwesenheit bei der richterlichen Zeugenvernehmung gehabt hätte, wenn diese an der Gerichtsstelle des Ortes der Haft abgehalten worden wäre. Dass der Ausschlussgrund des § 168c Abs. 5 Satz 2 StPO vorgelegen hätte, ist nicht ersichtlich.
7
4. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
8
a) In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht oder ein Angeklagter sich nicht einlässt und nur die Angaben einer einzigen Tatzeugin zur Verfügung stehen, mithin die Entscheidung allein davon abhängt, ob dieser einen Zeugin zu folgen ist, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können , erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 – 2 StR 591/97, StV 1998, 250; Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.; BGH, Beschlüsse vom 22. April 1987 – 3 StR 141/87, vom 22. April 1997 – 4 StR 140/97 und vom 19. Oktober 2000 – 1 StR 439/00, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13, 23). Dies gilt erst recht im vorliegenden Fall, in dem die einzige, in der Hauptverhandlung die Aussage verweigernde Tatzeugin, bei ihrer richterlichen Vernehmung kurz zuvor bei der Polizei erhobene Vorwürfe nicht mehr aufrecht erhalten, sondern als erlogen bezeichnet hat. Hier muss das Tatgericht regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, ungeachtet einer Teillüge der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben (BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 aaO). Diesen erhöhten Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
9
c) In ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung hat M. angegeben, weitere Vorwürfe erlogen zu haben, da sie sich „am Papa habe rächen wollen , weil er sie immer so anschnauze. Papa habe ihr einmal auf dem Sofa an den Bauch gefasst. Zwischen die Beine oder an die Muschi habe er dabei nicht gefasst“ (UA S. 14). Dies erschüttert nach Auffassung des Landgerichts die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage hinsichtlich des Verurteilungsfalles jedoch nicht, denn die Zeugin habe „von sich aus“ offengelegt, „dass ein Teil der von ihr in Zusammenhang mit ihrer polizeilichen Vernehmung genannten Fälle gelogen waren“ (UA S. 16). Den Grund für ihr Lügen habe sie nachvollziehbar begründet. Dieses Aussageverhalten wertet die Strafkammer als Anhaltspunkt dafür, dass die Zeugin bei ihrer richterlichen Vernehmung „keine Tendenzen übermäßigen Belastungseifers“gezeigt habe (UA S. 17). Es sei- en keine Gründe erkennbar, warum sie gegenüber der Ermittlungsrichterin einen Teil der von ihr geschilderten Fälle als gelogen offenlegen sollte, während tatsächlich alle Fälle gelogen wären.
10
Diese Erwägungen greifen zu kurz. Die – vom Landgericht unterstellte – Lüge gerade hinsichtlich der gewichtigsten bei der Polizei erhobenen Vorwürfe stellte die Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin insgesamt in schwerwiegender Weise in Frage. Das Landgericht hat schon nicht geprüft, ob das Motiv der Rache auch für eine mögliche Falschbelastung des Angeklagten im Verurteilungsfall in Betracht kam. Wesentlich erschwerend tritt hinzu, dass das Tatgericht sich keinen unmittelbaren Eindruck von der Zeugin verschaffen und eine fundierte Glaubhaftigkeitsprüfung auf der Grundlage aussagepsychologischer Methoden nicht durchführen konnte, da hierfür im Hinblick auf die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts durch die Zeugin zu wenig Aussagematerial zur Verfügung stand. Angesichts dessen konnte ihren übrigen Angaben vor der Ermittlungsrichterin nur dann gefolgt werden, wenn außerhalb ihrer Aussage Gründe von Gewicht für ihre Glaubhaftigkeit vorgelegen hätten. Solche sind in der Beweiswürdigung des Landgerichts nicht dargelegt.
11
5. Der Senat schließt angesichts der gegebenen Beweislage aus, dass ein neues Tatgericht zu einer Verurteilung des Angeklagten gelangen könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 494/06, StV 2007, 284, 286). Daher spricht der Senat den Angeklagten frei (§ 354 Abs. 1 StPO).
12
6. Für die Entscheidung über die Verpflichtung zur Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 8 StrEG) ist das Landgericht zuständig, weil Art und Umfang der entschädigungspflichtigen Maßnahmen ohne weitere Feststellungen und ohne besondere Anhörung der Beteiligten nicht zu bestimmen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 1990 – 5 StR 601/89, NJW 1990, 2073 mwN).
Raum Schaal Schneider König Bellay