Bundesgerichtshof Urteil, 13. Dez. 2011 - X ZR 135/08

bei uns veröffentlicht am13.12.2011
vorgehend
Bundespatentgericht, 2 Ni 43/06, 09.10.2008

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 135/08 Verkündet am:
13. Dezember 2011
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 13. Dezember 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. MeierBeck
, den Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens, den Richter
Dr. Grabinski und die Richterin Schuster

für Recht erkannt:
Die Berufung gegen das am 9. Oktober 2008 verkündete Urteil des 2. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 927 293 (Streitpatents), das am 18. September 1997 unter Inanspruchnahme der Priorität dreier deutscher Gebrauchsmuster vom 18. September 1996, vom 30. Oktober 1996 und vom 31. Januar 1997 angemeldet worden ist und eine C-förmige Führungsprofilschiene betrifft. Das Streitpatent umfasst einen Hauptanspruch und fünf Unteransprüche.
2
Patentanspruch 1 hat folgenden Wortlaut: "Vorrichtung zum motorischen Antreiben eines ein- oder mehrteiligen Torblatts, mit einem innerhalb einer bestimmten Wegstrecke hin- und hergehenden motorisch angetriebenen Schlitten, an den das lageveränderlich geführte Torblatt angekuppelt ist, und mit einer C-förmigen Führungsprofilschiene (1), in der der Schlitten verschiebbar aufgenommen ist, wobei das C-Profil (10) aus einem Blech ausgeformt ist d a d u r c h g e k e n n z e i c h n e t , dass in den Übergangsbereichen zwischen dem Steg (14) des C-Profils (10) und dessen anschließenden U-Schenkeln (13) sowie zwischen diesen und den von deren dem Steg (14) abgewandten Längsrandbereichen abstrebenden, mit ihren Enden (15, 16) einander zugewandten Endbereichen des C-Profils (10) jeweils vorspringende Leisten (11, 12) ausgebildet sind, die von der senkrecht zum Steg (14) verlaufenden Längsmittelebene (17) des C-Profils (10) senkrecht abragen, dass die Leisten als Bördelungen ausgebildet sind, und dass am Einsatzort Haltelaschen (4; 5), die nach oben oder nach unten hin gesehen ortsfest verankert sind, die Leisten bzw. Bördelungen (11; 12) klemmend übergreifen."
3
Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus und sei auch nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Schutzrecht in der erteilten Fassung und in der Fassung eines Hilfsantrags verteidigt.
4
Das Patentgericht hat die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, der die Beklagte entgegentritt. Hilfsweise verteidigt die Beklagte das Streitpatent mit den Ansprüchen nach den Hilfsanträgen I bis

III.


5
Im Auftrag des Senats hat Prof. Dr.-Ing. habil. S. , Institut für Produktionstechnik, , ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:


6
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
7
I. Das Streitpatent betrifft eine Vorrichtung zum motorischen Antreiben eines ein- oder mehrteiligen Torblatts mit einem hin- und hergehenden motorisch angetriebenen Schlitten, der in einer C-förmigen Profilschiene aufgenommen ist. Nach der Patentbeschreibung sind C-förmige Führungsprofilschienen für Garagentorantriebe u.a. aus dem deutschen Gebrauchsmuster 93 19 898 bekannt. Sie haben die Aufgabe, einen hin- und her rollenden oder gleitenden Schlitten zu führen. Die im Stand der Technik bekannten, einfach gestalteten C-Profile seien bei einer angestrebten Verwendung eines dünneren Blechmaterials wenig formstabil und unterlägen hinsichtlich ihrer Befestigungen, Verlängerungen und Verstärkungen gravierenden Einschränkungen.
8
Das Streitpatent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, eine Vorrichtung der eingangs genannten Art zur Verfügung zu stellen, deren C-förmige Führungsprofilschiene mit technisch einfachen Mitteln eine niedrige Profilhöhe mit ausreichender Steifigkeit aufweist, wobei die Befestigung der Führungsprofilschiene zumindest weitgehend verspannungsfrei erfolgen könne, die Formstabilität erhöht werde und eine entsprechend geringere Profilwandstärke erforderlich sei (Streitpatent Abs. 4 und 6).
9
Hierzu schlägt das Streitpatent eine Vorrichtung mit folgenden Merkmalen vor (Gliederung des Patentgerichts in eckigen Klammern): 1. Die Vorrichtung dient zum motorischen Antreiben eines einoder mehrteiligen Torblatts, und weist auf [1] 1.1 einen innerhalb einer bestimmten Wegstrecke hin- und hergehend motorisch angetriebenen Schlitten [1], 1.1.1 an den das lageveränderlich geführte Torblatt angekuppelt ist [1], 1.2 eine C-förmige Führungsprofilschiene (1), in der der Schlitten verschiebbar aufgenommen ist [2]. 2. Das C-Profil (10) ist aus einem Blech ausgeformt und weist einen Steg (14) und an diesen anschließende U-Schenkel (13) auf [3, 4a]. 3. Es sind vorspringende Leisten (11, 12) ausgebildet 3.1 in den Übergangsbereichen zwischen dem Steg (14) des CProfils (10) und dessen anschließenden U-Schenkeln (13) [4a] und 3.2 zwischen den U-Schenkeln (13) und den mit ihren Enden (15, 16) einander zugewandten Endbereichen des C-Profils (10), die von den dem Steg (14) abgewandten Längsrandbereichen abstreben [4b]. 4. Die vorspringenden Leisten (11, 12) 4.1 ragen von der senkrecht zum Steg (14) verlaufenden Längsmittelebene (17) des C-Profils (10) senkrecht ab [5] und 4.2 sind als Bördelungen ausgebildet [6]. 5. Am Einsatzort sind Haltelaschen (4, 5) nach oben oder unten hin gesehen ortsfest verankert, die Leisten bzw. Bördelungen (11, 12) klemmend übergreifen.
10
Die nachfolgend dargestellten Figuren 1 und 2 des Streitpatents zeigen einen Querschnitt des C-Profils sowie das C-Profil mit Befestigungsbeispielen.


11
Mit Hilfe der Figuren lässt sich die beanspruchte Form der Führungsprofilschiene , die in den Merkmalen 1.2, 2 und 3.2 festgelegt ist, erläutern. Danach schließen sich an den Steg 14 die U-Schenkel 13 an, die in die einander zugewandten Enden 15, 16 des C-Profils übergehen. In dem Übergangsbereich von den U-Schenkeln zu den Enden sind die vorspringenden Leisten 11, 12 ausgebildet. In Merkmalsgruppe 3 wird die räumliche Anordnung der vorspringenden Leisten innerhalb des C-Profils beschrieben. Sie finden sich an den vier Ecken der Führungsprofilschiene jeweils beidseitig in zwei Übergangsbereichen, nämlich im Bereich zwischen dem Steg 14 und den anschließenden U-Schenkeln 13 und im Bereich zwischen den U-Schenkeln und den einander zugewandten Enden 15, 16 des C-Profils. Die Merkmalsgruppe 4 verlangt, dass die Leisten senkrecht von einer senkrecht zum Steg verlaufenden Längsmittelebene abragen , das heißt, dass sie parallel zu dem Steg 14 verlaufen. Die Leisten sind schließlich als Bördelungen, die in Absatz 6 der Patentschrift auch als Faltungen bezeichnet werden, ausgebildet. Es handelt sich, wie das Patentgericht zutreffend angenommen hat, um einen auskragenden und am freien Ende der Leiste auf sich selbst zurückgebogenen, das heißt doppellagigen Bereich des C-Profils. Eine mögliche Ausbildung der vorspringenden Leisten als "Sicken", das heißt als eingedrückte Rillen in Blechteilen, wie der Sachverständige unter Bezugnahme auf die VDI/VDE-Richtlinie 2251 ausgeführt hat, ist im Streitpatent weder ausdrücklich erwähnt, noch finden sich hierfür sonstige Anhaltspunkte.
12
II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
13
1. Eine unzulässige Erweiterung liege nicht vor, da der Gegenstand des Streitpatents im Prüfungsverfahren zulässig geändert worden sei. In den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen sei nicht nur allgemein eine C-Führungsprofilschiene offenbart; diese sollte vielmehr nach der Beschreibung und dem Oberbegriff des damalig beanspruchten Anspruchs 1 "für die verschiebbare Aufnahme eines innerhalb einer bestimmten Wegstrecke hin- und hergehend motorisch angetriebenen Schlittens, an den ein lageveränderlich geführter Gegenstand , insbesondere ein ein- oder mehrteiliges Torblatt, angekoppelt ist", dienen. Die ursprüngliche Offenbarung umfasse daher auch die Vorrichtung, für die das Streitpatent erteilt worden sei.
14
2. Der Gegenstand nach Patentanspruch 1 sei neu und auch nicht durch den Stand der Technik nahegelegt.
15
Weder die aus dem deutschen Gebrauchsmuster 93 19 898 (XB 2) noch die aus der internationalen Patentanmeldung 95/07401 (XB 3) bekannten Vorrichtungen wiesen in den Übergangsbereichen zwischen Steg und U-Schenkeln bzw. U-Schenkeln und den Endbereichen der aus Blech ausgeformten C-förmigen Führungsprofilschiene vorspringende Leisten auf, die als Bördelungen ausgebildet seien. Für die in dem deutschen Gebrauchsmuster 94 03 746 (XB 4) vorgestellte Profilschiene sei weder angegeben noch aus den Figuren ersichtlich, dass diese aus einem Blech geformt sei. Die weiter entgegengehaltenen Veröffentlichungen beträfen keine Vorrichtungen gemäß Merkmal 1 des Hauptanspruchs, sondern Vorhang- und/oder Möbelschienen und könnten schon deshalb den Gegenstand des Streitpatents nicht vorwegnehmen.
16
Nächstkommender Stand der Technik sei das deutsche Gebrauchsmuster 93 19 898. Bei der dortigen Vorrichtung seien an den Übergangsbereichen des Profils keine vorspringenden Leisten vorgesehen. Damit seien auch Haltelaschen nicht offenbart, auch wenn das Erfordernis von Befestigungsmitteln an sich als selbstverständlich mitzulesen sei. Der Fachmann, ein Maschinenbautechniker mit Kenntnissen der Metallumformung und mit Berufserfahrung bei Konstruktion, Montage und dem Betrieb von Garagentorantrieben, finde in den Entgegenhaltungen aus dem Stand der Technik weder ein Vorbild noch Anregungen , eine niedrigere Profilhöhe mit ausreichender Steifigkeit mit dem zusätzlichen Vorteil der Verwendung von einfachen Verstärkungs- und/oder Ver- längerungsprofilen durch die Kombination der Merkmale des Patentanspruchs mit den zusätzlichen Vorteilen einer einfachen Befestigungsmöglichkeit zu erzielen. Auch die in der Veröffentlichung der internationalen Patentanmeldung 95/07401 (XB 3) gezeigten, ebenfalls C-förmigen Profilschienen wiesen keine vorspringenden Leisten nach den Merkmalen des Anspruchs 1 auf. Diese Entgegenhaltung könne den Fachmann allenfalls dazu anregen, die U-Schenkel der aus dem deutschen Gebrauchsmuster XB 2 bekannten C-Profilschiene zur Versteifung mit Wangen nach der XB 3 zu versehen. Einen Hinweis oder eine Anregung auf die anspruchsgemäß vorspringenden Leisten erhalte der Fachmann aus dieser Druckschrift nicht.
17
Bei der Vorrichtung nach dem deutschen Gebrauchsmuster 94 04 746 (XB 4) sei das C-Profil nicht aus einem Blech ausgeformt. Darüber hinaus seien die dort vorhandenen Leisten nicht wie im Streitpatent ausgebildet. Es gebe auch keine Haltelaschen, die die Leisten übergreifen. Es widerspreche fachmännischem Handeln, das komplizierte Laufschienenprofil der XB 4 mittels Blechumformung herzustellen. Wolle der Fachmann für diese Vorrichtung zur Nutzung einer bereits vorhandenen Maschinenausstattung auf ein Blechprofil übergehen, so werde er diesbezüglich Informationen über bereits bekannte Blechprofile einholen, nicht aber das komplizierte Strangpress-/Stranggussprofil so lange umkonstruieren, bis es für Blechumformung und Bördelungsvorgänge geeignet sei.
18
Der Fachmann habe auch keinen Anlass gehabt, sich mit der Gestaltung und Fertigungstechnik von Vorhang- und Möbelschienen wie in der Schweizer Patentschrift 409 687 (XB 5), dem US-Designpatent 231 326 (XB 12), der deutschen Offenlegungsschrift 14 04 030 (XB 13) und der Schweizer Patentschrift 644 258 (XB 14) zu befassen. Der Fachmann werde nicht nach einer Lösung auf einem Gebiet suchen, das von der Gestaltung, der Bemessung und insbesondere der Kräfteverteilung der dort eingesetzten Schienen deutlich anders beschaffen sei. So sei zu berücksichtigen, dass zum Beispiel unter Putz verlegte Vorhangschienen wie in der XB 13 relativ flach ausgestaltet und zudem gegen seitliche Kräfte gesichert seien. Dasselbe gelte für Laufschienen, die in einem Träger aus Holz wie bei der Entgegenhaltung XB 5 eingebettet seien, oder für Möbelauszüge, die in einer Führung liefen.
19
Die Laufschiene gemäß der Entgegenhaltung XB 5 für Schiebetüren von Möbelstücken oder Vorhängen zeige zwar zwei vorspringende Leisten in den Übergangsbereichen zwischen den U-Schenkeln und den einander zugewandten Endbereichen des C-Profils. Diese dienten aber als Anschlag zur Begrenzung der Tiefenlage der Schiene in einer Nut, so dass der Anbringungsort dem Fachmann keine Anregung zur Stabilisierung eines Schienenprofils gebe.
20
Das amerikanische Design-Patent XB 12 für eine Vorhangschiene offenbare zwar eine C-förmige Profilschiene. Diese Veröffentlichung belege lediglich das allgemeine Fachwissen der Blechumformung am Beispiel einer Vorhangschiene , da über die Bedeutung und Bemessung der einzelnen Profilbereiche hinsichtlich Profilhöhe und Steifigkeit keine Angaben vorhanden seien.
21
Bei der Einputzschiene aus der deutschen Offenlegungsschrift 14 04 030 (XB 13) erfolge die Bemessung des Metallprofils nach anderen Gesichtspunkten als bei einer im Wesentlichen frei verlegten Führungsprofilschiene eines Garagentorantriebs.
22
Die in der schweizerischen Patentschrift 644 258 (XB 14) gezeigten, aus Blech geformten C-förmigen Schienen für Vorhänge mit Gleitern gingen mit ih- ren Ausbuchtungen nicht über den aus der internationalen Patentanmeldung XB 3 bekannten Stand der Technik hinaus.
23
III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren stand.
24
1. Der Gegenstand des Streitpatents geht nicht über die ursprünglich eingereichte Fassung der Patentanmeldung hinaus (Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ).
25
Zur Feststellung einer unzulässigen Erweiterung ist der Gegenstand des erteilten Patents mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen. Der Inhalt der Patentanmeldung ist der Gesamtheit der Unterlagen zu entnehmen. Der Patentanspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, den die ursprüngliche Offenbarung aus Sicht des Fachmanns - hier, wie zutreffend vom Patentgericht in Übereistimmung mit den Parteien und dem gerichtlichen Sachverständigen gesehen, ein Maschinenbau-Techniker oder Fachhochschul -Ingenieur mit Kenntnissen der Metallumformung und mit Berufserfahrung bei Konstruktion, Montage und dem Betrieb von Garagentorantrieben - nicht als zur Erfindung gehörend erkennen lässt (BGH, Urteil vom 12. Juli 2011 - X ZR 75/08, GRUR 2011, 1109 - Reifenabdichtmittel; Urteil vom 22. Dezember 2009 - X ZR 28/06, GRUR 2010, 513 Rn. 29 - Hubgliedertor II; Urteil vom 5. Juli 2005 - X ZR 30/02, GRUR 2005, 1023, 1024 - Einkaufswagen II).
26
Die ursprüngliche Fassung der Patentanmeldung ist in der internationalen Anmeldung 98/12407 (XB 7) niedergelegt, die mit "C-förmige Führungsprofilschiene" bezeichnet und deren Patentansprüche auch auf eine solche Schiene gerichtet sind. Nach der Beschreibung und der Formulierung des dortigen Patentanspruchs 1 ist eine C-Führungsprofilschiene offenbart, die "für die ver- schiebbare Aufnahme eines innerhalb einer bestimmten Wegstrecke hin- und hergehend motorisch angetriebenen Schlittens, an den ein lageveränderlich geführter Gegenstand, insbesondere ein ein- oder mehrteiliges Torblatt, angekoppelt ist", dienen soll. Damit sind Vorrichtungsteile benannt wie zum Beispiel der Schlitten, an den das lageveränderlich geführte Torblatt angekuppelt ist und die C-förmige Führungsprofilschiene, in die der Schlitten verschiebbar aufgenommen werden soll. Eine Vorrichtung wie in dem erteilten Patent ist damit zwar nicht wörtlich so benannt, aber inhaltlich beschrieben. Die ursprüngliche Offenbarung umfasst daher auch die Vorrichtung, für die das Streitpatent erteilt worden ist. Der Gegenstand der Anmeldung ist weder erweitert, noch ist ein Aliud an seine Stelle gesetzt worden.
27
2. Der Gegenstand des Streitpatents ist in keinem der vorgelegten Dokumente vollständig offenbart und somit gegenüber dem Stand der Technik neu. Das hat der gerichtliche Sachverständige ebenso gesehen, und dies wird auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen (Art. 54 Abs. 1, 2 EPÜ).
28
3. Die beanspruchte Vorrichtung beruht auch auf erfinderischer Tätigkeit, da sie sich nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergab (Art. 56 Satz 1 EPÜ).
29
a) Nach der Rechtsprechung des Senats handelt es sich bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit um eine Rechtsfrage, die mittels wertender Würdigung der tatsächlichen Umstände zu beurteilen ist, die unmittelbar oder mittelbar geeignet sind, etwas über die Voraussetzungen für das Auffinden der erfindungsgemäßen Lösung auszusagen (BGH, Urteil vom 7. März 2006 - X ZR 213/01, BGHZ 166, 305 - Vorausbezahlte Telefongespräche). Der Senat hat weiter entschieden, dass es in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbar- keit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe dafür bedarf, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen, um das Begehen eines von den bisher beschrittenen Wegen abweichenden Lösungswegs nicht nur als möglich, sondern dem Fachmann nahegelegt anzusehen - abgesehen von den Fällen, in denen für den Fachmann auf der Hand liegt, was zu tun ist. Das aus dem Stand der Technik Bekannte muss dem Fachmann Anlass oder Anregung gegeben haben, zu der vorgeschlagenen Lehre zu gelangen (BGH, Urteil vom 30. April 2009 - Xa ZR 92/05, BGHZ 182, 1 - Betrieb einer Sicherheitseinrichtung; Urteil vom 8. Dezember 2009 - X ZR 65/05, GRUR 2010, 407 - einteilige Öse).
30
b) Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist das deutsche Gebrauchsmuster 93 19 898 (XB 2); davon sind sowohl das Patentgericht als auch die Parteien ausgegangen. Es betrifft eine Antriebseinrichtung mit einer Führungsschiene zum Öffnen und Schließen von Toren und weist auch eine C-förmige Führungsprofilschiene auf, in der ein Schlitten verschiebbar aufgenommen ist. Das in XB 2 zu lösende technische Problem besteht darin , die Stabilität und Festigkeit der Laufschiene bei gleichzeitiger Verringerung des Materialbedarfs zu vergrößern (S. 2 unten). Zur Lösung wird vorgeschlagen , dass die Kantenbereiche der freien Enden zwei übereinander angeordnete Materiallagen haben. Die Vorrichtung zeigt jedoch keine als Bördelungen ausgebildete vorspringende Leisten, wie sie in den Merkmalsgruppen 3 und 4 des Streitpatents vorgesehen sind und auch keine Haltelaschen nach Merkmal 5, und sie gibt auch keine Anregung dafür, eine Führungsprofilschiene entsprechend auszubilden.
31
c) Auch dem übrigen entgegengehaltenen Stand der Technik kann eine entsprechende Anregung nicht entnommen werden.

32
aa) Die Antriebsvorrichtung nach der internationalen Anmeldung 95/07401 (XB 3) hat eine Profilschiene, deren U-förmige Schenkel nach außen vorspringende Wangen aufweisen. Einen Hinweis, anstelle dieser Ausbuchtungen in den Übergangsbereichen zwischen dem Steg des Profils und den USchenkeln und zwischen diesen und den Enden des C-Profils vorspringende Leisten vorzusehen, erhält der Fachmann hieraus nicht.
33
bb) Das deutsche Gebrauchsmuster 94 03 946 (XB 4) offenbart ebenfalls eine Antriebsvorrichtung. Die Profilschiene besteht hier nicht aus einem Blech, sondern ist als Stranggußprofil aus Aluminium geformt. Dem Fachmann ist in der Regel an einer Vereinfachung des Vorrichtungsaufbaus gelegen. Er hatte, wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, keinen Anlass, diese Konstruktion als Ausgangspunkt zu wählen, um deren kompliziertes Laufschienenprofil mittels Blechumformung herzustellen. Aber auch einzelne dort verwendete Vorrichtungsteile geben keine Anregung zu einer Ausgestaltung nach dem Streitpatent. Die in XB 4 vorgestellte Profilschiene weist rechteckige Profile auf (Fig. 6, Bezugsziffern 7i, 7k, 7l, 7m, Beschreibung S. 11 oben), die zu beiden Seiten der Laufschiene C-förmige Halteprofile bilden und die zwei Laufschienenelemente zu einer gesamten Laufschiene verbinden. Es handelt sich um rechteckige Halteprofile und nicht um Leisten. Sie entsprechen nicht, wie auch der gerichtliche Sachverständige ausgeführt hat, den vorspringenden Leisten des Streitpatents und bieten auch keine Anregung, solche Leisten auszubilden , geschweige denn sie als Bördelungen vorzusehen.
34
cc) Die Schweizer Patente 409 687 (XB 5) und 644 258 (XB 14), das US-Design-Patent 231 326 (XB 12) und die deutsche Offenlegungsschrift 1 404 030 (XB 13) offenbaren Möbel- oder Vorhangschienen und keine Vorrich- tung zum motorischen Antreiben eines ein- oder mehrteiligen Torblatts. Das Patentgericht hat deshalb zu Recht in Zweifel gezogen, ob sich der mit der Weiterentwicklung von Garagentorantrieben befasste Fachmann im Hinblick auf die unterschiedliche Bemessung und Kräfteverteilung mit der Gestaltung und der Fertigungstechnik von Vorhangschienen befassen würde. Selbst bei Heranziehung dieser Entgegenhaltungen erhält der Fachmann aber keine Anregung zur Gestaltung einer Vorrichtung nach dem Streitpatent.
35
(1) Die Laufschiene nach dem Schweizer Patent 409 687 (XB 5) zeigt in den Figuren 1 und 2 zwei seitliche Vorsprünge 8, die als Anschläge zur Begrenzung der Tiefenlage der Laufschiene dienen (Sp. 2, Z. 54-57). Sie bieten dem Fachmann keine Anregung zur Durchführung der konstruktiven Maßnahmen zur Gestaltung des C-Profils nach dem Streitpatent, insbesondere vorspringende Leisten vorzusehen und sie als Bördelungen auszubilden. Dies hat auch der gerichtliche Sachverständige so gesehen.
36
(2) Das US-Design-Patent 231 326 (XB 12) offenbart anhand von fünf Zeichnungen eine Vorhangschiene. Das Profil in Figur 5 zeigt auf beiden Seiten im oberen Übergangsbereich zu den Schenkeln eine doppellagige Ausformung, die jedoch nicht über die Breite des Profils hinausragt. Im unteren Übergangsbereich finden sich derartige Ausformungen nicht. Aus dieser Gestaltung ergibt sich keine Anregung für den Fachmann, das Profil wie im Streitpatent mit 4 vorspringenden Leisten, die über die Breite des Profils hinausragen, auszubilden.
37
(3) Die deutsche Offenlegungsschrift 1 404 030 (XB 13) betrifft eine Gardineneinputzschiene aus Metall, die innen und/oder außen oder teilweise mit Kunststoff überzogen wird. Der Kunststoffüberzug soll, wie der Sachverständige ausgeführt hat, die mechanischen Eigenschaften positiv beeinflussen.
Im Gegensatz zum Streitpatent werden diese Eigenschaften nicht mit konstruktiven Maßnahmen erreicht. Die XB 13 kann deshalb auch keine Anregungen zu den Maßnahmen, wie sie in den Merkmalsgruppen 3, 4 und 5 dargestellt sind, enthalten.
38
(4) Das Schweizer Patent 644 258 (XB 14) zeigt eine C-förmige Schiene für Vorhänge mit Gleitern. Sie weist an den U-förmigen Schenkeln Ausbuchtungen 12, 22 (Fig. 2 und 4) auf, die den nach außen vorspringenden Wangen der XB 3 vergleichbar sind. Ebenso wie bei XB 3 erhält der Fachmann durch die Ausbuchtungen keine Anregung, in den Übergangsbereichen 4 vorspringende Leisten als Bördelungen auszubilden.
39
dd) Das europäische Patent 638 758 (XB 16) betrifft ein Blechprofilteil mit aus der Blechebene verformten Sicken, die zur Versteifung des Blechs dienen. Die Merkmale der Gruppen 4 und 5 sind nicht offenbart, denn die dort vorgestellten Leisten sind, wie ausgeführt, nicht mit Sicken, das heißt mit in dem Blechteil eingeprägten Rinnen und Rillen, gleichzusetzen. Aus der Ausbildung von Rinnen und Rillen, die ihrerseits eine Stabilisierungsmaßnahme darstellt, ergibt sich keine Anregung, die vorspringenden Leisten mit entsprechenden Haltelaschen nach dem Streitpatent vorzusehen.
40
ee) Das deutsche Gebrauchsmuster 1 959 154 (XB 17) beschreibt eine Laufschiene für Kabelwagen, Hängebahnen, Schiebetore unddergleichen. Von einem motorisch angetriebenen Schlitten, an den ein lageveränderlich geführtes Torblatt angekuppelt ist, ist nicht die Rede. Die Merkmalsgruppen 3 und 4 des Streitpatents sind in der XB 17, wie auch der gerichtliche Sachverständige ausgeführt hat, nicht direkt beschrieben. Nach der Beschreibung der XB 17 (S. 6 unten) und Abbildung 1 weist die Laufschiene in Höhe ihrer Oberseite beidseitig je eine Rippe oder einen Wulst auf. Derartige Rippen fehlen an der Unterseite. Weiter ist ausgeführt, dass man die Rippen a und b je nach dem Herstellungsverfahren des Kastenprofils auch anders ausbilden könne. Aus dieser Formulierung kann man entnehmen, dass andere Ausbildungen möglich sind. Eine Anregung, die Rippen auch an der Unterseite des Profils vorzusehen und damit möglicherweise zu den vorspringenden Leisten des Streitpatents zu gelangen, ergibt sich daraus nicht.
41
ff) Das Schweizer Patent 202 810 (XB 18) bezieht sich auf eine Vierkanthohlschiene für Innenroller, an der Gardinen oder Vorhänge befestigt werden können. Eine C-förmige Führungsprofilschiene für Torantriebe ist nicht offenbart , folglich auch keine einander zugewandten Endbereiche des C-Profils, ebenso wenig Haltelaschen, die Leisten oder Bördelungen klemmend übergreifen. Die wulstartigen Verstärkungen m (Fig. 10 und 11 der XB 18) können für die Ausbildung der vorspringende Leisten im Sinne des Streitpatents keinen Hinweis geben. Es handelt sich um Sicken, die durch Einprägen in das Blech gebildet werden und eine Stabilisierung bewirken. Ihr Vorhandensein veranlasst den Fachmann allenfalls sich Verstärkungsmaßnahmen für die Schiene zu überlegen, nicht aber, doppellagige Leisten, die als Bördelungen ausgebildet sind, in Betracht zu ziehen.
42
d) Nach alldem ist aus dem Stand der Technik eine Anregung zur patentgemäßen Gestaltung der Vorrichtung nicht ersichtlich. Der Prüfung der Rechtsfrage, ob der Gegenstand der Erfindung durch den Stand der Technik nahegelegt war, ist der Gegenstand der Erfindung in der Gesamtheit seiner Lösungsmerkmale in ihrem technischen Zusammenhang zugrunde zu legen. Eine Untersuchung von einzelnen Merkmalen oder Merkmalsgruppen dahingehend, ob sie dem Fachmann durch den Stand der Technik je für sich nahegelegt wa- ren, kann das Naheliegen des Gegenstands der Erfindung in seiner Gesamtheit nicht begründen (BGH, Urteil vom 15. Mai 2007 - X ZR 273/02, GRUR 2007, 1055 - Papiermaschinengewebe, mwN). Nach diesen Vorgaben konnte allein der Umstand, dass Teile zur möglichen Ausgestaltung der patentgemäßen Vorrichtung im Stand der Technik oder im allgemeinen Fachwissen bekannt waren, den Fachmann nicht veranlassen, bei einer entsprechenden Vorrichtung die mit dem Streitpatent beanspruchte Merkmalskombination vorzusehen, bei der - wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat - die Vorteile einer Profilversteifung mit gleichzeitig einfacher Befestigungsmöglichkeit und bedarfsweiser Verstärkungs - bzw. Verlängerungsmöglichkeit durch die Nutzung der abragenden Leisten ergänzend zusammenwirken.
43
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG, § 97 Abs. 1 ZPO.
Meier-Beck Keukenschrijver Mühlens
Grabinski Schuster
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 09.10.2008 - 2 Ni 43/06 (EU) -

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 13. Dez. 2011 - X ZR 135/08

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Bundesgerichtshof Urteil, 08. Dez. 2009 - X ZR 65/05

bei uns veröffentlicht am 08.12.2009

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL X ZR 65/05 Verkündet am: 8. Dezember 2009 Wermes Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in der Patentnichtigkeitssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGH

Bundesgerichtshof Urteil, 07. März 2006 - X ZR 213/01

bei uns veröffentlicht am 07.03.2006

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL X ZR 213/01 Verkündet am: 7. März 2006 Wermes Justizhauptsekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in der Patentnichtigkeitssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: ja BGHR:

Bundesgerichtshof Urteil, 22. Dez. 2009 - X ZR 28/06

bei uns veröffentlicht am 22.12.2009

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL X ZR 28/06 Verkündet am: 22. Dezember 2009 Wermes Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in der Patentnichtigkeitssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: nei

Referenzen

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 75/08 Verkündet am:
12. Juli 2011
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Reifenabdichtmittel
EPÜ Art. 123 Abs. 2; PatG § 38
Ist den ursprünglichen Unterlagen der Patentanmeldung zu entnehmen, dass
ein Erzeugnis bestimmte Bestandteile "enthalten" soll, ist damit nicht ohne weiteres
auch als zur Erfindung gehörend offenbart, dass ihm keine weiteren Bestandteile
hinzugefügt werden dürfen. Für die Offenbarung, dass es zur Erfindung
gehört, dass das Erzeugnis ausschließlich aus den genannten Bestandteilen
"besteht", bedarf es vielmehr in der Regel darüber hinausgehender Anhaltspunkte
in den ursprünglichen Unterlagen, wie etwa des Hinweises, dass das
ausschließliche Bestehen des Erzeugnisses aus den genannten Bestandteilen
besondere Vorteile hat oder sonst erwünscht ist.
BGH, Urteil vom 12. Juli 2011 - X ZR 75/08 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 12. Juli 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck,
den Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens, den Richter Dr. Grabinski
und die Richterin Schuster

für Recht erkannt:
Die Berufung gegen das am 16. Mai 2008 an Verkündungs Statt zugestellte Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


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Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents 0 753 420 (Streitpatents), das am 9. Juli 1996 unter Inanspruchnahme zweier deutscher Prioritätsanmeldungen vom 11. Juli und 8. Dezember 1995 angemeldet wurde.
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Patentanspruch 1, auf den die Patentansprüche 2 bis 9 unmittelbar oder mittelbar rückbezogen sind, und Patentanspruch 18, auf den die Patentansprüche 19 und 20 unmittelbar rückbezogen sind, haben in der englischen Verfahrenssprache des Streitpatents folgenden Wortlaut: "1. A preparation for sealing tyres with a puncture which is introducible via the valve into the tyre, characterized in that the preparation contains a natural rubber latex and an adhesive resin compatible with the rubber latex.
18. An apparatus for the sealing of punctures and pumping up of tyres, comprising a pressure-tight container (4) containing a sealing preparation (6) and having an outlet valve for the sealing preparation and also a gas inlet, and a pressure source with which gas under pressure can be introduced into the pressure-tight container via the gas inlet, characterized in that the sealing preparation (6) is according to any of claims 1 to 9."
3
Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand der Patentansprüche 1 bis 9 sowie 18 bis 20 sei nicht patentfähig. Demgegenüber hat die Beklagte das Streitpatent in der erteilten Fassung und in der Fassung von sechs Hilfsanträgen verteidigt.
4
Das Patentgericht hat das Streitpatent im angegriffenen Umfang für nichtig erklärt. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung,
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wobei sie das Streitpatent zuletzt mit einem Haupt- und drei Hilfsanträgen verteidigt. Nach dem Hauptantrag soll Patentanspruch 1 folgende Fassung erhal6 ten: "Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel einen Kautschuklatex und ein mit dem Kautschuklatex kompatibles Klebstoffharz enthält und wobei der Kautschuklatex im Wesentlichen nur aus Naturkautschuklatex besteht." Nach Hilfsantrag I soll Patentanspruch 1 lauten:
7
"Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel aus einem Kautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kautschuklatex kompatiblen Klebstoffharz, einem Gefrierschutzmittel und optional einem Dispergiermittel besteht, wobei der Kautschuklatex im Wesentlichen nur aus Naturkautschuklatex besteht." Nach Hilfsantrag II soll Patentanspruch 1 folgende Fassung erhalten:
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"Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel einen Kautschuklatex und ein mit dem Kautschuklatex kompatibles Klebstoffharz enthält, wobei in dem Mittel das Gewichtsverhältnis von Kautschuk zu Klebstoffharz 4:1 bis 1:1 beträgt und wobei der Kautschuklatex im Wesentlichen nur aus Naturkautschuklatex besteht." Mit Hilfsantrag III wird folgende Fassung des Patentanspruchs 1 vertei9 digt: "Verwendung eines Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen, wobei das Mittel aus einem Naturkautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kautschuklatex kompatiblen Klebstoffharz und einem Gefrierschutzmittel besteht." An Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags und der Hilfsan10 träge sollen sich jeweils die erteilten Patentansprüche 2 bis 9 und 18 bis 20 mit Ausnahme des Hauptantrags umformuliert zu Verwendungsansprüchen anschließen. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
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12
Im Auftrag des Senats hat Prof. Dr. Claus D. E. , Universität S. , Institut für Polymerchemie, ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:


Die Berufung ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.
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I. Das Streitpatent betrifft ein Mittel zum Abdichten von Reifen bei Pan14 nen und eine Vorrichtung zum Abdichten und Aufpumpen von Reifen bei Pannen mit einem druckfesten Behälter. In der Beschreibung wird ausgeführt, dass bereits verschiedene Abdich15 tmittel für Reifenpannen auf dem Markt seien. Während die meisten Latices kolloidale Dispersionen aus Polymeren in einem wässrigen Medium enthielten, gebe es auch andere Abdichtmittel, deren Trägermittel nicht Wasser, sondern Tetrachlorethylen sei. Eine aus der US-Patentanmeldung 4 116 895 (KS 29) bekannte Abdichtzusammensetzung sei dazu bestimmt, bei der Herstellung des Reifens auf dessen innerer Oberfläche aufgebracht zu werden, damit sich ein teilweise vernetzter Kautschuk bilde. Dies habe jedoch den Nachteil, dass sich das Gewicht des Reifens bzw. des Radaufbaus von Anfang an vergrößere (Rn. 3). Ferner sei bekannt, im Falle einer Reifenpanne das Abdichtmittel aus ei16 nem druckfesten Behälter mit einem verflüssigten Gas als Druckquelle (Spraydose ) durch das Reifenventil in das Innere des Reifens zu sprühen. Dabei werde der Reifen mittels des Treibgases auf einen bestimmten Druck aufgepumpt und dann einige Kilometer in Abhängigkeit von der Art des Defektes gefahren, um das Abdichtmittel im Inneren des Reifens zu verteilen und den Defekt abzudichten (Rn. 5). Bei einer anderen Vorrichtung werde der Ventileinsatz entfernt und das Abdichtmittel durch Pressen einer Flasche in den Reifen gespritzt, der Ventileinsatz wieder eingesetzt und der Reifen mit Hilfe von Kohlendioxidpatro- nen wieder aufgepumpt (Rn. 6). Nach den Ausführungen in der Streitpatentschrift seien die bisher verwendeten Abdichtmittel jedoch nicht zufriedenstellend , weil sie leicht mechanisch entfernt werden könnten, einige von ihnen nicht ausreichend wasserfest seien und keine Abdichtung bewirkten, wenn der Reifendefekt an den Rändern des Reifens (Protektorauslauf) liege (Rn. 7). Der Erfindung liegt nach den Angaben der Streitpatentschrift das Prob17 lem ("die Aufgabe") zugrunde, ein Abdichtmittel bereit zu stellen, das eine wirksame Abdichtung auch bei Nässe sowie bei Defekten im Protektorauslauf erreiche und das mechanisch schwer zu entfernen sei. Außerdem sollen Vorrichtungen zum Einbringen des Abdichtmittels in den Reifen und Aufpumpen des Reifens auf einen Druck vorgestellt werden, bei dem der Reifen verwendet werden kann (Rn. 11). Die Lehre aus Patentanspruch 1 in der im Hauptantrag von der Beklag18 ten verteidigten Fassung umfasst folgende Merkmale: 1. Das Mittel wird verwendet zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen. 2. Das Mittel enthält einen Kautschuklatex, der im Wesentlichen nur aus Naturkautschuk besteht. 3. Das Mittel enthält einen Klebstoffharz, der mit Kautschuklatex kompatibel ist. In der Streitpatentschrift wird dem Fachmann, bei dem es sich um einen
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Chemiker handelt, der über vertiefte Kenntnisse und praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Kautschuktechnologie (natürliche und synthetische Werkstoffe und deren Verarbeitung) insbesondere im Hinblick auf die Herstellung von Abdichtmitteln von Reifen verfügt und sich in diesem Zusammenhang auch mit Dispersionsklebstoffen und Fragen der Polymerchemie beschäftigt hat, erläutert , dass ein Klebstoffharz "kompatibel" mit dem Kautschuklatex ist, wenn er keine Koagulation desselben verursacht. "Klebstoffharze" sind Harze, welche die Haftfähigkeit des Kautschuklatex am Reifen verbessern, wie etwa Harze, denen Elastomere als Klebrigmacher ("Tackifier") zugesetzt worden sind (Rn. 14). Merkmal 3 schließt es aus Sicht des Fachmanns nicht aus, dass das Mittel neben einem Naturkautschuklatex auch synthetischen Kautschuk "enthält". Das exklusive Vorhandensein von Naturkautschuk in dem Mittel ist in der Streitpatentschrift lediglich als "besonders bevorzugt" beschrieben (vgl. Rn. 16). II. Das Patentgericht hat es dahingestellt sein lassen, ob dem Gegen20 stand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung bereits die Neuheit fehle, weil er durch die französische Patentschrift 1 016 016 (KS 4) offenbart sei. Denn jedenfalls sei der Fachmann im Prioritätszeitpunkt in der Lage gewesen, die Lehre des Patentanspruchs 1 aus der US-Patentschrift 4 501 825 (KS 6) in Verbindung mit der US-Patentschrift 4 337 322 (KS 19) in naheliegender Weise aufzufinden. In der KS 6 sei ein Mittel zum Abdichten von Reifen bei Pannen be21 schrieben, wobei das Mittel über das Ventil in den Reifen einführbar sei. Dieses Mittel enthalte neben anderen Bestandteilen einen Kautschuklatex und ein Klebstoffharz. Zwar sei nicht ausdrücklich angesprochen, dass das Klebstoffharz mit dem Kautschuklatex kompatibel sei. Dem Fachmann, der auch wisse, dass Phenolharze zu den gebräuchlichsten Additiven in der KautschukVerarbeitung zählten, werde jedoch mangels gegenteiliger Hinweise aus der KS 6 den Schluss ziehen, dass mit dem Einsatz von Phenolharzen als Klebharz die Eigenschaften von Kautschuklatices nicht beeinträchtigt würden und Phenolharze deshalb keinerlei Koagulation der Latices verursachten. Da das in der KS 6 beschriebene Abdichtmittel zum Zeitpunkt der Anwendung bei einer Rei- fenpanne fließfähig sei, müsse das in KS 6 verwendete Klebstoffharz zwangsläufig auch kompatibel mit dem Kautschuklatex sein.
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Als Material für den Kautschuklatex schlage die KS 6 vor, Polymere und/oder Copolymere von Isopren, Styrol und Butadien einzusetzen. Zwar gehe aus der Stoffangabe Polyisopren nicht ausdrücklich hervor, dass Naturkautschuk - aufgrund der gleichen chemischen Zusammensetzung - ein Mittel der Wahl sei, zumal in den Beispielen der KS 6 ein solcher nicht genannt sei. Allerdings werde der Fachmann Naturkautschuk als Polyisopren schon deshalb in seine Überlegungen einbeziehen, weil in der Beschreibungseinleitung der KS 6 als Stand der Technik auf die US-Patentschrift 4 337 322 (KS 19) Bezug genommen werde, aus der ein Reifenabdichtmittel hervorgehe, das neben anderen Bestandteilen ebenfalls Polyisopren und zwar in Form eines Naturkautschuklatex enthalte. Damit verdeutliche die KS 19, dass es sich bei Polyisopren und Naturkautschuk um für den Fachmann auf dem Gebiet der Reifenabdichtmittel überschneidende Begriffe und um zwei nicht klar voneinander abgrenzbare Stoffe handele. Deshalb werde der Fachmann, wenn er mit der Entwicklung eines Reifenabdichtmittels befasst sei, bei dem Hinweis auf Polyisopren zwangsläufig auch Naturkautschuklatex als parates Mittel in Erwägung ziehen und zwar unabhängig von der Bezeichnung in der jeweiligen Veröffentlichung. Auch der Einwand der Beklagten, der Fachmann beziehe die KS 6 nicht
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in seine Überlegungen mit ein, weil es sich um die Bereitstellung eines Abdichtmittels auf Basis synthetischer Kautschuklatices handele, überzeuge nicht. Im Streitpatent sei auch der Einsatz von Synthesekautschuklatices als geeignet beschrieben, darunter auch Styrolbutadienlatex. Die Verwendung von natürlichen Kautschuklatices allein als Kautschuklatex sei lediglich eine besonders bevorzugte Ausführungsform. Die von der Beklagten weiter geltend gemachten Vorteile, insbesondere unerwartete Vorteile des erfindungsgemäßen Abdicht- mittels, qualifizierten dieses ebenfalls nicht als Ergebnis einer erfinderischen Tätigkeit.
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Wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit nicht rechtsbeständig seien überdies die Unteransprüche im angegriffenen Umfang sowie die Fassungen des Patentanspruchs 1, mit denen die Beklagte das Streitpatent hilfsweise verteidigt habe. III. Die Überlegungen des Patentgerichts halten den Angriffen der Beru25 fung auch hinsichtlich der mit Haupt- und Hilfsanträgen verteidigten Fassung des Patentanspruchs 1 im Wesentlichen stand. 1. Dem Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Haupt26 antrags fehlt die Patentfähigkeit (Art. 52 EPÜ).
a) Die Lehre aus Patentanspruch 1 ist allerdings neu (Art. 54 EPÜ). Wie
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sich aus den oben wiedergegebenen Ausführungen des Patentgerichts in dem mit der Berufung angegriffenen Urteil ergibt und zwischen den Parteien auch nicht streitig ist, offenbart die US-Patentschrift 4 501 825 (KS 6) zwar ein Mittel zum Abdichten von Reifen, das mit Ausnahme der näheren Definition der Latexkomponente der Lehre des Patentanspruchs 1 entspricht. Insbesondere konnte der Fachmann der Entgegenhaltung die Verwendung des Mittels zum Abdichten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil in den Reifen im Pannenfall entnehmen (vgl. KS 6, Sp. 2 Z. 53 ff.). Nicht offenbart ist jedoch das Merkmal 2, wonach das Mittel einen Kaut28 schuklatex enthalten soll, der im Wesentlichen nur aus Naturkautschuklatex besteht. In der Vorveröffentlichung wird zwar ausgeführt, dass als Latexkomponente alle geeigneten polymerischen oder copolymerischen Latices, wie Polymere oder Copolymere von Isopren, Styrol und Butadien in Betracht kommen (K 6, Sp. 3 Z. 44 ff.). Zudem war dem Fachmann bekannt, dass Naturkautschuk ein Polymer von Isopren ist. Unter die abstrakte Bezeichnung "Polymere oder Copolymere von Isopren, Styrol und Butadien" fallen jedoch mehrere Tausend natürliche oder synthetische Verbindungen (vgl. die gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Dr. W. vom 21.1.2011, E 24), und Naturkautschuk wird weder an dieser noch an einer anderen Stelle der Entgegenhaltung ausdrücklich als mögliche Latexkomponente erwähnt. Es kann daher nicht angenommen werden, dass es aus fachlicher Sicht selbstverständlich gewesen ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedurfte, Naturkautschuk als Latexkomponente auszuwählen (vgl. Senat, Urteil vom 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07, Rn. 26, BGHZ 179, 168, 174 - Olanzapin).
b) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptan29 trags ergab sich für den Fachmann allerdings in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik (Art. 56 EPÜ). Wie dargelegt wurde dem Fachmann in der KS 6 ein Mittel zum Abdich30 ten von Reifen bei Pannen durch Einführen über das Ventil offenbart, welches unter anderem ein Klebstoffharz enthält, das mit der Latexkomponente kompatibel ist. Hinsichtlich der genauen Art des zu verwendenden Latex erhielt er aus der Entgegenhaltung die Anregung, dafür ein geeignetes Polymer oder ein Copolymer von Isopren, Styrol und Butadien zu nehmen (K 6, Sp. 3 Z. 44 ff.). Zwar wird als insoweit bevorzugte Latexkomponente ein Styrol-Butadien-Copolymer genannt, das unter der Marke Pliolite 5336 von Goodyear erhältlich ist, einen Butadiengehalt von über 50 % aufweist und auf der Basis von Fettsäureemulsion hergestellt ist (KS 6, Sp. 3 Z. 47 ff.), und dieses Latex (Pliolite Latex) wird auch in Ausführungsbeispiel 1 der Entgegenhaltung zur Herstellung des Abdichtmittels eingesetzt (KS 6, Sp. 5 Z. 31, 38). Jedoch schloss dies aus Sicht des Fachmanns auf Grundlage der allgemeinen Erläuterungen in der Entgegenhaltung , dass insoweit "jedes geeignete Polymer oder Copolymer von Isopren , Styrol und Butadien" in Betracht kommt, nicht aus, als Latexkomponente auch einen anderen Latex als das ausdrücklich genannte Produkt Pliolite 5336 oder ein sonstiges Copolymer von Styrol und Butadien zu nehmen. Als eine solche alternative Latexkomponente bot sich dem Fachmann nach den überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung ein Naturkautschuklatex als (Mono-)Polymer von Isopren an. Für diese Alternative sprach zunächst die Überlegung, dass für die Herstellung von Reifen üblicherweise Mischungen aus Styrol-Butadien (SBR [StyreneButadiene -Rubber]) und Naturkautschuk verwendet werden und die Verwendung eines Naturkautschuklatex es daher wie bei der von der KS 6 ausdrücklich gelehrten Benutzung eines Styrol-Butadien-Copolymers erlaubte, für die Latexkomponente eines Mittels zur Abdichtung von Reifen, das sich fest und dauerhaft mit dem Reifen verbinden soll, auf einen Reifengrundstoff zurückzugreifen. Hinzu kamen die hervorragenden elastomeren Eigenschaften des aus Latex ausgefällten und aufgearbeiteten Naturkautschuks aufgrund des hohen Anteils von cis-1,4-Polyisopren (vgl. Gutachten, S. 10 f.), die aus fachlicher Sicht Naturkautschuklatex als eine realistische Alternative zu Styrol-Butadien als Latexkomponente erscheinen ließen. In diesen Überlegungen konnte sich der Fachmann dadurch bestätigt
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sehen, dass in der KS 6 bei der Darstellung des Standes der Technik auf die US-Patentschrift 4 337 322 (KS 19) verwiesen und dabei ausgeführt wird, dass diese eine Zusammensetzung für die Radauswuchtung und Abdichtung offenbart , die neben anderen Komponenten aus Polyisopren besteht. Der KS 19 konnte der Fachmann dann bei der Beschreibung der bevorzugten Ausführungsform entnehmen, dass als Polyisopren ein ungehärteter Naturlatex eingesetzt werden kann bzw. das Polyisopren in der Form von natürlichem Latexkautschuk (natürlichem Poly-cis-1,4-polyisopren) in dem Abdichtmittel enthalten ist (KS 19, Sp. 2 Z. 12, 21 ff.). Dies war geeignet, den Fachmann darin zu be- stärken, für das Abdichtmittel als Latexkomponente einen Naturkautschuklatex in Erwägung zu ziehen. Das wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die KS 19 vor allem
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die vorbeugende Behandlung eines Reifens gegen Perforationen betrifft und die Reparatur eines bereits platten Reifens nicht erwähnt (vgl. K 19, Sp. 1 Z. 29 ff.; Sp. 2 Z. 53 ff.). Denn dabei handelt es sich vornehmlich um einen anwendungstechnischen Unterschied, der es, wie die Erörterung mit dem gerichtlichen Sachverständigen bestätigt hat, aus fachlicher Sicht jedenfalls nicht ausschließt , die Verwendung des in der KS 19 als Polyisoprenkomponente vorgeschlagenen natürlichen Kautschuklatex als Latexkomponente des in der KS 6 vorgeschlagenen Abdichtmittels in Erwägung zu ziehen. Zwar sind die Ausführungen der Beklagten zutreffend, dass es sich bei
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den in der KS 6 neben Polymeren oder Copolymeren von Isopren genannten beiden anderen Latices (Polymere oder Copolymere von Styrol und/oder Butadien ) um synthetische Kautschuklatices handelt. Dies rechtfertigt jedoch nicht den Schluss, dass auch mit dem Begriff der Polyisoprene, der nach allgemeinem Verständnis sowohl natürliche als auch synthetische Polymere des Isopren umfasst, lediglich synthetische Polymere des Isoprens gemeint sind. Ein derart eingeschränktes fachliches Verständnis wird durch die KS 6 nicht veranlasst, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend in seinem Gutachten ausgeführt und in der Verhandlung bestätigt hat. Der Beklagten kann daher nicht in dem Argument gefolgt werden, dass die Beschreibung der Entgegenhaltung ganz (ausschließlich) auf die Verwendung von synthetischem Latex ausgerichtet sei. Dies verkennt den Begriff des Polyisoprens, der nach allgemeinem Verständnis neben synthetischen auch natürliche Polymere von Isopren umfasst und der auch im Offenbarungsgehalt der KS 6 nicht eingeschränkt worden ist.
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Es mag sein, dass sich Naturkautschuklatex und synthetischer Latex insbesondere auch von Polyisopren hinsichtlich ihrer Zusammensetzung und ihrer Eigenschaften (Stereoisomerenreinheit, Molekulargewicht und Molekularverteilung , Anwesenheit funktioneller Gruppen und Art der vorhandenen Gruppen ) unterscheiden, wie von der Beklagten im Einzelnen ausgeführt worden ist. Es ist aber nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht dargetan worden, inwiefern diese Unterschiede den Fachmann am Prioritätstag des Streitpatents davon hätten abhalten sollen, entsprechend der Anregung in KS 6 natürliches Polyisopren als Latex in Betracht zu ziehen und - wie dargelegt - gestützt auf sein Fachwissen und entsprechend der Anregung in der KS 19, auf die in der KS 6 hingewiesen wird, bei der Herstellung des Reifendichtmittels zu verwenden. 2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsan35 trags I geht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus und ist daher nicht zulässig (Art. 123 Abs. 2 EPÜ). Zur Feststellung einer unzulässigen Erweiterung ist der Gegenstand des
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erteilten Patents mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen. Der Inhalt der Patentanmeldung ist der Gesamtheit der Unterlagen zu entnehmen. Der Patentanspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, den die ursprüngliche Offenbarung aus Sicht des Fachmanns nicht zur Erfindung gehörend erkennen lässt (Senat, Urteil vom 5. Juli 2005 - X ZR 30/02, GRUR 2005, 1023, 1024 - Einkaufswagen II; Urteil vom 22. Dezember 2009 - X ZR 28/06, Rn. 29, GRUR 2010, 513 - Hubgliedertor II). Dies ist jedoch hier der Fall. Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags I unterscheidet sich
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von selbigem in der Fassung des Hauptantrags dadurch, dass nicht mehr nur vorgesehen ist, dass das Abdichtmittel, dessen Verwendung im Pannenfall un- ter Schutz gestellt werden soll, einen (Natur-)Kautschuklatex und ein mit diesem kompatibles Klebstoffharz "enthält", sondern dass das Abdichtmittel aus einem (Natur-)Kautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kautschuklatex kompatiblen Klebstoffharz und optional einem Dispergiermittel "besteht". Dies ist - wie auch die Beklagte in der Verhandlung ausgeführt hat - aus fachlicher Sicht dahin zu verstehen, dass das erfindungsgemäße Abdichtmittel ausschließlich aus den genannten Bestandteilen bestehen darf, wobei lediglich das Dispergiermittel nicht zwingend enthalten sein muss. Insbesondere dürfen dem erfindungsgemäßen Abdichtmittel damit auch keine Füllstoffe, wie etwa faserige Materialien, zugesetzt worden sein. Gerade auf das Fehlen solcher faserigen Materialien, auf das im ursprünglich formulierten Hilfsantrag IV ausdrücklich abgestellt worden war, zielt erklärtermaßen die von der Beklagten gewählte Anspruchsfassung. Die Verwendung eines Abdichtmittels im Pannenfall, das ausschließlich
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aus einem (Natur-)Kautschuklatex, einem pH-Regulator, einem mit dem Kautschuklatex kompatiblen Klebstoffharz besteht und dem allein ein Dispergiermittel wahlweise zugegeben werden durfte, wird dem Fachmann in der ursprünglichen Anmeldung jedoch nicht als zur Erfindung gehörend offenbart. In den gesamten Anmeldungsunterlagen findet sich an keiner Stelle ein Hinweis darauf, dass eine derart exklusive Zusammensetzung des Abdichtmittels, die vor allem auch keine Füllstoffe aufweist, besondere technische Vorteile hat oder sonst erwünscht ist und deshalb vom Fachmann als zur Erfindung gehörend angesehen wird. In der Anmeldung wird zwar, worauf die Beklagte insoweit zutreffend im
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Verhandlungstermin hingewiesen hat, ein Ausführungsbeispiel beschrieben, bei dem ein Abdichtmittel durch Mischen von Naturkautschuklatex (300 g Naturkautschuklatex mit einem Kautschukgehalt von 60 Gew.-%), das einen pHRegulator (Ammoniak) enthält, unter einen Klebstoffharz (120 g Terpenphenol- harzdispersion mit einem Harzgehalt von 55 Gew.-% [Dermulsene®]) und nach Zugabe eines Gefrierschutzmittels (67 g Ethylenglycol) hergestellt wurde (vgl. Rn. 49). Damit wurde dem Fachmann jedoch lediglich ein Abdichtmittel als erfindungsgemäß offenbart, das die genannten Bestandteile enthält, nicht aber ein solches, das (ausgenommen die wahlweise Zugabe von Dispergiermittel) exklusiv aus diesen Komponenten bestehen und damit insbesondere auch keine Füllstoffe, wie etwa faserige Materialen, umfassen darf. Vielmehr wird an anderer Stelle in der Anmeldung die Zugabe von einem oder mehreren Füllstoffen wie etwa faserigen Materialien als für eine rasche Abdichtung oder für die Abdichtung größerer Löcher vorteilhaft gelehrt (Rn. 20), ohne dass eine solche Zugabe im Hinblick auf das Ausführungsbeispiel ausgeschlossen wird, so dass aus fachmännischer Sicht insoweit kein Grund zu der Annahme besteht, dass die Aufzählung der in dem Ausführungsbeispiel genannten Komponenten zwingend als abschließend zu verstehen ist. 3. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsan40 trags II, der sich von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags durch das zusätzliche Merkmal unterscheidet, dass das Gewichtsverhältnis von Kautschuk zu Klebstoffharz 4:1 bis 1:1 betragen soll, ist zulässig, aber nicht patentfähig. War es für den Fachmann - entsprechend den obigen Ausführungen zu
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Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags - naheliegend, als Alternative zu Styrol-Butadien-Latex Naturkautschuklatex in Erwägung zu ziehen, so stellte sich ihm bei der Formulierung einer konkreten Rezeptur die Frage nach dem Gewichtsverhältnis von Kautschuk zu Klebstoffharz. Der KS 6 entnahm er insoweit gemäß der allgemeinen Definition der Mischung in der Beschreibung (KS 6, Sp. 3 Z. 9 ff.) und in Patenanspruch 1, dass der Massenanteil von Harz und Latexdichtmittel jeweils zwischen 20 - 40 % liegen kann. Da die Entgegenhaltung keine näheren Angaben zu dem Gewichtsverhältnis von Kautschuk zu Klebstoff enthält, lag für den Fachmann, wie auch das Patentgericht angenommen hat, im Hinblick auf die parallelen Bereichsangaben der Massenanteile von Harz und Latexdichtmittel die Annahme nahe, dass der Feststoffanteil in der wässrigen Phase bei dem Harz und dem Latexdichtmittel in etwa identisch ist, so dass die in der KS 6 offenbarten Gewichtsverhältnisse von Kautschuk zu Klebstoffharz in einem Bereich von etwa 1:2 bis etwa 2:1 liegen. Dabei liegt, wie auch der gerichtliche Sachverständige im Verhandlungstermin bestätigt hat, die genaue Bestimmung des Gewichtsverhältnisses von Kautschuk und Klebstoffharz für das bei Reifenpannen zu verwendende Dichtmittel im "Erprobungsermessen" des Fachmanns, wobei es diesem aufgrund seines Fachwissens auch bekannt ist, das ein verhältnismäßig hoher Anteil von Kautschuk die elastomeren Eigenschaften des Dichtmittels verbessert, so dass er auch unter diesem Gesichtspunkt motiviert ist, den Gewichtsanteil von Kautschuk nicht geringer, sondern höher als den von Klebstoffharz zu bestimmen. 4. Dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des
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Hilfsantrags III über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus geht und daher nicht zulässig ist, folgt ohne weiteres aus den Ausführungen zu Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags I, weil sich Patentanspruch 1 in der Fassung der Hilfsanträge I und III lediglich darin unterscheiden, dass die optionale Zugabe von Dispergiermittel nicht mehr erlaubt ist. 5. Dass die jeweils auf Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptan43 trags und der drei Hilfsanträge rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 9 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen, ist bereits vom Patentgericht verneint worden. Es ist auch unter Berücksichtigung der Neufassung des Patentanspruchs 1 als Verwendungsanspruch weder von der Beklagten dargelegt worden noch sonst ersichtlich, dass die Beurteilung des Patentgerichts fehlerhaft wäre. Gleiches gilt hinsichtlich des Patentanspruchs 18 und der auf diesen rückbezogenen Patentansprüche 19 und 20; die Patentfähigkeit des Gegen- stands dieser Vorrichtungsansprüche hat auch die Beklagte nur mit denjenigen Erwägungen gerechtfertigt, die sie zum Gegenstand des Patentanspruchs 1 angeführt hat. IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97
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Abs. 1 ZPO.
Meier-Beck Keukenschrijver Mühlens
Grabinski Schuster
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 16. Mai 2008 – 3 Ni 48/07 (EU) –
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Der Gegenstand der Anmeldung kann daher im Erteilungsverfahren bei der Formulierung des Anspruchs anders gefasst werden. Eine solche Änderung darf aber nicht zu einer Erweiterung des Gegenstandes der Anmeldung führen (BGHZ 110, 123, 125 f. - Spleißkammer). Der Patentanspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, den die ursprüngliche Offenbarung aus Sicht des Fachmanns nicht zur Erfindung gehörend erkennen ließ (Sen.Urt. v. 5.7.2005 - X ZR 30/02, GRUR 2005, 1023, 1024 - Einkaufswagen II; v.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 30/02 Verkündet am:
5. Juli 2005
Wermes
Justizhauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
Einkaufswagen II
EPÜ Art. 138 Abs. 1 Buchst. c; IntPatÜG Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3
Zur Beantwortung der Frage, ob der Gegenstand der Patentansprüche in der
erteilten Fassung des Patents über den Inhalt der Anmeldung hinausgeht und
deshalb der Nichtigkeitsgrund des Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG i.V.m.
Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ vorliegt, ist die durch die Patentansprüche definierte
Lehre mit dem gesamten Offenbarungsgehalt der Patentanmeldung zu
vergleichen. Entscheidend ist, ob die ursprüngliche Offenbarung in ihrer Gesamtheit
das in den erteilten Patentansprüchen niedergelegte Schutzbegehren
umfaßt. Den mit der Anmeldung ursprünglich formulierten Patentansprüchen
kommt im Rahmen des Erteilungsverfahrens keine eine weitergehende Offenbarung
in der Beschreibung einschränkende Bedeutung zu.
BGH, Urt. v. 5. Juli 2005 - X ZR 30/02 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 5. Juli 2005 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den
Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die Richter Prof. Dr. MeierBeck
und Asendorf

für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 28. November 2001 verkündete Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert.
Das europäische Patent 0 199 274 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des unter anderem mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 199 274 (Streitpatents), das unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Offenlegungsschrift 35 15 069 vom 26. April 1985 angemeldet worden ist.
Es betrifft einen "Transportwagen" und umfaßt sechs Patentansprüche. Patentanspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache Deutsch:
"Transportwagen, der in einen gleichgearteten Transportwagen einschiebbar und mit einer zur Aufnahme von Ware vorgesehenen Einrichtung ausgestattet ist, wobei in seinem Griffbereich ein mit einer Kopplungseinrichtung versehenes Münzschloß angeordnet ist, das auf Pfandbasis ein gegenseitiges An- und Abkoppeln von Transportwagen mit oder ohne Inanspruchnahme einer Sammelstelle erlaubt, d a d u r c h g e k e n n z e i c h n e t , daß das Münzschloß im Bereich eines der beiden Grifftragarme angeordnet ist und sich sowohl am Grifftragarm als auch am Griff abstützt."
Wegen der Patentansprüche 2 bis 6 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.
Die Klägerin macht mit ihrer Klage geltend, der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der Anmeldung hinaus und sei deshalb für nichtig zu erklären.
Das Bundespatentgericht hat die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Klageziel weiterverfolgt. Die Beklagte tritt der Berufung entgegen.
Als gerichtlicher Sachverständiger hat Prof. Dr.-Ing. H.
schriftliches ein Gutachten erstellt, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:


Die zulässige Berufung ist begründet. Der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund , der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der Anmeldung hinaus (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ, Art. 123 Abs. 2 EPÜ), liegt vor.
1. Das Streitpatent betrifft einen Transportwagen, wie er beispielsweise als Einkaufswagen in Supermärkten zum Einsatz kommt, wo er von Kunden auf Pfandbasis benutzt werden kann. Mehrere solcher Wagen können ineinandergeschoben und aneinandergekoppelt werden. Die Koppelungseinrichtung ist im
Griffbereich des Wagens angeordnet und weist ein Münzschloß auf, in das die Pfandmünze eingesteckt werden kann. Damit betätigt der Kunde - meistens unter Verwendung einer Kette - eine Steckverbindung zum nächsten Wagen und kann einen Wagen von den übrigen trennen.
Die Lehre des Streitpatents befaßt sich mit der Anordnung des Münzschlosses an einer geeigneten Stelle des Wagens.
Die Streitpatentschrift geht davon aus, daß es bei Wagensammel- und Ausleihsystemen durch die den Einkaufswagen eigentümliche Form nicht einfach sei, die Münzschlösser an geeigneten Stellen anzubringen, nämlich so, daß sowohl das Ineinanderschieben als auch die bequeme Handhabung des Einkaufswagens erhalten bleibe (Sp. 1 Z. 26-31).
Bei der Lösung nach der deutschen Offenlegungsschrift 25 54 916 bestehe die Schwierigkeit darin, daß das Münzschloß wegen seiner Größe teilweise in den Ladebereich des Korbs rage, so daß beim Beladen von der Griffseite des Einkaufswagens aus die Ware immer um das Münzschloß herum bewegt werden müsse (Sp. 1 Z. 31-39). Die in der deutschen Offenlegungsschrift 29 00 367 und dem deutschen Gebrauchsmuster 81 21 677 beschriebenen Münzschlösser seien kleiner und ließen sich am Griff des Einkaufswagens befestigen ; es bestehe jedoch die Gefahr, daß sie entweder mit Absicht um die Griffachse verdreht würden oder daß sie sich im Laufe der Zeit lockerten und ihre Lage veränderten (Sp. 1 Z. 39-49). Die Münzschlösser nach Art des deutschen Gebrauchsmusters 81 21 677 würden mittig am Griff des Einkaufswagens angebracht und ragten dadurch bei einem mit einem Kindersitz ausgestatteten Wagen störend in diesen Kindersitz hinein (Sp. 1 Z. 49-53). Der Nach-
teil der in der deutschen Offenlegungsschrift 33 24 962 vorgeschlagenen Münzschlösser bestehe schließlich darin, daß diese außen an den Korbseitenwänden befestigt würden, was beispielsweise beim Passieren des engen Durchgangs an der Kasse zu Schwierigkeiten führen könne (Sp. 1 Z. 54-63).
Die Streitpatentschrift bezeichnet es als Aufgabe der Erfindung, die geschilderten Nachteile zu vermeiden und das Münzschloß so anzuordnen, daß es den für ein im Wagen mitzuführendes Kleinkind vorgesehenen Raum nicht verkleinere, daß das Be- und Entladen der zur Aufnahme der Ware vorgesehenen Einrichtung nicht behindert werde, daß es ferner nicht mutwillig in seiner Lage veränderbar sei und daß sich schließlich seine Lage im Laufe der Zeit nicht durch Gebrauchseinflüsse von selbst ändere (Sp. 1 Z. 64 - Sp. 2 Z. 8). Das Streitpatent schlägt dazu einen Transportwagen vor,
1. der in einen gleichgearteten Transportwagen einschiebbar und mit einer zur Aufnahme von Waren vorgesehenen Einrichtung ausgestattet ist,
2. wobei im Griffbereich des Transportwagens ein mit einer Kopplungseinrichtung versehenes Münzschloß angeordnet ist,
3. das auf Pfandbasis ein gegenseitiges An- und Abkoppeln von Transportwagen mit oder ohne Inanspruchnahme einer Sammelstelle erlaubt;
4. das Münzschloß ist
4.1 im Bereich eines der beiden Grifftragarme angeordnet und
4.2 stützt sich sowohl am Grifftragarm als auch am Griff ab.
Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung trifft keine näheren Aussagen dazu, wo das Münzschloß "im Bereich" der beiden Grifftragarme anzuordnen ist. Beansprucht ist daher nicht nur eine Anordnung des Münzschlosses oberhalb der beiden Grifftragarme, sondern jede beliebige Anordnung in deren Bereich , also auch auf gleicher Höhe oder unterhalb der Grifftragarme, sofern die Anordnung nur in räumlicher Nähe zu den Grifftragarmen erfolgt.
2. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der erteilten Fassung geht damit über den Inhalt der Anmeldung hinaus, denn Anordnungen in gleicher Höhe und unterhalb des Grifftragarms sind nicht Teil der Offenbarung der Anmeldung; die in den ursprünglichen Unterlagen offenbarte Lehre ist auf eine Anordnung des Schlosses unmittelbar oberhalb eines Griffarms beschränkt.
Nach der Rechtsprechung des Senats ist durch die Anmeldung offenbart , was sich dem Fachmann des Betreffenden Gebietes der Technik ohne weiteres aus dem Gesamtinhalt der Unterlagen am Anmeldetag erschließt (so für die Rechtslage in Deutschland vor 1978 BGHZ 111, 21, 26 - Crackkatalysator I m.w.N.).
Zur Feststellung, ob der Nichtigkeitsgrund des Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ vorliegt, ist der Gegenstand des
erteilten Patents mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen. Gegenstand des Patents ist die durch die Patentansprüche definierte Lehre. Der Inhalt der Patentanmeldung ist hingegen der Gesamtheit der Unterlagen zu entnehmen, ohne daß dabei den Patentansprüchen eine gleich hervorragende Bedeutung zukommt (Sen.Urt. v. 03.12.1991 - X ZR 101/89, GRUR 1992, 157, 158 f. - Frachtcontainer; Sen.Urt. v. 21.09.1993 - X ZR 50/91, Mitt. 1996, 204, 206 - Spielfahrbahn). Entscheidend ist, ob die ursprüngliche Offenbarung für den Fachmann erkennen ließ, der geänderte Lösungsvorschlag solle von vornherein vom Schutzbegehren umfaßt werden.
Der Gegenstand der Anmeldung darf im Erteilungsverfahren bei der Aufstellung des Patentanspruchs daher anders formuliert beschränkt werden. Eine solche Änderung darf aber nicht zu einer Erweiterung de s Gegenstands der Anmeldung führen (Sen. BGHZ 110, 123, 125 f. - Spleißkammer). Der Patentanspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, von dem der Fachmann aufgrund der ursprünglichen Unterlagen nicht erkennen kann, daß die darin enthaltene Offenbarung von vornherein ihn als zur Erfindung gehörend erkennen ließ (vgl. Sen.Beschl. v. 05.10.2000 - X ZR 184/98, GRUR 2001, 140, 141 - Zeittelegramm; Sen.Beschl. v. 11.09.2001 - X ZB 18/00, GRUR 2002, 49, 51 - Drehmomentübertragungseinrichtung; vgl. ferner EPA - T 255/88, EPOR 1992, 87 - Befestigungsvorrichtung für Fassadenelemente; EPA - T 192/89, EPOR 1990, 287 - Dispositif d' homogénisation; EPA - T 270/89, EPOR 1991, 540 - Splash bar method). Eine solche Zuordnung ist für die im erteilten Patentanspruch bezeichnete Anordnung des Münzschlosses nicht zu erkennen.
In den Anmeldungsunterlagen wird die Aufgabe der Erfindung wie in der Streitpatentschrift angegeben. Zur Lösung dieser Aufgabe gibt die Anmeldung eine Anordnung eines wesentlichen Teils des Münzschlosses unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme an. Soweit die Beschreibung sich mit Angaben zur Lage des Schlosses befaßt, sind der Anmeldung wiederum nur Hinweise zu einer Anordnung in dieser Weise zu entnehmen (S. 4 Z. 23 ff.), wobei sich die Einschränkung, daß die beschriebene Anordnung bevorzugt sei, zwanglos mit der Anordnung auf der Seite des Wagens in Verbindung bringen läßt. Dem entspricht auch der in der Anmeldung formulierte Patentanspruch 1, wonach der Einkaufswagen allein dadurch gekennzeichnet sein soll, daß ein wesentlicher Teil des Münzschlosses unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme angeordnet ist. Hierzu wird in der Beschreibung ausgeführt, das Münzschloß werde in einem Bereich angeordnet, der nicht anderweitig bereits für die Funktion oder für das Bewegen des Einkaufswagens vonnöten sei (S. 3 Z. 5 ff.).
Der Senat folgt dem gerichtlichen Sachverständigen, soweit dieser ausgeführt hat, der Fachmann, bei dem es sich um einen Techniker mit Konstruktionserfahrungen handele, entnehme der Anmeldung, daß das Münzschloß im Bereich Grifftragarm/Griff anzuordnen ist, damit es sich sowohl an einem der beiden Grifftragarme als auch am Griff abstützen kann. Dies kommt in Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung durch Verwendung der Worte "im Bereich eines der beiden Grifftragarme" zum Ausdruck. Darin erschöpfen sich die Angaben in der Anmeldung über die erfindungsgemäße Anordnung des Münzschlosses jedoch nicht.
Denn solche Anordnungen, bei denen zwar eine solche Abstützung möglich ist, das Münzschloß sich jedoch in gleicher Höhe oder unter dem Griff-
tragarm befindet, entnahm der Fachmann nicht den Anmeldungsunterlagen. Diese geben nicht nur an, daß die Anordnung des Münzschlosses dadurch gekennzeichnet sei, daß ein wesentlicher Teil des Münzschlosses unmittelbar über einem der Grifftragarme angeordnet ist; allein ein solche Lage findet sich auch in sämtlichen Abbildungen. Neben dem Hinweis auf die Lösung der gestellten Aufgage durch eine Anordnung eines wesentlichen Teils des Münzschlosses unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme (S. 3 Z. 1-3), wird als besonderer Vorteil hervorgehoben, daß durch die Inanspruchnahme des seitlich über dem Griff befindlichen Raums zur Unterbringung des Münzschlosses der unter dem Griff befindliche Bereich zum Zwecke des Ineinanderschiebens mehrerer Einkaufswagen voll erhalten bleibt und das Be- und Entladen des Korbs nicht nachteilig beeinflußt wird (S. 3 Z. 22-29). Auch bei der Erläuterung der Zeichnungen wird an verschiedenen Stellen stets betont, daß der wesentliche Teil des Münzschlosses, so die Kopplungseinrichtung und die Geldeinwurf - und -ausgabeöffnung, sich über dem Grifftragarm befinden (S. 4 Z. 23-32; S. 7 Z. 1-5; S. 7 Z. 13-16). Soweit in der weiteren Beschreibung eine Anordnung "im Bereich" der Grifftragarme angesprochen wird, ist dem keine beliebige Lage im Verhältnis zu den Grifftragarmen zu entnehmen; es handelt sich hier jedoch um die Verwendung sprachlicher Alternativen zur Bezeichnung des gleichen Gegenstandes. Daß weiterhin eine unmittelbare Lage oberhalb des Grifftragarms gefordert wird, ergibt sich auf S. 5 Z. 20 etwa daraus, daß der angesprochene Schacht, der das eigentliche Münzschloß trägt, in seiner Kontur dem Grifftragarm angepaßt wird und diesen bei der Befestigung des Schlosses aufnimmt. Bezug genommen wird in diesem Zusammenhang zudem jeweils auf die Abbildungen, die das Schloß allein in einer Lage unmittelbar oberhalb des Grifftragarms zeigen. Das gilt auch für die auf S. 8 angesprochenen Bereiche.

Der Fachmann hatte im Zeitpunkt der Anmeldung auch keine Veranlassung , diese Aussagen in den Anmeldungsunterlagen zu relativieren und die Anordnung des Münzschlosses mit einem wesentlichen Teil unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme nur als eine mögliche Anordnung anzusehen. Wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend dargestellt hat, war angesichts der damaligen Größe der Münzschlösser, wie in den Zeichnungen der Anmeldung dargestellt, eine Behinderung beim Ineinanderschieben der Wagen die Folge, wenn eine andere Anordnung des Schlosses als im wesentlichen über einem der Grifftragarme, insbesondere eine solche unterhalb eines der Grifftragarme, gewählt worden wäre. Danach war eine solche andere Anordnung nicht Teil der Offenbarung, wie sie in den Anmeldungsunterlagen Ausdruck gefunden hat. Sie war für den Fachmann aus der Anmeldung nicht zu entnehmen. Da sie von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung dagegen umfaßt wird, ist dieser auf einen Gegenstand gerichtet, von dem der Fachmann aufgrund der ursprünglichen Offenbarung nicht erkennen konnte, daß er von vornherein vom Schutzbegehren umfaßt sein sollte.
Daher geht der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der Fassung des Streitpatents über den Gegenstand der Anmeldung hinaus mit der Folge, daß das Streitpatent für nichtig zu erklären ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG i.V.m. § 91 ZPO.
Melullis Keukenschrijver Mühlens
Meier-Beck Asendorf

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 213/01 Verkündet am:
7. März 2006
Wermes
Justizhauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
Vorausbezahlte Telefongespräche
EPÜ Art. 56; PatG § 4
Ob sich der Gegenstand einer Erfindung für den Fachmann in naheliegender
Weise aus dem Stand der Technik ergibt, ist eine Rechtsfrage, die mittels wertender
Würdigung der tatsächlichen Umstände zu beurteilen ist, die
- unmittelbar oder mittelbar - geeignet sind, etwas über die Voraussetzungen für
das Auffinden der erfindungsgemäßen Lösung auszusagen.
BGH, Urt. v. 7. März 2006 - X ZR 213/01 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 7. März 2006 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den Richter
Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die Richter Prof. Dr. Meier-Beck
und Asendorf

für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Beklagten wird das am 1. August 2001 verkündete Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Der Beklagte ist eingetragener Inhaber des auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 572 991 (Streitpatents ). Das Streitpatent wurde am 2. Juni 1993 unter Inanspruchnahme der Priorität einer israelischen Patentanmeldung vom 2. Juni 1992 angemeldet. Es betrifft "a method of processing prepaid telephone calls" und umfasst sechs Patentansprüche. Patentanspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache Englisch: "A method of processing telephone calls, particularly for use in connection with public telephones, comprising the steps of (a) programming a respective Public Automatic Branch exchange (PABX) to become toll-free accessible for incoming calls through dialling any one out of a series of predetermined numbers stored in a data-bank of the PABX; (b) enabling a calling party to complete a connection with a called party; (c) cutting-off the said connection after a prefixed time/counter pulses interval; (d) erasing from the data-bank any number that had once been dialled; (e) marking the said series of numbers, each on a vendible carrier member in an invisible - however readily exposable - manner; and (f) offering the vendible carrier members for sale to the general public, so that purchasers of the carrier members, after exposing the respective number, are enabled to place a call for the duration of the said interval."
2
Wegen der weiteren Patentansprüche wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.
3
Mit ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin geltend, die Lehre des Streitpatents sei nicht patentfähig, denn sie betreffe geschäftliche Tätigkeiten, sei nicht neu und beruhe jedenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
4
Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1 bis 3, 5 und 6 für nichtig erklärt und die Nichtigkeitsklage im Übrigen abgewiesen.
5
Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der dieser die vollständige Klageabweisung erreichen will.
6
Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
7
Als gerichtlicher Sachverständiger hat Prof. Dr. Herbert K. schriftliches ein Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:


8
Die zulässige Berufung hat Erfolg.
9
1. Das Streitpatent betrifft ein Verfahren zum Verarbeiten von im Voraus bezahlten Telefonanrufen (prepaid telephone calls). Die Beschreibung bezeichnet es als neueste Entwicklung, die mit Münzen zu bedienenden öffentlichen Telefonapparate durch Apparate zu ersetzen, bei denen eine Magnetkarte zum Einsatz kommt. Diese Entwicklung habe sich aus der Erkenntnis der Nachteile der Münztelefone ergeben, die darin bestünden, dass der Benutzer im Besitz von passenden Münzen sein müsse sowie dass die Apparate regelmäßig gewartet werden müssten und Vandalismus und Diebstahl ausgesetzt seien.
10
Bei dem Einsatz von bekannten Magnetkarten, speziellen Telefonkarten oder Kreditkarten, sei, so die Beschreibung, zwar das Problem zum Teil, nämlich insofern gelöst, als eine Karte für eine größere Anzahl von Telefonanrufen eingesetzt werden könne. Nachteilig sei aber die beträchtliche Anfangsinvestition in die Ausstattung, Einrichtung und Instandhaltung für die mit Magnetkarten zu betreibenden Telefonapparate.
11
Die Streitpatentschrift beschreibt sodann das Verfahren nach der USPatentschrift 4 706 275 (D 2). Das dort vorgeschlagene Verfahren und System zur Verarbeitung im Voraus bezahlter Telefonanrufe stütze sich auf spezielle, zertifizierbare Codezahlen. Diese würden den Anrufern gegen Erwerb eines Guthabens zugeteilt. Die Guthaben würden im Computer spezieller zentraler Stationen gespeichert, so dass von jedem beliebigen privaten Telefon angerufen werden könne. An diesem Verfahren kritisiert die Streitpatentschrift als Nachteil, dass derjenige, der interessiert sei, dieses Verfahren zu nutzen, eine ganze Reihe vorbereitender Schritte durchlaufen müsse - meistens über Kreditkartenunternehmen -, um eine entsprechende Berechtigung zur Nutzung des Systems zu erhalten.
12
Die Streitpatentschrift bezeichnet es als Aufgabe der Erfindung, die Nachteile der öffentlichen Münz- und Magnetkartentelefonanschlüsse zu vermeiden und zugleich jede vorherige Verbindung mit Telefonkarten- und/oder Kreditkartenunternehmen überflüssig zu machen.
13
Patentanspruch 1 des Streitpatents schlägt dazu als Lösung ein Verfahren mit folgenden Schritten vor:
a) Programmieren einer öffentlichen automatischen Nebenstellen (oder TK-) Anlage (Public Automatic Branch exchange - PABX) zum gebührenfreien Zugang für eingehende Anrufe durch Wählen einer Nummer aus einer Serie von vorbestimmten Nummern , die in einer Datenbank des PABX gespeichert sind;
b) Ermöglichen, eine Verbindung mit einem Angerufenen herzustellen ;
c) Abbrechen der Verbindung nach einer festgesetzten Zeit/Zählimpulszeitraum;
d) Löschen jeder Nummer, die einmal gewählt worden ist, aus der Datenbank;
e) Notieren jeder Nummer aus der Serie auf einem verkäuflichen Trägerelement in unsichtbarer, jedoch leicht freilegbarer Weise; und
f) Anbieten der verkäuflichen Trägerelemente zum Verkauf an das Publikum.
14
Schritt a setzt danach eine Stelle ("Public Automatic Branch exchange - PABX") voraus, bei der die Anrufe eingehen. Deren Computersystem wird so programmiert, dass es für die eingehenden Anrufe Daten überprüfen kann. Der Nutzer wählt eine Nummer aus einer Serie von vorbestimmten Nummern, die in der Datenbank des PABX gespeichert sind. Die Beschreibung (Sp. 2 Z. 43) gibt an, dass es sich um eine geheime Zugangsnummer ("secret code number (SCN)") handelt, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wird (Sp. 2 Z. 46) und von einem zuverlässigen Druckunternehmen in rechnergesteuerter Weise auf die vom Telefonkunden zu erwerbende Karte aufgedruckt und mit einer undurchsichtigen Schicht überzogen wird, die leicht beseitigt werden kann, z.B. durch Abkratzen mit einer Münze wie bei Lotterielosen (Sp. 2 Z. 52-56). Diese eingegebene Nummer wird in der Datenbank des PABX gesucht, identifiziert und das Gebührenguthaben analysiert. Ist ein solches vorhanden, gibt das PABX für eine dem im Voraus gezahlten Betrag entsprechende begrenzte Zeitdauer oder Anzahl von Zählimpulsen den Weg für das Wählen der Teilnehmernummer frei (Sp. 3 Z. 3-10).
15
Schritt b ermöglicht es sodann dem Anrufer, eine Verbindung mit dem von ihm gewünschten Anschluss herzustellen. Patentanspruch 1 und auch die Beschreibung geben nicht an, wie dies im Einzelnen geschieht. Ist die festgesetzte Zeit oder der Zählimpulszeitraum verstrichen, so wird gemäß Schritt c die Verbindung abgebrochen. Die deutsche Übersetzung des Patentanspruchs spricht von "Unterbrechen", die englische Fassung verwendet jedoch den Begriff "cutting-off" und bringt damit zum Ausdruck, dass die Verbindung abgeschnitten , also beendet wird (Sp. 3 Z. 9, 10).
16
Schritt e gibt an, wie die SCN dem Erwerber der Karte bekannt gegeben wird. Die SCN soll auf dem Trägerelement verdeckt angebracht sein, der Erwerber soll sie jedoch leicht freilegen können. Dies erschwert es, dass die SCN einem anderen als dem Erwerber bekannt wird, falls dieser sie nicht aus der Hand gibt oder verliert. Gemäß Schritt f sollen die Trägerelemente dem Publikum angeboten werden.
17
2. Bei diesem im Patentanspruch 1 beschriebenen Verfahren handelt es sich nicht um ein solches für gedankliche Tätigkeiten, für das gemäß Art. 52 Abs. 2 Buchst. c EPÜ Patentschutz nicht in Betracht kommt. Es enthält nämlich nicht nur den Vorschlag, für die Abwicklung eines Geschäfts einen Computer als Mittel zur Verarbeitung verfahrensrelevanter Daten einzusetzen. Das Streitpatent betrifft vielmehr das technische Problem, im Voraus bezahlte Telefonanrufe zu ermöglichen, ohne dass dazu öffentliche Fernsprechapparate notwendig wären, die mit Kartenlesern ausgestattet sein müssen. Damit enthält das Streitpatent jedenfalls auch Anweisungen, denen ein konkretes technisches Problem zugrunde liegt, das mit technischen Mitteln gelöst werden soll (vgl. Sen. BGHZ 159, 197 - Elektronischer Zahlungsverkehr).
18
3. Der Gegenstand des Streitpatents ist neu; er wird durch die hier allein in Betracht kommende US-Patentschrift 4 706 275 (D 2) nicht vorweggenommen.
19
Diese befasst sich mit Telefonsystemen, bei denen der Telefonkunde eine Vorauszahlung leistet und von einem beliebigen Telefon ein Telefongespräch führen kann, solange er den im Voraus gezahlten Betrag nicht verbraucht hat. Nach Patentanspruch 1 soll die dazu vorgeschlagene Methode folgende Schritte umfassen:
a) Erhalt eines Spezialcodes durch die Hinterlegung einer Vorauszahlungssumme ;
b) Speicherung der Vorauszahlungssumme im Speicher einer speziellen Vermittlung, zur Verwendung bei der Verifizierung der Anrufergespräche;
c) Anwahl der genannten speziellen Vermittlung, wenn eine Telefonverbindung gewünscht ist;
d) Eingabe des Spezialcodes zur Verifizierung;
e) Eingabe der Nummer des Angerufenen;
f) Verifizierung des Spezialcodes und Vergleich der Vorauszahlungssumme abzüglich der Gebühren für vorangegangene Telefonate im Speicher und der Mindestkosten der eingegebenen Anrufe;
g) Verbindung des Angerufenen mit dem Anrufenden als Antwort auf die Verifizierung;
h) Überwachung der Vorauszahlungssumme abzüglich der laufenden Kosten für den Anruf; und
i) Abbruch des Anrufs, wenn die vorausgezahlte Summe verbraucht wurde.
20
Damit umfasst Patentanspruch 1 der US-Patentschrift 4 706 275 in den Schritten b bis f, was Patentanspruch 1 des Streitpatents in Schritt a zusammenfasst. Allerdings gibt Schritt a des Patentanspruchs 1 des Streitpatents an, dass das Wählen einer beliebigen Nummer aus einer Serie von vorbestimmten Nummern, die in der Datenbank des PABX gespeichert sind, erforderlich ist, während in Schritt a des Patentanspruchs 1 der US-Patentschrift 4 706 275 vom Erhalt eines Spezialcodes durch die Hinterlegung einer Vorauszahlungssumme die Rede ist. Wie dieser Spezialcode zustande kommt, lässt die USPatentschrift ebenso offen wie die Frage, wie der Kunde den Spezialcode erhält. Die Beschreibung gibt dazu lediglich an, dass der Kunde nach einer Baroder Kreditkartenzahlung einen speziellen Code erhält. Der gutgeschriebene Betrag wird in einem Speicher zusammen mit dem Spezialcode abgelegt. Damit wird in der US-Patentschrift eine Lösung beschrieben, bei der der Kunde - auf welche Weise auch immer - ein Guthaben erwirbt und ihm dann der spezielle Code, der zusammen mit dem Guthaben in der Datenbank gespeichert wird, zugänglich gemacht wird. Soweit ein Erwerb der Karte an "Verkaufs"punkten erwähnt wird, wird nicht dargelegt, wie der Ablauf sich in diesem Falle gestaltet. Nach dem schriftlichen Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen besteht eine Möglichkeit darin, dass die Vertriebsstelle sich per Telefon oder Computer in die Datenbank des Diensteanbieters einwählt und ihr dort eine geheime Codenummer vom Computersystem zugewiesen wird. Nach Eingabe des vom Kunden genannten Betrags für das Gesprächsguthaben und der Ver- triebsstellennummer zahlt der Kunde sodann entweder bar oder per Kreditkarte, und es wird schließlich etwa auf einem nur für den Kunden einsehbarem Drucker ein Beleg mit der geheimen Codenummer ausgedruckt.
21
Schritt b des Patentanspruchs 1 des Streitpatents entspricht Schritt g des Patentanspruchs 1 der US-Patentschrift. Nach Abgleichung des Identifikationscodes bzw. der SCN wird eine Verbindung zu dem angerufenen Anschluss hergestellt.
22
Schritt c in Patentanspruch 1 des Streitpatents und Schritt i in Patentanspruch 1 der US-Patentschrift sind ebenfalls identisch. Ist das Guthaben verbraucht , wird der Anruf abgebrochen.
23
Schritt d in Patentanspruch 1 des Streitpatents geht über den Inhalt des Patentanspruchs 1 der US-Patentschrift hinaus. Dort ist das Löschen der gewählten Nummern nicht vorgesehen.
24
Schritt e in Patentanspruch 1 des Streitpatents ist in der US-Patentschrift nicht enthalten; wie der Kunde den Spezialcode erfährt, wird dort nicht dargestellt.
25
Schritt f in Patentanspruch 1 des Streitpatents schließlich entspricht Schritt a in Patentanspruch 1 der US-Patentschrift insofern, als auch danach der Spezialcode und das Guthaben durch Zahlung des Guthabenbetrags erworben werden können.
26
4. Die Unterschiede zwischen dem Gegenstand des Streitpatents und der US-Patentschrift bestehen demnach darin, dass nach der Lehre der USPatentschrift der Kunde durch Einzahlung eines Geldbetrags ein Guthaben erwirbt , dem Guthaben in der Datenbank des Diensteanbieters der Spezialcode zugeordnet und dem Kunden sodann dieser Codemitgeteilt wird. Das setzt eine Mehrzahl von Schritten im Zusammenhang mit dem Erwerb des im Computer gespeicherten Guthabens und der Ausgabe des Codes voraus, die individuell bei dem Geschäft mit dem Kunden abgewickelt werden. Demgegenüber werden nach der Lehre des Streitpatents vorkonfektionierte Nummern aus einer Serie in der Datenbank des PABX gespeichert. Diese Nummern werden in unsichtbarer , jedoch leicht freilegbarer Weise auf einem Trägerelement dem Kunden angeboten. Erwirbt er ein Trägerelement, so kann der Kunde die Nummer freilegen und das der Nummer zugeordnete Guthaben zum Telefonieren nutzen ; weiterer Schritte bedarf es dazu nicht, insbesondere ist ein weiterer Kontakt der Vertriebsstelle zur Datenbank des Diensteanbieters nicht erforderlich. Es wird mithin dem Kunden durch den Anbieter ein Guthaben vorgegeben und dieses sogleich einer bestimmten Nummer zugeordnet, die der Kunde in verdeckter Form erhält und die es ihm ermöglicht, die gewünschte Telefonverbindung herzustellen.
27
Die Beweisaufnahme hat keine Kenntnisse oder Erfahrungen des Fachmanns ergeben, unter deren Berücksichtigung es für ihn aufgrund des Standes der Technik nahelag, diese Lösung aufzufinden.
28
Ob sich der Gegenstand einer Erfindung für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage. Der angesprochene Fachmann ist nicht mit einer tatsächlich existierenden Person gleichzusetzen. Eine dem Gebot der Rechtssicherheit genü- gende einheitliche Beurteilung einer Erfindung wäre auf der Grundlage individueller Kenntnisse und Fähigkeiten auch gar nicht möglich. Fachmännisches Denken, Erkennen und Vorstellen wird deshalb bemüht, um mit dem auf dem betreffenden Gebiet der Technik üblichen Fachwissen sowie den durchschnittlichen Kenntnissen, Erfahrungen und Fähigkeiten der dort tätigen Fachleute und dem hierdurch geprägten Verständnis vom Inhalt einer technischen Lehre eine verlässliche Entscheidungsgrundlage zu gewinnen. Die maßgebliche Sicht selbst ist unmittelbarer Feststellung entzogen (BGHZ 160, 204, 213 - Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung). Dies gilt nicht nur für das sinnvolle Verständnis einer Lehre zum technischen Handeln, sondern gleichermaßen für die Beantwortung der Frage, ob der festgestellte Stand der Technik diese technische Lehre nahegelegt hat. Die Beurteilung, ob die erfindungsgemäße Lösung für den Fachmann nach seinem festgestellten Wissen und Können nahegelegen hat, ist demgemäß auch nicht Aufgabe des Sachverständigen, sondern obliegt als Akt wertender Erkenntnis dem Gericht (BGHZ 128, 270, 275 - elektrische Steckverbindung; Sen.Urt. v. 25.11.2003 - X ZR 162/00, GRUR 2004, 411, 413 - Diabehältnis). Das Gericht hat dabei sämtliche tatsächlichen Umstände zu würdigen, die - unmittelbar oder mittelbar - geeignet sind, etwas über die Voraussetzungen für das Auffinden der erfindungsgemäßen Lösung auszusagen.
29
Mit dem gerichtlichen Sachverständigen geht der Senat davon aus, dass Personen, die sich zum Prioritätszeitpunkt mit der Entwicklung von Neuerungen auf dem Gebiet der vorbezahlten Telefonate befassten, ausgebildete Nachrichtentechniker und/oder Informatiker mit mehrjähriger Berufserfahrung auf dem Gebiet der Telekommunikation waren. Soweit der gerichtliche Sachverständige im Termin ausgeführt hat, es seien im Hinblick auf die wirtschaftliche Form der Vermarktung auch Kenntnisse im kaufmännischen Bereich erforderlich gewe- sen, mögen solche Kenntnisse in die Entwicklung eines Verfahrens, wie es Gegenstand des Streitpatents ist, eingeflossen sein, bei der Lösung des technischen Problems, im Voraus bezahlte Telefonanrufe zu ermöglichen, stand jedoch die Fachkenntnis des Nachrichtentechnikers oder Informatikers im Vordergrund.
30
Der Fachmann, der es sich zur Aufgabe gestellt hatte, eine möglichst einfache und preiswerte Lösung für die Verarbeitung von im Voraus bezahlten Telefonanrufen zu finden, kannte die Möglichkeit, dazu Chip- oder Magnetkarten einzusetzen. Diese werden in der Streitpatentschrift ausdrücklich erwähnt. Sie haben den Nachteil, dass aufwendige Lesegeräte erforderlich sind und dass der Kunde nur ein Telefon benutzen kann, das ein solches Lesegerät aufweist. Die Lösung der US-Patentschrift vermied zwar diese Nachteile, machte aber eine Verbindung zwischen der Verkaufsstelle und der Datenbank des Diensteanbieters und eine individuelle Abwicklung erforderlich; die Möglichkeit einer Vorkonfektionierung eröffnete sie nicht. Im Falle des Erwerbs eines Guthabens durch einen Kunden war es erforderlich, mittels elektrischer oder elektronischer Übermittlung Kontakt zu der Datenbank des Diensteanbieters aufzunehmen , wo das vom Kunden gewünschte Guthaben einem Spezialcode zugeordnet werden musste. Sodann musste diese Identifikationsnummer über die Verbindung mit der Verkaufsstelle dem Kunden zugänglich gemacht werden. Der Fachmann kannte damit zwei Arten der Speicherung der zur Durchführung vorbezahlter Telefonanrufe erforderlichen Daten, nämlich zum einen die Variante , bei der die Daten sämtlich auf einem auf der Karte befindlichen Chip oder Magnetstreifen gespeichert sind, und zum anderen die Variante, dass die Daten in einer Datenbank in der Weise gespeichert sind, dass ein bestimmtes Guthaben einer bestimmten Identifikationsnummer zugeordnet ist. Er kannte außerdem zwei Arten des Vertriebs von vorbezahlten Telefonanrufen, nämlich zum einen den "Verkauf" der Chip- oder Magnetkarte, auf der Guthaben mit standardisierten festen Beträgen gespeichert sind und die deshalb einen Vertrieb an variablen Verkaufsstellen ermöglichen, und zum anderen den Erwerb des Guthabens , die anschließende Zuordnung eines Spezialcodes zu diesem Guthaben und die Übermittlung des Spezialcodes an den Kunden als Legitimation zur Durchführung von vorbezahlten Telefonaten, der durch diesen Aufwand und die damit verbundenen Anforderungen an die Vertriebsstellen dem Vertrieb Grenzen setzte. Der gerichtliche Sachverständige hat es zwar für möglich gehalten, dass der Fachmann, der die verschiedenen Systeme mit ihren spezifischen Nachteilen kennt, in der Lage ist, diese zu kombinieren, er hat dies jedoch für den Zeitpunkt der Priorität des Streitpatents als "unsicher" bezeichnet. Der Senat hat keine Umstände feststellen können, die den Fachmann hierzu veranlassen konnten.
31
Wählte der Fachmann die Möglichkeit, die erforderlichen Daten auf einer zentralen Datenbank zu speichern, so fand er dazu in der US-Patentschrift eine Lösung. Wollte er den Nachteil vermeiden, dass der Vertrieb Datenleitungen von der Vertriebsstelle zur Datenbank erforderlich machte, konnte er hierauf nur verzichten, wenn er dem Kunden die Identifikationsnummer auf andere Weise bekannt gab. Der Senat sieht jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass dies dem Fachmann die insbesondere bei Chipkarten übliche Standardisierung auf bestimmte Beträge nahelegte, die es ihm dann ermöglichte, die Identifikationsnummer schon vor dem Erwerb des Guthabens durch den Kunden diesem Guthaben zuzuordnen. Dieser Schritt brachte nur dann eine Vereinfachung des Vertriebs mit sich, wenn der Fachmann zugleich eine Lösung für das Problem erkannte, wie die Identifikationsnummer dem Kunden bekannt gegeben werden konnte. Hierfür gab es bei der Chipkarte kein Vorbild, weil sich dieses Problem dort nicht stellt. Es genügte also nicht der Übergang von individuell bestimmten Guthaben auf von vornherein standardisierte Guthabenbeträge, vielmehr erforderte dieser Übergang weitere Schritte, nämlich die vorherige Zuordnung von Guthaben und Identifikationsnummer in der Datenbank und die Bekanntgabe dieser Nummer an den Kunden. Aus dem vorgeschilderten Stand der Technik konnte der Fachmann Anregungen für diese Schritte nicht entnehmen. Kann somit nicht festgestellt werden, dass der Gegenstand des Streitpatents sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergab, so liegt der Nichtigkeitsgrund des Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. a EPÜ nicht vor. Die Nichtigkeitsklage ist daher abzuweisen. Dies gilt auch, soweit die übrigen Patentansprüche von der Nichtigkeitsklage betroffen sind. Diese beschreiben zweckmäßige Ausgestaltungen des Verfahrens nach Patentanspruch 1 und haben mit diesem Bestand.

32
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG in Verbindung mit § 91 ZPO.
Melullis Keukenschrijver Mühlens
Meier-Beck Asendorf
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 01.08.2001 - 4 Ni 60/00 (EU) -

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 65/05 Verkündet am:
8. Dezember 2009
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: nein
einteilige Öse
PatG § 4; EPÜ Art. 56
Das Auffinden einer neuen Lehre zum technischen Handeln kann nicht schon
dann als nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend bewertet werden,
wenn lediglich keine Hinderungsgründe zutage treten, von im Stand der Technik
Bekanntem zum Gegenstand dieser Lehre zu gelangen, sondern diese Wertung
setzt voraus, dass das Bekannte dem Fachmann Anlass oder Anregung
gab, zu der vorgeschlagenen Lehre zu gelangen.
BGH, Urteil vom 8. Dezember 2009 - X ZR 65/05 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 8. Dezember 2009 durch den Vorsitzenden Richter Scharen und die
Richter Asendorf, Gröning, Dr. Berger und Dr. Grabinski

für Recht erkannt:
Die Berufung gegen das am 11. Januar 2005 verkündete Urteil des 1. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 12. August 2000 angemeldeten deutschen Patents 100 39 462 (Streitpatents). Die Streitpatentschrift ist nach Durchführung eines Beschränkungsverfahrens geändert worden. Die danach geltende Fassung des Streitpatents umfasst zwölf Ansprüche, deren erster (ohne Bezugszeichen) wie folgt lautet: "1. Öse zum Verstärken des Randbereichs um ein Loch in einer Trägerbahn, mit einem scheibenlosen Ösenteil, der aus einem auf der Schauseite der Trägerbahn aufliegenden Teller, aus einem das Loch durchsetzenden rohrförmigen Hals und aus einem bogenförmigen Übergang zwischen Teller und Hals besteht , wobei das freie Endstück des Halses mit Vorsprüngen versehen ist, und mit einer auf der Rückseite der Trägerbahn sich abstützenden Bördelung des Halses des Ösenteils, d a - d u r c h g e k e n n z e i c h n e t , dass die Halsvorsprünge in axialer und/oder radialer Richtung verlaufen, dass die vollzogene Umbördelung des Halses sich über mehr als ein geschlossenes Ringprofil erstreckt, weil das die Halsvorsprünge aufweisende Endstück spiralartig im Ringprofil-Inneren integriert ist, dass unter Zwischenschaltung des Lochrandbereichs der Trägerbahn die Halsvorsprünge im Spiralinneren des Ringprofils an vom Teller oder vom Übergang gebildete Widerlagerflächen angedrückt sind und flächige Andruckstellen an der erfassten Trägerbahn erzeugen, gegen die sich die Trägerbahn bei Zugbelastungen stellt, und dass die Trägerbahn sich segmentartig dem Profil anpasst und im RingprofilInneren über die flächigen Andruckstellen hinaus bis zu ihrer Lochkante weiterläuft."
2
Wegen der weiteren Ansprüche wird auf die Streitpatentschrift in der Fassung der C2-Schrift Bezug genommen.
3
Mit ihrer Nichtigkeitsklage hat die Klägerin die Ansprüche 1 bis 9 angegriffen und geltend gemacht, der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents sei nicht neu, beruhe jedenfalls aber, wie auch die angegriffenen Unteransprüche , nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Die Klägerin hat sich dafür unter anderem auf die deutsche Gebrauchsmusterschrift 299 03 124 (D 1) und die amerikanischen Patentschriften 2 107 375 (D 2) und 4 479 287 (D 12) sowie auf offenkundige Vorbenutzung berufen. Wegen der weiteren erstinstanzlich in das Verfahren eingeführten Entgegenhaltungen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
4
Die Klägerin hat beantragt, das Streitpatent im Umfang der Ansprüche 1 bis 9 für nichtig zu erklären; die Beklagte hat es mit der Maßgabe verteidigt, dass im Anspruch 1 die Worte "und/oder radialer" entfallen und die Ansprüche 2 bis 9 sich auf diese geänderte Fassung beziehen, und im Übrigen Klageabweisung beantragt.
5
Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt, soweit es über die noch verteidigte Fassung hinausgeht, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihren erstinstanzlichen Antrag in Bezug auf die verteidigte Fassung des Streitpatents weiterverfolgt.
6
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen, und verteidigt das Streitpatent hilfsweise dahingehend, dass Patentanspruch 1 einleitend lautet (Ergänzung in Fettdruck): "1. Öse zum Verstärken des Randbereichs (21), um ein an sei- nem Umfang ausgeschnittenes oder eingestanztes Loch (22) in einer Trägerbahn …"
7
Im Auftrag des Senats hat Prof. Dr.-Ing. P. G. , Institut für Produktionstechnik und Umformmaschinen der Technischen Universität D. , ein schriftliches Gutachten erstellt, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:


8
Die zulässige Berufung ist in der Sache nicht begründet.
9
I. 1. Das Streitpatent betrifft, soweit für das Nichtigkeitsverfahren von Interesse , eine einteilige Öse zum Verstärken des Randbereichs um ein Loch in einer Trägerbahn. Der Streitpatentschrift zufolge sind im Stand der Technik einund zweiteilige Ösen bekannt. Die in Figur 5 der amerikanischen Patentschrift 2 901 800 (D 5) gezeigte einteilige Öse bestehe aus einem Teller und einem kurzen Hals, an dessen Stirnseite sich in radialem Abstand zueinander sitzende , als Vorsprünge des Halses fungierende Zacken befänden. Bei Vernietung dieses Ösenteils unter Zuhilfenahme eines zusätzlichen hülsenförmigen Nietelements oder in einer Nietpresse würden nur die Zacken und nicht der Hals des Ösenteils gegen den Teller umgebogen, um das zu perforierende Tuchmaterial (Trägerbahn) zu befestigen. Die Festigkeit sei unbefriedigend, weil sie nur durch die vereinzelten Zacken gewährleistet werde, die eine Auszugsbewegung des Blatts am ösenverstärkten Loch nicht verhindern könnten, weil die Zackenspitzen in Richtung einer solchen Auszugsbewegung wiesen. Aus der europäischen Patentanmeldung 673 611 (D 3) sei eine einteilige Öse aus einem Ösenkragen mit Halbkreisprofil und einem Ösenhals mit gleichförmig umlaufendem V-Querschnitt an der Stirn des Ösenhalses bekannt. Beim Bördeln entstehe ein C-Profil, welches nur so weit geschlossen werde, bis die Trägerbahn im verbleibenden Spalt zwischen der Außenkante des Ösenkragens und dem Stirnende des Ösenhalses eingeklemmt sei. Infolge der vorgeschlagenen Geometrie im Inneren des Ösenkragens mit einer zusätzlichen, umlaufenden Ringrippe werde innerhalb des C-Profils nach der Bördelung ein Labyrinth für die Trägerbahn geschaffen. Nach der in der Streitpatentschrift geäußerten Ein- schätzung ist die Ausreißfestigkeit der Trägerbahn bei diesem Vorschlag gleichwohl unzureichend, weil ihre Oberseite lediglich von der Außenkante des Ösenkragens und die Unterseite der Trägerbahn nur vom Stirnende des Ösenhalses berührt würden. Das in der deutschen Gebrauchsmusterschrift 299 03 124 (D 1) gezeigte freie Endstück einer einteiligen Öse werde vom Bördelwerkzeug in einzelne laschenartige Halteelemente zerschnitten und dabei radial nach außen umgelegt. Diese Halteelemente bildeten, nach ihrer Anbringung an der Trägerbahn, im Querschnitt gesehen mit dem Ösenteller ein V-förmiges Faltprodukt, wobei die zwischen den V-Schenkeln eingeklemmte Trägerbahn darin aber nur unzureichend festgehalten werde.
10
2. Dem Streitpatent liegt das Problem zugrunde, eine preiswerte, schnell ansetzbare Öse zu entwickeln, die sich nach ihrer Anbringung an der Trägerbahn durch eine hohe Reißfestigkeit auszeichnet. Dafür wird mit Patentanspruch 1 in der noch verteidigten Fassung eine zum Verstärken des Randbereichs um ein Loch in einer Trägerbahn geeignete Öse vorgeschlagen, 1. aus einem scheibenlosen Ösenteil, bestehend aus 1.1 einem auf der Schauseite der Trägerbahn aufliegenden Teller, 1.2 einem das Loch durchsetzenden rohrförmigen Hals 1.2.1 dessen freies Endstück mit in axialer Richtung verlaufenden Vorsprüngen versehen ist, 1.3 und einem bogenförmigen Übergang zwischen Teller und Hals, 2. wobei sich der gebördelte Hals des Ösenteils in der Weise auf der Rückseite der Trägerbahn abstützt, dass 2.1 die vollzogene Umbördelung des Halses sich über mehr als ein geschlossenes Ringprofil erstreckt, weil das die Halsvorsprünge aufweisende Endstück spiralartig im RingprofilInneren integriert ist, 2.2 die Halsvorsprünge 2.2.1 unter Zwischenschaltung des Lochrandbereiches der Trägerbahn im Spiralinneren des Ringprofils an vom Teller oder vom Übergang gebildeten Widerlagerflächen angedrückt sind und 2.2.2 flächige Andruckstellen an der erfassten Trägerbahn erzeugen, gegen die sich die Trägerbahn bei Zugbelastung stellt, und 2.3 die Trägerbahn 2.3.1 sich segmentartig dem Profil anpasst und 2.3.2 im Ringprofil-Inneren über die flächigen Andruckstellen hinaus bis zu ihrer Lochkante weiterläuft.
11
Die Figuren 1 bis 3 der Zeichnung des Streitpatents zeigen Ansichten einer Ausführungsform:
12
Figur 1 zeigt die Außenseite (Schauseite) einer Trägerbahn mit dem darauf , nach Lochung der Bahn und Einführung eines Ösenteils, aufliegenden Teller (10, 11). Figur 2 zeigt eine Draufsicht auf das gebördelte Ösenteil von der Innenseite der Trägerbahn her. Der rohrförmige Hals erhält durch die Bördelung die Gestalt eines aus dieser Perspektive erkennbaren ringförmigen Rohres (50). Figur 3 stellt einen Schnitt durch die Trägerbahn und die Ösen nach vollzogener Bördelung entlang den Linien III - III in Figur 1 dar.
13
3. a) Soweit das freie Endstück des Halses mit "in axialer Richtung" verlaufenden Vorsprüngen versehen ist (Merkmal 1.2.1), meint die Klägerin, dass dieses Merkmal - wie alle Merkmale des Streitpatents - auf die Öse im umgeformten Zustand zu lesen sei. Eine solche Festlegung ist Patentanspruch 1 indes auch unter Berücksichtigung des Umstands nicht zu entnehmen, dass nach seinem Wortlaut vor der beschränkten Verteidigung des Streitpatents im Nichtigkeitsverfahren wahlweise auch ein radialer Verlauf der Halsvorsprünge vorgeschlagen war. Die kumulative Verwendung der Konjunktionen "und" sowie "oder" in dieser Anspruchsfassung i. V. mit den sonstigen Merkmalen in ihrer Gesamtheit gab dem Fachmann vielmehr lediglich zu verstehen, dass die Ausrichtung der Halsvorsprünge für sich selbst genommen so oder so gewählt werden kann und nicht von entscheidender Bedeutung ist, solange nur die zentralen Anweisungen der Lehre beachtet werden und die Bördelung über mehr als ein geschlossenes Ringprofil vollzogen wird (Merkmal 2.1) und die Vorsprünge im Spiralinneren des Ringprofils an vom Teller oder vom Übergang gebildeten Widerlagerflächen angedrückt werden (Merkmal 2.2.1) und flächige Andruckstellen an der erfassten Trägerbahn erzeugen (Merkmal 2.2.2). Um die erstrebte Ausreißfestigkeit zu erreichen, instruiert das Streitpatent den Fachmann des Weiteren, die Trägerbahn so in die Spiralbildung einzubeziehen, dass bei einer Bördelung um mehr als 360 Grad die aus Figur 3 ersichtliche Sandwichstruktur (Hals - Trägerbahn - Hals) entsteht, bei der das Trägerbahnmaterial im Spiralinneren zudem, zur Lochkante hin, über die Spitzen der Vorsprünge ein Stück vorragt, indem die Trägerbahn im Ringprofil-Inneren über die flächigen Andruckstellen hinaus bis zu ihrer Lochkante weiterläuft (Merkmal 2.3.2) und sich dabei ringsegmentartig dem Ringprofil und den miteingerollten Vorsprüngen anpasst (Beschreibung Sp. 2 Ziff. 57 ff.).
14
b) Die um mehr als einen Vollkreis und zudem nach Maßgabe von Merkmal 2.2.1 ausgeführte Bördelung bewirkt eine Kompression (Dickenreduktion ) des nachgiebigen, in die Spiralbildung einbezogenen Trägerbahnstoffs im gesamten Bereich der Andruckflächen, nicht nur an den Spitzen der Vorsprünge. Die Ausreißfestigkeit gegen die Zugbelastungen, denen die Trägerbahn im bestimmungsgemäßen Gebrauch typischerweise ausgesetzt ist (Pfeile 52 in Figur 1), wird durch die streitpatentgemäße Bördelung in mehrerlei Hinsicht unterstützt : Die Trägerbahn dehnt sich hinter den Vorsprüngen stufenförmig wieder aus (Figur 3 Bezugszeichen 53). Die gestuften Trägerbahnabschnitte stellen sich bei Zugbelastungen gegen die Andruckstellen (Merkmal 2.2.2), wodurch ein Ausreißen des Stoffes erschwert wird. Die Sperrwirkung dieser Stufenbildung wird durch das wellenförmige Profil, das das obere Ende der Hälse durch die Vorsprungsbildung erhält, im Vergleich zu einer glatt abgeschnittenen Ausbildung gesteigert, weil dadurch die Umfangslänge der Stirnseite und dementsprechend die gesamte Länge der umlaufenden Trägerbahnstufe vergrößert wird. Schließlich erzeugt die Bördelung um mehr als 360 Grad einen besonderen Widerstandseffekt gegen Zugbelastungen. Während sich eine kürzer ausgebildete Spirale unter der üblichen Zugbelastung aufdrehen und sich der Druck auf die eingefasste Trägerbahn infolgedessen verringern würde, bewirkt die streitpatentgemäße Weiterführung der Spirale über einen Vollkreis hinaus, dass diese sich nicht ohne weiteres aufdrehen kann, sondern im Bereich der Vorsprünge gegen die Widerlagerflächen gepresst wird und sich flächige Andruckstellen bilden, die unter der Einwirkung der Zugkräfte umso stärker gegen die Trägerbahn drücken, wodurch sich der dem Ausreißen des Trägerbahnstoffes entgegenwirkende Reibungswiderstand erhöht.
15
II. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ist, was die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auch nicht mehr infrage gestellt hat, neu (§ 3 PatG). Der Erwähnung bedürfen insoweit allenfalls die US-Patentschriften 2 107 375 (D 2) und 4 479 287 (D 12); die übrigen Entgegenhaltungen liegen weiter ab vom Streitpatent. Die erstere Schrift offenbart jedenfalls keinen spiralförmig über mehr als einen Vollkreis gebördelten Ösenhals und der Fachmann liest einen solchen - worauf zurückzukommen sein wird - auch nicht gegebenenfalls bei gedachtem dünneren Material, in das die Öse hineingearbeitet wird, mit. Bei der letzteren Veröffentlichung fehlt es jedenfalls an der Offenbarung der Merkmalsgruppe 2.2. Es kann deshalb dahinstehen, ob die Neuheit gegenüber dieser Schrift auch deshalb bejaht werden müsste, weil sie zudem kein ausgestanztes bzw. ausgeschnittenes Loch offenbart. Vielmehr wird die Trägerbahn an den Stellen, an denen Ösen platziert werden sollen, geschlitzt, wobei durchschnittlich bis zu zehn Schnitte gesetzt werden sollen (Übers. S. 7 mittlerer Abs.), so dass tortenstückähnliche Zungen entstehen, die mit dem Einführen des Ösenhalses durch die so entstandene Öffnung zum Teller hin umgebogen werden.
16
III. Nach dem gesamten Inhalt der Verhandlungen (§ 286 ZPO) vermag der Senat nicht die Wertung zu treffen, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 dem Fachmann, der über eine abgeschlossene Techniker- oder Fachhochschulausbildung im Maschinenbau und mehrjährige Berufserfahrung auf dem Gebiet der Herstellung von Ösen und dazu gehörigen Werkzeugen verfügt, durch den Stand der Technik nahegelegt war.
17
1. Die US-Patentschrift 2 107 375 (D 2) zeigt zwar eine wellenförmige Struktur des Ösenhalsendes, das eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit der mit Vorsprüngen versehenen Stirnseite einer streitpatentgemäßen Gestaltung aufweist. Die - auf Schuhleder oder Textilien als Werkstoff (Trägerbahn) bezogene - Schrift lehrt die Festklammerung einer Trägerbahn im Wege des Rollnietens in der Weise, dass sich der gestauchte und genietete Hals mit seinem oberen Rand mehr oder weniger senkrecht in den Werkstoff eingräbt, und zwar mit den Spitzen der Vorsprünge naturgemäß tiefer als mit den "Wellentälern". Die Schrift gibt aus fachmännischer Sicht aber keinen Anlass zur Ausführung einer Bördelung in der vom Streitpatent vorgeschlagenen Weise, bei der sich die Vorsprünge gegen Widerlagerflächen abstützen, um der Gefahr des Ausreißens der Trägerbahn besonders wirkungsvoll zu begegnen (vgl. oben I 3 b). Figur 3 der Zeichnung zeigt eine Öse, die durch Rollnieten um mehr oder weniger 180 Grad umgebogen ist, so dass das Halsende sich annähernd senkrecht in den Werkstoff gräbt. Dies ist das Maß an Umformung, das die Entgegenhaltung als das übliche ansieht (Seite 2 re. Spalte Zeile 32 ff. = Übersetzung Seite 8 untere Hälfte). Zu einer spiralförmigen Ausführung einer Bördelung um mehr als einen Vollkreis in der Weise, dass die Halsvorsprünge an Widerlagerflächen angedrückt werden, gibt die Entgegenhaltung dem Fachmann auch dann keinen Anlass , wenn es darum geht, bei standardisiert vorgegebenen Halslängen mit der Einsetzkraft zur Anbringung von Ösen in dünnere Werkstoffe als den in der Zeichnung gezeigten zu experimentieren. Zwar wird in der Beschreibung angemerkt , dass eine etwas weiter vorangetriebene Bördelung in Richtung auf einen Kreis hin möglich ist (Seite 2 re. Spalte Zeile 46 ff. = Übersetzung Seite 8 untere Hälfte). Wie die Erörterung mit dem Sachverständigen aber zur Überzeugung des Senats ergeben hat, erhält der Fachmann durch diesen Hinweis keinen Anstoß zur Ausführung einer so weitgehenden Bördelung, wie sie nach Merkmalsgruppe 2 des Streitpatents erforderlich ist. Das hängt damit zusammen , dass das wellenförmige Stirnprofil der Halsenden von nach dieser Entgegenhaltung produzierten Ringösen durch Einsatz eines in der Schrift gezeigten (Figuren 5 und 6) und beschriebenen Einkerbwerkzeugs im Wege der Kaltverformung erzeugt wird und die Halsenden dadurch eine spezifische Festigkeit erhalten, die der weiteren Verformung entgegensteht. Eine streitpatentgemäße Spiralbildung würde aber eine radiale Verkleinerung der Halsenden mit sich bringen, der sich das Material, wie der Fachmann aufgrund seiner Materialkundigkeit sofort erkennt, aufgrund der bereits eingetretenen Verfestigung widersetzt. Er wird deshalb bei der in der Entgegenhaltung erörterten zusätzlichen Bördelung allenfalls geringfügig weiter gehen, als in deren Figur 3 illustriert, um nicht die Gefahr der - in der Schrift auch angesprochenen - Materialspaltung heraufzubeschwören. Eine weitere gefahrlose Umformung wäre technisch nur unter Hitzeeinfluss möglich und scheidet aus fachmännischer Sicht wegen des damit verbundenen Kostenaufwands aus. Dementsprechend ist die Einschätzung der Klägerin, die der US-Patentschrift 2 107 375 zu entnehmenden Vorschläge hinderten den Fachmann nicht daran, die streitpatentgemäße Lösung auszuführen, schon vom Offenbarungsgehalt der Schrift her nicht gerechtfertigt. Zudem kann das Auffinden einer neuen Lehre zum technischen Handeln nicht schon dann als nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend bewertet werden , wenn lediglich keine Hinderungsgründe zutage treten, von im Stand der Technik Bekanntem zum Gegenstand dieser Lehre zu gelangen, sondern diese Wertung setzt voraus, dass das Bekannte dem Fachmann Anlass oder Anregung gab, zu der vorgeschlagenen Lehre zu gelangen.
18
2. Eine Anregung für die Auffindung der Lehre von Patentanspruch 1 ist auch der US-Patentschrift 4 479 287 (D 12) nicht zu entnehmen. Sie erstrebt eine höhere Ausreißfestigkeit durch Verstärkung des Randbereichs in der Weise , dass die für die Ösen bestimmten Öffnungen in der Trägerbahn nicht durch Herausstanzen oder -schneiden erzeugt, sondern dass durch Schlitzen des Materials umzuklappende Zungen hergestellt werden, wodurch im Umschlagbereich Wülste bzw. Rollen aus Trägerbahnmaterial entstehen, die für einen erhöhten Widerstand gegen Ausreißen der Bahn sorgen sollen. Die bei Bördelung nach diesem Vorschlag entstehende Spirale des Ösenhalses zeichnet sich, anders als die streitpatentgemäße Lösung, nicht dadurch aus, dass der gebördelte Hals sich gegen Ösenteller oder -hals abstützt und einem Ausreißen der Trägerbahn gerade auch dadurch besonders entgegengewirkt wird, sondern eine in der in dieser Entgegenhaltung gezeigten Weise gebördelte Spirale dreht sich bei entsprechenden Belastungen, wie die Erörterung mit dem Sachverständigen ergeben hat, auf und kann der Ausreißgefahr somit nicht auf die für das Streitpatent typische Weise entgegenwirken. Die Klägerin hat sich in der mündlichen Verhandlung auf diese Entgegenhaltung auch nicht mehr gestützt.
19
3. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 war dem Fachmann auch nicht durch die von der Klägerin vorgetragene offenkundige Vorbenutzung nahegelegt. Nach ihrem Vorbringen soll der als Zeuge benannte Geschäftsführer der H. GmbH & Co. KG, B. im , Jahre 1999 festgestellt haben, dass das italienische Unternehmen L. Containerplanen anbot, bei denen Ösen ohne Kragenscheibe in die Plane eingesetzt worden waren. Dem Zeugen sei seinerzeit aufgefallen, dass das gebördelte Halsende auf der Rückseite der Planen anders ausgesehen habe als bei mit Kragenscheiben versehenen Ösen, wo das Halsende gleichsam auf Stoß an die Kragenscheibe heranreicht (Anl. BK 13 zum Schriftsatz v. 26.10.2009, obere Bil- der). Im Unterschied zu der Bördelung zweiteiliger Ösen sei bei den einteiligen die freie Stirnkante des Halsendes von außen nicht sichtbar, sondern zwischen der Außenseite des gebördelten Ösenhalses und der Trägerbahn ein ansonsten nicht vorhandener Zwickel ausgebildet gewesen.
20
Mit diesem Vorbringen ist eine offenkundige, die erfinderische Tätigkeit im Streitfall infrage stellende Vorbenutzung - Neuheitsschädlichkeit kommt schon mangels Behauptung einer dem Merkmal 1.2.1 entsprechenden Ausgestaltung des Halsendes nicht in Betracht - nicht dargetan. In das Wissen des Zeugen ist nicht mehr gestellt, als die Sicht auf eine Trägerbahn mit gebördelter (einteiliger) Öse, bei der nicht ein am Ösenteller anstoßendes Halsende sichtbar ist, sondern ein umlaufender Zwickel. Diesen mag der Fachmann noch mit einer weitergehenden Krümmung des Halses in Zusammenhang bringen. Das ist aber bereits weder für sich allein noch in der Zusammenschau mit der USPatentschrift 2 107 375 geeignet, den Fachmann zu der weitgehenden Bördelung nach Maßgabe der Merkmalsgruppe 2 anzuregen. Die vom Streitpatent vollzogenen Schritte, die Bördelung über mehr als ein geschlossenes Ringprofil spiralförmig so auszuführen, dass der obere Halsbereich an vom Teller oder Übergang gebildeten Widerlagerflächen angedrückt wird und die Halsenden zudem mit Vorsprüngen zu versehen, werden einem durchschnittlichen Fachvertreter auch sonst nicht durch die bloße Sicht auf besagten Zwickel nahegelegt.
21
4. Die Unteransprüche 2 bis 8 haben im unmittelbaren oder mittelbaren Rückbezug auf Patentanspruch 1 in der vor dem Patentgericht verteidigten Fassung Bestand.
22
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V. mit § 97 Abs. 1 ZPO.
Scharen Richteram Bundesgerichts- Gröning hof Asendorf ist in Ruhestand getreten und kann deshalb nicht unterschreiben. Scharen
Berger RichteramBundesgerichtshof Dr. Grabinski kann urlaubsbedingt nicht unterschreiben. Scharen
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 11.01.2005 - 1 Ni 6/04 -

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 273/02 Verkündet am:
15. Mai 2007
Potsch
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Papiermaschinengewebe
EPÜ Art. 56; PatG § 4
Ein nach Maßgabe von "Teilaufgaben" in einzelne Merkmalsgruppen aufgesplitterter
Gegenstand der Erfindung kann nicht in der Weise der Prüfung auf
erfinderische Tätigkeit zugrunde gelegt werden, dass einzelne Merkmale oder
Merkmalsgruppen daraufhin untersucht werden, ob sie dem Fachmann durch
den Stand der Technik je für sich nahegelegt waren. Der Prüfung der Rechtsfrage
, ob der Gegenstand der Erfindung am Prioritätstag des Streitpatents
durch den Stand der Technik nahegelegt war, ist vielmehr der Gegenstand der
Erfindung in der Gesamtheit seiner Lösungsmerkmale in ihrem technischen
Zusammenhang zugrunde zu legen.
BGH, Urt. v. 15. Mai 2007 - X ZR 273/02 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 15. Mai 2007 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den
Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die Richter Prof. Dr. MeierBeck
und Asendorf

für Recht erkannt:
Auf die Berufungen der Beklagten werden das am 9. Juli 2002 verkündete sowie das der Beklagten am 27. November 2003 zugestellte Urteil des 1. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wie folgt abgeändert: Die Klagen werden mit der Maßgabe abgewiesen, dass in Patentanspruch 1 des europäischen Patents 0 532 510 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland die Worte "An industrial fabric" durch die Worte "A papermaker's fabric" ersetzt werden und sich die Patentansprüche 3, 5, 10, 12, 13 und 14 auf den so geänderten Patentanspruch 1 rückbeziehen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Beklagte, die nunmehr als A. PGmbH firmiert, ist eingetragene Inhaberin des deutschen Teils des am 15. März 1991 angemeldeten und mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 532 510 (Streitpatent), für das die Prioritäten dreier Patentanmeldungen in den Vereinigten Staaten von Amerika vom 6. Juni 1990, 15. August 1990 und 14. Februar 1991 beansprucht sind. Das Streitpatent trägt die Bezeichnung "Papermakers fabric with flat machine direction yarns" und umfasst siebenunddreißig Patentansprüche. Mit den Nichtigkeitsklagen hat die Klägerin die Patentansprüche 1, 3, 5, 10, 12, 23, 24, 26, 34 und 36 sowie 13 und 14 angegriffen. Diese Patentansprüche lauten: 1. An industrial fabric comprising a system of CMD yarns and a system of flat monofilament MD yarns interwoven with said CMD yarns in a selected repeat pattern characterised in that: said MD yarns having paired upper and lower yarns stacked in vertical alignment; and the actual warp fill of at least said upper MD yarns is in the range of 80% - 125%.
3. A fabric according to claim 1 wherein said upper MD yarns are interwoven with floats over a selected number of said CMD yarns such that the upper surface of the fabric is predominated by said upper MD yarn floats.
5. A fabric according to claim 3 wherein said lower MD yarns are interwoven with said CMD yarns in an inverted image of the repeat of said upper MD yarns whereby the bottom surface of the fabric is also predominated by floats of said MD yarns.

10. A fabric according to claim 1 wherein the actual warp fill of said lower MD yarns is also in the range of 80% - 125%.
12. A fabric according to claim 1 wherein said fabric consists essentially of all monofilament yarns.
23. A papermaker's fabric comprising a single layer system of CMD yarns and a system of flat monofilament MD yarns interwoven with said CMD yarns in a selected repeat pattern characterized in that: said MD yarns have paired upper and lower yarns stacked in vertical alignment; and the actual warp fill of at least said upper MD yarns is in the range of 80% - 125%.
24. A papermaker's fabric according to claim 23 wherein said upper MD yarns are interwoven with floats over a selected number of said CMD yarns such that the upper surface of the fabric is predominated by said upper MD yarn floats.
26. A papermaker's fabric according to claim 24 wherein said lower MD yarns are interwoven with said CMD yarns in an inverted image of the repeat of said upper MD yarns whereby the bottom surface of the fabric is also predominated by floats of said MD yarns.
34. A papermaker's fabric according to claim 23 wherein the actual warp fill of said lower MD yarns is also in the range of 80% - 125%.
36. A papermaker's fabric according to claim 23 wherein said fabric consists essentially of all monofilament yarns.
2
Die Patentansprüche 13 und 14 lauten: 13. A fabric according to claim 1 wherein said system of CMD yarns includes at least upper and lower layers of CMD yarns.
14. A fabric according to claim 13 wherein said upper MD yarns are interwoven with floats over a selected number of said upper layer CMD yarns such that the upper surface of the fabric is predominated by said upper MD yarn floats.
3
Die Klägerin hat geltend gemacht, die Gegenstände der angegriffenen Patentansprüche seien nicht patentfähig. Hierzu hat sie sich auf die USPatentschriften 4 290 209 (D1) und 4 621 663 (D3) sowie auf die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 0 211 426 (D2) bezogen.
4
Die Klägerin hat beantragt, das europäische Patent 0 532 510 im Umfang der Patentansprüche 1, 3, 5, 10, 12, 23, 24, 26, 34 und 36 sowie 13 und 14 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
5
Die Beklagte hat beantragt, die Klagen abzuweisen.
6
Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent mit Urteil vom 9. Juli 2001 (BPatGE 46, 127) im Umfang seiner Patentansprüche 1, 3, 5, 10, 12, 23, 24, 26, 34 und 36 und mit dem der Beklagten am 27. November 2003 zugestellten Urteil im Umfang seiner Patentansprüche 13 und 14 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
7
Hiergegen richten sich die zur einheitlichen Entscheidung verbundenen Berufungen der Beklagten, mit denen sie zunächst die Abänderung der angefochtenen Urteile und die Abweisung der Nichtigkeitsklagen begehrt hat. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte Patentanspruch 1 nur noch mit der Maßgabe verteidigt, dass in Patentanspruch 1 des europäischen Patents 0 532 510 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland die Worte "An industrial fabric" durch die Worte "A papermaker's fabric" ersetzt werden und sich die Patentansprüche 3, 5, 10, 12, 13 und 14 auf den so geänderten Patentanspruch 1 rückbeziehen. Hilfsweise verteidigt sie das Streitpatent in einer weiter beschränkten Fassung der Patentansprüche 1 und 23, wobei sich die angegriffenen weiteren Patentansprüche auf die Fassung des Hilfsantrags rückbeziehen sollen.
8
Die Klägerin verteidigt die angefochtenen Urteile.
9
Der Senat hat ein Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr.-Ing. H. P. vom 6. März 2006 eingeholt, das der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat. Die Beklagte hat ein Privatgutachten von Prof. Dr. E. J. und Prof. J. M. vom 25. Oktober 2006 zu den Akten gereicht.

Entscheidungsgründe:


10
Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, dass mit dem Hauptantrag der Berufung Patentanspruch 1 des Streitpatents nur noch in der Weise beschränkt verteidigt wird, dass "A papermaker’s fabric" (Papiermaschinengewebe) beansprucht ist. Mit dieser eindeutig und vorbehaltslos erfolgten Erklärung hat sie ihre Berufungen teilweise zurückgenommen (§ 516 Abs. 1 ZPO; vgl. Sen.Urt. v. 17.2.2004 - X ZR 48/00 - Tintenstandsdetektor ; Rogge in Benkard, PatG u. GebrMG, 10. Aufl., vor §§ 110 - 121 PatG Rdn. 8; Keukenschrijver in Busse, PatG, 6. Aufl., vor § 110 PatG Rdn. 6). Nur in diesem auf zulässige Weise noch verteidigten Umfang ist das Streitpatent Gegenstand des Berufungsverfahrens. Insoweit haben die in zulässiger Weise eingelegten Rechtsmittel Erfolg. Die Beweisaufnahme hat nicht ergeben, dass die Gegenstände nach den Patentansprüchen 1 in seiner noch verteidigten Fassung und nach Patentanspruch 23 nicht patentfähig wären, so dass die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe nicht vorliegen (Art. 138 Abs. 1 Buchst. a, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 52, 54, 56 EPÜ).
11
I. 1. Das Streitpatent betrifft in den mit den Nichtigkeitsklagen angegriffenen und zuletzt noch beschränkt verteidigten Patentansprüchen ein Papiermaschinengewebe (papermaker’s fabric) mit CMD-Fäden (Cross-MachineDirection -Fäden, nachfolgend Schussfäden) und MD-Fäden (Machine-Direction -Fäden, nachfolgend Kettfäden), das flache, monofile (einfädige) Fäden aufweist. Mit derartigen Geweben werden kontinuierliche Papierbahnen durch die Papiermaschine hindurchtransportiert, insbesondere durch deren Trocknungstrommeln. Bei ihnen kommt es, wie der gerichtliche Sachverständige in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung mit den Parteien erläutert hat, maßgeblich zum einen auf eine möglichst glatte Oberfläche in dem Bereich an, in dem die Papiermasse auf dem Gewebe aufliegt; nur so lässt sich die ge- wünschte glatte Oberfläche des Papiers erzeugen. Zum anderen muss das Gewebe in einem der jeweiligen Maschine zur Papierherstellung angepassten Umfang dampfdurchlässig sein, um den Trocknungsvorgang gezielt beeinflussen zu können. Dazu gibt die Beschreibung des Streitpatents an, bei der Herstellung von Papiermaschinengeweben spiele die Durchlässigkeit des Gewebes eine wichtige Rolle, weil die Gewebe dazu bestimmt seien, mit hohen Geschwindigkeiten in modernen Trocknungsanlagen umzulaufen, wobei es wünschenswert sei, Trocknungsgewebe mit einer relativ niedrigen Durchlässigkeit zu haben (Beschreibung Spalte 1, Zeilen 36 bis 41).
12
Derartige Gewebe waren als solche an den Prioritätstagen des Streitpatents bekannt. Die Beschreibung des Streitpatents verweist insoweit etwa auf die US-Patentschrift 4 438 788, aus der ein Gewebe mit drei Lagen von Schussfäden bekannt sei, die mit einem System von flachen, einfädigen Kettfäden so verwebt seien, dass sowohl auf der oberen als auch auf der unteren Seite des Gewebes Schleifen zur Erzielung einer glatten Oberfläche entstünden (Beschreibung Spalte 1, Zeilen 28 bis 35), ferner auf die US-Patentschrift 4 290 209, die ein Gewebe offenbare, das aus flachen, einfädigen Kettfäden gewebt sei (Beschreibung Spalte 1, Zeilen 20 bis 23), wobei die Kettfäden nahe beieinander verwebt würden, um ein Gewebe mit verminderter Durchlässigkeit zu bilden (Beschreibung Spalte 1, Zeilen 42 bis 45). An letzterem wird kritisiert, dass zusätzliche Mittel wie Auffüllfäden nötig seien, um die Durchlässigkeit des Gewebes zu vermindern, was zu vermeiden sei (Beschreibung Spalte 1, Zeilen 45 bis 52).
13
Die Erfindung ist der Beschreibung zufolge darauf gerichtet, ein Papiermaschinengewebe anzugeben, dessen Durchlässigkeit gering ist, mit gewebten , flachen Kettfäden gesteuert wird, und insgesamt aus Monofilamenten unter Verzicht auf Füllfäden hergestellt ist und bei dem kein Teil der Festigkeit oder Stabilität geopfert wird (Beschreibung Spalte 4, Zeilen 14 bis 20).

14
2. Dies soll nach Patentanspruch 1 in der zuletzt verteidigten Fassung durch ein Papiermaschinengewebe erreicht werden, das wie folgt ausgebildet ist: 1. Das Papiermaschinengewebe besteht aus einem System von Schussfäden (system of CMD yarns) und einem System von flachen, einfädigen Kettfäden (system of flat monofilament MD yarns), bei dem 2. die Schuss- und die Kettfäden in einem ausgewählten sich wiederholenden Muster verwoben sind.
3. Die Kettfäden haben paarweise obere und untere Fäden, die in vertikaler Ausrichtung geschichtet (gestapelt) sind (said MD yarns having paired upper an lower yarns stacked in vertical alignment).
4. Die tatsächliche Kettfüllung (actual warp file) wenigstens der oberen Kettfäden liegt im Bereich zwischen 80 und 125%.
15
In der Beschreibung des Streitpatents wird darauf hingewiesen, dass wenigstens die oberen Kettfäden flache, monofile Fäden sind, die dicht beieinander gewebt werden, um die Durchlässigkeit des Gewebes zu vermindern und um die in Maschinenrichtung weisende Ausrichtung aufeinander liegender Paare von Kettfäden festzulegen (Beschreibung Spalte 3, Zeilen 24 bis 28; deutsche Übersetzung Seite 5, 3. Abs.). Das gestapelte, eng verwobene Kettfädensystem bietet Stabilität und macht ein relativ hohes Maßverhältnis (Querschnittsbreite zu Höhe) möglich, das auch größer als 3:1 sein kann (Beschreibung Spalte 3, Zeilen 33 bis 36). Wie die Schichtung der paarweise verwobe- nen Kettfäden erfolgen kann, wird in der Beschreibung anhand der nachstehend wiedergegebenen Fig. 2 und 3a erläutert. Danach bedeutet die paarweise vertikale Ausrichtung der Kettfäden nach Merkmal 3, dass beim Webvorgang zwei übereinander liegende Kettfäden Verwendung finden, die in dem fertigen Gewebe, wie die Abbildung zu den Bezugszeichen 15, 17 und 19 sowie 14, 16 und 18 erkennen lässt, in der Senkrechten - gegebenenfalls getrennt durch die Schussfäden - übereinander liegen , indem die unteren MD-Fäden (15, 17 und 19) jeweils direkt unter den oberen MD-Fäden (14, 16 und 18) zu liegen kommen (in a vertically stacked realtionship ; Beschreibung Spalte 6, Zeilen 8 bis 11).
16
Wie die Erörterung mit den Parteien und dem gerichtlichen Sachverständigen ergeben hat, ist in dem Ausführungsbeispiel der Erfindung nach Fig. 1 des Streitpatents ein Gewebe mit zwei übereinander angeordneten Schussfäden und einem nachfolgenden dritten Schussfaden dargestellt, bei dem die im Prioritätszeitpunkt in der Webtechnik geläufige Köper-Bindung mit Unterkettverstärkung verwendet worden ist. Bei dieser wird der Kettfaden nicht um jeden Schussfaden, sondern um zwei nebeneinander liegende Schussfäden herumgeführt, wobei dies jeweils versetzt geschieht, so dass der erste Kettfaden etwa über dem ersten und zweiten sowie unter dem dritten Schussfaden , der zweite Kettfaden über dem ersten, unter dem zweiten sowie über dem dritten und vierten Schussfaden, der dritte Kettfaden unter dem ersten, über dem zweiten sowie über dem dritten und vierten Schussfaden liegt. Auf diese Weise werden jeweils mehrere Schussfäden von den Kettfäden abgedeckt , wodurch die Oberfläche des Gewebes glatter wird. Dem entspricht die Darstellung in den Schnitten der Fig. 2 und 3a, nach denen die vertikale Schichtung (vertically stacked relationship) der Kettfäden bei der Wahl einer Köperbindung bedeutet, dass die Kettfäden jedes Kettfadenpaares im Gewebe übereinander angeordnet so verwoben werden, dass sie den einen Schussfaden oder die mehreren Schussfäden übereinander liegend (Fig. 2 und Fig. 3a) umgreifen. Eine solche Lage tritt, wie der gerichtliche Sachverständige bestätigt hat, zwangsläufig ein, wenn mehrere übereinander angeordnete Kettfäden im Wege der Köper-Bindung miteinander verbunden werden. Um derartige Kettfadenpaare nach Art des in den Fig. 6 bis 8 des Streitpatents dargestellten einlagigen Gewebes zu verbinden, standen im Prioritätszeitpunkt ebenfalls Webtechniken , wie die Atlasbindung, zur Verfügung.
17
Die Angabe, dass die tatsächliche Kettfüllung wenigstens der oberen Kettfäden im Bereich zwischen 80 und 125% liegen soll, wird in der Beschreibung mit einem Hinweis auf die US-Patentschrift 4 290 209 und die dort beschriebene Webart erläutert, bei der die tatsächliche Kettfüllung zwischen diesen Werten schwanken kann und dennoch als hundertprozentige Kettfüllung behandelt wird (Beschreibung Spalte 6, Zeilen 32 bis 41; deutsche Übersetzung Seite 11, 3. Abs.). Von dieser Art der Kettfüllung geht damit auch das Streitpatent aus. Als Vorteil einer solchen Gestaltung wird angegeben, das Gewebe mit einer so gestapelten Kettfüllung (mit beim Weben übereinander angeordneten Kettfäden) führe zu einer wesentlich höheren Füllung als bei Geweben , die zwar den gleichen Höchstsatz von 125% aufwiesen, bei denen aber lediglich einzelne, nicht aufeinander gestapelte Kettfäden verwebt würden (Beschreibung Spalte 8, Zeile 44 bis Spalte 9, Zeile 6; deutsche Übersetzung Seite 15, 4. Abs.).
18
Ein bestimmtes Maß der Durchlässigkeit des fertigen Gewebes ist nicht Gegenstand der Lehre nach Patentanspruch 1. Das folgt auch daraus, dass die Durchlässigkeit des Gewebes nach dem Streitpatent durch die Anordnung der Kettfäden gesteuert werden soll, was nicht nur eine möglichst geringe Durchlässigkeit umfasst, sondern - je nach Einsatzzweck - auch eine größere als die mögliche geringste Durchlässigkeit. Die Lehre des Streitpatents ermöglicht es daher infolge der Verwendung flacher Monofilamente und durch Auswahl einer geeigneten Bindungsart, etwa durch Verwendung einer mehrere Schussfäden übergreifenden Köper- oder Atlasbindung, einerseits eine glatte Oberfläche des Gewebes zu erzeugen. Andererseits kann über das Nebeneinanderliegen flacher Monofilamente auch dicht gewebt werden, so dass bei dem schnellen Lauf des Gewebes in einer modernen Papiermaschine vom Gewebe wenig Luft mitgenommen wird, was einem Flattern der Papierbahn entgegenwirkt. Ferner können über das Verweben paarweise vertikal übereinander geschichteter Kettfäden gezielte Räume zum Durchtritt von Gasen, insbesondere Wasserdampf, vorgesehen werden, wodurch der Dampfdurchtritt durch das Gewebe gesteuert werden kann, etwa indem Räume nach Art einer Labyrinthdichtung entstehen. Ferner kann durch die Verwendung paarweise geschichteter oder gestapelter flacher Kettfäden die Stabilität des Gewebes gestärkt werden. Schließlich kann durch die Verwendung einer mehrere Schussfäden übergreifenden Bindung nur auf der Papierseite, nicht aber auch auf der Maschinenseite des Gewebes, erreicht werden, dass das Gewebe auf der Maschinenseite elastisch bleibt und sich um die Trocknungstrommel legen kann, ohne auf der Maschinenseite gestaucht zu werden. Mit Hilfe der patentgemäßen Lehre kann somit jedes Gewebe erzeugt werden, das nach Maßgabe des herzustellenden Papiers die jeweils für den vorgesehenen Einsatzzweck erforderliche Permeabilität aufweist. Erreicht wird dies durch ein Zusammenwirken der einzelnen Merkmale des Streitpatents nach Patentanspruch 1, die damit in einer Wechselwirkung miteinander stehen, die ein gezieltes Ausrichten auf die gewünschte Durchlässig- keit des Gewebes unter Stärkung seiner Stabilität bei glatter Oberfläche des Gewebes auf der Papierseite erlaubt.
19
II. Der Gegenstand nach Patentanspruch 1 ist neu (Art. 54 EPÜ), da er, wie die Erörterung mit dem gerichtlichen Sachverständigen ergeben hat und wovon die angefochtenen Urteile und auch die Parteien ausgehen, in der Gesamtheit seiner Merkmale im Stand der Technik nicht vorweggenommen ist. Er ist auch im Übrigen patentfähig, da nicht festgestellt werden kann, dass er durch den Stand der Technik nahegelegt war (Art. 56 EPÜ).
20
1. Wie der gerichtliche Sachverständige zur Überzeugung des Senats ausgeführt hat, werden Papiermaschinengewebe typischerweise in mittelständigen Unternehmen hergestellt, die in der Regel keine Entwicklungsabteilungen unterhalten. Zwar sind solche Gewebe in der Regel teure Spezialprodukte, die in Papiermaschinen in der Regel mit 300 bis 400 Umdrehungen pro Minute umlaufen , daher einer hohen Belastung ausgesetzt sind und demzufolge entsprechend belastbar ausgelegt sein müssen. Typischerweise sind mit der Entwicklung derartiger Gewebe aber Weber und Webtechniker befasst, die eine Ausbildung zum Meister durchlaufen haben und über langjährige Berufserfahrung in der Herstellung von Papiermaschinengeweben und Filtergeweben verfügen. Diese Fachleute kommen aus der Webtechnik, kennen die verschiedenen Bindungsarten von Geweben und verfügen darüber hinaus über spezielle Erfahrungen mit Maschinen zum Weben von Papiermaschinen- und Filtergeweben, wobei es sich bei den hierfür erforderlichen Maschinen um gegenüber Webmaschinen zum Weben von Stoffen wesentlich komplexere Maschinen handelt. Vor allem auf Erfahrungen in der Webtechnik und im Umgang mit derartigen Maschinen und deren Ausbildung in der Praxis beruhen Weiterentwicklungen bei Papiermaschinengeweben. Auch akademisch ausgebildete Fachleute müssen solche Erfahrungen vor der Befassung mit Weiterentwicklungen der hier fraglichen Art sammeln. Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist da- her in erster Linie von diesen, nicht im Wege einer akademischen Ausbildung an einer Hochschule oder Fachhochschule erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen auszugehen. Die auf diesem Spezialgebiet tätigen Fachleute sind, was der gerichtliche Sachverständige auf Nachfrage näher erläutert hat, typischerweise nicht akademisch ausgebildet.
21
2. Zu den Kenntnissen und Fähigkeiten, von deren Vorhandensein danach im Prioritätszeitpunkt auszugehen ist, gehörte die Erkenntnis, dass für die Papierherstellung mit hohen Geschwindigkeiten Trocknungsgewebe mit niedriger Durchlässigkeit erforderlich sind.
22
a) Einen Hinweis, wie ein solches Gewebe ausgebildet werden kann, gab die US-Patentschrift 4 290 209, die ein Mehrlagentrocknungsgewebe beschreibt , bei dem in Laufrichtung des Gewebes flache Kettfäden mit Schussfäden verwoben werden. Die Schrift offenbart, die einzelnen Kettfäden nebeneinander so anzuordnen, dass sie horizontal versetzt liegen und an ihren vertikalen Berührungsstellen aneinander liegen; bei dieser Anordnung entsteht ein vergleichsweise dichtes Gewebe mit reduzierter Durchlässigkeit für Gase. Insoweit weit die US-Patentschrift ausdrücklich darauf hin, dass die Reduzierung des Abstandes zwischen den einen Schussfaden umgreifenden abgeflachten Kettfäden eine Verringerung der Zwischenräume im Gewebe an den Stellen, an denen die Kettfäden die Schussfäden umgreifen, und damit eine Reduktion der Durchlässigkeit des Gewebes bewirkt (US-Patentschrift 4 290 209, Spalte 9 Zeilen 31 bis 40; deutsche Übersetzung Seite 16, Zeilen 7 bis 13; Fig. 4, 4A und 4B). Die Dichte des Gewebes wird hierbei allein durch den Abstand einlagiger Kettfäden erzeugt. Das Verweben von Kettfadenpaaren wird nicht erwähnt. Über Maßnahmen zur Verbesserung der Festigkeit des Gewebes nachzudenken , gab diese Schrift ebenfalls keinen Anlass. Falls bei der Verwendung der Lehre aus dieser Schrift Probleme bei der Festigkeit aufgetreten wären, hätte das, wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, zudem allenfalls Anlass gegeben, die Materialeigenschaften des Gewebes und der zu seiner Erzeugung verwendeten Kett- und Schussfäden zu überprüfen.
23
Anhaltspunkte, die die Annahme rechtfertigen könnten, von einem Entwickler mit der oben angegebenen Qualifikation wäre am Prioritätstag des Streitpatents eine Webart mit oberen und unteren Kettfäden in Betracht gezogen worden, um auf diese Weise die Durchlässigkeit des Gewebes durch die Kettfäden innerhalb des Gewebes zu steuern, sind auch in den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen nicht zutage getreten. Allein der Umstand, dass insoweit nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen von der Kenntnis der Webart mit Kettfadenpaaren auszugehen ist, rechtfertigt nicht die Annahme, das schließe ohne weitere Anregungen und insbesondere ohne Kenntnis von der Lehre des Streitpatents den Schritt zur Verwendung einer solchen , an sich bekannten Webart zur Steuerung der Durchlässigkeit eines Papiermaschinengewebes ein. Eine Anregung, Kettfäden paarweise geschichtet zu verweben, um über die Schichtung der Kettfäden die Räume im Gewebe so zu bemessen, dass eine bestimmte Durchlässigkeit des Gewebes erreicht wird, lässt sich der US-Patentschrift 4 290 209 auch vor diesem Hintergrund nicht entnehmen.
24
b) Eine weitergehende Information findet sich auch nicht in der USPatentschrift 4 621 663. Diese zeigt ein Papiermaschinengewebe, das papierseitig mit einer Bespannung versehen ist, um die für die Papierherstellung gewünschte glatte Oberfläche zu erzeugen. Die Bespannung kann aus jedem beliebigen Material sein. Es wird als vorteilhaft bezeichnet, die Breite der Längsstreifen der Bespannung so zu wählen, dass sie ebenso breit sind wie die Gesamtdicke zweier nebeneinander liegender Kettfäden einschließlich deren Zwischenraums (US-Patentschrift 4 621 663, Spalte 2 Zeilen 35 bis 40; deutsche Übersetzung Seite 2, letzter Abs.). Ein Hinweis auf die Verwendung vertikal geschichteter Kettfadenpaare zur Steuerung der Durchlässigkeit des Gewebes ergibt sich aus dieser Schrift jedoch ebenso wenig wie aus der britischen Patentschrift 17 620.
25
c) Die Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 0 211 426 betrifft ein Papiermaschinengewebe, das bestimmungsgemäß eine hohe Durchlässigkeit für Gase, zu denen bei der Papierherstellung insbesondere Wasserdampf zählt, besitzen soll. Zu diesem Zweck schlägt die Schrift ein Gewebe mit großen Öffnungen vor. Um das damit verbundene Stabilitätsproblem zu lösen, sollen vertikal zueinander ausgerichtete Kettfäden, bei denen es sich auch um flache Fäden handeln kann (Beschreibung Spalte 5, Zeilen 24 bis 29) mit stabilisierenden Schussfäden (Spalte 4, Zeilen 5 bis 10) in der Weise verwoben werden, dass das Kettfadenpaar die Schussfäden teils über- und teils untergreift, so dass der Schussfaden durch das vertikal fluchtend angeordnete Kettfadenpaar hindurchgeführt ist, teils aber auch auf einer Seite eines Schussfadens übereinander zu liegen kommt (Beschreibung Spalte 3, Zeile 52 bis Spalte 4, Zeile 4).
26
Die Schrift bestätigt die Annahme des gerichtlichen Sachverständigen, dass die Webart mit Kettfadenpaaren als solche am Prioritätstag des Streitpatents bekannt war. Die Durchlässigkeit des Gewebes wird dieser Schrift zufolge jedoch mittels der Größe der im Gewebe vorgesehenen offenen Flächen bestimmt. Die Größe dieser Flächen ergibt sich aus dem Abstand der nebeneinander verwobenen Kettfadenpaare voneinander sowie aus dem Abstand zwischen den Schussfäden. Die Schrift weist zwar darauf hin, dass die mit Abstand voneinander verwobenen Kettfäden paarweise vertikal fluchtend angeordnet sind, jedoch so, dass die effektive Dichte der lastaufnehmenden Kettfäden verdoppelt ist, ohne dass sich dadurch eine Verringerung der offenen Fläche des Siebes ergibt. Die vertikale Fluchtung der Kettfäden im fertigen Gewebe kann durch Verkleben oder Beschichten gesichert werden (Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung 0 211 426, Spalte 1, Zeile 50 bis Spalte 2, Zeile 2). Dies gab keinen Hinweis darauf, mit Hilfe vertikal fluchtender paarweise angeordneter Kettfäden beim Webvorgang eine dem jeweiligen Zweck entsprechende Anpassung der Durchlässigkeit erreichen zu können.
27
d) Es kann dahinstehen, ob eine Kombination der US-Patentschrift 4 290 209 mit der europäischen Patentanmeldung 0 211 426 zu dem Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der zuletzt verteidigten Fassung hätte führen können; zu einer solchen Kombination bestand im Prioritätszeitpunkt ohne Kenntnis der Lehre des Streitpatents kein Anlass. Beide Schriften verfolgen ein gegensätzliches Ziel; ihre Kombination war schon deshalb für den Fachmann eher fernliegend. Während die US-Patentschrift ein dichtes Gewebe für die Papierherstellung anstrebt, will die europäische Patentanmeldung das Problem der geringeren Stabilität bei einer durch Erweiterung der Abstände im Gewebe vergrößerten Durchlässigkeit lösen. Auf die besondere Webtechnik dieser zweiten Lösung zur Verbesserung des aus der US-Patentschrift bekannten Gewebes zurückzugreifen, bestand kein technischer Grund, weil sich Stabilitätsprobleme insoweit nicht stellten, sondern in erster Linie die glatte Oberfläche des Gewebes für eine Verbesserung bei der Papierherstellung im Raum stand, mit der sich die europäische Patentanmeldung nicht befasst. Ebenso wenig boten beide Schriften für eine Steuerung der Durchlässigkeit durch den Webvorgang und hierbei die Verwendung eines vertikal angeordneten, den Schussfaden unterschiedlich umgreifenden Kettfadenpaares eine Anregung; die Kombination der in ihnen geschilderten Webtechniken zur Erreichung dieses Ziels konnten sie daher auch deshalb ohne Kenntnis der Lehre des Streitpatents nicht nahelegen. Wie im Fall der US-Patentschrift 4 290 209 wird die Durchlässigkeit des Gewebes auch nach der europäischen Patentanmeldung 0 211 426 durch den Abstand zwischen den nebeneinander angeordneten Kettfäden und damit durch die Größe des Zwischenraums zwischen Schuss- und Kettfäden bestimmt , nicht jedoch durch eine Webart, bei der sich diese Lage nicht notwen- dig in einer horizontalen Ebene einstellt, sondern in der Regel erst aus der vertikalen Schichtung der nebeneinander verwobenen Kettfäden ergibt.
28
e) Soweit das Bundespatentgericht seine gegenteilige Wertung mit der Erwägung begründet hat, die Veröffentlichung der europäischen Patenanmeldung 0 211 426 offenbare in Spalte 1, Zeilen 31 bis 35, dass mit der von ihr vorgeschlagenen Verwendung von Kettfadenpaaren eine hohe Längsstabilität erzielt werde, was identisch sei mit der Merkmalsgruppe 3 des Streitpatents, durch welche die "Teilaufgabe" ausreichender Festigkeit und Stabilität gelöst werde; die US-Patentschrift 4 290 209 offenbare, dass mit der dort beschriebenen Webweise ein Flattern der Papierbahn auf dem Gewebe bei geringer Durchlässigkeit des Gewebes erreicht werde, wodurch die "Restaufgabe" der Merkmalsgruppe 4 nach Patentanspruch 1 des Streitpatents gelöst werde, beruht diese Wertung auf einer isolierten Betrachtung einzelner Merkmale, die außer Acht lässt, dass mit der Gesamtkombination sämtlicher Merkmale des Gegenstands nach Patentanspruch 1 das Verweben von Kettfadenpaaren zu einer vertikal ausgerichteten Schichtung in dem aus Kett- und Schussfäden hergestellten Gewebe nicht nur die Stabilität des Gewebes hinreichend bemessen und verbessert, sondern auch die Durchlässigkeit des Gewebes gezielt eingerichtet wird. Ein nach Maßgabe von "Teilaufgaben" in einzelne Merkmalsgruppen aufgesplitterter Gegenstand der Erfindung kann nicht in der Weise der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit zugrunde gelegt werden, dass einzelne Merkmale oder Merkmalsgruppen daraufhin untersucht werden, ob sie dem Fachmann durch den Stand der Technik je für sich nahegelegt waren. Der Prüfung der Rechtsfrage, ob der Gegenstand der Erfindung am Prioritätstag des Streitpatents durch den Stand der Technik nahegelegt war, ist vielmehr der Gegenstand der Erfindung in der Gesamtheit seiner Lösungsmerkmale in ihrem technischen Zusammenhang zu Grunde zu legen (BGHZ 147, 137, 141 - Trigonellin m.w.N.; Keukenschrijver in Busse, aaO, § 4 PatG Rdn. 58, 59; Asendorf/ Schmidt in Benkard, aaO, § 4 PatG Rdn. 26; zur Gefahr des "Zerhackens" der Erfindung durch Merkmalsgliederungen vgl. Meier-Beck, GRUR 2001, 967 f.). Bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit dürfen wie bei der Auslegung des Patentanspruchs einzelne Merkmale oder Merkmalsgruppen auch dann nicht isoliert mit dem Stand der Technik verglichen werden, wenn sich der Gegenstand der Erfindung in einzelne "Teilaufgaben" aufspalten lässt. Deshalb ist auch in einem solchen Fall der gesamte Inhalt der unter Schutz gestellten Lehre in den Blick zu nehmen.
29
Patentanspruch 1 hat demzufolge in der zuletzt verteidigten Fassung mit den auf ihn rückbezogenen angegriffenen Unteransprüchen Bestand.
30
III. Patentanspruch 23 betrifft ein Gewebe, das mit nur einer Lage von Schussfäden mit den Merkmalen nach Patentanspruch 1 in der zuletzt verteidigten Fassung gewebt ist. Da Patentanspruch 1 nicht auf ein Gewebe mit mehreren Lagen Schussfäden beschränkt ist, sondern auch ein Gewebe mit einer Lage von Schussfäden umfasst, ist der Gegenstand nach Patentanspruch 23 im Gegenstand nach Patentanspruch 1 enthalten. Deshalb kann auf die Ausführungen zur Patentfähigkeit des Gegenstandes nach Patentanspruch 1 verwiesen werden. Mit Patentanspruch 1 hat daher auch Patentanspruch 23 mit den angegriffenen und auf ihn rückbezogenen Patentansprüchen Bestand.
31
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 2 PatG i.V.m. § 91 ZPO. Soweit die Beklagte Patentanspruch 1 zuletzt nur noch beschränkt verteidigt und damit ihre Berufung teilweise zurückgenommen hat (§ 516 ZPO), fällt die Beschränkung des Anspruchs auf Papiermaschinengewebe wertmäßig nicht ins Gewicht, so dass eine Belastung der Beklagten mit einem Teil der Rechtsmittelkosten (§ 516 Abs. 3 ZPO) nicht veranlasst ist.
Melullis Keukenschrijver Mühlens
Meier-Beck Asendorf
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 09.07.2002 - 1 Ni 18/01 (EU) -

(1) In dem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof gelten die Bestimmungen des § 144 über die Streitwertfestsetzung entsprechend.

(2) In dem Urteil ist auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozeßkosten (§§ 91 bis 101) sind entsprechend anzuwenden, soweit nicht die Billigkeit eine andere Entscheidung erfordert; die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über das Kostenfestsetzungsverfahren (§§ 103 bis 107) und die Zwangsvollstreckung aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen (§§ 724 bis 802) sind entsprechend anzuwenden.

(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat.

(2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vorbringens obsiegt, das sie in einem früheren Rechtszug geltend zu machen imstande war.

(3) (weggefallen)