Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Apr. 2019 - 19 ZB 17.1535

bei uns veröffentlicht am10.04.2019
vorgehend
Verwaltungsgericht Ansbach, AN 5 K 16.96, 22.06.2017

Gericht

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.

Der am ... 1969 in der Türkei geborene Kläger türkischer Staatsangehörigkeit, der als Sohn eines türkischen Arbeitnehmers im Jahr 1979 ins Bundesgebiet eingereist und seit 26. September 2003 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (fortgeltend als Niederlassungserlaubnis seit 2005) ist und dessen 1989, 2002 und 2003 geborene Kinder deutsche Staatsangehörige sind, begehrt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 22. Juni 2017, durch das seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2015 abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid wurde der Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. I. des Bescheides), die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet (Nr. II.), wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von sieben Jahren ab Ausreise/Abschiebung befristet (Nr. III.), wurde die Abschiebung aus Haft heraus in die Türkei angeordnet (Nr. IV.) und der Kläger für den Fall, dass die Abschiebung unmittelbar aus dem Vollzug heraus nicht möglich ist und er aus dem Vollzug entlassen wird, aufgefordert, das Bundesgebiet unter Fristsetzung von einer Woche nach Haftentlassung zu verlassen, andernfalls er in die Türkei oder einen anderen aufnahmebereiten Staat abgeschoben werde (Nr. V.). Den Ausweisungsanlass bildet eine strafrechtliche Verurteilung durch das Landgericht N.-F. vom 23. März 2011 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Der Verurteilung liegt ein Rauschgiftgeschäft in Mittäterschaft über drei Kilogramm Aphetaminzubereitung zu 4.500 Euro zugrunde. Der Kläger ist seit 1988 wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, Unterschlagung, Betrug, versuchte Nötigung, fahrlässige Trunkenheit im Verkehr, veruntreuende Unterschlagung, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Waffendelikt). Am 27. Mai 2013 wurde der Kläger wegen uneidlicher Falschaussage zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Ein Freispruch vom Vorwurf der uneidlichen Falschaussage durch Urteil des Amtsgerichts A. wurde auf Berufung der Staatsanwaltschaft durch Urteil des Landgerichts A. vom 27. April 2016 aufgehoben und der Kläger wegen uneidlicher Falschaussage zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Den Verurteilungen wegen uneidlicher Falschaussage lag zugrunde, dass der Kläger vor Gericht als Zeuge seinem der Verurteilung vom 23. März 2011 zugrunde liegenden Geständnis widersprechende Aussagen gemacht hatte.

Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG (in der seit 1.1.2016 geltenden Fassung) als rechtmäßig angesehen. Sie sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG zulässig, weil das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich sei. Der Kläger sei aufgrund unterschiedlichster Delikte seit dem Jahr 1998 immer wieder und regelmäßig strafrechtlich belangt worden. Die Erfahrung von Jugendarrest, Untersuchungshaft und Strafhaft habe zu keinem inneren Wandel geführt. Die der Ausweisung zugrunde liegende Anlasstat habe der Kläger während dreifach laufender Bewährung begangen. Aufgrund der Vielzahl von unterschiedlichen Straftaten über einen Zeitraum von knapp 30 Jahren hinweg sei von der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger auszugehen. Während der Haft hätten mehrfach Disziplinarmaßnahmen gegenüber dem Kläger ergriffen werden müssen. Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG stehe ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG aufgrund der Niederlassungserlaubnis des Klägers und seinem Aufenthalt im Bundesgebiet seit seinem 10. Lebensjahr gegenüber. Im Rahmen der Abwägung sei zu Gunsten des Klägers einzustellen, dass er sich seit 1979 im Bundesgebiet befinde und zwei noch minderjährige Kinder deutscher Staatsangehörigkeit im Bundesgebiet habe, für die ein gemeinsames Sorgerecht zusammen mit der Kindsmutter bestehe. Aufgrund der vielfachen Verurteilungen, verbüßter Haftstrafen und der sich auch nach Geburt der Kinder steigernden Delinquenz gehe die Abwägung zu Lasten des Klägers aus. Auch die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf sieben Jahre begegne keinen durchgreifenden Bedenken.

Der dagegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.), noch hat der Kläger den weiter angeführten Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) in einer den Anforderungen gemäß § 124 Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO genügenden Weise dargelegt (2.).

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten derart in Frage gestellt wird, dass sich die gesicherte Möglichkeit der Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ergibt (z.B. BVerfG, B.v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 - NVwZ 2011, 546/547), mithin diese Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 - 7 AV 4/03 - DVBl 2004, 838/839). Die Beurteilung, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisungsentscheidung ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 12).

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung nicht.

Zur Begründung des Zulassungsbegehrens wird vorgetragen, der Kläger lebe seit seinem 10. Lebensjahr im Bundesgebiet, beherrsche die deutsche Sprache perfekt, habe hier Schule und Ausbildung absolviert und sei immer berufstätig gewesen. Zu seinen minderjährigen Kindern bestehe eine tiefe familiäre Verbundenheit, was sich auch durch die Haftzeit nicht geändert habe. Der Kläger sei faktischer Inländer, zum Land seiner Staatsangehörigkeit fehle jeder Bezug. Die der Ausweisung zugrunde liegende Verurteilung beruhe auf einem Geständnis, das der Kläger widerrufen habe. Die nachfolgenden Verfahren wegen uneidlicher Falschaussage stünden damit im Zusammenhang. Im Zusammenhang mit der Verurteilung durch das Landgericht N.-F. vom 23. März 2011 sei von einer äußerst komplexen und schwierigen Verfahrenssituation auszugehen. Der damalige strafprozessuale Deal habe nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an strafprozessuale Vereinbarungen entsprochen. Die Widersprüchlichkeiten des Hauptbelastungszeugen seien niemals aufgeklärt worden. Der Kläger sei von seinem damaligen Bevollmächtigten dazu gedrängt worden, einem Geständnis zuzustimmen. Da er nachfolgend in weiteren Verfahren als Zeuge aussagen habe müssen, seien diese Aussagen im Widerspruch zu dem vorherigen Geständnis gestanden, was zu den Strafverfahren wegen Falschaussage geführt habe. Auch wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht geäußert habe, gegen die Verurteilung durch das Landgericht N.-F. kein Wiederaufnahmeverfahren anstrengen zu wollen, werde die Begehung des der Verurteilung und Ausweisung zugrundeliegenden Betäubungsmitteldelikts vom Kläger weiterhin bestritten. Die Vorstrafenbelastung des Klägers liege größtenteils im Bagatellbereich. Das hohe Bleibeinteresse des Klägers aufgrund der familiären Verbundenheit zu seinen minderjährigen Kindern im Bundesgebiet sei vom Verwaltungsgericht unzureichend gewichtet worden. Die Ausweisung sei für den Kläger ein Eingriff von ungeheurer Intensität. Die Entscheidungsgründe ließen nicht erkennen, ob das Verwaltungsgericht den Kläger als faktischen Inländer angesehen habe. Bei einem faktischen Inländer könne auch bei mehrjährigen Haftstrafen eine Ausweisung unverhältnismäßig sein. Der Kläger würde in ein Land abgeschoben werden, das politisch auf der Kippe stehe und ihm fremd sei. Ob der Kläger jemals von seinen Kindern dort besucht werden könne, sei fraglich. Der Kläger habe aus den zurückliegenden Erfahrungen gelernt. Es besteht keine Gefahr für die Begehung von Straftaten.

Das Zulassungsvorbringen ist nicht geeignet, die verwaltungsgerichtliche Annahme zu widerlegen, dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach § 53 Abs. 3 AufenthG darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (1.1), und dass die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung ein Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Ausreise ergibt (1.2.).

1.1. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Steht dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG-Türkei (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen. Er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Im Falle der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen führt § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu einer Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen nach §§ 53 Abs. 1, 54, 55 AufenthG; ihnen kommt auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller Interessen mit dem jeweiligen Gewicht zu (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3/16 - juris Rn. 24). Soweit die Entwurfsbegründung von einer „Sonderregelung“ spricht (BT-Drs. 18/4097, S. 50), bezieht sich diese Wendung jedoch ersichtlich auf das in § 53 Abs. 3 AufenthG festgelegte Maß der Sicherheitsgefahr und statuiert im Übrigen keine Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen. Das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Ausweisungsverfügung unter Zugrundelegung eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 zu Recht am Maßstab des § 53 Abs. 3 AufenthG gemessen, der exakt die Voraussetzungen wiedergibt, die nach ständiger Rechtsprechung (vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 - C-371/08, „Ziebell“ - Rn. 82 ff., und vom 29.3.2012 - C-7/10 und C-9/10, „Kahveci“ und „Inan“ - Rn. 40) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gemäß Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein mussten (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 28.3.2017 - 10 BV 16.1601 - juris Rn. 31 m.w.N.; B.v. 20.2.2019 - 10 ZB 18.2343 - juris Rn. 6).

Bei der Feststellung der für eine Ausweisung erforderlichen Sicherheitsgefahr bzw. der schwerwiegenden Gefahr i.S.v. § 53 Abs. 3 AufenthG handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eigenständig zu treffen haben (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Die Indizien, die für diese Prognose heranzuziehen sind, ergeben sich nicht nur aus dem Verhalten im Strafvollzug und danach. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 - 9 C 6/00 - BVerwGE 112, 185, juris Rn. 14; vgl. auch BVerwG, B.v. 4.5.1990 - 1 B 82/89 - NVwZ-RR 1990, 649, juris Rn. 4). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - Rn. 18).

Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, die Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV). Die Folgen insbesondere für junge Menschen können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 - 1 C 13.12 - juris Rn. 12 mit Nachweisen zur Rspr. des EuGH und des EGMR; vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2019 - 10 ZB 18.2272 - juris Rn. 7). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Werteordnung der Grundrechte einen sehr hohen Rang einnehmen. Rauschgift bedroht diese Schutzgüter in hohem Maße und trägt dazu bei, dass soziale Beziehungen zerbrechen und die Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 14.3.2013 - 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 - 19 ZB 119 ZB 16.2636 - juris Rn. 8).

Das mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten geahndete Betäubungsmitteldelikt des Klägers wiegt schwer, insbesondere in Anbetracht der wiederholten strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers (15 Einträge im Zentralregister seit 1988 laut Auskunft vom 10.2.2017). Die Delinquenz des Klägers reiht sich ein in vorangegangene strafrechtliche Verurteilungen, die im Hinblick auf den Ausspruch und den Vollzug von Freiheitsstrafen nicht nur als „Bagatelldelikte“ anzusehen sind. Die jahrelange Begehung von Straftaten und das beharrliche Hinwegsetzen des Klägers über strafrechtliche Vorschriften auf ganz unterschiedlichen Feldern begründet eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung und berührt dadurch in schwerwiegender Weise das Grundinteresse der Gesellschaft an der Einhaltung der Strafrechtsnormen als Grundregeln für eine friedliche menschliche Koexistenz. Der Kläger hat gezeigt, dass er sich von den Sanktionen des Rechtsstaats nicht beeindrucken lässt.

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts A. hat mit Beschluss vom 30. Oktober 2017 die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes mit der Begründung abgelehnt, dass eine vorzeitige Entlassung unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit nicht verantwortet werden könne. Der Kläger sei vorbestraft, habe sich durch erlittene Strafhaft nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen, eingeräumte Bewährungen nicht durchgestanden, habe sich während der Strafhaft nicht beanstandungsfrei geführt und weise eine hohe Rückfallgeschwindigkeit auf. Es könne keine ausreichend günstige Prognose gestellt und eine bedingte Entlassung nicht verantwortet werden.

Der Kläger ist am 9. März 2018 nach Vollverbüßung aus der Haft entlassen und mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 11. Januar 2018 mit der Höchstdauer von fünf Jahren unter Führungsaufsicht gestellt worden. Zur Begründung wird ausgeführt, ein Entfallen der Führungsaufsicht nach § 68f Abs. 2 StGB komme nicht in Betracht. Der Kläger sei erheblich vorbestraft, eine positive Sozialprognose könne nicht mehr gestellt werden. Abstinenz-, Kontroll- und Vorstellungsweisungen wurden nicht festgesetzt, da aus keiner Verurteilung hervorgehe, dass ein Suchtmittelproblem in kausalem Zusammenhang mit den begangenen Straftaten stehe.

Zwar sind seit der Entlassung vom 9. März 2018 strafrechtlich relevante Vorkommnisse nicht bekannt. Dieser Zeitraum von etwa einem Jahr ist jedoch angesichts der vielfältigen Delinquenz des Klägers und des Umstandes, dass eine Strafrestaussetzung nicht gewährt werden konnte - mithin nicht einmal die für die Strafrestaussetzung erforderliche reale Chance einer Resozialisierung gesehen wurde (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2017 - 19 CS 16.2466 - juris Rn. 10) -, ungeeignet, eine positive Prognose zu begründen. Die bislang straffreie Führung von einem Jahr lässt auch wegen der Anordnung von Führungsaufsicht mit der Maximaldauer von fünf Jahren und wegen des noch offenen Ausweisungsverfahrens die Annahme einer Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Abzustellen ist bei der Überprüfung der Gefahrenprognose bei einer Ausweisungsentscheidung ausschließlich auf den aktuellen Zeitpunkt und nicht darauf, wie sich die Prognose später einmal darstellen könnte (vgl. BayVGH, B.v. 20.11.2017 - 10 ZB 17.1961 - juris Rn. 10). Eine drohende Ausweisung erzeugt regelmäßig einen Legalbewährungsdruck, der nach den Erfahrungen des Senats über denjenigen einer drohenden Inhaftierung hinausgeht; hierzu trägt auch der Umstand bei, dass im Ausweisungsrechtsstreit aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Demzufolge ist Legalverhalten in einer Zeit, in der die Ausweisung gedroht hat und droht, zwar grundsätzlich als günstiges Indiz für die ausweisungsrechtliche Prognose heranzuziehen. Jedoch kommt diesem Indiz nur ein relatives Gewicht zu, weil es angesichts des Abstinenz- und Legalbewährungsdrucks, der während des (hier zudem nur ein Jahr anhaltenden) rechtstreuen Verhaltens besteht, nach allgemeiner Erfahrung und auch nach der Auffassung der Strafgesetzgebers nicht den Schluss auf ein gleichartiges Verhalten in Zeiträumen gewährleistet, in denen dieser Druck nicht besteht. Ein zeitweise bestehender Legalbewährungsdruck ist nicht geeignet, das Unterlassen von Straftaten auf Dauer zu gewährleisten, und bewirkt in einem großen Teil der Fälle keinen inneren Wandel, sondern nur ein druckmittelbedingtes Anpassungsverhalten ohne Nachhaltigkeit. Für Letzteres spricht vorliegend die anhaltende, sich steigernde Delinquenz des Klägers. Zudem hat der Kläger derzeit den Auflagen und Weisungen aus dem Beschluss zur Führungsaufsicht nachzukommen, so dass sein Verhalten einer Kontrolle unterliegt. Auch wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung über die Anordnung der Führungsaufsicht keine Bindungswirkung für das Aufenthaltsrecht ausgeht, kann der Senat nicht außer Acht lassen, dass die Anordnung nach § 68 Abs. 1 StGB voraussetzt, dass trotz Verbüßung der Freiheitsstrafe nach wie vor die konkrete Gefahr der Begehung weiterer Straftaten besteht. Schließlich kann nicht übersehen werden, dass im Falle des Klägers die gesetzliche Höchstdauer von fünf Jahre vollständig ausgeschöpft worden ist und bislang eine Verkürzung nicht verfügt wurde (vgl. § 68c Abs. 1 StGB; vgl. VGH BW, U.v. 9.12.2015 - 11 S 1857/15 - juris Rn. 35).

Mit dem Verweis auf die komplexe und schwierige Situation im Strafverfahen und dem Zulassungsvorbringen, wonach er das der Verurteilung vom 23. März 2011 zugrunde liegende Geständnis widerrufen habe und nunmehr die Tat bestreite, zieht der Kläger die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht ernsthaft in Zweifel. Er ist strafgerichtlich mit rechtskräftigem Urteil vom 23. März 2011 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden. Diese strafrechtliche Verurteilung durfte das Verwaltungsgericht bei der Prüfung der Frage einer Wiederholungsgefahr nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohne weitere Nachprüfung zugrunde legen. Daher kommt es nicht mehr darauf an, dass der Kläger gegen die nach seiner nunmehrigen Behauptung unrichtige strafrechtliche Verurteilung kein Wiederaufnahmeverfahren angestrengt hat und er aufgrund der dem Geständnis widersprechenden Zeugenaussagen wegen uneidlicher Falschaussage belangt wurde. Nach der klägerischen Einlassung müssten drei rechtskräftige strafrechtliche, auf umfangreichen Beweiserhebungen (einschließlich Telefonüberwachung) beruhende Verurteilungen trotz der Ausschöpfung des Rechtsweges bis zum Bundesgerichtshof unrichtig sein.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, B.v. 24.2.1998 - 1 B 21.98 - juris zu § 47 Abs. 1 AuslG 1990; B. v. 8.5.1989 - 1 B 77.89 - InfAuslR 1989, 269 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965, jeweils m.w.N., vgl. auch BayVGH, B.v. 5.9.2018 - 10 ZB 18.1121 - juris Rn. 6 sowie OVG NRW, B.v. 8.12.2015 - 18 A 2462/13 - juris Rn. 11) erfordert die Anwendung der auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung abstellenden Ausweisungstatbestände keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. Soweit es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung etwa auf die Umstände der Tatbegehung ankommt (z.B. im Rahmen der Feststellung einer Wiederholungsgefahr oder bei der Ermessensausübung) besteht zwar keine strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung. Es ist aber geklärt, dass die Ausländerbehörden - und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte - in dieser Beziehung ohne weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen können und die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen dürfen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn strafgerichtliche Feststellungen offensichtlich unrichtig sind oder die Ausländerbehörden oder Verwaltungsgerichte über bessere Erkenntnismöglichkeiten als die Strafgerichte verfügen. Dies ergibt sich vorliegend weder aus dem Vorbringen in der ersten Instanz noch aus dem pauschalen Bestreiten der Tatbegehung im Zulassungsvorbringen.

Insgesamt kommt unter Berücksichtigung der massiven Vorstrafen, der jeweiligen strafrechtlichen Rückfallgeschwindigkeit und der über einen Zeitraum von 30 Jahren sich erstreckenden, regelmäßigen Delinquenz des Klägers die Annahme eines Entfallens der Wiederholungsgefahr nicht in Betracht.

1.2. Das persönliche Verhalten des Klägers berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft und die Ausweisung ist für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich (§ 53 Abs. 3 AufenthG).

Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 - 10 BV 13.421 - juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 - 10 ZB 16.823 - juris Rn. 20). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführen.

Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung vor allem mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG und des Art. 8 Abs. 1 EMRK ergibt, dass das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an der Ausreise nicht überwiegt.

Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse (i.S.v. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) ist beim Kläger infolge seiner rechtskräftigen Verurteilung vom 23. März 2011 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln gegeben. Das in § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vertypte Ausweisungsinteresse setzt ein Strafmaß von zwei Jahren voraus; der Kläger ist jedoch mehr als doppelt so schwer bestraft worden. Dem steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG gegenüber, weil der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Darüber hinaus ist das Verwaltungsgericht, ohne das vertypte besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zu benennen, zugunsten des Klägers von der Ausübung des gemeinsamen elterlichen Personensorgerechts für die minderjährigen Kinder ausgegangen.

Dem mit der Ausweisung verfolgten Ziel, eine schwere Gefahr (durch weitere Straftaten des Klägers) für ein Grundinteresse der Gesellschaft abzuwehren, kommt angesichts der vorliegenden Einzelfallumstände, insbesondere unter Berücksichtigung der vielfachen Straffälligkeit des Klägers trotz mehrfacher Hafterfahrung, seines mehrfachen Bewährungsversagens und der beachtlichen Rückfallgeschwindigkeit sowie des hohen Rangs des durch Betäubungsmittel gefährdeten Rechtsgutes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ein das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers überwiegendes Gewicht zu. Entgegen dem Zulassungsvorbringen hat das Verwaltungsgericht die familiäre Beziehung des Klägers zu seinem im Bundesgebiet lebenden (minderjährigen) Kindern zutreffend gewürdigt und gewichtet.

Im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung sein, der rechtliche Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts und Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Bindungen des Ausländers im Inland sind in Beziehung zu setzen zu den (noch vorhandenen) Bindungen an seinen Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist.

Das Zulassungsvorbringen zeigt keine Lebensumstände auf, die zu einer Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung wegen einer die Sicherheitsbedrohung überwiegenden Verwurzelung im Bundesgebiet, insbesondere unter Berücksichtigung der familiären Beziehungen des Klägers zu seinen im Bundesgebiet lebenden minderjährigen Kindern, führen könnten.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass auch die elterliche Verantwortung des Klägers diesen nicht von der Begehung weiterer Straftaten mit zunehmender Schwere hat abhalten können. Unter Berücksichtigung des bereits jugendlichen Alters der Kinder erscheint es zumutbar, die Bindung durch Besuchskontakte oder unter Inanspruchnahme moderner Kommunikationsmittel aufrecht zu erhalten, zumal die Kinder bereits während der langjährigen Haft des Klägers auf Besuchskontakte verwiesen waren, was diese jedoch ausweislich der Besuchsliste der Justizvollzugsanstalt nur selten in Anspruch genommen haben. Nach der Besuchsliste hat die nunmehr 30-jährige Tochter den Kläger im Zeitraum von Oktober 2010 bis März 2018 insgesamt 18 mal besucht (2010: 1 Besuch, 2011: 8 Besuche, 2012: 2 Besuche, 2013: 1 Besuch, 2014: 4 Besuche, 2015: 1 Besuch, 2016: 1 Besuch), die 15-jährige Tochter lediglich 5 mal (2017: 4 Besuche, 2018: 1 Besuch) und der nunmehr 16-jährige Sohn den Vater im gesamten Zeitraum von Oktober 2010 bis März 2018 nur 2 mal (im Jahr 2017) besucht. Insofern war bereits während der langjährigen Haftzeit der Kontakt der Kinder zu ihrem Vater stark eingeschränkt.

Soweit von der geschiedenen Ehefrau des Klägers in einer Vorsprache vom 24. September 2018 bei der Ausländerbehörde der Beklagten darauf hingewiesen wird, dass der im Jahr 2002 geborene Sohn des Klägers im September 2016 an einem Gehirntumor mit nachfolgender Operation erkrankt sei, weshalb Flugreisen zu vermeiden seien, begründet auch dieses (nicht durch ärztliche Stellungnahmen belegte) Vorbringen keine Unzumutbarkeit der Ausweisung aus Sicht der minderjährigen Kinder.

Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm gebietet es zwar, bei Entscheidungen über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen und die sich für Familienangehörige ergebenden Folgen einer Aufenthaltsbeendigung angemessen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 17; U.v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 16; B.v. 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 26; B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 12). Dabei ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen (BVerfG, B.v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 25; B.v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 18; B.v. 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 31; B.v 25.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 14).

Nach diesen Maßgaben erscheint es unter Berücksichtigung des Alters der Kinder des Klägers (30, 16 und 15 Jahre) und der Tatsache, dass die Erkrankung des 16-jährigen Sohnes des Klägers nahezu drei Jahre zurück liegt und der persönliche Kontakt des Sohnes während der Haft von 2010 bis 2018 auf zwei Besuche beschränkt war, in Würdigung der Vielzahl der vom Kläger verübten Straftaten über einen langen Zeitraum hinweg auch für die (minderjährigen, bei der Mutter lebenden) Familienangehörigen zumutbar, die Bindung zum Vater für einen im Hinblick auf die Befristung der Wirkungen der Ausweisung perspektivisch begrenzten Zeitraum in räumlicher Distanz aufrecht zu erhalten. Auf die Möglichkeit einer ausnahmsweisen Erlaubnis zum Betreten des Bundesgebiets vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 8 AufenthG, das zu Besuchszwecken im Falle einer tatsächlich bestehenden Reiseunfähigkeit des Sohnes zum Tragen kommen könnte, wird hingewiesen.

Auch das geltend gemachte Maß der Verwurzelung im Bundesgebiet steht einer Ausweisung nicht entgegen. Der Kläger ist nicht im Bundesgebiet geboren, sondern erst im Jahr 1979 im Alter von knapp 10 Jahren ins Bundesgebiet eingereist. Von 1983 bis 1985 hat er erneut in der Türkei gelebt und dort die Schule besucht. Er hat somit einen Großteil seiner Schulbildung in der Türkei erfahren. Der Begriff “faktischer Inländer“ ist nicht einheitlich definiert, sondern wird in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben. Das Bundesverwaltungsgericht bezeichnet faktische Inländer als “im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten“ (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2002, 1 C 8/02, BVerwGE 116, 378, juris Rn. 23). Das Bundesverfassungsgericht umschreibt den Begriff mit “hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer“ (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016, 2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 19). Bei Ausländern, die im Alter von 13 bzw. 14 Jahren eingereist waren und eine gelungene Integration in die Gesellschaft und Rechtsordnung nicht zu verzeichnen war, wurde die Stellung als „faktischer Inländer“ verneint (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 - 19 CE 17.2454 - juris Rn. 24; B.v. 7.3.2019 - 10 ZB 18.2272 - juris Rn. 10).

Ob der Kläger als „faktischer Inländer“ anzusehen ist, kann letztlich dahinstehen, da die Bezeichnung eines Ausländers als „faktischer Inländer“ nicht davon entbindet, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen, und auch für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot besteht (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016, 2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 19). Es wird nicht verkannt, dass sich die streitgegenständliche Ausweisung in Anbetracht der langen Aufenthaltsdauer des Klägers im Bundesgebiet und seiner hier bestehenden familiären und sozialen Bindungen als gravierender Grundrechtseingriff darstellt. In Anbetracht der Schwere des die Ausweisung veranlassenden Betäubungsmitteldelikts und der zahlreichen Vorstrafen des Klägers, die entgegen dem Zulassungsvorbringen keineswegs nur Bagatelldelikte betreffen und sich nahezu über den gesamten Aufenthalt des Klägers als Erwachsener im Bundesgebiet erstrecken, kann jedoch nicht von einer gelungenen Integration in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden. Er hat zwar im Bundesgebiet eine Ausbildung absolviert und war beruflich tätig. Ausweislich der Feststellungen des Landgerichts A. vom 27. April 2016 war der Kläger seit 2005 jedoch nicht mehr in Freiheit beruflich tätig. Eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt ist somit nicht gelungen.

Dem Kläger ist es zumutbar, im Land seiner Staatsangehörigkeit zu leben. Der Kläger beherrscht die türkische Sprache, ist jedenfalls durch seine Familie und die Schulbildung den heimatstaatlichen Lebensverhältnissen näher gebracht worden. Anhaltspunkte dafür, dass die Eingewöhnung in die aktuellen Gegebenheiten und sozialen Strukturen in der Türkei und der Aufbau eines Privatlebens für den 49-jährigen Kläger unmöglich oder unzumutbar sein könnten, werden mit dem Zulassungsantrag nicht geltend gemacht; sie ergeben sich auch nicht aus dem pauschalen Verweis auf die aktuellen politischen Verhältnisse in der Türkei.

2. Soweit sich der Kläger weiter auf den Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO beruft, wonach die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweise, ist dieser Zulassungsgrund schon nicht in der nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO gebotenen Weise dargelegt.

Zur Darlegung der besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sind die entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts konkret zu benennen, die diese Schwierigkeiten aufwerfen, und es ist anzugeben, dass und aus welchen Gründen die Beantwortung dieser Fragen besondere Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine Begründung dafür zu geben, weshalb die Rechtssache an den entscheidenden Richter (wesentlich) höhere Anforderungen stellt als im Normalfall (Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1.10.2018, § 124a Rn. 75 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht. Der Kläger legt nicht dar, inwiefern insbesondere die Gefahrenprognose und die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung in seinem Fall wesentlich höhere Anforderungen als in sonstigen Ausweisungsfällen stellen könnten. Im Zulassungsverfahren wird nichts Detailliertes vorgetragen, was besondere Schwierigkeiten aufwerfen könnte. Derartige besondere Schwierigkeiten der Rechtssache ergeben sich auch nicht aus dem Widerruf des Geständnisses und dem nunmehrigen Bestreiten der Straftat. Soweit auf die sich aus der Rechtsstellung aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei ergebenden Maßstäbe für die Gefahrenprognose hingewiesen wird, lässt sich diese Frage ohne weiteres in Anwendung des § 53 Abs. 3 AufenthG im Zulassungsverfahren beantworten. Auch aus der behaupteten Stellung als „faktischem Inländer“ ergeben sich solche erhöhten Anforderungen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2019 - 10 ZB 18.2343 - juris Rn. 18 und B.v. 27.9.2017 - 10 ZB 16.823 - juris Rn. 25).

Hat das Berufungsgericht - wie vorliegend - keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils, so kann die Rechtsfrage regelmäßig keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweisen (vgl. BayVGH, B.v. 28.6.1999 - 19 ZB 97.1557 - juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Urteilsbesprechung zu Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Apr. 2019 - 19 ZB 17.1535

Urteilsbesprechungen zu Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Apr. 2019 - 19 ZB 17.1535

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 47 Rechtsmittelverfahren


(1) Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Endet das Verfahren, ohne dass solche Anträge eingereicht werden, oder werden, wenn eine Frist für die Rechtsmittelbegründung vorgeschrieben ist, inn

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124


(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. (2) Die B
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Apr. 2019 - 19 ZB 17.1535 zitiert 18 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 47 Rechtsmittelverfahren


(1) Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Endet das Verfahren, ohne dass solche Anträge eingereicht werden, oder werden, wenn eine Frist für die Rechtsmittelbegründung vorgeschrieben ist, inn

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124


(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. (2) Die B

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124a


(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nic

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 152


(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochte

Gesetz


Aufenthaltsgesetz - AufenthG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 2


(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 11 Einreise- und Aufenthaltsverbot


(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen n

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 6


(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinsc

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 8


(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 55 Bleibeinteresse


(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer 1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,2. eine Aufenthaltserlaubnis besitzt

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 53 Ausweisung


(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 54 Ausweisungsinteresse


(1) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer 1. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden

Strafgesetzbuch - StGB | § 68f Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrestes


(1) Ist eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen vorsätzlicher Straftaten oder eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen Straftaten der in § 181b genannten Art vollständig

Strafgesetzbuch - StGB | § 68c Dauer der Führungsaufsicht


(1) Die Führungsaufsicht dauert mindestens zwei und höchstens fünf Jahre. Das Gericht kann die Höchstdauer abkürzen. (2) Das Gericht kann eine die Höchstdauer nach Absatz 1 Satz 1 überschreitende unbefristete Führungsaufsicht anordnen, wenn die v

Strafgesetzbuch - StGB | § 68 Voraussetzungen der Führungsaufsicht


(1) Hat jemand wegen einer Straftat, bei der das Gesetz Führungsaufsicht besonders vorsieht, zeitige Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt, so kann das Gericht neben der Strafe Führungsaufsicht anordnen, wenn die Gefahr besteht, daß e

Referenzen - Urteile

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Apr. 2019 - 19 ZB 17.1535 zitiert oder wird zitiert von 13 Urteil(en).

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Apr. 2019 - 19 ZB 17.1535 zitiert 12 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 20. Nov. 2017 - 10 ZB 17.1961

bei uns veröffentlicht am 20.11.2017

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt. Gründe

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 07. März 2019 - 10 ZB 18.2272

bei uns veröffentlicht am 07.03.2019

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt. IV. Der Antrag

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 20. Feb. 2019 - 10 ZB 18.2343

bei uns veröffentlicht am 20.02.2019

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt. IV. Der Antrag

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 05. Sept. 2018 - 10 ZB 18.1121

bei uns veröffentlicht am 05.09.2018

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt. IV. Der Antrag au

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Okt. 2017 - 19 ZB 16.2636

bei uns veröffentlicht am 10.10.2017

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsantragsverfahrens zu tragen. III. Der Streitwert für das Zulassungsantragsverfahren wird auf 5.000 € festgeset

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2017 - 10 ZB 16.823

bei uns veröffentlicht am 27.09.2017

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt. IV. Der Antrag

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Urteil, 03. Feb. 2015 - 10 BV 13.421

bei uns veröffentlicht am 03.02.2015

Tenor I. Unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. Oktober 2008 wird der Bescheid der Beklagten vom 11. April 2008 in der Fassung des in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 ergänzten Änd

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Urteil, 28. März 2017 - 10 BV 16.1601

bei uns veröffentlicht am 28.03.2017

Tenor I. Die Berufung wird zurückgewiesen. II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hi

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 22. Feb. 2017 - 1 C 3/16

bei uns veröffentlicht am 22.02.2017

Tatbestand 1 Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland. Hilfsweise erstrebt er eine neue Entscheidung des Beklagten über die Befristung des mit der A

Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 19. Okt. 2016 - 2 BvR 1943/16

bei uns veröffentlicht am 19.10.2016

Tenor Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 2016 - 19 CS 16.1194 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 09. Dez. 2015 - 11 S 1857/15

bei uns veröffentlicht am 09.12.2015

Tenor Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Mai 2015 - 5 K 3589/13 - geändert.Die Klage wird abgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.Die Revision wird zugelassen. Tat

Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 05. Juni 2013 - 2 BvR 586/13

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Tenor Den Beschwerdeführern wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
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Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 14. Juni 2019 - 10 ZB 19.723

bei uns veröffentlicht am 14.06.2019

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt. Gründe

Referenzen

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

(1) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,
1a.
rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten
a)
gegen das Leben,
b)
gegen die körperliche Unversehrtheit,
c)
gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach den §§ 174, 176 bis 178, 181a, 184b, 184d und 184e jeweils in Verbindung mit § 184b des Strafgesetzbuches,
d)
gegen das Eigentum, sofern das Gesetz für die Straftat eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht oder die Straftaten serienmäßig begangen wurden oder
e)
wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oder tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte,
1b.
wegen einer oder mehrerer Straftaten nach § 263 des Strafgesetzbuchs zu Lasten eines Leistungsträgers oder Sozialversicherungsträgers nach dem Sozialgesetzbuch oder nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
2.
die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat, es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand,
3.
zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde, weil seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet,
4.
sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht oder
5.
zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft; hiervon ist auszugehen, wenn er auf eine andere Person gezielt und andauernd einwirkt, um Hass auf Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen oder zu verstärken oder öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften in einer Weise, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören,
a)
gegen Teile der Bevölkerung zu Willkürmaßnahmen aufstachelt,
b)
Teile der Bevölkerung böswillig verächtlich macht und dadurch die Menschenwürde anderer angreift oder
c)
Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt,
es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand.

(2) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist,
2.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,
3.
als Täter oder Teilnehmer den Tatbestand des § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Betäubungsmittelgesetzes verwirklicht oder dies versucht,
4.
Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht,
5.
eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, davon abhält, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben,
6.
eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt oder dies versucht oder wiederholt eine Handlung entgegen § 11 Absatz 2 Satz 1 und 2 des Personenstandsgesetzes vornimmt, die einen schwerwiegenden Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt; ein schwerwiegender Verstoß liegt vor, wenn eine Person, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, beteiligt ist,
7.
in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht oder in wesentlichen Punkten vorsätzlich keine, falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des Terrorismus oder der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verdächtig sind; die Ausweisung auf dieser Grundlage ist nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Rechtsfolgen verweigerter, falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde,
8.
in einem Verwaltungsverfahren, das von Behörden eines Schengen-Staates durchgeführt wurde, im In- oder Ausland
a)
falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels, eines Schengen-Visums, eines Flughafentransitvisums, eines Passersatzes, der Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht oder der Aussetzung der Abschiebung gemacht hat oder
b)
trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörden mitgewirkt hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde oder
9.
einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland. Hilfsweise erstrebt er eine neue Entscheidung des Beklagten über die Befristung des mit der Ausweisung verbundenen Einreise- und Aufenthaltsverbots.

2

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit. Er wurde 1973 in der Türkei geboren, ist verheiratet und hat sieben Kinder. Er reiste 1997 nach Deutschland ein und beantragte hier Asyl, da er in der Türkei wegen seines Engagements in prokurdischen Vereinen und Parteien sowie verwandtschaftlichen Beziehungen zu Guerillakämpfern der sog. Arbeiterpartei Kurdistans - PKK - an Leib und Leben bedroht sei. Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) vom 9. Oktober 1997 wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach dem damaligen § 51 Abs. 1 AuslG 1990 zuerkannt und zu seinen Gunsten ein Abschiebungsverbot wegen drohender Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK (damals § 53 Abs. 4 AuslG 1990) festgestellt. Der Kläger ist lediglich sporadisch und für kurze Zeiträume einer Erwerbstätigkeit nachgegangen, gleiches gilt für seine Ehefrau. Er bezieht mit seiner Familie Leistungen nach dem SGB II.

3

Vom 1. April 1998 bis zum 1. Dezember 2009 war der Kläger im Besitz jeweils befristeter Aufenthaltstitel. Am 13. März 2009 teilte das Bundesamt der Ausländerbehörde mit, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 73 Abs. 1 oder 2 AsylVfG nicht vorlägen. Im März 2009 stellte der Kläger bei der Ausländerbehörde der Stadt M. einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Auf Anfrage teilte das Landeskriminalamt Baden-Württemberg der Ausländerbehörde im Mai 2009 mit, dass hinsichtlich der Person des Klägers "Erkenntnisse" vorlägen, über die das Innenministerium Baden-Württemberg gesondert informiert worden sei. Dessen ungeachtet wurde dem Kläger am 4. Dezember 2009 ohne weitere Mitteilung zum Stand der Sicherheitsüberprüfung eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG erteilt.

4

Das Regierungspräsidium K. teilte dem Kläger mit Schreiben vom 23. Juli 2010 mit, dass die Niederlassungserlaubnis in Unkenntnis der Sicherheitsbedenken erteilt worden sei und derzeit deren Rücknahme und eine Ausweisung geprüft werde. Hierzu werde dem Kläger die Möglichkeit eines Sicherheitsgesprächs zur weiteren Aufklärung gegeben. Dieses fand im Februar 2011 statt; allerdings verweigerte der Kläger mit Ausnahme eines durch ihn ausgefüllten Fragebogens die weitere Mitwirkung.

5

Mit Verfügung vom 10. Januar 2012 wies das Regierungspräsidium K. den Kläger aus (Ziffer 1) und stützte sich dabei auf § 54 Nr. 5, § 56 Abs. 1, § 55 AufenthG a.F. Zudem wurde der Kläger verpflichtet, sich zweimal wöchentlich unter Vorlage eines amtlichen Identifikationspapiers bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, und sein Aufenthalt wurde auf den Bereich der Stadt M. begrenzt (Ziffer 2).

6

Die Ausweisung sei gerechtfertigt, weil Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger Vereinigungen unterstütze, die ihrerseits den Terrorismus unterstützten. So habe der Kläger nach den vorliegenden Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden in den Jahren 2001 bis 2010 regelmäßig an näher bezeichneten Veranstaltungen und Demonstrationen der PKK-Nachfolgeorganisationen KADEK und KONGRA-GEL teilgenommen und sei teilweise auch selbst als Redner bei derartigen Veranstaltungen aufgetreten. Von 2001 bis 2003/2004 sei er Vorsitzender des der KONGRA-GEL nahestehenden "Kurdischer Kulturverein e.V." in L. gewesen. Außerdem sei er seit langem Vorstandsmitglied und nunmehr sogar zweiter Vorsitzender des der KONGRA-GEL nahestehenden "Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM). Die Ausweisung sei trotz des dem Kläger als anerkanntem Flüchtling zustehenden besonderen Ausweisungsschutzes aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt und auch mit Blick auf die Bleibeinteressen des Klägers verhältnismäßig. Sie führe zudem nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung, vielmehr bleibe seine Abschiebung ausgesetzt, da ihr Abschiebungsverbote aufgrund der Rechtsstellung des Klägers als Flüchtling sowie nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegenstünden. Die angeordnete zweimalige wöchentliche Meldepflicht und die räumliche Beschränkung auf den Stadtbezirk M. beruhten auf § 54a AufenthG (a.F.) und seien mit Blick auf die gebotene Überwachung des Klägers und zur Eindämmung seiner gefahrbegründenden Aktivitäten erforderlich und angemessen.

7

Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Verfügung gerichtete Klage mit Urteil vom 27. Januar 2015 abgewiesen, zugleich aber den Beklagten verpflichtet, die Wirkungen der Ausweisung auf acht Jahre nach Ausreise des Klägers zu befristen. Mit Urteil vom 13. Januar 2016 hat der Verwaltungsgerichtshof die Berufung zurückgewiesen. Dabei hat er die angefochtene Ausweisungsverfügung an der seit dem 1. Januar 2016 geltenden Fassung des AufenthG gemessen. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof insbesondere ausgeführt: Im Fall des Klägers liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor, weil der Kläger in überwiegend herausgehobener Funktion die PKK und damit eine terroristische oder den Terrorismus unterstützende Vereinigung unterstützt habe. Dabei seien allerdings nur Aktivitäten nach Juli 2010 heranzuziehen, also nach der an den Kläger gerichteten Mitteilung, wegen seiner Aktivitäten werde die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis und eine Ausweisung geprüft. Als tatbestandserhebliches Unterstützen sei hiernach jede Tätigkeit des Ausländers anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt, auswirke. Nach diesem Maßstab seien die im Urteil im Einzelnen näher bezeichneten und durch den Kläger in der Sache eingeräumten Betätigungen als Teilnehmer, Mitglied, Redner und Versammlungsleiter bei diversen die PKK unterstützenden Veranstaltungen sowie als Vorstandsmitglied der die PKK unterstützenden YEK-KOM und deren Nachfolgeorganisation NAV-DEM als Unterstützungshandlung zu werten. Angesichts des Ablaufs der Veranstaltungen, der dort gehaltenen Reden und der klaren Ausrichtung auf den Führerkult um den PKK-Führer Öcalan sowie gefallene Märtyrer bestünden für das Berufungsgericht keine Zweifel daran, dass sich der Kläger den Zielen der PKK verpflichtet fühle und sie mit seinem Tun unterstützen wolle.

8

Die Ausweisungsverfügung werde auch dem erhöhten Ausweisungsschutz gerecht, der dem Kläger als anerkanntem Flüchtling nach § 53 Abs. 3 AufenthG zustehe. Denn es lägen zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU vor, wonach ein einem Flüchtling erteilter Aufenthaltstitel widerrufen werden könne.

9

Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse stehe ein gleichfalls besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse des Klägers gegenüber. Denn er habe eine Niederlassungserlaubnis besessen, die gerade durch die Ausweisungsverfügung betroffen sei. Er lebe mit deutschen Familienangehörigen (sechs seiner Kinder) in familiärer Lebensgemeinschaft und übe sein Personensorgerecht für seine minderjährigen Kinder aus. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung überwiege jedoch das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers.

10

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Revision und rügt in mehrfacher Hinsicht eine Verletzung von Bundesrecht. Zunächst habe das Berufungsgericht den Begriff des "Unterstützens" in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehlerhaft ausgelegt und angewandt. Der von ihm in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht angewandte Unterstützungsbegriff sei rechtsstaatlich nicht hinreichend konkret. Jedenfalls auf der Grundlage des neuen, seit Jahresanfang 2016 geltenden Ausweisungsrechts, das nach "schwerwiegenden" und "besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen" differenziere, sei dieser Unterstützungsbegriff nicht mehr als Abgrenzungskriterium geeignet. Notwendig sei ein gefahrenabwehrrechtlich ausgerichteter Unterstützungsbegriff, der sich etwa in Anlehnung an strafrechtliche Zurechnungskriterien wie Anstiftung oder Beihilfe oder die im Strafrecht für Organisationsdelikte entwickelten Zurechnungskriterien gewinnen lassen könne.

11

Fehlerhaft sei zudem die Auslegung und Anwendung von § 53 Abs. 3 AufenthG im Hinblick auf die sich aus Art. 24 Abs. 1 der EU-Anerkennungsrichtlinie ergebenden Voraussetzungen. Denn das Berufungsgericht habe weder festgestellt, dass der Kläger unmittelbar der PKK angehöre, noch dass sich die YEK-KOM oder die NAV-DEM selbst terroristischer Methoden bedienten. Weiterhin verkenne das Berufungsgericht die durch den Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 24. Juni 2015 (C-373/13) aufgestellten Anforderungen an die festzustellenden Unterstützungshandlungen. Danach sei insbesondere zu prüfen, ob der Betroffene selbst terroristische Handlungen begangen habe, ob und in welchem Maße er an der Planung, an Entscheidungen oder an der Anleitung anderer Personen zum Zwecke der Begehung solcher Handlungen beteiligt war und ob und in welchem Umfang er solche Handlungen finanziert oder anderen Personen die Mittel für ihre Begehung verschafft habe. Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts habe der EuGH damit nicht lediglich beispielhaft die in den maßgeblichen Vorlagefragen des Ausgangsverfahrens vorgehaltenen Handlungen herausgegriffen, sondern in einem abschließenden Sinne bestimmte Kriterien vorgegeben.

12

Weiter setze der Gefahrenbegriff des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine "konkrete Gefahr" voraus. Weder der Wortlaut noch die der Vorschrift zugrunde liegende Entstehungsgeschichte rechtfertigten eine Absenkung dieser Gefahrenschwelle. Das Berufungsgericht hätte daher prüfen müssen, ob der Kläger die für die objektive Unterstützung zu Grunde gelegten Tatsachen und Umstände gekannt und eine zweckgerichtete Unterstützung auch gewollt habe.

13

Schließlich habe das Berufungsgericht verkannt, dass dem Kläger nach dem Urteil des EuGH vom 24. Juni 2015 selbst dann, wenn ihm der Aufenthaltstitel nach Art. 24 Abs. 1 EU-Anerkennungsrichtlinie entzogen werden dürfe, für die Zeit der Fortdauer seines Flüchtlingsstatus die Rechte nach Kapitel VII dieser Richtlinie erhalten bleiben. Deshalb beantragte der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hilfsweise, den Beklagten zu der Feststellung zu verpflichten, dass ihm auch nach Bestandskraft der Ausweisung weiterhin die Rechte nach Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU zustehen mit Ausnahme der Rechte aus Art. 24 der Richtlinie.

14

Der Beklagte tritt der Revision entgegen und verteidigt das angegriffene Urteil. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich an dem Verfahren und tritt der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts bei.

15

Während des Revisionsverfahrens hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 20. Oktober 2016 die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes für den Kläger widerrufen und entschieden, ihm weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Gegen den Bescheid hat der Kläger Klage erhoben.

Entscheidungsgründe

16

Die Revision ist im Wesentlichen unbegründet. Das Berufungsgericht hat die Ausweisung des Klägers und die ihm auferlegte Meldepflicht und Aufenthaltsbeschränkung im Ergebnis zu Recht als rechtmäßig eingestuft. Allerdings war auf der Grundlage der seit 1. August 2015 geltenden Neuregelung des § 11 AufenthG der Beklagte zu einer nunmehr gebotenen Ermessensentscheidung über die festzusetzende Frist für das mit der Ausweisung einhergehende Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG zu verpflichten.

17

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Begehren des Klägers auf Aufhebung der Ausweisung (Ziffer 1 des Bescheids) sowie der Meldeauflagen und Aufenthaltsbeschränkung (Ziffer 2 des Bescheids). Aber auch der Streit über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs - im Berufungsverfahren und anschließend im Revisionsverfahren angefallen. Denn das Befristungsbegehren ist als Minus notwendiger Bestandteil des Begehrens auf Aufhebung einer Ausweisung und kann daher von den Parteien nicht gesondert aus dem Verfahren ausgegliedert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 28 ff.). Hiervon sind im Übrigen vorliegend auch die Parteien übereinstimmend ausgegangen.

18

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Meldepflicht und der Aufenthaltsbeschränkung sowie der vom Kläger hilfsweise begehrten Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Berufungsgerichts. Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 8 m.w.N.). Der Entscheidung sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162) zugrunde zu legen, zuletzt geändert durch das am 29. Dezember 2016 in Kraft getretene Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (AuslPersGrSiuSHRegG) vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3155).

19

A. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG, weil der Kläger anerkannter Flüchtling ist.

20

1. Nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht ergibt sich der Grundtatbestand der Ausweisung aus § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

21

Das neue Ausweisungsrecht gibt das mit dem Ausländergesetz 1990 eingeführte dreistufige Konzept der Ist-, Regel- und Kann-Ausweisung auf. Stattdessen hat sich der Gesetzgeber für ein einheitliches System der rechtlich gebundenen Ausweisung entschieden ("wird ausgewiesen"), das vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. § 54 AufenthG benennt konkret die Gründe, wann das Ausweisungsinteresse "besonders schwer" oder "schwer" wiegt und knüpft damit an Tatbestände der früheren Ist- und Regelausweisung an. In § 55 AufenthG werden - spiegelbildlich hierzu - Tatbestände normiert, denen zufolge das Bleibeinteresse "besonders schwer" oder "schwer" wiegt, wobei auch die Aufzählung der "schwer" wiegenden Bleibeinteressen nicht abschließend ist. In § 53 Abs. 2 AufenthG werden Gesichtspunkte genannt, die bei der Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen sind, insbesondere die Dauer des Aufenthalts, Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, Folgen der Ausweisung für Angehörige und Partner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat.

22

Die Rechtsprechung des Senats, die ihrerseits Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aufgreift (vgl. Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <301 ff.> und vom 15. November 2007 - 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 14 ff.), hat bei der Entwicklung des neuen Ausweisungsrechts eine entscheidende Rolle gespielt (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 25. Februar 2015, BT-Drs. 18/4097 S. 49). Dabei griff der Gesetzgeber Vorschläge zur Neuregelung des Ausweisungsrechts auf, die Vertreter der Rechtsprechung unterbreitet haben (vgl. Dörig, NVwZ 2010, 921 <922>; Bergmann, ZAR 2013, 318 <322> sowie Gesetzesvorschlag Bergmann/Dörig vom Januar 2014, veröffentlicht in: Barwig u.a., Steht das europäische Migrationsrecht unter Druck?, 2014, S. 111 f.). Die Ausweisung setzt nunmehr nach § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls voraus, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Sofern nach dieser Gesamtabwägung das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib in Deutschland überwiegt, wird der Ausländer ausgewiesen, andernfalls kommt eine Aufenthaltsbeendigung nach § 53 Abs. 1 AufenthG nicht in Betracht.

23

Die Tatbestandsmerkmale der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" im ausweisungsrechtlichen Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG sind nach der Begründung des Gesetzgebers im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts zu verstehen (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 49). Auch die Gefährdung dieser Schutzgüter bemisst sich nach den im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten Grundsätzen. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der aufgeführten Schutzgüter eintreten wird. Mit Blick auf die verwendeten Begriffe sollte keine Ausweitung des Gefahrenbegriffs gegenüber dem bislang geltenden Recht erfolgen, vielmehr sollten lediglich die bislang verwandten unterschiedlichen Formulierungen aneinander angeglichen werden. Die von § 53 Abs. 1 AufenthG geforderte Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers in Deutschland erfolgt dabei nach der Intention des Gesetzgebers nicht auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen eines der Ausländerbehörde eröffneten Ermessens, sondern auf der Tatbestandsseite einer nunmehr gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit gerichtlich voll überprüfbar.

24

Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber in den §§ 54, 55 AufenthG von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als entweder "besonders schwerwiegend" (Absatz 1) oder als "schwerwiegend" (Absatz 2). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sind neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 49). Die Katalogisierung schließt demnach die Berücksichtigung weiterer Umstände im Rahmen der nach § 53 Abs. 2 AufenthG zu treffenden Abwägungsentscheidung nicht aus. Dies folgt bereits aus dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG, ist aber für die schwerwiegenden, aufgrund der Vielgestaltigkeit der Lebenssituationen bewusst nicht abschließend aufgezählten Bleibeinteressen in § 55 Abs. 2 AufenthG nochmals ausdrücklich normiert. Die nunmehr als schwerwiegend oder besonders schwerwiegend qualifizierten Ausweisungsinteressen im Sinne von § 54 AufenthG decken sich weitgehend - aber nicht vollständig - mit den früheren Gründen für eine Regel- und Ist-Ausweisung, die schwerwiegenden und besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen greifen Fälle des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 AufenthG a.F. auf.

25

Bei der Abwägung sind schließlich gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Bei diesem Kriterienkatalog hat sich der Gesetzgeber an den Maßstäben orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als maßgeblich ansieht ("Boultif/Üner-Kriterien"). Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht als abschließend zu verstehen.

26

Die in § 54 AufenthG fixierten Tatbestände erfüllen zwei Funktionen: Sie sind gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen an einer Ausweisung im Sinne von § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG und weisen diesen Ausweisungsinteressen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 Halbs. 2 und Abs. 3 AufenthG geforderte Abwägung zu. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG ist deshalb entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch bei Verwirklichung eines Tatbestandes nach § 54 AufenthG stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht.

27

2. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zutreffend ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG festgestellt. Ein solches liegt dann vor, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wobei hiervon u.a. dann auszugehen ist, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Ausländer einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er (jedenfalls) eine solche Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, es sei denn, er nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand.

28

a) Der Tatbestand des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist dem Wortlaut nach weitgehend an den früheren Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung angelehnt, auf den die Ausweisungsverfügung auch ursprünglich gestützt war. Das Berufungsgericht hat für die Auslegung des Tatbestandes des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu Recht dieselben rechtlichen Maßstäbe herangezogen, die der Senat zur Auslegung des früheren Regelausweisungstatbestandes nach § 54 Nr. 5 AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung entwickelt hat.

29

In der Rechtsprechung des Senats war die Auslegung des Regelausweisungstatbestands des § 54 Nr. 5 AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung weitgehend geklärt. So ist anerkannt, dass eine Vereinigung den Terrorismus unterstützt, wenn sie sich selbst terroristisch betätigt oder wenn sie die Begehung terroristischer Taten durch Dritte veranlasst, fördert oder befürwortet. Die Schwelle der Strafbarkeit muss dabei nicht überschritten sein, da die Vorschrift der präventiven Gefahrenabwehr dient und auch die Vorfeldunterstützung durch sogenannte Sympathiewerbung erfasst. Der Tatbestand des Unterstützens des Terrorismus durch eine Vereinigung setzt allerdings voraus, dass die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung (auch) auf die Unterstützung des Terrorismus gerichtet sind; ein bloßes Ausnutzen der Strukturen einer Vereinigung durch Dritte in Einzelfällen reicht hierfür nicht aus (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 20 ff. und vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 13 ff.).

30

Für den im Gesetz verwandten Begriff des Terrorismus sind Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen. Jedoch können wesentliche Kriterien aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. L 164 S. 3) sowie dem gemeinsamen Standpunkt des Rates 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) gewonnen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist die Aufnahme einer Organisation in die vom Rat der Europäischen Union angenommene Liste terroristischer Organisationen im Anhang zum Gemeinsamen Standpunkt 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABI. L 344 S. 93 - vgl. auch ABl. L 116 vom 3. Mai 2002, S. 75) ein deutlicher Anhaltspunkt dafür, dass die Organisation terroristischer Art ist oder im Verdacht steht, eine solche zu sein (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Juni 2015 - C-373/13 [ECLI:EU:C:2015:413], H.T./Land Baden-Württemberg - Rn. 83). Hier sind von den Tatsachengerichten ergänzende Feststellungen zu treffen. Dabei ist trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs anerkannt, dass als terroristisch jedenfalls der Einsatz gemeingefährlicher Waffen und Angriffe auf das Leben Unbeteiligter zur Durchsetzung politischer Ziele anzusehen sind (Urteile vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>, vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 und Beschluss vom 14. Oktober 2008 - 10 C 48.07 - BVerwGE 132, 79 <87> m.w.N.).

31

Weiterhin ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass die individuelle Unterstützung einer terroristischen Vereinigung oder einer Vereinigung, die eine terroristische Vereinigung unterstützt, im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG a.F. alle Verhaltensweisen erfasst, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeit der Vereinigung auswirken. Darunter kann die Mitgliedschaft in der terroristischen oder in der unterstützenden Vereinigung ebenso zu verstehen sein wie eine Tätigkeit für eine solche Vereinigung ohne gleichzeitige Mitgliedschaft. Auch die bloße Teilnahme an Demonstrationen oder anderen Veranstaltungen kann eine Unterstützung in diesem Sinne darstellen, wenn sie geeignet ist, eine positive Außenwirkung im Hinblick auf die durch § 54 Nr. 5 AufenthG a.F. missbilligten Ziele zu entfalten. Auf einen nachweisbaren oder messbaren Nutzen für diese Ziele kommt es nicht an, ebenso wenig auf die subjektive Vorwerfbarkeit der Unterstützungshandlungen. Im Hinblick auf den Schutz der Meinungsfreiheit und das Gebot der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Betätigungsfreiheit des Einzelnen erfüllen allerdings solche Handlungen den Tatbestand der individuellen Unterstützung nicht, die erkennbar nur auf einzelne, mit terroristischen Zielen und Mitteln nicht im Zusammenhang stehende - etwa humanitäre oder politische - Ziele der Vereinigung gerichtet sind. Für den Ausländer muss schließlich die eine Unterstützung der Vereinigung, ihrer Bestrebungen oder ihrer Tätigkeit bezweckende Zielrichtung seines Handelns erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Auf eine darüber hinaus gehende innere Einstellung des Ausländers kommt es hingegen nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 15 und 18 m.w.N.).

32

Diese vom Senat zur Auslegung von § 54 Nr. 5 AufenthG a.F. entwickelten Grundsätze lassen sich entgegen dem Vorbringen der Revision auch auf den Tatbestand des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung nach dem neu gefassten § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG übertragen. Ein Vergleich der Textfassungen ergibt, dass der Gesetzgeber die früheren Regelausweisungstatbestände nach § 54 Nr. 5, 5a und 5b AufenthG a.F. in der neuen Vorschrift des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zusammengefasst hat, wobei unter den vorliegenden Umständen die Fälle staatsgefährdender Gewalttaten nach § 89a StGB außer Betracht bleiben können. Gegenüber dem früheren Recht ist der Hinweis entfallen, dass eine Ausweisung auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen nur gestützt werden kann, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Eine Änderung der materiellen Rechtslage ist damit aber nicht verbunden, da auch nach neuem Recht eine fortbestehende Gefahr erforderlich ist. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ("gefährdet") und ist implizit auch dem neuen Zusatz in § 54 Abs. 1 Nr. 2 letzter Halbsatz AufenthG zu entnehmen, wonach von einer Gefährdung nicht auszugehen ist, wenn der Ausländer erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand nimmt.

33

Den Gesetzgebungsmaterialien ist nichts dafür zu entnehmen, dass sich der Gesetzgeber hinsichtlich des Tatbestandes des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung für eine Abkehr von dem bisherigen Verständnis des Ausweisungstatbestandes hat entscheiden wollen. Zwar hat er in Satz 2 einen Halbsatz neu eingefügt, wonach ein Unterstützen nicht vorliegt, wenn der Ausländer erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand nimmt. Das stellt jedoch keine inhaltliche Änderung des Unterstützerbegriffs dar, sondern normiert lediglich ein in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits entwickeltes Kriterium zur individuellen Zurechnung eines Unterstützerverhaltens. Denn der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die objektive Tatsache der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in der Vergangenheit dem Ausländer dann nicht mehr zugerechnet werden kann, wenn er sich glaubhaft hiervon distanziert (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <131>, vom 30. April 2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 35 und vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 17). Die nunmehr normierten Tatbestandsmerkmale lassen keine Abkehr von der Senatsrechtsprechung erkennen, denn ein "erkennbares Abstandnehmen" vom sicherheitsgefährdenden Handeln entspricht dem Distanzieren im Sinne der Senatsrechtsprechung. Allerdings findet sich in der Begründung zu dieser Neuregelung die Aussage, die Möglichkeit der "Exkulpation" zeige, dass der Betroffene Kenntnis davon gehabt haben müsse, dass die Vereinigung den Terrorismus unterstütze, der "undolose Unterstützer" daher nicht unter die Regelung falle (BT-Drs. 18/4097 S. 51). Aus diesem Satz in der Gesetzesbegründung könnte man ableiten, der Gesetzgeber habe eine Regelung treffen wollen, nach der für die subjektive Seite des Unterstützens mehr erforderlich ist (Vorsatz) als nach dem bisherigen Verständnis (Erkennbarkeit). Wäre dies tatsächlich so Gesetz geworden, hätte dies eine nicht unerhebliche Einschränkung der Rechtsprechung zur subjektiven Zurechnung bedeutet, nach der es ausreicht, dass der Ausländer erkennen konnte, dass die Vereinigung den Terrorismus unterstützt. Die Begründung hat jedoch im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden, denn nach diesem wird Vorsatz im Hinblick auf die terroristische Betätigung der unterstützten Vereinigung nicht verlangt. Es reicht somit auch für die Erfüllung des subjektiven Unterstützertatbestands weiterhin die Erkennbarkeit einer terroristischen Betätigung der Vereinigung aus. Vorsatz bleibt hingegen weiter erforderlich für das eigene Handeln des Ausländers, das von dem Ziel geleitet sein muss, die Vereinigung zu unterstützen. Für diese Auslegung spricht auch, dass der Gesetzgeber der Vorfeldunterstützung des Terrorismus durch die Gesetzesänderung erhöhte Bedeutung beimessen wollte, indem er den bisher als Tatbestand für eine Regelausweisung normierten Ausweisungsgrund zu einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 AufenthG heraufstufte, was im bisherigen Recht dem Tatbestand einer zwingenden Ausweisung entsprochen hätte. Es fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass das stärkere Gewicht, das der Gesetzgeber diesem Ausweisungsinteresse beimessen wollte (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 23), mit einer engeren Interpretation seiner Tatbestandsmerkmale einhergehen sollte.

34

Eine vom früheren Begriffsverständnis abweichende Auslegung des Tatbestandes des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass dieser bisher eigenständige Tatbestand nunmehr in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG funktional mit einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verknüpft wird ("hiervon ist auszugehen, wenn"). Vielmehr ergibt eine systematische Auslegung der Vorschrift, dass der Inhalt des Ausweisungstatbestandes des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung unverändert geblieben ist, während der Begriff der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland eine Erweiterung erfahren hat. Denn der Gesetzgeber hat mit § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nunmehr kraft Gesetzes definiert, wann von einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auszugehen ist, nämlich (jedenfalls) dann, wenn eine der dort genannten Tatbestandsalternativen erfüllt ist. Die Auslegung des Begriffs der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland richtet sich daher (auch) nach diesen Tatbestandsalternativen, nicht umgekehrt. Anderes lässt sich hinsichtlich des Gefahrenmaßstabs auch nicht der Regelung des § 53 Abs. 1 AufenthG entnehmen. Denn anders als bei den übrigen Ausweisungsinteressen hat der Gesetzgeber in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG das Erfordernis einer Gefahr (nochmals) ausdrücklich aufgeführt, was unter systematischen Gesichtspunkten für eine gewisse Eigenständigkeit des Gefahrentatbestandes gegenüber § 53 Abs. 1 AufenthG fruchtbar gemacht werden kann. Es gilt damit nunmehr, dass das Gesetz bereits die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Bundesgebiet als eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ansieht, unabhängig davon ob die terroristische Vereinigung Gewaltakte auch auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland oder gegen deutsche Einrichtungen im Ausland begeht. Weiterhin gilt jedenfalls für die Fälle des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung ein abgesenkter Gefahrenmaßstab, der auch Vorfeldmaßnahmen erfasst und keine von der Person des Unterstützers ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefahr erfordert. Die Rechtsprechung des Senats zur Unterstützung des Terrorismus durch Handlungen in dessen Vorfeld hat dem Rechnung zu tragen und dabei auch die Bedeutung zu berücksichtigen, die der Unionsgesetzgeber dieser Vorfeldunterstützung durch den Erwägungsgrund 37 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) - EU-Anerkennungsrichtlinie - beimisst.

35

Ein Anlass für eine verfassungsrechtliche Neubewertung des Gefahrenmaßstabs besteht entgegen dem umfangreichen Revisionsvorbringen nicht. In der Rechtsprechung des Senats ist seit dem Urteil zum Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus - Terrorismusbekämpfungsgesetz - vom 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361, 3142) anerkannt, dass der Unterstützungsbegriff weit auszulegen und anzuwenden ist, um damit der auch völkerrechtlich begründeten Zielsetzung des Gesetzes gerecht zu werden, dem Terrorismus schon im Vorfeld die logistische Basis zu entziehen (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <127 ff.>). Maßgeblich ist, inwieweit das festgestellte Verhalten des Einzelnen zu den latenten Gefahren der Vorfeldunterstützung des Terrorismus nicht nur ganz unwesentlich oder geringfügig beiträgt und deshalb selbst potenziell gefährlich erscheint. Wegen der tatbestandlichen Weite des Unterstützungsbegriffs ist allerdings bei der Anwendung der Vorschrift darauf zu achten, dass nicht unverhältnismäßig namentlich in das auch Ausländern zustehende Recht auf freie Meinungsäußerung jenseits der zumindest mittelbaren Billigung terroristischer Bestrebungen eingegriffen wird. Einen bislang nicht berücksichtigten verfassungsrechtlichen Rechtssatz, der den so umschriebenen Ausgleich zwischen dem legitimen und schon wegen seiner völkerrechtlichen Vorgaben besonders gewichtigen gesetzgeberischen Ziel der Terrorismusbekämpfung und den geschützten Grundrechtspositionen eines Ausländers infrage stellen würde, zeigt die Revision nicht auf. Insbesondere sprechen der Charakter der Ausweisung als Maßnahme der Gefahrenabwehr sowie die spezifische Zielsetzung der Terrorismusbekämpfung gegen eine Übertragung strafrechtlicher Rechtsprechungsgrundsätze, wie sie etwa für die Abgrenzung strafbarer und straffreier Meinungsäußerungen gelten. Der Senat hält auch unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben an seiner bisherigen Rechtsprechung fest.

36

b) Das Berufungsgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG angenommen. Dies gilt sowohl für die Qualifizierung der PKK als terroristische oder jedenfalls den Terrorismus unterstützende Vereinigung (aa) als auch - jedenfalls im Ergebnis - für die Qualifizierung der Handlungen des Klägers als relevante Unterstützungshandlungen (bb). Ebenso wenig zu beanstanden ist die Annahme des Berufungsgerichts, dass der Kläger nicht im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand genommen hat (cc).

37

(aa) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist die vom Berufungsgericht vorgenommene Qualifizierung der PKK als eine den Terrorismus unterstützende Vereinigung im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Das Gericht legt seiner Entscheidung die in der Rechtsprechung anerkannten Grundsätze für die Definition einer terroristischen Vereinigung zugrunde (UA Bl. 27 f.) und geht damit von einem zutreffenden Maßstab aus. Für die Bewertung der PKK als eine solche Vereinigung hat das Gericht zunächst darauf abgestellt, dass sie auch noch aktuell auf der vom Rat der Europäischen Union erstellten Liste der Terrororganisationen aufgeführt ist, ohne diesem Umstand eine über einen deutlichen Anhaltspunkt hinausgehende Bedeutung beizumessen (UA Bl. 31). Hieran anknüpfend hat das Berufungsgericht sodann auf der Grundlage der ihm vorliegenden Erkenntnismittel festgestellt, dass die PKK zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele in der Türkei weiterhin Gewalttaten gegen staatliche Einrichtungen und Amtsträger sowie die Zivilbevölkerung verübt und im Übrigen etwa zur Finanzierung ihrer Aktivitäten oder zur Bekämpfung von Kritikern auch nicht vor Verbrechen gegenüber ihren eigenen Anhängern und auch darüber hinaus gegenüber der kurdischstämmigen Bevölkerung insgesamt zurückschreckt. Insbesondere sei die zwischen dem türkischen Staat und der PKK ausgehandelte (relative) Waffenruhe seitens der PKK zuletzt Ende Juli 2015 ausdrücklich aufgekündigt worden (UA Bl. 32 f.). Diese tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts sind von der Revision nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen worden und daher für den Senat bindend. Sie erlauben dem Senat zudem eine eigene rechtliche Bewertung des Inhalts, dass die PKK eine terroristische Vereinigung darstellt und nicht lediglich eine den Terrorismus unterstützende Vereinigung.

38

(bb) Im Ergebnis nicht zu beanstanden ist auch die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, dass der Kläger die PKK in rechtserheblicher Weise individuell unterstützt hat. Allerdings ist das Gericht unter Verstoß gegen Bundesrecht davon ausgegangen, dass zu Lasten des Klägers nur solche Unterstützungshandlungen berücksichtigt werden dürfen, die in zeitlicher Hinsicht nach der Mitteilung des Regierungspräsidiums vom Juli 2010 lagen, wonach eine Rücknahme der Niederlassungserlaubnis und eine Ausweisung geprüft würden.

39

Das Berufungsgericht ist insoweit rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass ein Ausweisungsinteresse bereits dann aus Gründen des Vertrauensschutzes verbraucht ist und nicht mehr zur Begründung einer Ausweisung herangezogen werden kann, wenn ein Aufenthaltstitel in Kenntnis oder dem Staat zuzurechnender Unkenntnis erteilt oder verlängert wurde (UA S. 34 f.). Zwar ist in der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich anerkannt ist, dass Ausweisungsgründe in Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes einem Ausländer nur dann und so lange entgegengehalten werden dürfen, als sie noch aktuell und nicht verbraucht sind und die Ausländerbehörde auf ihre Geltendmachung nicht ausdrücklich oder konkludent verzichtet hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <313> und vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <121 f.>). Aus der Ableitung dieser Kriterien aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes folgt jedoch, dass die Ausländerbehörde einen ihr zurechenbaren Vertrauenstatbestand geschaffen haben muss, aufgrund dessen der Ausländer annehmen kann, ihm werde ein bestimmtes Verhalten im Rahmen einer Ausweisung nicht entgegengehalten. Aus der Rechtsprechung des Senats ergibt sich zudem, dass ein hierauf gegründetes Vertrauen des Ausländers schützenswert sein muss. Hieran fehlt es, wenn die Ausländerbehörde - wie vorliegend - dem Kläger auf dessen Anfrage zum Stand des Verfahrens auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis lediglich mitteilt, dass gegenwärtig noch eine Sicherheitsüberprüfung stattfinde, und dann zu einem späteren Zeitpunkt ohne jegliche Erläuterung zum Ausgang der Sicherheitsüberprüfung die begehrte Niederlassungserlaubnis erteilt. Auf dieser Grundlage kann der Betroffene nämlich weder wissen, welchen konkreten Umständen die Ausländerbehörde im Rahmen ihrer Sicherheitsüberprüfung nachgegangen ist, noch zu welchen konkreten Erkenntnissen sie hierbei nach Abschluss der Überprüfung gelangt ist. Daher kann der Betroffene aus der Erteilung der Niederlassungserlaubnis billigerweise auch nicht schließen, dass die Ausländerbehörde bei ihrer Sicherheitsüberprüfung alle als potentielle Versagungsgründe in Betracht kommenden Umstände tatsächlich ermittelt und sodann als für die Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis unbeachtlich eingestuft hat.

40

Das angefochtene Urteil beruht jedoch nicht auf diesem Rechtsverstoß, weil das Berufungsgericht auch ohne Berücksichtigung der vor dem für maßgeblich erachteten Zeitpunkt liegenden Umstände von rechtserheblichen individuellen Unterstützungshandlungen des Klägers ausgegangen ist und die diesbezüglichen Feststellungen revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Im Übrigen wäre der Kläger durch die Nichtberücksichtigung weiterer, ihn belastender Umstände auch nicht beschwert. Im Einzelnen hat das Berufungsgericht für die Bestimmung der rechtserheblichen individuellen Unterstützungshandlungen zutreffend auf die in der Rechtsprechung des Senats entwickelten Maßstäbe zu § 54 Nr. 5 AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung abgestellt (UA Bl. 35 ff.). Keine abweichende Beurteilung ergibt sich aus dem Einwand des Klägers, die PKK nicht unmittelbar unterstützt zu haben, sondern sich in legalen Vereinigungen betätigt zu haben, die ihrerseits die PKK im Wissen um deren Charakter gewollt und gezielt unterstützen. Denn es stellt keine verminderte Gefahr der Vorfeldunterstützung des Terrorismus dar, wenn die Unterstützung terroristischer Vereinigungen nicht durch isolierte Einzelhandlungen, sondern in Vereinigung mit anderen erfolgt. Hierin liegt auch kein Fehlen der Unmittelbarkeit der Unterstützungshandlungen.

41

In Anwendung dieser Grundsätze hat das Berufungsgericht sodann nach Auswertung der ihm vorliegenden umfangreichen Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden festgestellt, dass der Kläger über mehrere Jahre in teils hervorgehobener Funktion als Vorstandsmitglied, Versammlungsleiter oder Redner regelmäßig an Veranstaltungen teilgenommen und mitgewirkt hat, bei denen offene Propaganda für die PKK betrieben worden ist (UA Bl. 39 - 42). Unter Einbeziehung der Aktivitäten des Klägers in der Zeit seit 2001, wie sie in der Ausweisungsverfügung (S. 3 - 9, 16 - 23) aufgelistet, vom Kläger nicht in Abrede gestellt und vom Berufungsgericht in Bezug genommen worden sind (UA S. 39 f.), stellt sich das Unterstützungshandeln des Klägers wie folgt dar: Der Kläger war von 2001 bis 2003/2004 Vorsitzender des "Kurdischen Kulturverein e.V." in L., der der KONGRA-GEL nahestand. Im Oktober 2004 wurde er in das 15-köpfige Führungskomitee der "Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland" (YEK-KOM) gewählt und gehörte diesem bis zur Auflösung der YEK-KOM im Jahr 2014 an, zeitweilig (bis 2011) war er der 2. Vorsitzende der Vereinigung. Er hat sich im Juni 2014 in den fünfköpfigen Vorstand der die PKK unterstützenden NAV-DEM wählen lassen und diese Vorstandstätigkeit bis zum Tage der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht ausgeübt (UA Bl. 43 - 45).

42

Der Kläger beteiligte sich seit Mitte 2003 regelmäßig an Kundgebungen und Demonstrationen in unterschiedlichen deutschen Städten (u.a. Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, Frankfurt, Gelsenkirchen, Düsseldorf, Stuttgart) und in Straßburg/Frankreich, die sich unter anderem für eine Freilassung des inhaftierten PKK-Führers Öcalan aussprachen, des Gründungsjahrestags der PKK und/oder der "Märtyrer des kurdischen Freiheitskampfes" gedachten und Parolen auf die PKK ausriefen. Der Kläger hielt auf einigen dieser Veranstaltungen eine Rede, im Februar 2007 hob er dabei die Bedeutung der Gefallenen für die kurdische Sache hervor, im Januar 2009 sprach er zur aktuellen Lage der Kurden in ihrer Heimat, im März 2010 kritisierte er die Exekutivmaßnahmen der belgischen Polizei gegenüber dem kurdischen TV-Sender ROJ-TV, im November 2011 sprach er auf einer Kundgebung, die zum Thema u.a. die Verwendung von Napalmgas und chemischer Waffen gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei hatte, im Januar 2013 verurteilte er auf einer Kundgebung die Ermordung von drei PKK-Aktivisten in Paris, im Oktober 2015 hielt er anlässlich einer Protestaktion der NAV-DEM in Frankfurt eine Rede.

43

Nicht zu beanstanden ist die Würdigung des Berufungsgerichts, dass dem Kläger nicht nur seine individuellen Unterstützungshandlungen, sondern sämtliche Aktionen der YEK-KOM und der NAV-DEM aufgrund seiner Stellung als Vorstandsmitglied persönlich zuzurechnen sind. Die YEK-KOM, der deutschlandweit etwa 60 kurdische Vereine angeschlossen sind, unterstützt die PKK nach den gerichtlichen Feststellungen durch eine Vielzahl von Aktionen. Sie betreibe eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, darunter immer wieder Aktionen und Aufrufe mit dem Ziel der Aufhebung des Betätigungsverbots der Kurdischen Arbeiterpartei in Deutschland. Auch mobilisiere sie jedes Jahr aus Anlass der Newroz-Feier die kurdische Bevölkerung in Europa zu zentralen Kundgebungen. Dabei würden Grußworte von Öcalan oder von anderen PKK-Führungsmitgliedern vorgelesen oder ausgestrahlt. Im Zentrum stünden dann die aktuellen politischen Interessen der PKK. Auf der Agenda der vergangenen Jahre hätten Themen gestanden wie "Freiheit für Öcalan" und "Frieden für Kurdistan". Im Arbeitsprogramm der YEK-KOM sei die "logistische Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes Kurdistans" verankert. Der Verein biete der PKK oder ihren Nachfolgeorganisationen eine Plattform, indem er ihre Erklärungen und Äußerungen von Funktionären unkommentiert, d.h. auch unkritisch veröffentliche. Auf Maßnahmen der Sicherheitsbehörden oder der Justiz gegen Personen und Einrichtungen mit dem Verdacht eines PKK-Bezugs reagiere die YEK-KOM stets mit einer verurteilenden Erklärung. Hochrangige YEK-KOM-Funktionäre beteiligten sich an PKK-Aktionen und träten auf PKK-Veranstaltungen als Redner auf. Für die NAV-DEM gilt nach den getroffenen Feststellungen nichts anderes. Der Verein sei keine Neugründung, sondern eine Umbenennung des Vereins YEK-KOM. Im Übrigen werde deutlich, dass die NAV-DEM ihre Veranstaltungen und Kundgebungen mit gleichem Ablauf und gleichen Themen durchführe wie zuvor schon unter dem Namen YEK-KOM. Diese zutreffende Würdigung bedeutet auch nicht, dass jeder Einsatz für die Interessen und Belange kurdischer Volkszugehöriger (oder eine Kritik an der Kurdenpolitik der Türkischen Republik) als eine Unterstützung der PKK und damit des Terrorismus einzuordnen wäre.

44

(cc) Soweit schließlich nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausscheidet, wenn der Ausländer ernsthaft und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand nimmt, hat das Berufungsgericht ebenfalls in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass der Kläger ausweislich seines auch während des Ausweisungsverfahrens fortgesetzten Engagements als Vorstandsmitglied, Versammlungsleiter und Redner auch künftig an seiner Unterstützung der PKK festhalten wird. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Unterstützerverhalten des Klägers sind detailreich und stellen - entgegen der Auffassung der Revision - keine zu schmale Tatsachengrundlage für die getroffenen Feststellungen dar. Damit erfüllt der Kläger die gesetzlichen Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, und es liegt ein Ausweisungsinteresse vor, das besonders schwer wiegt.

45

3. Die angefochtene Verfügung des Beklagten erfüllt auch die besonderen Voraussetzungen, die nach § 53 Abs. 3 AufenthG an die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings zu stellen sind. Ein solcher darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

46

a) Diese den Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG ergänzende Vorschrift legt erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen für mehrere rechtlich privilegierte Personengruppen fest, nämlich für Ausländer, die als Asylberechtigte anerkannt sind, die im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießen, die einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention besitzen, denen nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder die eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzen. Für all diese Personengruppen gilt der besondere aus Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG abgeleitete Maßstab, den der Gerichtshof der Europäischen Union auch auf Ausländer erstreckt hat, denen nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - Slg. 2011, I-12735 Rn. 79, 86). Der Senat folgt nicht der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, wonach die Voraussetzungen des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG von vornherein "bereichsspezifisch" gemäß dem durch das Unionsrecht für den jeweiligen Personenkreis bestimmten Ausweisungsschutz auszulegen sind. Vielmehr hat der Gesetzgeber den unionsrechtlichen Schutzstandard für daueraufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige für ausreichend befunden und dessen Geltung für alle genannten Personengruppen angeordnet. Dies entbindet freilich nicht davon, in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob für die jeweils betrachtete Personengruppe der so durch den nationalen Gesetzgeber definierte Ausweisungsschutz dem unionsrechtlichen Maßstab tatsächlich genügt. Nur wenn der unionsrechtliche Maßstab strenger ist als derjenige, der durch den Gesetzgeber in § 53 Abs. 3 AufenthG festgelegt worden ist, bedarf § 53 Abs. 3 AufenthG nach allgemeinen Grundsätzen einer unionsrechtskonformen Auslegung, die angesichts der Weite der Tatbestandsmerkmale und des erkennbaren gesetzgeberischen Willens, europarechtlichen Maßstäben zu genügen, auch möglich ist (so auch Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 53 AufenthG Rn. 54).

47

Im vorliegenden Fall ist § 53 Abs. 3 AufenthG unionsrechtskonform nach den Vorgaben der EU-Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU auszulegen. Die Richtlinie formuliert keine Vorgaben für eine Ausweisung im Sinne des deutschen Rechts, wohl aber für eine Zurückweisung in den Herkunftsstaat (Art. 21 Abs. 2 und 3) und für den Entzug des Aufenthaltstitels (Art. 24 Abs. 1).

48

b) Nach Art. 21 Abs. 3 der EU-Anerkennungsrichtlinie darf ein Mitgliedstaat den einem Flüchtling erteilten Aufenthaltstitel widerrufen, wenn die Voraussetzungen für eine Zurückweisung nach Art. 21 Abs. 2 vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 8.11 - BVerwGE 143, 138 Rn. 21). Fällt ein Flüchtling nicht in den Anwendungsbereich von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie, kann auch Abs. 3 dieser Vorschrift nicht zu Anwendung kommen (EuGH, Urteil vom 24. Juni 2015 - C-373/13 - Rn. 44). Eine Zurückweisung ist nach Art. 21 Abs. 2 Buchst. a zulässig, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass der Flüchtling eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Es kann offenbleiben, ob vom Kläger eine Gefahr im Sinne dieser Vorschrift ausgeht, denn die Zurückweisung ist nur unter der weiteren Voraussetzung rechtmäßig, dass sie dem Mitgliedstaat nicht aufgrund seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist (Art. 21 Abs. 2). Dazu zählen die Verpflichtungen aus Art. 3 EMRK (vgl. Begründung der Kommission im Richtlinienvorschlag vom 12. September 2001 KOM (2001) 510 endg. S. 33 zu Art. 19). Dem Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK kommt absoluter Charakter zu; es kann mithin - anders als das Refoulement-Verbot nach Art. 33 Abs. 1 GFK - nicht unter den Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU i.V.m. Art. 35 Abs. 2 GFK durchbrochen werden (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 5. April 2016 - C-404/15 und C-659/15 PPU [ECLI:EU:C:2016:198], Aranyosi und Căldăraru - Rn. 85 - 87; EGMR, Urteil vom 17. Dezember 1996 - Nr. 71/1995/577/663, Ahmed/Österreich - NVwZ 1997, 1100 Rn. 39 - 41). Für den Kläger besteht ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK. Denn das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat im Anerkennungsbescheid vom 9. Oktober 1997 nicht nur die Flüchtlingseigenschaft des Klägers nach dem seinerzeit maßgeblichen § 51 Abs. 1 AuslG 1990, sondern auch ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 4 AuslG 1990 hinsichtlich der Türkei festgestellt und dieses damit begründet, dass dem Kläger in der Türkei unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Diese Feststellung des Bundesamts begründet hier ein - absolutes - nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Insoweit kommt der Feststellung des Bundesamts im vorliegenden Verfahren über § 42 AsylG auch Bindungswirkung zu. Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU begrenzt damit den behördlichen Handlungsspielraum für eine Abschiebung in einen Verfolgerstaat oder einen Staat, in dem Gefahren nach Art. 3 EMRK drohen. Die Vorschrift setzt jedoch keine Maßstäbe für eine lediglich "inlandsbezogene" Ausweisung, die - wie hier - insbesondere den Verlust des Aufenthaltstitels zur Folge hat.

49

c) Unionsrechtliche Maßstäbe für eine zum Verlust des Aufenthaltstitels eines Flüchtlings führende inlandsbezogene Ausweisung lassen sich aus Art. 24 Abs. 1 EU-Anerkennungsrichtlinie gewinnen. Die Vorschrift verpflichtet die Mitgliedstaaten, einem Flüchtling so bald wie möglich nach der Anerkennung einen Aufenthaltstitel auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.

50

(aa) Der Inhalt dieser Norm wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union in einem auf ein Vorlageersuchen des Berufungsgerichts ergangenen Urteil vom 24. Juni 2015 (C-373/13) näher bestimmt. Die Entscheidung bezieht sich zwar auf Art. 24 Abs. 1 der EG-Anerkennungsrichtlinie 2004/83/EG, ihre Aussagen sind aber uneingeschränkt auf die in der Sache unveränderte Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU übertragbar. Danach kann einem Flüchtling nach Art. 24 Abs. 1 nicht nur die Erteilung eines Aufenthaltstitels versagt werden, sondern der erteilte Aufenthaltstitel auch nachträglich widerrufen werden, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne dieser Bestimmung vorliegen (a.a.O. Rn. 55). Soweit in der Neufassung der Vorschrift nunmehr von zwingenden Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die Rede ist, ist damit keine inhaltliche Änderung verbunden. Diese Wirkung einer Entziehung des Aufenthaltstitels kommt der hier verfügten Ausweisung zu, die wegen des entgegenstehenden Abschiebungsverbots nach Art. 3 EMRK nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung führt. Entgegen einer am Wortlaut orientierten Auslegung von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie hat der darin verwendete Begriff der "zwingenden Gründe" nach dem EuGH-Urteil eine weitere Bedeutung als der Begriff der "stichhaltigen Gründe" in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie. Das bedeutet, dass bestimmte Umstände, die nicht den Schweregrad aufweisen, um eine Zurückweisung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie verfügen zu können, den Mitgliedstaat gleichwohl dazu berechtigen können, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie dem betroffenen Flüchtling seinen Aufenthaltstitel zu entziehen (a.a.O. Rn. 75).

51

Bei der Bestimmung des Bedeutungsgehalts der "zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung" hat der EuGH zunächst Bezug auf seine Rechtsprechung zu den Begriffen der "öffentlichen Sicherheit" und der "öffentlichen Ordnung" in Art. 27 und 28 der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG genommen (a.a.O. Rn. 77 ff.). Danach umfasst der Begriff "öffentliche Sicherheit" im Sinne von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats. Die öffentliche Sicherheit kann danach berührt sein, wenn das Funktionieren staatlicher Einrichtungen und seiner wichtigen öffentlichen Dienste beeinträchtigt wird oder eine Gefahr für das Überleben der Bevölkerung oder einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker besteht oder militärische Interessen beeinträchtigt werden. Dabei deutet der Begriff der "zwingenden Gründe" auf einen besonders hohen Schweregrad der Beeinträchtigung hin (a.a.O. Rn. 78). Den Begriff der "öffentlichen Ordnung" hat der EuGH für die Unionsbürgerrichtlinie dahin ausgelegt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (a.a.O. Rn. 79). Zugleich betont er, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern (a.a.O. Rn. 77).

52

Für den Fall der Unterstützung des Terrorismus hat der EuGH zudem auf den 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83/EG, heute 37. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU hingewiesen, wonach der Begriff der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" auch für die Fälle gilt, in denen ein Drittstaatsangehöriger einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt. Dabei muss das nationale Gericht in einem ersten Schritt prüfen, ob die Handlungen der fraglichen Organisation die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedrohen. Wird eine vom Flüchtling unterstützte Vereinigung in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABI. L 344 S. 93) geführt, ist dies ein deutlicher Anhaltspunkt dafür, dass sie entweder eine terroristische Organisation ist oder im Verdacht steht, eine solche Organisation zu sein (a.a.O. Rn. 83). Allein der Umstand, dass ein Flüchtling eine solche Organisation unterstützt hat, darf jedoch nicht automatisch zur Aufhebung seines Aufenthaltstitels führen. Vielmehr ist in einem zweiten Schritt einzelfallbezogen die Rolle zu prüfen, die der Betreffende im Rahmen seiner Unterstützung dieser Organisation tatsächlich gespielt hat (a.a.O. Rn. 90), und auch der Schweregrad der Gefahr zu beurteilen, die von seinen Handlungen für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (a.a.O. Rn. 92).

53

(bb) Das Berufungsgericht hat die vom Kläger geleisteten und ihm zuzurechnenden Unterstützungshandlungen an dem vom EuGH präzisierten Maßstab für die Auslegung des Art. 24 Abs. 1 der EU-Anerkennungsrichtlinie gemessen und ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass sich hieraus zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ergeben, die einen Entzug des Aufenthaltstitels gegenüber dem Kläger rechtfertigen. Das Gericht hat bereits im Rahmen seiner Prüfung des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausführlich begründet, warum die PKK eine terroristische oder jedenfalls den Terrorismus unterstützende Vereinigung darstellt (UA S. 27 - 34). Dabei hat es gewürdigt, dass die PKK auf der vom Rat der Europäischen Union erstellten Liste der Terrororganisationen aufgeführt ist und auch weiterhin terroristische Aktivitäten entfaltet. In einem zweiten Schritt hat es näher dargelegt, warum die in Deutschland agierenden Vereinigungen YEK-KOM und NAV-DEM, für die der Kläger seit mehr als zwölf Jahren in hervorgehobenen Funktionen wirkte, und der Kläger auch individuell durch Anmeldung und Leitung von Versammlungen sowie Redebeiträge und weitere Aktivitäten die PKK unterstützt haben und weiter unterstützen (UA S. 55, 34 - 48). Die Bewertung des Berufungsgerichts, dass der Kläger damit die Voraussetzungen für den Entzug seines Aufenthaltstitels nach Art. 24 Abs. 1 der EU-Anerkennungsrichtlinie erfüllt, steht mit der Rechtsprechung des EuGH in Einklang. Zwar hat er selbst keine terroristischen Handlungen begangen, auch nicht andere Personen hierzu angeleitet oder sich an der Planung oder Finanzierung terroristischer Aktionen beteiligt, wie das der EuGH als mögliches Unterstützerhandeln erwähnt (a.a.O. Rn. 90). Diese Aufzählung des Gerichtshofs ist jedoch nur beispielhaft, macht zugleich aber deutlich, dass der Betreffende eine gewichtige Rolle im Rahmen seiner Unterstützung der terroristischen Organisation gespielt haben muss.

54

Bei der Frage, was als gewichtig anzusehen ist, ist der 37. Erwägungsgrund der Richtlinie zu berücksichtigen, wonach auch die Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt, und die Unterstützung einer derartigen Vereinigung als Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung anzusehen sind. Die abschließende Bewertung, ob die Unterstützungshandlung hinreichend gewichtig ist, um "zwingende Gründe" darzustellen, überlässt der Gerichtshof dem verantwortlichen nationalen Gericht und erkennt auch einen Einschätzungsspielraum der Mitgliedstaaten an, nach ihren nationalen Bedürfnissen zu bestimmen, was die nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung erfordern. Diese abschließende Bewertung hat das Berufungsgericht dahin getroffen, dass die Unterstützungshandlungen des Klägers dem von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie geforderten Gewicht entsprechen. Es hat dies auf der Grundlage der Gewichtungsvorgabe des nationalen Gesetzgebers in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nachvollziehbar mit dem mehr als zwölfjährigem Unterstützerhandeln des Klägers in hervorgehobener Position innerhalb zweier Vereinigungen begründet, in dessen Rahmen er an zahlreichen Veranstaltungen mitwirkte, an denen sich Akteure beteiligten, die offen für die PKK warben und deren Kurs vorbehaltlos befürworteten (Auftreten in Guerillauniform, Märtyrergedenken, Grußbotschaften an die Kämpfer an der Front usw.). Für das Gewicht seines Unterstützerhandelns durfte das Gericht auch berücksichtigen, dass der Kläger nach den tatrichterlichen Feststellungen in vollem Bewusstsein um dessen Bedeutung für den ideologischen Zusammenhalt der PKK und in dem Willen gehandelt hat, diese vorbehaltlos auch in Bezug auf deren terroristische Aktivitäten zu unterstützen (UA S. 55).

55

(cc) Der EuGH hat in seinem Urteil vom 24. Juni 2015 (C-373/13 Rn. 95 ff.) aber hervorgehoben, dass ein Flüchtling, dessen Aufenthaltstitel nach Art. 24 Abs. 1 der EU-Anerkennungsrichtlinie aufgehoben wird, seinen Flüchtlingsstatus behält, sofern und solange ihm nicht dieser Status entzogen worden ist. Daher ist er auch nach dem Verlust seines Aufenthaltstitels weiterhin Flüchtling und hat in dieser Eigenschaft weiterhin Anspruch auf die Vergünstigungen, die das Kapitel VII der Richtlinie jedem Flüchtling gewährleistet, so insbesondere auf Schutz vor Zurückweisung, auf Wahrung des Familienverbands, auf Ausstellung von Reisedokumenten, auf Zugang zur Beschäftigung, zu Bildung, zu Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung und zu Wohnraum, auf Freizügigkeit innerhalb des fraglichen Mitgliedstaats sowie auf Zugang zu Integrationsmaßnahmen, sofern nicht eine in der Richtlinie selbst ausdrücklich vorgesehene Ausnahme eingreift. Diese Rechte dürfen, auch soweit sie nach nationalem Recht an den Besitz eines Aufenthaltstitels anknüpfen, von den zuständigen Behörden daher nicht mit der Begründung versagt werden, dass der Aufenthalt des Flüchtlings infolge der Ausweisung rechtswidrig geworden ist. Allerdings darf die Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 25 EU-Anerkennungsrichtlinie versagt werden, wenn - etwa zur Begegnung der Gefahr terroristischen Unterstützungshandelns - zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung entgegenstehen. Ebenso dürfen nach Art. 33 der Richtlinie aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen verfügt werden, wenn diese aus Gründen der öffentlichen Sicherheit auch gegenüber sich rechtmäßig in Deutschland aufhaltenden Ausländern zulässig sind.

56

Eventuelle Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der dem Flüchtling auch nach Entzug des Aufenthaltstitels weiter zustehenden Rechte nach Kapitel VII der EU-Anerkennungsrichtlinie infolge unzureichender Umsetzung der Richtlinie in den einschlägigen nationalen Fachgesetzen berühren nicht die Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung. An die Beachtung der einen Flüchtling unmittelbar begünstigenden Vorschriften in Kapitel VII der Richtlinie und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EuGH sind seit Ablauf der Umsetzungsfrist alle nationalen Behörden gebunden. Der Flüchtling hat seine Rechte gegenüber den jeweils zuständigen Behörden und erforderlichenfalls Gerichten geltend zu machen. Auch die Generalanwältin hat es insoweit als die Pflicht der nationalen Gerichte angesehen, für die volle Wirksamkeit der Bestimmungen der Richtlinie Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen (Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 11. September 2014 - C-373/13 - Rn. 114 letzter Absatz).

57

4. Dem öffentlichen Ausweisungsinteresse stehen gewichtige Bleibeinteressen des Klägers und seiner Familie gemäß § 53 Abs. 1, § 55 AufenthG gegenüber. Diese hat das Berufungsgericht zutreffend bestimmt (UA S. 59 f.). Es hat berücksichtigt, dass der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besessen hat, die durch die Ausweisungsverfügung betroffen ist, er mit deutschen Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt und er sein Personensorgerecht für minderjährige ledige Deutsche ausübt (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 und 4 AufenthG).

58

5. Das Berufungsgericht hat das öffentliche Ausweisungsinteresse gegen die Bleibeinteressen des Klägers und seiner Familie gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG unter Berücksichtigung der den Einzelfall prägenden Umstände abgewogen und ist unter Beachtung des hierfür zentralen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass das Ausweisungsinteresse überwiegt (UA S. 60 - 64). Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Gericht hat berücksichtigt, dass der Kläger besonderen Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG i.V.m. Art. 24 Abs. 1 EU-Anerkennungsrichtlinie genießt, hier allerdings auf absehbare Zeit keine Aufenthaltsbeendigung beabsichtigt ist, da ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK besteht. Es hat seinen langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und seine familiären Bindungen im Sinne von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK gewürdigt, diesen durch die Verfügung allerdings insoweit nicht als beeinträchtigt angesehen, als keine Aufenthaltsbeendigung erfolgt. Es hat bei seiner Abwägung berücksichtigt, dass der Kläger in seinen geschützten Bindungen dadurch betroffen ist, dass sein Aufenthalt auf das Gebiet der Stadt M. beschränkt und er Meldeauflagen unterworfen ist. Weitere schützenswerte Bindungen hat das Gericht nicht anerkannt und dies nachvollziehbar damit begründet, dass der Kläger ungeachtet seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland kaum deutsch spricht, nur sporadisch und für kürzere Zeiträume erwerbstätig war und seit längerem von Sozialleistungen abhängig ist. Schließlich hat das Berufungsgericht in die Abwägung eingestellt, dass es der Kläger in der Hand hat, durch eine glaubhafte Abkehr von seinem bisherigen Verhalten eine Aufhebung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu erreichen.

59

6. Ohne Rechtsverstoß wertet das Berufungsurteil die in Ziffer 2 der angefochtenen Verfügung angeordnete Aufenthaltsbeschränkung und die verfügten Meldeauflagen als rechtmäßig gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unterliegt ein Ausländer, gegen den - wie hier - eine Ausweisungsverfügung aufgrund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG besteht, der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt. Gestützt auf diese Ermächtigung hat der Beklagte bestimmt, dass sich der Kläger zweimal wöchentlich zu melden hat. Ferner hat er den Aufenthalt des Klägers auf den Bereich der Stadt M. beschränkt, wie das § 56 Abs. 2 AufenthG vorsieht, wenn die Ausländerbehörde keine abweichenden Festlegungen trifft. Diese aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen durften gegenüber dem Kläger trotz dessen Rechtsstellung als Flüchtling ergehen. Dadurch wird sein Recht auf Freizügigkeit gemäß Art. 33 EU-Anerkennungsrichtlinie nicht verletzt. Denn derartige Maßnahmen dürfen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, wie sie hier wegen des Erfordernisses der Abwehr von terrorismusfördernden Aktivitäten vorliegen, auch gegenüber sich rechtmäßig in Deutschland aufhaltenden Ausländern verfügt werden (§ 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).

60

7. Zutreffend ist das Berufungsgericht auch zu dem Ergebnis gekommen, dass die für die Ausweisung des Klägers anwendbaren Regelungen des Ausweisungsrechts nicht gegen assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbote aus Art. 13 ARB 1/80, Art. 7 ARB 2/76 und Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen (BGBl. 1972 II S. 385) verstoßen. Dabei kann offenbleiben, ob hier überhaupt eines der Verschlechterungsverbote Anwendung findet. Denn der zum 1. Januar 2016 eingeführte Übergang von einer Ermessensentscheidung zu einer gebundenen Entscheidung stellt keine Verschlechterung der Rechtsstellung des betroffenen Ausländers dar (a). Die mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 erfolgte Einführung des Regelausweisungstatbestands des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung bewirkte zwar eine Verschlechterung der Rechtslage für betroffene Ausländer, diese ist aber durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt (b).

61

a) Die zum 1. Januar 2016 eingeführte Neuregelung des Ausweisungsrechts, die die bisherige Ermessensausweisung durch eine am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte gebundene Ausweisung abgelöst hat, hat die Rechtsstellung der Ausländer in der hier gebotenen und auch unionsrechtlich statthaften Gesamtschau nicht verschlechtert, sondern jedenfalls teilweise verbessert. Denn bisher sah das Gesetz Tatbestände einer zwingenden Ausweisung (Ist-Ausweisung), regelmäßig erfolgenden Ausweisung (Soll-Ausweisung) und Ausweisung nach Ermessen (Kann-Ausweisung) vor. Die zwingende Ausweisung und die regelmäßig erfolgende Ausweisung widersprachen für den Personenkreis der unionsrechtlich privilegierten Ausländer der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wonach eine Ausweisung ausschließlich auf ein persönliches Verhalten des Ausländers gestützt werden darf, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - C-482/01 und C-493/01 [ECLI:EU:C:2004:262], Orfanopoulos und Oliveri - Slg. 2004, I-5257 Rn. 66 f.). Der Gerichtshof hat weiter entschieden, dass eine Regelung gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, wonach eine Ausweisung automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung verfügt wird, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird (a.a.O. Rn. 70). Aber auch die nationale Bestimmung über die Regelausweisung hat für den Gerichtshof den Anschein erweckt, dass trotz der Berücksichtigung individueller Umstände ein gewisser Automatismus oder jedenfalls eine Vermutung besteht, dass der betreffende Staatsangehörige auszuweisen ist (a.a.O. Rn. 92).

62

Daraus hat das Bundesverwaltungsgericht die Schlussfolgerung gezogen, dass die gesetzliche Regelung zur zwingenden Ausweisung und Regelausweisung auf unionsrechtlich privilegierte Ausländer nicht mehr angewendet werden darf (BVerwG, Urteile vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <302> betreffend Unionsbürger und - 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <321> betreffend Assoziationsberechtigte nach ARB 1/80). Der Gesetzgeber hat daraus durch das zum 1. Januar 2016 in Kraft getretene neue Ausweisungsrecht die Konsequenzen gezogen. Insofern stellt die neue Rechtslage eine Verbesserung gegenüber der bisherigen dar. Eine Ausweisung nach neuem Recht hat eine einzelfallbezogene umfassende Güter- und Interessenabwägung vorzunehmen und orientiert sich dabei strikt am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG). Damit setzt der Gesetzgeber Vorgaben um, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - C-482/01 und C-493/01 - Rn. 99) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR , Urteil vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279 Rn. 57 - 60) ergeben.

63

Es stellt keine Verschlechterung der Rechtslage für unionsrechtlich privilegierte Ausländer dar, dass ihre Ausweisung nach früherer Rechtslage im Wege einer Ermessensentscheidung erfolgte, nach neuem Recht hingegen im Wege einer rechtlich gebundenen Ausweisung, die von einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung geleitet wird. Damit entfällt zwar die Möglichkeit, aus Gründen der Zweckmäßigkeit von einer Aufenthaltsbeendigung abzusehen. Auf ein solches Absehen von einer rechts- und ermessensfehlerfrei möglichen Ausweisung hatte der Ausländer aber zu keinem Zeitpunkt einen Anspruch, auch die gerichtliche Kontrolle war insoweit durch § 114 VwGO eingeschränkt; durch die gesetzliche Neuregelung wird also keine individuelle Rechtsposition beeinträchtigt. Im Übrigen ist für die Beachtung des Verschlechterungsverbots auf die tatsächliche Praxis und nicht allein auf die abstrakte Rechtslage abzustellen. Die Rechtspraxis wurde maßgeblich durch die Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz des Bundesministeriums des Innern vom 26. Oktober 2009 gesteuert. Danach lag die Ausweisungsentscheidung im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde, bei der Ermessensausübung waren das schutzwürdige Interesse des Ausländers am weiteren Verbleib in Deutschland und das öffentliche Interesse an der Ausweisung gegeneinander abzuwägen (Ziffer 55.1.3). Das weist auf eine Rechtspraxis hin, die der heute normierten gebundenen Ausweisung entspricht, die von einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung geleitet wird. Insofern hat sich die Rechtsstellung des Ausländers nicht verschlechtert.

64

b) Die mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 erfolgte Einführung des Regelausweisungstatbestands des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung hat zwar eine Verschlechterung der Rechtslage für die betroffenen Ausländer bewirkt, diese ist aber durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Die seinerzeitige Einführung des Regelausweisungstatbestands des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung (§ 54 Nr. 5 AufenthG a.F.) führte zu einer Verschärfung des Ausweisungsrechts gegenüber der früheren Rechtslage, die allein den Tatbestand der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland kannte. Durch die Rechtsänderung wurde nun auch die Vorfeldunterstützung des Terrorismus erfasst. Diese ist jedoch mit Blick auf das Verschlechterungsverbot aus Art. 13 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von Art. 14 ARB 1/80, jedenfalls aber durch ein zwingendes Allgemeininteresse, namentlich die völkerrechtlich gebotene Terrorismusbekämpfung auch bereits im Vorfeld unmittelbarer terroristischer Handlungen, gerechtfertigt.

65

8. Nach der seit 1. August 2015 geltenden Neuregelung des § 11 AufenthG ist über die Länge der Frist für das mit der Ausweisung einhergehende Einreise- und Aufenthaltsverbot nach Ermessen zu entscheiden (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Diese gesetzgeberische Entscheidung ist mit höher- und vorrangigem Recht zu vereinbaren (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom gleichen Tage - 1 C 27.16 - Rn. 20 ff.). Das Urteil des Senats zur Vorläuferfassung des § 11 AufenthG a.F., wonach eine gebundene Entscheidung zu treffen war (BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2012 - 1 C 7.11 - BVerwGE 142, 29 Rn. 31 ff.), erging ausdrücklich vor dem Hintergrund des seinerzeit offenen Wortlauts der Vorschrift. Ihm ist nicht zu entnehmen, dass die bei der Auslegung der damaligen Gesetzesfassung herangezogenen verfassungs-, unions- und menschenrechtlichen Vorgaben der gesetzlichen Einräumung eines behördlichen Ermessensspielraums zwingend entgegenstehen. Eine solche Ermessensentscheidung hat der Beklagte hier noch nicht getroffen. Vielmehr hat bisher das Verwaltungsgericht das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach der seinerzeit geltenden Rechtslage im Wege einer gebundenen Entscheidung auf acht Jahre festgesetzt.

66

Der Beklagte hat die nach neuem Recht nunmehr gebotene Ermessensentscheidung nachzuholen. Das Erfordernis einer Ermessensentscheidung ändert nichts am behördlichen Prüfprogramm. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK, gemessen und ggf. relativiert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 42). Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange.

67

B. Der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gestellte (weitere) Hilfsantrag, den Beklagten zu der Feststellung zu verpflichten, dass dem Kläger auch nach Bestandskraft der Ausweisung weiterhin die Rechte nach Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU zustehen mit Ausnahme der Rechte aus Art. 24 der Richtlinie, ist unzulässig. Er stellt eine unzulässige Klageerweiterung im Revisionsverfahren dar (§ 142 Abs. 1 VwGO). Im Übrigen bedarf es einer solchen behördlichen Feststellung auch nicht. Aus dem für alle nationalen Behörden verbindlichen EuGH-Urteil vom 24. Juni 2015 (C-373/13) ergibt sich bis zu einer dem Gesetzgeber vorbehaltenen Anpassung der einschlägigen Fachgesetze hinreichend deutlich, dass dem Kläger - solange er die Rechtsstellung eines Flüchtlings im Sinne der EU-Anerkennungsrichtlinie genießt - auch die mit dieser Rechtsstellung einhergehenden Rechte nach Kapitel VII der Richtlinie zustehen, sofern nicht eine in der Richtlinie selbst ausdrücklich vorgesehene Ausnahme eingreift (vgl. dazu auch die vorstehenden Ausführungen in Rn. 55 f. dieses Urteils).

68

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Senat gewichtet den gegen die Ausweisung, die Meldeauflage, die Aufenthaltsbeschränkung und die Abschiebungsandrohung gerichteten Anfechtungsantrag mit 4/5 und den auf Befristung zielenden Verpflichtungsantrag mit 1/5 (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 46).

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet. Daneben begehrt er die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis über ein assoziationsrechtliches Daueraufenthaltsrecht.

Der am 30. Juni 1996 in der Bundesrepublik Deutschland geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Seine Eltern leben bereits seit 1985 in Deutschland. Der Vater ist seit mehr als 20 Jahren als Industriereiniger bei der W. GmbH in B. beschäftigt. Der Kläger hat noch zwei 1994 und 1997 geborene Brüder. Er verließ 2011 nach der 8. Klasse die Hauptschule ohne Abschluss und verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Die ihm 1997 erstmals erteilte Aufenthaltserlaubnis wurde in der Folge regelmäßig, zuletzt bis zum 24. Oktober 2014, verlängert.

Strafrechtlich trat der Kläger bisher insbesondere wie folgt in Erscheinung:

– Amtsgericht Altötting, Urteil vom 30.11.2010, rechtskräftig seit 8.12.2010, wegen Diebstahls geringwertiger Sachen, Erbringung von Arbeitsleistungen (30 Stunden gemeinnützige Arbeit)

– Verfügung der Staatsanwaltschaft Traunstein vom 12.12.2011, wegen Hehlerei, von der Verfolgung abgesehen nach § 45 Abs. 2 JGG

– Amtsgericht Altötting, Urteil vom 28.2.2012, rechtskräftig seit 28.2.2012, wegen Hausfriedensbruch in 5 Fällen und der Beihilfe zum Diebstahl, 1 Freizeit-/Jugendarrest

– Amtsgericht Altötting, Urteil vom 16.10.2012, rechtskräftig seit 24.10.2012, wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz einer verbotenen Waffe in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer verbotenen Waffe in Tatmehrheit mit Diebstahl geringwertiger Sachen in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, 7 Monate Jugendstrafe (Bewährungszeit 2 Jahre)

– Amtsgericht Mühldorf a. Inn - Jugendschöffengericht, Urteil vom 1.7.2014, rechtskräftig seit 15.10.2014, wegen Diebstahls in fünf tatmehrheitlichen Fällen, hiervon in zwei versuchten Fällen jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung, Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten (unter Einbeziehung der Verurteilung des Amtsgerichts Altötting vom 16.10.2012)

– Amtsgericht Laufen, Urteil vom 19.1.2016, rechtskräftig seit 19.1.2016, wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Mittäterschaft, Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren 8 Monaten (unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Mühldorf vom 1.7.2014).

Der Verurteilung des Amtsgerichts Mühldorf a. Inn vom 1. Juli 2014 lag zur Überzeugung des Jugendschöffengerichts zugrunde, dass der Kläger und vier weitere Angeklagte bzw. anderweitig Verfolgte im Zeitraum September 2013 bis Januar 2014 teilweise alleine, teilweise aufgrund gemeinsamen Tatplans und Zusammenwirkens in Kindergärten, Schulen und weitere Gebäude im Landkreis A. einbrachen, um dort Waren und Geld zu entwenden. Dadurch hätten sie sich eine eigene Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer verschafft; teilweise hätten sie dabei Brecheisen, einen Maurerhammer und einen Schraubendreher verwendet.

Der Verurteilung durch das Amtsgericht Laufen lag zur Überzeugung des Jugendschöffengerichts zugrunde, dass der Kläger und sein Mitangeklagter während des laufenden Vollzugs in der Justizvollzugsanstalt Laufen-Lebenau aufgrund eines gemeinsamen Plans bei einem Freigang des Mitangeklagten am 19. Juli 2015 von einer unbekannten dritten Person ein Gramm Marihuana erworben und es anschließend teilweise selbst konsumiert, teilweise an Mithäftlinge zum Konsum weitergegeben haben.

Der Kläger befand sich bis 22. August 2016 (Aussetzung des Strafrestes der Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren acht Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Laufen vom 19. Januar 2016 auf Bewährung durch Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a. d. Donau - Strafvollstreckungsgericht - vom 21. Juli 2016 nach § 88 JGG) in der Justizvollzugsanstalt Neuburg-Herrenwörth in Haft.

Aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilungen wurde der Kläger vom Beklagten mehrfach, letztmals mit Schreiben vom 14. Januar 2013, ausländerrechtlich verwarnt.

Nach vorheriger Anhörung wies der Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 30. Dezember 2015 aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1. des Bescheids), lehnte seinen Antrag vom 18. September 2014 auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 2.), stellte das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach dem ARB 1/80 fest und lehnte gleichzeitig seinen Antrag vom 12. Mai 2015 auf Ausstellung einer Bescheinigung über das assoziationsrechtliche Daueraufenthaltsrecht ab (Nr. 3.). Weiter wurde die Abschiebung des Klägers unmittelbar aus der Strafhaft angeordnet (Nr. 4.) sowie für den Fall der Undurchführbarkeit und der nicht fristgerechten Ausreise binnen eines Monats ab Haftentlassung die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht (Nr. 5. und 6.). Die Wiedereinreise und der Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland wurden dem Kläger (zunächst) für die Dauer von fünf Jahren, beginnend ab der Ausreise, untersagt (Nr. 7.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Ausweisung des Klägers, der über seinen Vater eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben habe, erfolge (allein) aus spezialpräventiven Gründen im Wege einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG in Verbindung mit Art. 14 ARB 1/80. Der Kläger sei der Polizei seit dem Alter von zwölf Jahren als sogenannter „jugendlicher Intensivstraftäter“ mit derzeit 15 polizeilichen Anzeigen und vier strafrechtlichen Verurteilungen bekannt. Die Delikte reichten von Sachbeschädigung über Ladendiebstahl bis hin zu gefährlicher Körperverletzung, unerlaubtem Besitz und Führen einer verbotenen Waffe und schließlich Diebstahl in fünf tatmehrheitlichen Fällen. Der Kläger habe sich von früheren Verurteilungen und selbst einer verhängten Bewährungsstrafe unbeeindruckt und eine kriminelle Energie von einem Ausmaß gezeigt, so dass bei ihm auch künftig weitere schwerwiegende Straftaten, die Grundinteressen der Gesellschaft berührten, zu befürchten seien. Die Ausweisung sei auch nach einer Interessenabwägung unter Beachtung der durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Interessen ermessensgerecht und verhältnismäßig.

Die auf Aufhebung des Bescheids vom 30. Dezember 2015 und Verpflichtung des Beklagten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 zu erteilen und ihm eine Bescheinigung über sein Daueraufenthaltsrecht auszustellen, gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 21. April 2016 abgewiesen. Gemessen an den zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts geltenden Regelungen des Aufenthaltsgesetzes in der seit 1. Januar 2016 gültigen Fassung erweise sich die Ausweisung des Klägers nach § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG als rechtmäßig, weil auch gegenwärtig die Gefahr der Begehung erneuter gravierender Straftaten bestehe und nach der erforderlichen Interessenabwägung die Ausweisung für die Wahrung des betroffenen Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich sei. Das Gericht sei zur Überzeugung gelangt, dass nach dem Gesamtbild des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden müsse, dass er erneut (schwerwiegende) Straftaten begehen werde und damit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne von § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG darstelle. Die erhebliche kriminelle Energie des Klägers zeige sich darin, dass er schon als strafunmündiges Kind polizeilich in Erscheinung getreten und seit seiner Strafmündigkeit insgesamt fünfmal strafrechtlich verurteilt worden sei. Der Kläger habe sich weder durch vorangegangene Verurteilungen noch ausländerrechtliche Verwarnungen von weiteren Straftaten abhalten lassen und zuletzt selbst während der Verbüßung der Haftstrafe eine Betäubungsmittelstraftat begangen. Die Jugendgerichte hätten ihm bereits schädliche Neigungen attestiert. Ein grundlegendes Umdenken im Sinne einer Nachreifung des Klägers habe auch während des Strafvollzugs nicht stattgefunden. Vielmehr sei der Kläger während der Haft mehrfach disziplinarisch auffällig geworden. Er habe keinen Schulabschluss; ob er seine Schlosserausbildung abschließen werde, sei derzeit offen. Hinzu komme das ungeklärte Drogenproblem, dessen Fortbestehen sich insbesondere im Marihuana-Konsum in der Justizvollzugsanstalt zeige. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Eltern ihren nunmehr erwachsenen Sohn künftig „in den Griff“ bekommen würden. Zudem sei nicht zu erwarten, dass sich der Kläger nach seiner Haftentlassung dauerhaft von seinem Freundeskreis und der Gruppe „gleichaltriger delinquenter Heranwachsender“ lösen werde. Dabei verkenne das Gericht die vom Kläger im Strafvollzug gezeigten positiven Ansätze nicht. Eine Bereitschaft, sich nunmehr nachhaltig von seinem bisherigen Verhalten zu distanzieren, könne die Kammer allerdings nicht erkennen.

Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Interessenabwägung ergebe ein überwiegendes Ausweisungsinteresse. Zwar stehe einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG aufgrund der assoziationsrechtlichen Rechtsstellung und des bisherigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auch ein besonders schwerwiegendes, wenn auch in seinem Fall nicht gesetzlich vertyptes Bleibeinteresse gegenüber. Gleichwohl falle die anzustellende umfassende Abwägung der gegenläufigen Interessen nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG zu Ungunsten des Klägers aus. Er sei zwar ein so genannter „faktischer Inländer“, der in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen sei und hier seine wesentliche Prägung und Entwicklung erfahren habe. Seine enge Bindung zu den Eltern komme insbesondere auch in deren regelmäßigen Besuchen in der Justizvollzugsanstalt zum Ausdruck. Demgegenüber stünden jedoch die besonders intensive Straffälligkeit und die ungeklärte Drogenproblematik. So hätten den Kläger weder eine Bewährungsstrafe noch die erstmalige Inhaftierung beeindrucken und zu einem straffreien Leben bewegen können. Gerade unter dem Eindruck von Drogen und deren enthemmender Wirkung sei die vom Kläger ausgehende Gefahr für die geschützten Rechtsgüter - insbesondere die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum - als besonders hoch einzuschätzen. Demgemäß stelle sich zur Überzeugung des Gerichts die Ausweisung nach Abwägung aller Umstände auch mit Blick auf Art. 6 GG und die strengen Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig dar. Von einem jugendtypischen Augenblicksversagen könne bei ihm keine Rede sein. Der Kläger besitze noch Bindungen zu seinem Herkunftsland und beherrsche die türkische Sprache.

Demgemäß seien auch die weiteren Verfügungen des Beklagten in den Nummern 3. bis 7. des angefochtenen Bescheids rechtmäßig. Durch die Ausweisung sei die assoziationsrechtliche Rechtsposition des Klägers erloschen; die Abschiebungsanordnung und die Abschiebungsandrohung seien rechtlich nicht zu beanstanden. Die im angegriffenen Bescheid verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre begegne ebenfalls keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die festgesetzte Sperrfrist erscheine angesichts des vom Kläger ausgehenden hohen Gefahrenpotenzials angemessen.

Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung begründet der Kläger im Wesentlichen wie folgt: Er habe während seiner Strafhaft die Ausbildung zum Schlosser fortgesetzt. Das Strafvollstreckungsgericht habe aufgrund der positiven persönlichen Entwicklung bei ihm keine aktuelle Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gesehen und die weitere Vollstreckung seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Demgemäß befinde er sich seit 22. August 2016 nicht mehr in Haft. Er habe nunmehr die Möglichkeit, die Ausbildung bei seinem Lehrbetrieb fortzusetzen. Er habe während des Strafvollzugs erfolgreich an einer Suchtberatung und an Gesprächen im Rahmen einer Drogengruppe teilgenommen. Die gute Entwicklung während der Haft zeige, dass die Straffälligkeit dem falschen Freundeskreis geschuldet gewesen sei. Dies habe er eingesehen und halte sich nunmehr von diesen Freunden fern. Das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen an die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nicht hinreichend beachtet und insbesondere die für den Kläger sprechenden Umstände nicht ausreichend gewürdigt. Dass von ihm keine Gefahren mehr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, werde durch seine vorzeitige Haftentlassung und die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung bestätigt. Zudem sei die Ausweisung des in Deutschland geborenen und hier ununterbrochen lebenden Klägers offensichtlich unverhältnismäßig. Ihm sei die Trennung von seiner in Deutschland lebenden Familie nicht zuzumuten. Das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass der Kläger im türkischen Kulturkreis fest verwurzelt sei. Die Türkei kenne er lediglich als Urlaubsland.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 21. April 2016 den Bescheid des Beklagten vom 30. Dezember 2015 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG zu erteilen und ihm eine Bescheinigung über sein assoziationsrechtliches Daueraufenthaltsrecht auszustellen,

hilfsweise über die Sperrfrist unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu (d.h. unter Festsetzung einer kürzeren Sperrfrist) zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Weder aus der Aussetzung des Rests der Jugendstrafe nach § 88 JGG noch aus den Ausführungen in der Berufungsbegründung ergäben sich durchgreifende Bedenken gegen die Richtigkeit der überzeugenden erstinstanzlichen Entscheidung. Der Bewährungsbeschluss des Amtsgerichts Neuburg a. d. Donau vom 21. Juli 2016 enthalte keine über den Wortlaut des § 88 Abs. 1 JGG hinausgehende Begründung, aus der nachvollzogen werden könnte, welche Erwägungen für die positive Prognose tragend seien. Eine weitergehende tatsächliche Indizwirkung entfalte diese Entscheidung nicht. Im Übrigen könne noch nicht davon gesprochen werden, dass sich der Kläger über einen längeren Zeitraum in Freiheit bewährt habe. Ob bei ihm eine Fortsetzung der während der Haft begonnenen Ausbildung möglich sei, sei derzeit völlig offen. Er habe auch nicht wie behauptet erfolgreich an einer Suchtberatung und Gesprächen im Rahmen einer Drogengruppe teilgenommen. Die geltend gemachte gute Entwicklung während der Haft werde schon durch seine Verurteilung durch das Amtsgericht Laufen vom 19. Januar 2016 eindeutig widerlegt. Nicht zutreffend sei auch die Behauptung, er habe sich in der Justizvollzugsanstalt ohne größere disziplinarische Auffälligkeiten geführt. Der Kläger sei zwar „faktischer Inländer“, eine nachhaltige Integration in die deutschen Lebensverhältnisse sei ihm jedoch nicht gelungen. Er beherrsche die türkische Sprache und habe sich in den Ferien nach eigenen Angaben zu Besuch bei Verwandten in der Türkei aufgehalten. Zudem besitze er in dort lebenden Verwandten eine familiäre Anlaufstelle.

Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2016 teilte der Beklagte noch mit, dass der Kläger durch sein Verhalten (Rasur der Haare, nachträgliche Wasserzugabe zum Urin) wohl bewusst ein bei ihm vorgeschriebenes Drogenscreening unterlaufen habe.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof wurde die gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG zu bestimmende Sperrfrist vom Beklagtenvertreter angesichts der bisherigen Entwicklung des Klägers nach der Haft und der dabei gezeigten positiven Ansätze nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens auf nunmehr drei Jahre festgesetzt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen, die Behördenakten sowie die Strafakten (in Auszügen) verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die im Hauptantrag auf Aufhebung des Bescheids vom 30. Dezember 2015 und Verpflichtung des Beklagten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG zu erteilen und eine Bescheinigung über sein assoziationsrechtliches Daueraufenthaltsrecht auszustellen, gerichtete Klage ist ebenso unbegründet wie das Hilfsbegehren des Klägers, den Beklagten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zur erneuten Entscheidung über die Sperrfrist (d.h. unter Festsetzung einer kürzeren Sperrfrist) zu verpflichten. Die im streitbefangenen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers ist gemessen an den im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; 1.). Demzufolge hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG und Ausstellung einer Bescheinigung über sein assoziationsrechtliche Daueraufenthaltsrecht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; 2.). Keinen Ermessensfehler (§ 114 Satz 1 VwGO) weist schließlich die durch den Beklagten in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichtshofs geänderte Befristung der Wirkungen des aus der Ausweisung folgenden Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG auf drei Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise auf, weshalb auch das hilfsweise beantragte Bescheidungsurteil (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) nicht ergehen kann (3.).

1. Die gegen die Ausweisung gerichtete Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO) des Klägers hat keinen Erfolg.

1.1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung (und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung) ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Berufungsgerichts (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 12; BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 27).

1.2. Die im Bescheid des Beklagten vom 30. Dezember 2015 verfügte Ausweisung des Klägers ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs gemessen an den Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung (1.2.1.) rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; 1.2.2.).

1.2.1. Die streitbefangene Ausweisung ist an dem seit der Rechtsänderung am 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsrecht zu messen und durch das Gericht in vollem Umfang nachprüfbar. Eine - wie hier - nach altem Recht verfügte Ermessensausweisung (§ 55 Abs. 1 AufenthG a.F. i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80) wird nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG (als Grundtatbestand; vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/4097 S. 49 f.) der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Steht dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen. Er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Damit gibt die Neufassung von § 53 Abs. 3 AufenthG exakt die Voraussetzungen wieder, die nach ständiger Rechtsprechung (z. B. EuGH, U.v. 8.12.2011 - Rs. C-371/08 Ziebell -, juris Rn. 80; BayVGH‚ U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen erfüllt sein mussten, weshalb bei einer Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, Art. 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (stRspr, vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 29 f. m.w.N.).

1.2.2. Daran gemessen erweist sich die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig.

Dem Kläger stand zwar unstreitig ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 als Familienangehörigen seines seit mehr als 20 Jahren dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden Vaters zu. Sein persönliches Verhalten stellt jedoch gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berührt (1.2.2.1.). Die gebotene (umfassende) Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses mit den privaten Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) führt nach der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zum Ergebnis, dass die Ausweisung auch für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (§ 53 Abs. 3 AufenthG; 1.2.2.2.).

1.2.2.1. Die den Verurteilungen des Klägers insbesondere wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Diebstahls (in fünf tatmehrheitlichen Fällen) zu Grunde liegenden Verstöße (auch) gegen die durch die Grundrechte - hier: Eigentumsgarantie, Art. 14 Abs. 1 GG, Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - errichtete objektive Wertordnung (mit den damit verbundenen staatlichen Schutzpflichten; vgl. z.B. BVerfG, B.v. 4.5.2011 - 1 BvR 1502/08 - juris Rn. 37) stellen einen hinreichend schweren Ausweisungsanlass dar, der über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung deutlich hinausgeht und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das hinreichende Gewicht der vom Kläger begangenen (Anlass-)Straftaten hat das Verwaltungsgericht zu Recht darin gesehen, dass der Kläger die Diebstähle im Rahmen einer gleichsam bandenmäßig organisierten Einbruchsserie in Kindergärten, Schulen und andere Gebäude mit erheblichen Sach- und Beuteschäden begangen und dabei auch nach den Feststellungen des Strafgerichts eine erhebliche kriminelle Energie bewiesen hat.

Nach ständiger Rechtsprechung haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 32). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH a.a.O.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 31; U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 34 und B.v. 3.3.2016 - 10 ZB 14.844 - juris Rn. 11). Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.

Nach diesen Maßstäben teilt der Senat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs trotz vom Kläger gezeigter positiver Ansätze nach der Entlassung aus der Strafhaft die vom Beklagten gleichwohl aufrechterhaltene Prognose einer hinreichenden Rückfallgefahr hinsichtlich Gewalt- bzw. Körperverletzungsdelikte und gravierender Eigentumsdelikte.

Der Kläger ist seit dem Alter von zwölf Jahren immer wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten und seit seiner Strafmündigkeit fünfmal strafgerichtlich verurteilt worden. Er hat sich dabei bei zunehmender Rückfallgeschwindigkeit von bisherigen Strafmaßnahmen und auch ausländerrechtlichen Verwarnungen unbeeindruckt gezeigt und die zuletzt abgeurteilten Einbruchsdiebstähle innerhalb seiner noch offenen Bewährungszeit begangen. Sogar während seiner Haftzeit hat er, wenn auch nur in einer sehr geringen Menge und im Wesentlichen zum Eigenkonsum, in Mittäterschaft Marihuana erworben, dadurch den Straftatbestand des vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln verwirklicht und nach den Feststellungen des Amtsgerichts L. die bei ihm bereits früher festgestellten schädlichen Neigungen neuerlich bestätigt. Beim Kläger mussten während seiner Haftzeit in der Justizvollzugsanstalt Laufen-Lebenau insgesamt sieben Disziplinarmaßnahmen (mit Verbüßung von insgesamt 5 Tagen Arrest) unter anderem wegen Betriebsstörung, Beleidigung und Bedrohung sowie tätlicher Auseinandersetzung mit Gefangenen vollzogen werden. Auch während der anschließenden Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Neuburg-Herrenwörth ist der Kläger disziplinarisch unter anderem wegen Beleidigung eines Mitgefangenen und Provozierens einer körperlichen Auseinandersetzung geahndet worden. Dementsprechend hat der Anstaltsleiter in seiner Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht vom 13. April 2016 den Haftverlauf beim Kläger als „ambivalent“ bezeichnet und abschließend festgestellt, die Sozialprognose sei nur dann als günstig zu erachten, wenn er die Drogentherapie erfolgreich durchlaufe, seine Ausbildung abschließe und sich konsequent von der Gruppe gleichaltriger, delinquenter Heranwachsender fernhalte. Keine dieser Voraussetzungen hat er jedoch bisher nachweislich erfüllt. Seine Abkehr vom bisherigen delinquenten und im Wesentlichen drogensüchtigen Freundeskreis hat der Kläger, der nach seiner Haftentlassung wieder in dasselbe Umfeld seiner Heimatstadt zurückgekehrt ist, zwar in der mündlichen Verhandlung nochmals beteuert. Gleichwohl ist der Senat auch aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger nicht von einem grundlegenden Einstellungswandel überzeugt. Auch ist nicht ersichtlich, dass seine Eltern im Gegensatz zu früher nunmehr auf ihn den offensichtlich erforderlichen Einfluss und die nötige stabilisierende Wirkung haben. So soll der betrunkene Kläger nach der Sachverhaltsschilderung der telefonisch gerufenen Beamten der zuständigen Polizeiinspektion am 10. Oktober 2014 mit einem Messer auf seine Familie losgegangen sein, wobei eine weitere Klärung dieses Geschehens durch die Polizeibeamten in der Familie dann aber letztlich nicht möglich war.

Dieser Gefahrenprognose steht nicht entgegen, dass das Amtsgericht Neuburg a.d. Donau (Strafvollstreckungsgericht) mit Beschluss vom 21. Juli 2016 den Rest der Einheitsjugendstrafe beim Kläger von zwei Jahren acht Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts L. vom 19. Januar 2016 nach § 88 JGG zur Bewährung ausgesetzt hat, weil er einen Teil der Strafe verbüßt habe und dies im Hinblick auf seine Entwicklung, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden könne. Zwar kommt Strafaussetzungsentscheidungen für die behördliche und verwaltungsgerichtliche Sachverhaltswürdigung und die Beurteilung der Wiederholungsgefahr grundsätzlich eine erhebliche indizielle Bedeutung zu (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 5.1.2017 - 10 ZB 16.1778 - juris Rn. 7 m. Rspr-nachweisen). Im Fall des Klägers bestehen aber gewichtige Gründe, die ein Abweichen von dieser rechtlich ohnehin nicht bindenden Einschätzung rechtfertigen. Objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte oder Gründe für die strafrichterliche Prognose beim Kläger sind aus dem Aussetzungsbeschluss vom 21. Juli 2016 nicht ersichtlich. Der Beklagte hat demgegenüber zutreffend auf den beim Kläger im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen und Verurteilungen festgestellten hohen Alkohol- und Drogenkonsum hingewiesen, der aufgrund der enthemmenden Wirkung bei dessen Straftaten auch nach Angaben des Klägers eine wesentliche Rolle gespielt hat. Im Aussetzungsbeschluss vom 21. Juli 2016 werden ihm für die Bewährungszeit von drei Jahren u.a. die Teilnahme an Beratungsgesprächen (für Suchtprobleme) und nach Weisung des Bewährungshelfers durchzuführende Drogenscreenings als Weisungen auferlegt. Der Kläger bezieht sich zwar insoweit auf vier von ihm bisher absolvierte Drogenberatungsgespräche sowie zwei bei ihm auf Veranlassung des Gesundheitsamts durchgeführte Drogentests (am 14.11. und 19.12.2016), die keine einschlägigen Befunde ergeben haben. Demgegenüber macht der Beklagte jedoch zu Recht geltend, dass durch die Beratungsgespräche die Drogenproblematik (nicht Drogensucht) beim Kläger noch nicht hinreichend behandelt worden ist und die Umstände bei dem am 14. November 2016 durchgeführten Drogentest (mutmaßliche Vereitelung der Haarprobe sowie Auffälligkeiten beim Urintest) jedenfalls die diesbezüglichen Befunde ernstlich infrage stellen. Auch wenn das Strafvollstreckungsgericht unter Resozialisierungsgesichtspunkten eine vorzeitige Entlassung aus der Haft unter näher bestimmten Weisungen (d.h. Auflagen) als verantwortbar angesehen hat, ist ausländerrechtlich bei der hier maßgeblichen längerfristigen Prognose, ob dem Kläger - auch über die Bewährungszeit hinaus - ein (straffreies) Leben ohne erneute Gewalt- bzw. Körperverletzungsdelikte und gravierende Eigentumsdelikte gelingen wird (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 19), derzeit eine positive Prognose nach alledem nicht möglich.

Dass der Kläger inzwischen entsprechend einer weiteren Weisung im Aussetzungsbeschluss des Strafvollstreckungsgerichts bei der Firma W. Produktionsservice GmbH einer geregelten Arbeit als Industriehelfer nachgeht und ausweislich der Bestätigung dieser Firma dort ab Herbst dieses Jahres eine Lehre als Industriemechaniker beginnen könnte, ist zwar unstreitig ein positiver Bewährungsansatz, als solcher aber ebenfalls noch nicht ausreichend, um einen glaubhaften Einstellungswandel und ein Umdenken bzw. eine Nachreifung des Klägers annehmen zu können.

1.2.2.2. Die Ausweisung ist auch im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG für die Wahrung des hier betroffenen Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich.

Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 - 10 BV 13.421 - juris Rn. 77 m.w. Rspr-nachweisen). Danach ist die Ausweisung des Klägers auch nach Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs unerlässlich, weil die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 2 Abs. 1 GG und des Art. 8 Abs. 1 EMRK ergibt, dass das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Ausreise nachrangig ist. Das Verwaltungsgericht ist unter Berücksichtigung der hier verwirklichten typisierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einerseits und § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in entsprechender Anwendung andererseits) bei der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmenden Interessenabwägung (s. § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die streitbefangene Ausweisung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch wahrt. Dabei hat das Erstgericht zutreffend zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass er so genannter „faktischer Inländer“ ist, sein gesamtes Leben hier verbracht und seine wesentliche Prägung und Entwicklung in der Bundesrepublik erfahren hat. Auch die enge Bindung des inzwischen volljährigen Klägers zu seinen Eltern, bei denen er nach wie vor lebt, und sein Recht auf Privatleben nach Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK hat das Verwaltungsgericht bei der Abwägung als erhebliche und gewichtige Interessen für einen weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet gewürdigt. Das gleichwohl überwiegende Ausweisungsinteresse hat das Verwaltungsgericht, auf dessen ausführliche und überzeugende Begründung Bezug genommen wird, in rechtlich nicht zu beanstandender Weise vor allem in der sich über einen langen Zeitraum erstreckenden intensiven Delinquenz des Klägers (auch) jenseits bloßer Bagatelldelikte und mit steigender Rückfallgeschwindigkeit sowie in der ungelösten bzw. unbehandelten Drogenproblematik gesehen. Die im bisherigen Verhalten des Klägers zum Ausdruck kommende dauerhafte Missachtung der Rechtsordnung in Verbindung mit der offensichtlich enthemmenden Wirkung des Konsums von Marihuana und Alkohol gerade auch innerhalb seines (ebenfalls delinquenten) Freundeskreises hat das Verwaltungsgericht zu Recht zu der Annahme geführt, dass vom Kläger auch nach Haftende eine besonders hohe Gefahr für gewichtige Rechtsgüter Dritter wie insbesondere die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) ausgeht. Der Verweis des Klägers, der (noch) während des Strafvollzugs aufgrund seiner gezeigten Aggressivität mehrfach disziplinarisch geahndet werden musste und trotz Teilnahme an Drogenberatungsgesprächen in der Haft wieder Marihuana konsumiert hat, er sei nun auf „einem guten Weg“ und die Drogenproblematik bestehe inzwischen nachweislich nicht mehr, überzeugt den Senat aus den bereits oben (zur Gefahrenprognose) dargelegten Gründen nicht. Die weisungsgemäße Arbeitsaufnahme und zwei durchgeführte Drogentests sind bei dem noch am Anfang seiner Bewährungszeit stehenden Kläger kein hinreichender oder überzeugender Beleg für einen grundlegenden Einstellungswandel und eine nachhaltige Abkehr von seiner langjährigen Straffälligkeit. Auch die Angaben des in der mündlichen Verhandlung anwesenden Vaters des Klägers, sein Sohn habe sein Verhalten insofern stark verändert, als er sich außerhalb der Arbeit überwiegend zu Hause oder bei seiner Freundin aufhalte und nicht mehr so häufig wie früher weggehe, wertet der Senat nicht in dem zuletzt genannten Sinne. Schließlich hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass von einer gelungenen sozialen Integration des Klägers im Bundesgebiet bisher nicht gesprochen werden kann. Bei ausreichenden türkischen Sprachkenntnissen und bestehenden familiären und sozialen Bindungen des Klägers in die Türkei ist davon auszugehen, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann gegebenenfalls auch mit wirtschaftlicher Unterstützung seiner Familie dort zurechtkommen kann, so dass die Aufenthaltsbeendigung auch insofern nicht unzumutbar ist. Deshalb ist die Ausweisung auch im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, weil verhältnismäßig.

2. Ist nach alledem die assoziationsrechtliche Rechtsposition des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 durch die im Einklang mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und § 53 Abs. 3 AufenthG stehende Ausweisungsverfügung des Beklagten erloschen, besteht auch der mit der Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 2. Alt. VwGO) geltend gemachte Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG und Ausstellung einer Bescheinigung über sein assoziationsrechtliche Daueraufenthaltsrecht nicht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

3. Der Kläger hat schließlich keinen Anspruch auf Festsetzung einer kürzeren Sperrfrist gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG als die zuletzt durch den Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens nachträglich verfügte Frist von drei Jahren. Mit Blick auf die voraussichtlich bestehende Gefahr, dass der Kläger weitere Körperverletzungs- und gravierende Eigentumsdelikte begehen wird, und unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1 GG) und Vorgaben aus Art. 8 EMRK ist die festgesetzte Sperrfrist von drei Jahren jedenfalls nicht ermessensfehlerhaft, weil sie einen adäquaten Ausgleich zwischen dem Präventionszweck und den für den Kläger streitenden Bleibeinteressen vornimmt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

IV. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 17. Oktober 2017 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahre befristet und seine Abschiebung aus der Haft in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht wurde. Weiter begehrt er die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für dieses Zulassungsverfahren.

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, noch hat der Kläger die weiter angeführten Zulassungsgründe der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) in einer den Anforderungen gemäß § 124 Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO genügenden Weise dargelegt.

1.1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Sie sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG zulässig, weil das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich sei. Der Kläger habe schwere Straftaten begangen und es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers als „faktischer Inländer“ und Besitzer einer Niederlassungserlaubnis und stelle sich auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK als verhältnismäßig dar.

Die vom Kläger in der Zulassungsbegründung dagegen vorgebrachten Einwendungen begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils.

Soweit der Kläger geltend macht, das Verwaltungsgericht habe seine assoziationsrechtliche Stellung nach Art. 7 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 verkannt bzw. nicht hinreichend berücksichtigt, greift dieser den Prüfungsmaßstab der Ausweisungsverfügung betreffende Einwand nicht durch. Denn das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Ausweisungsverfügung unter Zugrundelegung eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 zu Recht am Maßstab des § 53 Abs. 3 AufenthG gemessen, der exakt die Voraussetzungen wiedergibt, die nach ständiger Rechtsprechung für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gemäß Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein müssen (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 28.3.2017 - 10 BV 16.1601 - juris Rn. 31 m.w.N.).

Weiter wendet der Kläger ein, zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts sei bei ihm die Prognose einer hinreichenden Wiederholungsgefahr nicht mehr gerechtfertigt. Er habe die Anlassstraftaten als Jugendlicher und Heranwachsender begangen, jedoch nunmehr auch unter dem Eindruck der Haft Einsicht gezeigt und einen entscheidenden Lebenswandel vollzogen. Er habe in der Justizvollzugsanstalt regelmäßig Sport betrieben, an den Gruppen „Anonyme Alkoholiker“ und „Alkohol und Gewalt“ teilgenommen sowie eine Ausbildung zum Bäcker begonnen. Hätte das Verwaltungsgericht zu diesen positiven Veränderungen den Leiter der Justizvollzugsanstalt, Herrn O., als Zeugen vernommen und wäre es dem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nachgekommen, hätte sich auch für das Gericht ergeben, dass er gegenwärtig keine Gefahr mehr für die Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland darstelle und von ihm keine neuen Straftaten zu erwarten seien. Auch hätte das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung die Straftaten vom 17. Januar, 2. Juni und 21. August 2015 nicht mehr mit heranziehen dürfen, weil dem schon aufgrund des Zeitmoments der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehe; ein jahrelanges Zuwarten der Behörde sei durchaus geeignet, insoweit einen schützenswerten Vertrauenstatbestand zu schaffen. Das Verwaltungsgericht habe trotz Einstellung des Strafverfahrens wegen eines Vorkommnisses in der Strafhaft am 3. August 2017 unter Missachtung der Unschuldsvermutung diese Tat zur Stützung seiner Gefahrenprognose herangezogen.

Diese Rügen sind nicht geeignet, die Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts und damit des erstinstanzlichen Urteils ernstlich in Zweifel zu ziehen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18) und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 - 10 ZB 16.2199 - juris Rn. 6 f.; zuletzt B.v. 31.1.2019 - 10 ZB 18.1534 - Rn. 12) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise beim Kläger eine hinreichende Wiederholungsgefahr erneuter schwerer Straftaten insbesondere gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter angenommen. Es hat bei seiner Prognose zutreffend auf die vom Kläger begangenen zahlreichen Straftaten, die hohe Rückfallgeschwindigkeit, das bei den Taten gezeigte erhebliche Aggressionspotenzial und die offensichtlich fehlende Selbstkontrolle, die hohe Bedeutung des bedrohten Rechtsguts der körperlichen Integrität und das selbst in der Haft noch fortgesetzte aggressive und gewalttätige Verhalten abgestellt. Es hat den Kläger zu Recht als mehrfachen Bewährungsversager mit einer extrem hohen Rückfallgeschwindigkeit eingestuft.

Das Verwaltungsgericht hat auch die vom Kläger für einen „entscheidenden Lebenswandel“ angeführten positiven Ansätze während der Haft nicht verkannt, jedoch in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats mit Blick auf die langfristig angelegte Prognoseentscheidung (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10) aus dem gezeigten Wohlverhalten noch nicht auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung (BayVGH, B.v. 16.2.2018 - 10 ZB 17.2063 - juris Rn. 10) geschlossen.

Entgegen der Auffassung des Klägers durfte das Verwaltungsgericht in seine Prognose auch die (früheren) Straftaten vom 17. Januar, 2. Juni und 21. August 2015 mit einbeziehen. Es hat den vom Kläger insoweit beanspruchten Vertrauensschutz zu Recht verneint, weil ein zum „Verbrauch“ des Ausweisungsgrunds führender „Verzicht“ von der Ausländerbehörde weder ausdrücklich noch konkludent erklärt worden ist und im Übrigen selbst ein durch einen ausdrücklichen Verzicht vermittelter Vertrauensschutz unter dem Vorbehalt stünde, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern (vgl. BayVGH, B.v. 8.9.2016 - 10 C 16.1214 - juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 16.11.1999 - 1 C 11.99 - juris Rn. 20). Allein das Verstreichen einer ohnehin relativ kurzen Zeitspanne ohne sofortige Reaktion der Ausländerbehörde vermag einen solchen Vertrauensschutz nicht zu vermitteln.

Nicht durchgreifend ist auch der Einwand, das Verwaltungsgericht habe unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung die dem Kläger vorgeworfene Tat vom 3. August 2017 (Körperverletzung während der Haft zulasten eines Mitgefangenen) berücksichtigt, obwohl der Kläger dies bis zuletzt bestritten habe und das Strafverfahren eingestellt worden sei. Die Unschuldsvermutung schützt nämlich nur vor Nachteilen, die einem Schuldspruch gleichkommen, nicht jedoch vor Rechtsfolgen ohne Strafcharakter (vgl. BVerwG, B.v. 20.1.2017 - 2 B 75.16 - juris Rn. 8, 11 ff.). Daher können grundsätzlich auch die in einem (später) eingestellten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegenständlichen Sachverhalte im Rahmen der Gefahrenprognose vorgehalten werden (BayVGH, B.v. 30.7.2018 - 10 CE 18.769 u.a. - juris Rn. 26). Unabhängig davon betraf dieser Tatvorwurf nur einen von mehreren während der Haft disziplinarisch geahndeten Vorfällen, die das Verwaltungsgericht zur Begründung des fortgesetzten, wesensimmanenten aggressiven Verhaltens des Klägers herangezogenen hat.

Ebenso wenig gefolgt werden kann dem Einwand des Klägers, bei der erforderlichen Einholung eines Sachverständigengutachtens wäre das Gericht in seiner Prognose zu einem für ihn günstigeren Ergebnis gelangt. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie des Senats ist geklärt, dass sich das Gericht bei dieser Prognoseentscheidung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 12, 18 m.w.N.; BayVGH, B.v. 16.3.2016 - 10 ZB 15.2109 - juris Rn. 18 m.w.N.; B.v. 31.1.2019 - 10 ZB 18.1534 - Rn. 15). Ein derartiger Sonderfall liegt hier nicht vor.

Die Einvernahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt als Zeugen zu den vom Kläger geltend gemachten positiven Veränderungen während der Haft war unabhängig davon, dass der Kläger sie in der mündlichen Verhandlung nicht förmlich beantragt hat (§ 86 Abs. 2 VwGO), schon deshalb nicht erforderlich, weil sich das Verwaltungsgericht bei der Bewertung der nachträglichen Entwicklung auf mehrere ausführliche schriftliche Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt stützen konnte.

Auch die auf die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 bis 3, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung bezogenen Rügen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Kläger wendet ein, das Verwaltungsgericht habe bei der Abwägung seine Verwurzelung in der Bundesrepublik Deutschland und vollständige Entwurzelung in der Türkei nicht hinreichend berücksichtigt sowie die Vorgaben des Art. 8 EMRK nicht ausreichend beachtet. Bei ihm handle es sich um einen faktischen Inländer ohne Bezug zur Türkei, der über keine ausreichenden Türkischkenntnisse verfüge und ohne soziale Unterstützung bei der derzeitigen wirtschaftlichen Krise in der Türkei nicht Fuß fassen könne. Dagegen besitze er einen mittleren Schulabschluss und berufliche sowie wirtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet, wo auch seine Eltern und seine Schwester lebten.

Das Verwaltungsgericht hat jedoch alle in die vorzunehmende Gesamtabwägung einzustellenden Umstände berücksichtigt und entgegen der Meinung des Klägers auch nicht fehlgewichtet. Es hat zum einen die engen und damit besonders schwerwiegenden Bindungen des seit seiner Geburt hier lebenden Klägers in Deutschland als „faktischer Inländer“ gesehen. Zum anderen hat es hinreichend berücksichtigt, dass der Kläger in der Türkei lediglich einige kürzere (Urlaubs-)Aufenthalte verbracht und dort über seine Großeltern - ohne derzeitigen Kontakt - (allenfalls) familiäre Anknüpfungspunkte hat. Es hat insbesondere nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass der Kläger entgegen seiner Einlassung über ausreichende türkische Sprachkenntnisse verfügt, um sich in der Türkei sprachlich zurechtzufinden, auch wenn er diese teilweise erst wieder auffrischen muss. Weiter hat das Verwaltungsgericht nicht verkannt, dass die Aufenthaltsbeendigung für den Kläger eine besonders einschneidende Veränderung seiner Lebenssituation darstellt. Es ist jedoch bei der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Abwägung aller Umstände des Einzelfalls in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens beim Kläger als im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt und verhältnismäßig anzusehen sei, weil die von ihm nach wie vor ausgehende Gefahr für bedeutende Schutzgüter (insbesondere die körperliche Unversehrtheit), die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Interessen eine Ausweisung unerlässlich mache.

1.2. Zur Darlegung der besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sind die entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts konkret zu benennen, die diese Schwierigkeiten aufwerfen, und es ist anzugeben, dass und aus welchen Gründen die Beantwortung dieser Fragen besondere Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine Begründung dafür zu geben, weshalb die Rechtssache an den entscheidenden Richter (wesentlich) höhere Anforderungen stellt als im Normalfall (Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1.10.2018, § 124a Rn. 75 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht. Der Kläger legt nicht dar, inwiefern insbesondere die Gefahrenprognose und die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung in seinem Fall wesentlich höhere Anforderungen an den Tatrichter als in sonstigen Ausweisungsfällen „faktischer Inländer“ stellen sollen.

1.3. Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 14.12.2018 - 21 ZB 16.1678 - juris Rn. 29; B.v. 24.1.2019 - 10 ZB 17.1343 - juris Rn. 11; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72). Dazu verhält sich das Zulassungsvorbringen jedoch in keiner Weise.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.

2. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren ist abzulehnen, weil der Zulassungsantrag aus den oben dargestellten Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

IV. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2016 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahre befristet und seine Abschiebung aus der Haft in den Irak für den Fall des rechtskräftigen Widerrufs des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellten Abschiebungsverbots angedroht wurde. Weiter begehrt er die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für dieses Zulassungsverfahren.

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Sie sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG zulässig, weil das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich sei. Der Kläger habe schwere Straftaten begangen und es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Der arbeitslose Kläger konsumiere seit seinem frühen Jugendalter Rauschgift, seine Drogenabhängigkeit habe sich mit der Zeit zunehmend verfestigt. Er sei seit 2005 sechsmal u.a. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt worden, zuletzt wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei und über die Hälfte seiner Lebenszeit im Bundesgebiet verbracht habe. Aufgrund seiner wiederholten Straffälligkeit, der fehlenden wirtschaftlichen Integration und der weiterhin bestehenden Bindungen zu seinem Heimatland könne dem Kläger der Status eines faktischen Inländers nicht zugebilligt werden. Die Ausweisung sei aber auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK angemessen.

Die vom Kläger in der Zulassungsbegründung dagegen vorgebrachten Einwendungen begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils.

Soweit der Kläger geltend macht, entgegen der Darstellung im Urteil des Verwaltungsgerichts durchaus therapiewillig zu sein, inzwischen eine Zusage für eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme bei einer Drogenberatung erhalten zu haben und zum Beleg hierfür entsprechende, auch aktuelle Stellungnahmen bzw. Bestätigungen vorlegt, sind diese Rügen nicht geeignet, die Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts und damit des erstinstanzlichen Urteils ernstlich in Zweifel zu ziehen.

Denn in ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 - 1 C 13.12 - juris Rn. 12 mit Nachweisen der Rspr. des EuGH und des EGMR). Nach diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass das persönliche Verhalten des Klägers eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Insbesondere hat es die Gefahr der Wiederholung weiterer schwerwiegender Straftaten des Klägers im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zu Recht bejaht. Das Verwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. BayVGH B.v. 2.1.2019 - 10 ZB 18.1638 - juris Rn. 6; B.v. 14.6.2018 - 10 ZB 18.794 - juris Rn. 6; B.v. 20.3.2018 - 10 ZB 17.2512 - Rn. 5; B.v. 20.10.2017 - 10 ZB 17.993 - juris Rn. 6) zutreffend davon ausgegangen, dass von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange der Kläger nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Hiervon kann beim Kläger trotz Therapiemotivation und (nunmehriger) Zusage für eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme nicht ausgegangen werden. Denn er hat weder eine Drogentherapie begonnen noch diese erfolgreich abgeschlossen noch konnte er sich bislang eine ausreichend lange Zeit außerhalb des Maßregelvollzugs bewähren.

Daneben hat das Verwaltungsgericht bei seiner Gefährdungsprognose auch darauf abgestellt, dass der Kläger schon seit langer Zeit seinen Lebensunterhalt nicht mehr durch eigene Erwerbstätigkeit sichergestellt hat, seit seinem Jugendalter wiederholt straffällig geworden ist, im Strafvollzug mehrfach disziplinarrechtlich geahndet worden ist und laut Führungsbericht eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht habe befürwortet werden können. Es hat den Kläger zu Recht als mehrfachen Bewährungsversager mit einer extrem hohen Rückfallgeschwindigkeit eingestuft. Vor diesem Hintergrund ist es unabhängig davon, weshalb beim Kläger eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG unterblieben ist, und auch unter Berücksichtigung dessen, dass er sich seit Ende März 2018 im offenen Vollzug befindet, dabei seine Arbeitsleistung nach eigenen Angaben beanstandungsfrei sei und die Möglichkeit der Beschäftigung in Gestalt eines Ausbildungsverhältnisses bestehe, hinsichtlich der längerfristig angelegten ausländerrechtlichen Gefahrenprognose (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10) und des Schutzes besonders wichtiger Rechtsgüter hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger erneut Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität begehen wird.

Weiter wendet der Kläger ein, dass das Verwaltungsgericht die noch bestehende Flüchtlingseigenschaft und seine familiären Bindungen im Bundesgebiet wesentlich „stärker“ hätte berücksichtigen müssen. Hieraus lassen sich ebenfalls keine ernstlichen Richtigkeitszweifel ableiten. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht wegen der noch nicht bestandskräftig widerrufenen Flüchtlingseigenschaft die Ausweisung am Maßstab des § 53 Abs. 3 AufenthG geprüft. Auch hat das Verwaltungsgericht die familiäre Situation richtig erfasst. Soweit der Kläger nunmehr vorträgt, keine familiären Bindungen im Irak zu haben, überzeugt dies schon angesichts der Angaben seiner Mutter in ihrem Asylverfahren, wonach noch „Mutter, Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten“ im Heimatland lebten (Bl. 29 der Behördenakte), nicht.

Schließlich hat das Verwaltungsgericht dem Kläger zu Recht nicht den Status eines „faktischen Inländers“ zugebilligt. Das Gericht hat dabei entgegen dem Vortrag in der Zulassungsbegründung nicht verkannt, dass der Kläger mehr als die Hälfte seiner Lebenszeit im Bundesgebiet verbracht und sich gute deutsche Sprachkenntnisse angeeignet hat. Allerdings handelt es sich bei dem im Alter von 14 Jahren eingereisten Kläger nicht um einen faktischen Inländer (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 - 19 CE 17.2454 - juris Rn. 24 zu einem im Alter von fast 13 Jahren eingereisten Ausländer mit über fünfjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet), zumal ihm die Integration weder in wirtschaftlicher Hinsicht gelungen, noch er sozial-familiär in die hiesige Gesellschaft eingebunden ist. Auch wurden die Beziehungen zur Heimat und seine Sprachkenntnisse ausreichend berücksichtigt. Das Verwaltungsgericht hat insbesondere nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, weshalb keine völlige Entwurzelung anzunehmen ist und der Kläger entgegen seiner Einlassung über ausreichende turkmenische Sprachkenntnisse verfügt, um sich in seiner Heimat sprachlich zurechtzufinden, auch wenn er diese teilweise erst wieder auffrischen muss. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht selbst bei Annahme der Stellung eines faktischen Inländers die Ausweisung angesichts der abgeurteilten Straftaten und der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten als angemessen erachtet (s. UA S. 18 2. Absatz). Zu dieser selbständig tragenden Begründung verhält sich das Zulassungsvorbringen indes nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.

2. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren, der gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO nicht dem Vertretungszwang unterliegt, ist abzulehnen, weil der Zulassungsantrag aus den oben dargestellten Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsantragsverfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert für das Zulassungsantragsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.

IV. Der Prozesskostenhilfeantrag für das Zulassungsantragsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.

Der am … 1979 im Bundesgebiet geborene Kläger, türkischer Staatsangehöriger, begehrt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 29. September 2016, durch das seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. November 2014 abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid wurde der Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. I. des Bescheides), wurden die Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von sieben Jahren ab Ausreise bzw. Abschiebung befristet (Nr. II.), wurde die Abschiebung aus Haft bzw. Maßregelvollzug heraus in die Türkei angeordnet (Nr. III.) und der Kläger für den Fall, dass die Abschiebung unmittelbar aus dem Vollzug heraus nicht möglich ist und er aus dem Vollzug entlassen wird, unter Androhung der Abschiebung aufgefordert, das Bundesgebiet unter Fristsetzung zu verlassen, andernfalls er insbesondere in die Türkei abgeschoben werde (Nr. IV.).

Der auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils) gestützte Antrag bleibt ohne Erfolg.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten derart in Frage gestellt wird, dass sich die gesicherte Möglichkeit der Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ergibt (z.B. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546/547), mithin diese Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – DVBl 2004, 838/839). Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers nicht.

1. Der Kläger macht zunächst geltend, das Gericht habe nicht berücksichtigt, dass ihm als türkischem Assoziationsberechtigten besonderer Ausweisungsschutz zustehe, sodass er nur bei einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG ausgewiesen werden könne und die Bestimmungen in §§ 54, 55 AufenthG auf ihn nicht anwendbar seien. Das Verwaltungsgericht sei vielmehr unrichtigerweise von einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausgegangen und habe die §§ 54, 55 AufenthG trotz ihrer Verdrängung durch § 53 Abs. 3 AufenthG bei der Gesamtabwägung berücksichtigt. Diese Ausführungen wecken keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils.

Die Vertreterin des öffentlichen Interesses hat zutreffend darauf hingewiesen (die Beklagte hat sich gleichsinnig geäußert), dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 ff., 26) den Bestimmungen in §§ 54, 55 AufenthG auch in den Fällen des § 53 Abs. 3 AufenthG Bedeutung zukommt, und zwar die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen an der Ausweisung im Sinne des § 53 Abs. 3 Halbs. 1 AufenthG, die besonderes Gewicht haben. Der Entwurfsbegründung zu § 53 (BT-Drs. 18/4097, S. 50), aus der der Kläger seine Rechtsansicht ableitet, ist nichts zu entnehmen, was in Widerspruch zu dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht. Zwar ist hier von einer „Sonderregelung“ die Rede, jedoch bezieht sich diese Wendung ersichtlich auf das in § 53 Abs. 3 AufenthG festgelegte Maß der Sicherheitsgefahr und statuiert im Übrigen keine Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen.

2. Soweit der Kläger (der sich nur mit der Frage einer Wiederholungsgefahr nach der Aussetzung von Strafvollstreckung und Maßregelvollzug im Frühjahr 2016 befasst) der Auffassung sein sollte, sein Verhalten bis zum Maßregelvollzug in der Zeit vom 10. Juni 2014 bis zum 18. März 2016 indiziere nicht das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bzw. nicht diejenige gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Union Voraussetzung der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist (EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08 – Rn. 82 ff., insbesondere 86) und von § 53 Abs. 3 Halbs. 1 AufenthG vorausgesetzt wird, trifft dies nicht zu.

Bei dem Kläger ist mit weiteren schwerwiegenden Drogendelikten zu rechnen. Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, die Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV). Die Folgen insbesondere für junge Menschen können äußerst gravierend sein. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht „ein großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 – Rs.C-149/09, Tsakouridis – NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrfach klargestellt, dass er in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (U.v. 30.11.1999 – Nr. 34374-97 „Baghli“ – NVwZ 2000, 1401; U.v. 17.4.2003 – Nr. 52853/99 „Yilmaz“ – NJW 2004, 2147; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 17.3.2005 – 18 B 445.05 – juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Werteordnung der Grundrechte einen sehr hohen Rang einnehmen. Rauschgift bedroht diese Schutzgüter in hohem Maße und trägt dazu bei, dass soziale Beziehungen zerbrechen und die Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 14.3.2013 – 19 ZB 12.1877).

Gegen den Kläger ist in zahlreichen Fällen ermittelt worden. Diese Ermittlungsverfahren sind zum Teil eingestellt worden und haben zum Teil zu Strafbefehlen geführt. Vier Strafbefehle (vom 6.12.2000, 28.12.2000 – hieraus ist nachträglich die Gesamtstrafe vom 17.4.2001 gebildet worden –, vom 26.1.2001 und vom 24.1.2005) und fünf Verfahrenseinstellungen (sämtliche nicht nach § 170 Abs. 2 StPO: vom 17.5.95, 13.5.1998, 11.3.2002, 17.3.2005, 17.8.2010 und 12.8.2013) haben Drogendelikte zum Gegenstand gehabt. Durch mehrere Strafurteile ist der Kläger zu Freiheitstrafen von insgesamt fünf Jahren und vier Monaten verurteilt worden (vom 16.7.2003: drei Monate auf Bewährung - Bewährung am 30.3.2005 wiederrufen; vom 2.6.2004: ein Monat ohne Bewährung; vom 26.1.2006: ein Jahr und sechs Monate; die gleichzeitig verfügte Unterbringung in einer Entziehungsanstalt – nach § 64 Satz 1 StGB setzt dies die Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten voraus – ist am 30.8.2006 wegen Aussichtslosigkeit abgebrochen worden, sodass die Freiheitsstrafe weiter vollzogen worden ist; vom 4.2.2014: vier Jahre und sechs Monate, erneut mit Anordnung der Unterbringung wegen der Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten). Alle Freiheitsstrafen sind wegen Betäubungsmitteldelikten verhängt worden, und zwar nicht nur wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln und wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln, sondern insbesondere auch wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung. Zuvor (schon im Jahr 1998) war ein Verfahren gegen den Kläger wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nach § 45 Abs. 2 JGG eingestellt worden. Bei den vom Kläger präferierten Amphetaminvarianten (Ecstasy, Methamphetamin, Crystal, Speed) handelt es sich nicht um weiche Drogen; sie haben ein enormes Suchtpotential.

Durch die Freiheitstrafe von vier Jahren und sechs Monaten vom 4. Februar 2014 ist auch ein Überfall des Klägers auf seinen Drogenlieferanten geahndet worden, durch den der Kläger, der die gelieferten Drogen nicht bezahlt hat, der Kaufpreisforderung ein Ende setzen wollte. Er hat dabei den Lieferanten mit einem Elektroschocker angegriffen und ihn – bereits am Boden liegend – mit Fäusten geschlagen und mit Füßen getreten, sodass er einen 2 bis 3 cm langen Einriss an der Unterlippe, eine Platzwunde am rechten Oberkopf, diverse Hämatome und Prellungen sowie mehrere Brandmarken mit Blasenbildung an Ohren und im Kopf- und Nackenbereich erlitten hat. Eine der bereits erwähnten Verfahrenseinstellungen nach § 45 Abs. 3 JGG (diejenige vom 14. Mai 1995) hat ebenfalls eine gefährliche Körperverletzung zum Gegenstand gehabt. In den Jahren 2003, 2004, 2005 und 2006 ist der Kläger jeweils – zum Teil nach Bewährungswiderruf, zum Teil nach unbedingter Verurteilung – inhaftiert gewesen (in den Anfangsjahren jeweils einige Monate, im Jahr 2005 während des größten Teils des Jahres und im Jahr 2006 mehr als ein halbes Jahr). Von dem Betäubungsmittelhandel und der gefährlichen Körperverletzung im Jahr 2013 hat ihn dies nicht abgehalten. Der Kläger ist am 15. Februar 2001 von der Ausländerbehörde verwarnt worden; am 2. September 2005, 4. Januar 2006 und 4. Januar 2007 (Anhörungsschreiben) hat die Ausländerbehörde seine Ausweisung erwogen, dann aber (jeweils) noch einmal davon abgesehen. Auch hierdurch ist die Fortführung und Verschärfung der Delinquenz des Klägers vom Jahr 2013 nicht verhindert worden. In den Strafurteilen vom 2. Juni 2004 bis zum 4. Februar 2014 haben die Strafgerichte (insbesondere wegen Rückfälligkeit während laufender Bewährung) jeweils negative Prognosen gestellt und Strafaussetzungen abgelehnt; im Strafurteil vom 4. Februar 2014 wird auf das enorme Suchtpotential des gehandelten Methamphetamin hingewiesen, auf die erhebliche Menge, die gehandelt worden ist, sowie auf die acht einschlägigen Vorstrafen im Bundeszentralregisterauszug.

Die Betäubungsmittelsucht des Klägers hat bis zu seiner jüngsten Therapie in Unterbringung etwa 20 Jahre lang bestanden. Er hat vor allem Methamphetamin, aber auch andere Drogen (darunter Cannabis, LSD, Kokain und Heroin) konsumiert. Ihm ist mehrfach Drogensucht in Form der Polytoxikomanie attestiert worden (u.a. in dem Befundbericht über den Maßregelvollzug im Juni und Juli 2006). Im strafgerichtlichen Gutachten vom 17. Oktober 2013 ist sein Drogenverhalten als „tiefverwurzelte innere Disposition“ bezeichnet worden. Vor der jüngsten Drogentherapie, die im März 2016 beendet gewesen ist, hat er Ende des Jahres 1998, im Sommer 2006 (Maßregelvollzug) sowie in der zweiten Jahreshälfte 2007 an Drogentherapien teilgenommen (vgl. im einzelnen Nr. 3 der Gründe des vorliegenden Beschlusses), ohne dass damit eine nachhaltige Befreiung von der Sucht verbunden gewesen wäre.

3. Der Kläger trägt vor, nunmehr bestehe eine gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft nicht mehr. Er habe während des im Strafurteil vom 4. Februar 2014 angeordneten Maßregelvollzugs eine achtmonatige stationäre Drogentherapie abgeschlossen, in der er sich rasant positiv entwickelt habe. Der positiven Prognose in der strafvollstreckungsrechtlichen Aussetzungsentscheidung und den entsprechenden ärztlichen Berichten und dem Prognosegutachten vom 29. Januar 2016, auf denen sie beruht und die das Verwaltungsgericht vernachlässigt habe, komme maßgebliche Bedeutung zu. Diese positive Entwicklung sei keineswegs nur wegen des Ausweisungsverfahrens erfolgt. Seit der bedingten Entlassung im März 2016 stehe er in ambulanter Weiterbehandlung. Das Verwaltungsgericht habe nicht dargelegt, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft tatsächlich berührt werde. Dies sei auch nicht der Fall; er bringe sich vielmehr durch seine Arbeitskraft und sein Engagement an seiner fortwährenden Entwicklung in die Gesellschaft ein. Er gehe seit eineinhalb Jahren einer festen Tätigkeit nach und ihm werde mehr Verantwortung übertragen (Beförderungsmöglichkeit). Die vom Verwaltungsgericht erwähnten Schulden stammten hauptsächlich aus den strafrechtlichen Verurteilungen; sie würden in Raten regelmäßig und zuverlässig bezahlt.

Dieses Vorbringen greift nicht gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts durch, eine gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft bestehe weiterhin.

Entgegen der Auffassung des Klägers kommt der positiven Prognose in der strafvollstreckungsrechtlichen Aussetzungsentscheidung und den entsprechenden ärztlichen Berichten und dem Prognosegutachten vom 29. Januar 2016, auf denen sie beruht, zwar indizielle Bedeutung für die ausweisungsrechtliche Prognose zu, jedoch keine entscheidende.

a) In seiner Entscheidung vom 2. Mai 2017 (19 CS 16.2466), die durch die vom Kläger zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 (2 BvR 1943/16) veranlasst worden ist, hat der Senat dargelegt, dass dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Annahme zugrunde liegt, über die Aussetzung eines Strafrests nach Teilverbüßung werde anhand derselben Sozialprognose entschieden, wie sie bei Ausweisungsentscheidungen zu erstellen ist (mit der Folge eines besonderen Begründungsbedarfs im Fall einer Abweichung von der strafvollstreckungsrechtlichen Prognose). Der Senat hat hier weiter dargelegt, dass die – ohne ersichtliche Befassung mit Wortlaut und Auslegung der strafvollstreckungsrechtlichen Bestimmungen gebildete – Auffassung im Beschluss des Bundeverfassungsgerichts unrichtig ist und dass die dezidierte Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, die Annahme einer Wiederholungsgefahr im Ausweisungsverfahren stelle kein Abweichen von der strafgerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung dar (B.v. 16.11.1992 – Az. 1 B 197/92 – InfAuslR 1993,121, juris Rn. 4, vgl. auch die eingehende Erläuterung im U.v. 15.1.2013, a.a.O., Rn. 19), die Rechtslage zutreffend wiedergibt:

„Entgegen der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (S. 11 oben) geäußerten Auffassung wird ein Verurteilter durch rechtstreues Verhalten während der Inhaftierung, der Bewährungszeit oder der Zeit einer Zurückstellung der Strafvollstreckung dem vom deutschen Strafvollstreckungsrecht bezweckten Resozialisierungsziel nicht gerecht (es indiziert daher auch nicht, dass eine relevante Wiederholungsgefahr im Sinne der §§ 53 ff. AufenthG nicht mehr besteht), sondern erst bei nachhaltig rechtstreuem Verhalten ohne ständige Pflichtenmahnung durch ein ‚Damoklesschwert‘ (so bezeichnen Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 57 Rn. 1 die Möglichkeit, die Aussetzung des Strafrests zu widerrufen). Jedenfalls in Fällen nachhaltiger Delinquenz ist eine nachhaltige Resozialisierung oft nicht im Rahmen einer Strafvollstreckung zu erreichen (sinngemäß ebenso BVerfG, B.v. 16.3.1994 – 2 BvL 3/90, 2 BvL 4/91, 2 BvR 1537/88, 2 BvR 400/90, 2 BvR 349/91, 2 BvR 32 BvR 387/92 – BVerfGE 91,1, juris Rn. 90). Dies beruht unter anderem auf dem Umstand, dass mit der Begrenzung des Strafmaßes auf das Schuldangemessene auch die strafvollstreckungsrechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten begrenzt sind. Es ist Aufgabe des Strafvollstreckungsrechts, aus den zu Gebote stehenden – derart begrenzten – Mitteln (z.B. probeweise Vollzugslockerung, Zurückstellung der Strafvollstreckung, Strafrestaussetzung, aber auch Verlängerung der Bewährungszeit, Widerruf begünstigender Maßnahmen usw.; der B.d. BVerfG v. 16.3.1994, a.a.O., juris Rn. 65 spricht insoweit von positiven und negativen Verhaltensverstärkern) diejenigen auszuwählen, die – unter Berücksichtigung des öffentlichen Sicherheitsinteresses – die Resozialisierungswahrscheinlichkeit so weit als möglich erhöhen. Die Art und der Umfang der jeweils anstehenden – für die Frage einer nachhaltigen Resozialisierung nur begrenzt bedeutsamen – konkreten Vollstreckungsentscheidung bestimmen den Prognosehorizont und auch die Prognosetiefe. Die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts geäußerte Auffassung, dass eine Strafrestaussetzung regelmäßig der Ausweisung entgegensteht, würde zu einer empfindlichen Störung dieses Strafvollstreckungssystems führen. Die Strafvollstreckungsbehörden sind sich derzeit nicht bewusst, dass eine Strafrestaussetzung regelmäßig vorgreiflich ist für die Frage der Ausweisung. Müssten sie von einer solchen Vorgreiflichkeit ihrer Entscheidung ausgehen, würden sie das Erprobungsmittel der Strafrestaussetzung in derartigen Fällen restriktiv handhaben, obwohl die Vorschriften …. die mit einer restriktiven Handhabung einhergehende unterschiedliche Behandlung von deutschen Staatsangehörigen und Ausländern nicht vorsehen. Nachdem eine unterschiedliche Handhabung bei identischer Vorschriftenlage kaum zu rechtfertigen ist, könnte dies auch dazu führen, dass die Handhabung des Instituts der Strafrestaussetzung (entgegen den Absichten des Gesetzgebers) ganz allgemein restriktiver wird.

Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB setzt die Aussetzung des Strafrestes unter anderem voraus, dass ‚dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann‘. Diese Formulierung weicht deutlich von der Formulierung der positiven Sozialprognose in § 56 StGB ab, der Vorschrift über Strafaussetzungen von Anfang an (bedingte Freiheitsstrafen). Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB erfolgt eine solche Strafaussetzung, ‚wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird‘. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit eines (über die Bewährungszeit hinausgehenden) straffreien Verhaltens größer sein muss als diejenige neuer Straftaten (Stree/Kinzig, a.a.O., § 56 Rn. 17 mit Rspr.-Nachw.). In § 57 StGB, der Vorschrift über die Aussetzung desjenigen Strafrestes, der nach einer Teilverbüßung verbleibt, hat der Gesetzgeber diesen Prognosemaßstab nicht festgelegt. Insbesondere fordert er hier nicht, dass auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs Delinquenzfreiheit zu erwarten ist. Er hätte sonst die Möglichkeit der Aussetzung eines Strafrestes zu sehr eingeschränkt und dem mit der Aussetzung verbundenen Resozialisierungsinteresse nicht gedient (Stree/Kinzig, a.a.O., § 57 Rn. 10; Kühl in Dreher/Maassen/Lackner, StGB, 28.. Aufl. 2014, § 57 Rn. 7; vgl. auch BGH, B.v. 25.04.2003 – StB 4/03, 1 AR 266/03 – NStZ-RR 2003,200 ff., juris Rn. 5 ff. und LS 1, wo hervorgehoben wird, dass bei der Strafrestaussetzung ein größeres Risiko als bei der Strafaussetzung nach § 56 eingegangen werden kann). Nach der strafgerichtlichen Rechtsprechung kann die Aussetzung des Strafrestes ‚verantwortet werden‘ im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den Erfolg spricht (eine reale Chance); eine Wahrscheinlichkeit der Resozialisierung, also eine Unwahrscheinlichkeit neuer Straftaten (sie müssen nicht unbedingt einschlägig sein vgl. BGH, U.v. 28.06.2000 – 3 StR 156/00 – NStZ-RR 2001,15, juris Rn. 18 sowie BayObLG, U.v. 05.09.2002 – 5 St RR 224/2002 – NStZ-RR 2003, 105, juris Rn. 9 f.) oder eine ‚überwiegende Wahrscheinlichkeit‘ der Bewährung in Freiheit wird nicht gefordert (Stree/Kinzig, a.a.O., § 57 Rn. 11 ff., Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 57 Rn. 14). Rechtsprechung und Literatur gehen ganz überwiegend davon aus, dass die (durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. ades Gesetzes v. 26.1.1998, BGBl I S. 160) mit Wirkung vom 31. Januar 1998 eingeführte Wendung ‚… erwartet werden kann‘ gegenüber der vorher geltenden Formulierung ‚wenn erprobt werden kann‘ keine inhaltliche Veränderung des Maßstabs herbeiführen sollte (Fischer, a.a.O., § 57 Rn. 13, Kühl, a.a.O., § 57 Rn. 7 sowie Stree/Kinzig, a.a.O., § 57 Rn. 9 und 15 jeweils mit Rspr.-Nachw.). Demzufolge bezieht sich die hier zu erstellende Prognose auf die Frage, ob bei dem Verurteilten eine Chance besteht, dass er die Bewährungszeit durchsteht (Kühl, a.a.O., § 57 Rn. 7: reale Bewährungschance). In Übereinstimmung hiermit formuliert das Bundesverwaltungsgericht in seiner bereits erwähnten Bewertung der Strafrestaussetzung im Rahmen der ausweisungsrechtlichen Gefahrenprognose, bei der Strafrestaussetzung stehe das Resozialisierungsinteresse im Vordergrund.

Der Verzicht auf eine Wahrscheinlichkeit der Resozialisierung als Voraussetzung für eine Aussetzung des Strafrestes beruht darauf, dass das mit einer Strafrestaussetzung verbundene Instrumentarium einschließlich des mit einem Aussetzungswiderruf verbundenen Legalbewährungsdrucks der Führungsaufsicht für Vollverbüßer überlegen ist (Stree/Kinzig, a.a.O., § 57 Rn. 14). Das Strafvollstreckungsgericht muss sich für eine dieser beiden Möglichkeiten entscheiden, weil das Strafrecht im Hinblick auf Art. 3 GG und auf Art. 2 der Antidiskriminierungsrichtlinie (RL 2000/42/EG des Rates v. 29.6.2000, ABl L 180/22) zwischen Deutschen und Ausländern grundsätzlich keinen Unterschied macht und deshalb davon ausgeht, dass ein Straftäter nach Verbüßung der schuldangemessenen Strafe auch dann nicht von der Gesellschaft ferngehalten werden kann (abgesehen von den Fällen, in denen die engen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung oder des § 64 Abs. 1 StGB für eine Unterbringung vorliegen), wenn weitere Straftaten wahrscheinlich sind. Das Strafvollstreckungsgericht hat demzufolge zum einen die Möglichkeit, einen Straftäter, bei dem weitere Straftaten wahrscheinlich sind, auch noch den Strafrest verbüßen zu lassen und auf diese Weise dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit für einen relativ kurzen Zeitraum voll Rechnung zu tragen, für die Folgezeit aber praktisch nicht mehr. Es kann zum anderen aber auch den Strafrest aussetzen und so für einen relativ langen Zeitraum den vorläufig Entlassenen unter (dem sich aus der Möglichkeit eines Aussetzungswiderrufs ergebenden) Legalbewährungsdruck halten, was die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, dass es zu denjenigen (im Falle einer Vollverbüßung weniger wahrscheinlichen) mentalen Veränderungen kommt, die für eine Straffreiheit über die Bewährungszeit hinaus erforderlich sind. Insgesamt geht es bei der Frage der Strafrestaussetzung häufig nicht um die Frage, ob weitere Straftaten wahrscheinlich sind, sondern darum, dass die bestehende Gefahr weiterer Straftaten (einschließlich solcher nach dem Ende des gesamten Vollstreckungsverfahrens) durch die Strafrestaussetzung wirksamer als durch die Vollverbüßung gemindert werden kann (der Senat hat dies bereits mehrfach – vgl. zuletzt Rn. 19 des Beschlusses vom 28.9.2016 < 19 ZB 15.1565 > – mit der verkürzenden Formulierung zum Ausdruck gebracht, eine Reststrafenaussetzung liege allgemein deshalb nahe, weil der Wohlverhaltensdruck, dem der Haftentlassene bei einer Reststrafenaussetzung unterliege, wegen der Möglichkeit eines Bewährungswiderrufs mit Reststrafenverbüßung höher sei als der Wohlverhaltensdruck nach einer Vollverbüßung, an die sich lediglich die Führungsaufsicht anschließt). Wenn die Reststrafenaussetzung im Einzelfall scheitert, mag dies von der Öffentlichkeit dem staatlichen Verantwortungsbereich stärker angelastet werden als eine Straftat nach Vollverbüßung; dies ändert aber nichts an der generellen Erhöhung der Sicherheit der Allgemeinheit (der Zahl der erfolgreichen Resozialisierungen), wenn der Legalbewährungsdruck der Strafrestaussetzung so häufig wie möglich genutzt und zu dem Mittel der Vollverbüßung so selten wie unbedingt nötig gegriffen wird. Die bei Bewährungsversagen auftretenden Straftaten dürfen eben nicht isoliert betrachtet werden. Der Wert des Instituts der Strafrestaussetzung wird nur deutlich bei einem Vergleich der gesamten Delinquenz nach Strafrestaussetzungen mit der (zu schätzenden) gesamten Delinquenz, zu der es in diesen Fällen nach Vollverbüßungen (ohne vorherige Strafrestaussetzungen) gekommen wäre (Stree/Kinzig – a.a.O., § 57 Rn. 1a – weist auf Untersuchungen hin, denen zufolge es bei der Strafrestaussetzung noch unausgeschöpfte Potenziale gibt).

Insgesamt ist eine Gefahrenprognose mittels differenzierter Abwägung bewertungsbedürftiger Indizien unverzichtbar. Der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 für richtig gehaltene Maßstab der Evidenz (den Gründen des Beschlusses – S. 11 - zufolge hat das während bestehenden Legalbewährungsdrucks gezeigte Verhalten die ausweisungsrechtliche Gefahrenprognose zu einem günstigen Ergebnis zu führen, solange nicht offensichtlich ist, dass ‚die Bemühungen des Ausländers ausschließlich dem Ausweisungsverfahren geschuldet sind‘) trägt dem nicht Rechnung. Mit der (nicht durch eine Rechtsvorschrift oder eine sonstige Quelle belegten) Aufwertung des während Haft, Bewährungszeit und Ausweisungsverfahren gezeigten Legalverhaltens von einem gewichtungsbedürftigen Prognoseaspekt zu einem praktisch nicht abwägbaren Entscheidungskriterium (es liegt in der Natur der Sache, dass das Vorspiegeln eines inneren Wandels bzw. die begrenzte Fähigkeit zu einem solchen Wandel in aller Regel nicht offensichtlich ist) wird die Komplexität der Problematik verkannt, eine vollumfängliche sowie rational nachvollziehbare Prognoseentscheidung verhindert und das öffentliche Sicherheitsinteresse vernachlässigt. Im Falle der Anwendung eines solchen Evidenzmaßstabs im Strafvollstreckungsrecht (etwa in der Art, dass eine günstige Prognose aufgrund ordnungsgemäßer Führung zu stellen ist, solange nicht offensichtlich ist, dass die ordnungsgemäße Führung ausschließlich dem jeweils angewendeten Druckmittel des Strafvollstreckungsrechts geschuldet ist) würde dasselbe gelten und würden beispielsweise ein differenzierter Führungsbericht oder ein Prognosegutachten jede Bedeutung verlieren. Durch Urteil vom 15. Januar 2013 (a.a.O., vgl. insbesondere Rn. 19 ff.) hat das Bundesverwaltungsgericht das ihm unterbreitete Berufungsurteil wegen der (auch durch Unionsrecht nicht gestützten) vorinstanzlichen Annahme aufgehoben, bei einer Strafrestaussetzung entfalle ausländerrechtlich die Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig.“

In zahlreichen Entscheidungen haben Oberverwaltungsgerichte die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 befürwortete Gleichsetzung der strafvollstreckungsrechtlichen Prognose mit der ausweisungsrechtlichen Prognose sich nicht zu eigen gemacht, sondern den im Senatsbeschluss vom 2. Mai 2017 dargestellten Unterschied zwischen den beiden Prognosehorizonten genutzt, um das Vorliegen einer breiteren, die Abweichung von der strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung rechtfertigenden Tatsachengrundlage der Ausweisungsentscheidung zu begründen (OVG NRW, U.v. 12.07.2017 – 18 A 2735/15 – juris Rn. 67 ff.; OVG Lüneburg, B.v. 23.03.2017 – 11 ME 72/17 – juris Rn. 6 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 04.01.2017 – OVG 11 N 58.16 – juris Rn. 7; BayVGH – 10. Senat, B.v. 19.06.2017 – 10 ZB 17.732 – juris Rn. 18 f. und B.v. 04.04.2017 – 10 ZB 15.2062 – juris Rn. 21). In seiner Darstellung der aktuellen Rechtsprechung zum Aufenthaltsrecht (NVwZ-Extra, 2017, 1/13) hat sich Berlit gegen die Annahme einer Identität des aufenthaltsrechtlichen, insoweit gefahrenabwehrrechtlichen Maßstabs mit dem straf(-vollstreckungs)-rechtlichen Maßstab für die Wiederholungsgefahr gewandt.

Strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen, durch die – wie vorliegend – die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen positiver Prognose (vorläufig) beendet wird, haben eine Bedeutung, die der im zitierten Senatsbeschluss vom 2. Mai 2017 dargestellten Bedeutung der Strafrestaussetzungsentscheidung vergleichbar ist. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat nicht das Ziel, Gefahren für die öffentliche Sicherheit längerfristig zu unterbinden. Für eine Anordnung dieser Maßregel genügt die hinreichend konkrete Aussicht (ein vertretbares Risiko ist einzugehen, vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 67d Rn. 11), dass durch sie der Verurteilte über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt wird (§ 64 Satz 2 StGB), wobei „eine erhebliche Zeit“ in der Regel bereits ab einem Jahr angenommen werden kann (Stree/Kinzig, a.a.O., § 64 Rn. 15; Schöch in Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2008, § 64 Rn. 136 und in Festschrift für Klaus Volk, 2009, S. 705). Eine langfristige Bewahrung vor dem Rückfall kann bereits deshalb nicht als Ziel der Unterbringung festgelegt werden, weil dann entsprechend lange Unterbringungszeiten erforderlich wären. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als freiheitsentziehende Maßnahme darf jedoch nach § 67 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich (vorbehaltlich des Satzes 3 der Bestimmung) zwei Jahre nicht übersteigen, muss in jedem Fall verhältnismäßig sein (§ 62 StGB) und insoweit umso strengeren Voraussetzungen genügen, je länger die Unterbringung dauert (BVerfG, B.v. 19.11.2012 – 2 BvR 193/12 – StV 2014,148 ff.). Die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB, „wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen“, ist somit bereits dann vorzunehmen, wenn für eine – im Vergleich zum ausländerrechtlichen Prognosehorizont - relativ kurze Zeitspanne die konkrete Aussicht (unter Eingehung eines vertretbaren Risikos) auf das Unterbleiben rechtswidriger Taten besteht. Nichts anderes gilt für die (vorliegend vorgenommene) Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“, denn auch bei dieser strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung sowie bei der Erstellung eines Prognosegutachtens hierfür sind die begrenzte Zielsetzung der Unterbringung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Für eine Evaluierung der Unterbringung zur Suchtbehandlung stehen nur wenige Untersuchungen zur Verfügung. Diesen zufolge wird mehr als die Hälfte der Straftäter, die aus dem Maßregelvollzug wegen guter Prognose (vorläufig) entlassen werden, innerhalb von zwei bis drei Jahren erneut straffällig. Bei etwas weniger als der Hälfte kommt es in diesem Zeitraum erneut zu einer Freiheitsstrafe oder zu einem Widerruf der Aussetzung des Maßregelvollzugs (vgl. Dessecker, Recht & Psychiatrie, 2004, 192, 197 ff.). Insgesamt ist nach der dargestellten Rechtslage das erforderliche Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende Beendigung der Maßregel wesentlich kleiner als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose, weil auch die kleinste Resozialisierungschance genutzt werden muss. Wie bereits erwähnt unterscheidet das Strafrecht grundsätzlich nicht zwischen Deutschen und Ausländern und berücksichtigt daher regelmäßig (die Ausnahmebestimmungen in § 67 Abs. 2 Satz 4 und Abs. 3 Satz 3 StGB haben vorliegend wegen des offenen Ausweisungsverfahrens keine Anwendung gefunden) nicht die Möglichkeit, die Sicherheit der Allgemeinheit durch eine Aufenthaltsbeendigung zu gewährleisten.

b) Im Übrigen wäre auch dann, wenn die Annahme des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 19. Oktober 2016 zuträfe, dass strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen die ausweisungsrechtliche Prognose in der Regel präjudizieren, im vorliegenden Fall von einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Wiederholungsgefahr auszugehen. Im Falle des Klägers liegen sachliche Gründe vor, wie sie auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Abweichung von der strafvollstreckungsrechtlichen Einschätzung begründen können. Die im Ausweisungsverfahren gebotene Gesamtbetrachtung führt zu einer wesentlich breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen, auf der die strafvollstreckungsrechtliche Aussetzungsentscheidung getroffen worden ist, die lediglich die Aussicht voraussetzt, den Kläger „eine erhebliche Zeitspanne vor einem Rückfall in den suchtbedingten Rauschmittelkonsum zu bewahren“. Die im Ausweisungsverfahren anzuwendenden Bestimmungen in §§ 53 ff. AufenthG erlauben es nicht, den größten Teil der vorliegenden Prognoseanhaltspunkte unberücksichtigt zu lassen, insbesondere die Umstände, dass der Kläger nicht nur einige Betäubungsmitteldelikte begangen hat, sondern mehrfach auch Handel mit Betäubungsmitteln getrieben hat, gefährliche Körperverletzungen begangen hat, durch mehrere Inhaftierungen und Ausweisungsankündigungen sich nicht gewandelt hat, 20 Jahre lang süchtig gewesen ist (insbesondere nach Amphetaminderivaten), vor der jetzigen Therapie zwei Therapien abgeschlossen hat (eine dritte hat er abgebrochen), die letztlich erfolglos geblieben sind, auch wenn bestehender Legalbewährungsdruck zu (teilweise längeren) konsumsfreien Phasen geführt hat.

Der Beschluss des Landgerichts R. vom 3. März 2016 (der – wie erwähnt – nicht vor dem Horizont der langfristigen ausländerbehördlichen Gefahrenprognose abgefasst ist) ist ausschließlich auf den Bericht des Bezirkskrankenhauses P. vom 8. September 2015 mit der Anregung, den Kläger zu entlassen, sowie auf das Prognosegutachten vom 29. Januar 2016 gestützt (vgl. I. der Gründe). Der Beschluss berücksichtigt nicht das Erfordernis, dem Unterschied zwischen Primärabhängigen mit Beschaffungsdelikten einerseits und Sekundärabhängigen mit krimineller Karriere andererseits Rechnung zu tragen (zu diesem Unterschied vgl. Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 35 Rn. 33). Der Beschluss spricht eine Vielzahl von Anhaltspunkten nicht an, die zwar für die Aussetzungsentscheidung im allgemeinen unwesentlich sein mögen, weil bei einem Fehlen anderer Alternativen auf der im Therapieabschluss liegenden Chance aufgebaut werden muss, die aber für den ausländerrechtlichen Prognosehorizont wesentlich sind. Diese Anhaltspunkte werden auch im strafvollstreckungsrechtlichen Prognosegutachten vom 29. Januar 2016 nicht gewürdigt. Mehrere dieser Anhaltspunkte finden sich zwar in den dem Gutachter vorliegenden und von ihm umfangreich wiedergegebenen Unterlagen. In der abschließenden Begründung seiner Prognose (S. 33 ff.) kommt der Gutachter jedoch nicht auf sie zu sprechen, sondern legt – unter anderem mit Hinweisen auf die günstige Entwicklung und die Abstinenzentscheidung des Klägers, wie sie auch während der Therapie in Bad N. im Herbst 1998 sowie während der Therapie in der Klinik N. in der zweiten Hälfte des Jahres 2007 vorgelegen haben - ausschließlich ein (äußerlich) mustergültiges Verhalten des Klägers während der Drogentherapie ab dem Sommer 2014 dar, ohne dieses Verhalten zu hinterfragen. Lediglich einige einschränkende Bemerkungen (wie „verbleibende Risikokonstellationen“ und die Abschätzung des Verhaltens des Klägers im Falle eines Suchtmittelrückfalls, vgl. S. 37 oder „ausreichend gebesserte Sozial-, Legal- und auch Krankheitsprognose“, vgl. S. 38) lassen die Restzweifel des Prognosegutachters erkennen. Im Wesentlichen ebenso verhält es sich mit dem im Beschluss vom 3. März 2016 angesprochenen Bericht des Bezirkskrankenhauses P. vom 8. September 2015. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass Therapieberichte keine objektiven Bewertungen oder gar Begutachtungen darstellen. Zu einer effektiven Drogenberatung ist ein enges Vertrauensverhältnis zwischen dem Drogenabhängigen und dem Berater erforderlich. Der Berater ist kein verlängerter Arm des Staates (Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 436). Weil Drogenberater Interessenvertreter ihrer Klienten (und nicht des Staates) sind (Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 253), sind die Therapiestellungnahmen nicht als objektive Gutachten, sondern als einseitige Stellungnahmen zu bewerten (Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 253). Gegen unzureichende Stellungnahmen von Therapieeinrichtungen gibt es keine effektive Handhabe (Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 413 ff.). Im Wesentlichen aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber bei der Anrechnung der Therapie auf die Strafe nach § 36 BtMG nicht auf erfolgreiche Therapiezeiten, sondern auf die Aufenthaltszeiten in der Therapie an sich abgestellt (Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 16 ff.). Auch bei der Anrechnung des Maßregelvollzugs der Unterbringung auf die Strafe nach § 67 Abs. 4 StGB kommt es nicht auf einen (von der Therapieeinrichtung bescheinigten) Erfolg des Maßregelvollzugs an.

Der Beschluss erwähnt nicht, dass der Kläger spätestens ab dem Alter von 16 Jahren – also etwa 20 Jahre lang (drogenfreie Zeiten eingeschlossen, die zu einer Suchtbewältigung nicht geführt haben) – betäubungsmittelsüchtig gewesen ist.

Er erwähnt auch nicht, dass die vom Kläger gehandelten und konsumierten Substanzen „ein enormes Suchtpotenzial“ (S. 12 des Strafurteils vom 4.2.2014) haben und dass sie aufgrund der konsumierten Vielfalt zu einer Polytoxikomanie geführt haben (so bereits der Befundbericht über den Maßregelvollzug im Sommer 2006), die im strafgerichtlichen Gutachten vom 17. Oktober 2013 als „tiefverwurzelte innere Disposition“ bezeichnet worden ist. Alternativ zum Begriff „Polytoxikomanie“ (und ohne Widerspruch hierzu) ist auch von einer Abhängigkeit bezüglich Metamphetamin und Cannabis die Rede.

Weiterhin erwähnt der Beschluss nicht, dass der Kläger bereits mehrfach Drogenbehandlungen absolviert hat, die längerfristig erfolglos geblieben sind. Dies ist deshalb von erheblicher Bedeutung, weil die Erfolgschancen einer Therapie, die im Allgemeinen bereits deutlich unter 50% liegen (die Katamnesedaten zum Entlassungsjahrgang 2011 – Drogeneinrichtungen – Stand: August 2013 des Bundesverbandes für Stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. – Teil 1 – lassen auf eine Misserfolgsquote nach einem Jahr von 70% und mehr schließen; nach Klos/Görgen – Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit, 2009, S. 25 ff. – sind Rückfälle eher die Regel als die Ausnahme; vgl. insoweit auch Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 8. Aufl. 2016, § 35 Rn. 47: „bescheidene Erfolge“), den vorliegenden Untersuchungen zufolge umso geringer sind, je mehr erfolglose Therapien vorhergegangen sind (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V., Nr. 4.6 der Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassungsjahrgang 2011 – Drogeneinrichtungen – Stand: August 2013; als Grund für diese Chancenverschlechterung wird eine Chronifizierung des Sucht angenommen; vgl. auch Klos/Görgen, Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit, 2009, S. 26 ff.). Der Kläger hat sich vom 13. Oktober 1998 bis zum 2. Dezember 1998 wegen seines Drogenmissbrauchs in der Psychosomatischen Klinik B. aufgehalten; bei der Entlassung sind ihm die Bearbeitung aktueller Konfliktfelder und persönlichkeitsspezifischer Defizite, eine deutliche Stabilisierung des psychosomatischen Gesamtzustandes sowie wichtige Reifungsschritte attestiert worden. Nachdem er dann zahlreiche weitere Betäubungsmittelstraftaten begangen hatte, ist der Kläger aufgrund des Strafurteils des Landgerichts A. vom 26. Januar 2006, in dem ihm eine gute Therapiemotivation und gute Erfolgschancen bescheinigt worden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht worden. Nachdem der Kläger vom Tage der Aufnahme an eine Therapierung abgelehnt hat (weil die Dauer der Therapie von zwei Jahren in keinem Verhältnis zur Reststrafe stehe) und ihm die Einrichtung deswegen eine negative Sucht-, Legalsowie Sozialprognose gestellt hat, ist die Maßregel durch Beschluss des Landgerichts B. vom 30. August 2006 wegen Aussichtslosigkeit beendet und die Reststrafe vollzogen worden. In der Zeit vom 4. Juli 2007 bis zum 21. Dezember 2007 hat der Kläger in der Klinik N. eine stationäre Entwöhnungstherapie absolviert. Nachdem er mit dem Drogenkonsum wieder begonnen hatte (der Kläger behauptet, zu einem Rückfall sei es erst im Jahr 2012 gekommen; dies ist jedoch zweifelhaft, nachdem bereits am 17.8.2010 ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz nicht nach § 170 Abs. 2 StPO, sondern nach § 153 Abs. 1 StPO eingestellt worden ist) und nahezu täglich Cannabis sowie Methamphetamin konsumierte (vgl. S. 28 des Prognosegutachtens vom 29.1.2016), ist er am 14. August 2013 inhaftiert und am 4. Februar 2014 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden sowie zur Maßregel der Unterbringung zwecks Durchführung einer Drogentherapie, auf die sich der Kläger nun beruft. Dementsprechend hat das Strafgericht im Urteil vom 4. Februar 2014 es lediglich „nicht ausgeschlossen“, dass der Kläger im Rahmen der Unterbringung seine Drogenabhängigkeit bewältigt und anschließend ein strafffreies Leben führt.

Der Beschluss des Landgerichts vom 3. März 2016 erwähnt auch nicht, dass der vom Strafgericht hinzugezogenen Sachverständige L. eine Therapiedauer von 18 Monaten für erforderlich gehalten hat, dass sich das Strafgericht im Strafurteil vom 4. Februar 2014 nach eigener Würdigung der Gesamtumstände dieser Einschätzung angeschlossen hat und dass aber nicht einmal ein Jahr lang eine intensive Behandlung des Klägers stattgefunden hat. Nach dem Beginn des Maßregelvollzugs am 10. Juni 2014 in der Aufnahme-/Motivations-Station der Klinik für Forensische Psychiatrie in R., von wo aus er am 8. Juli 2014 in das Bezirkskrankenhaus P. verlegt worden ist, hat der Kläger bereits am 7. August 2014 die erste Lockerungsstufe erhalten; zu Beginn des Jahres 2015 ist es ihm gestattet worden, außerhalb der Klinik zu übernachten, im Februar 2015, ein Praktikum im Messebau in N. zu absolvieren (das ihn überlastet hat), und im Sommer 2015, eine Berufstätigkeit in einem Callcenter in E. aufzunehmen. Er musste dann nur noch zu einem Therapiegespräch pro Woche erscheinen, ab Herbst 2015 nur noch 14-täglich.

Der Beschluss des Landgerichts vom 3. März 2016 übergeht die (dem Prognosegutachten vom 29.1.2016 zu entnehmenden, aber nicht thematisieren) deutlichen Anzeichen dafür, dass der Kläger unter Druck zu einem hoch angepassten Verhalten in der Lage ist, wenn er dadurch Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit beseitigen oder vermindern kann, und dass angepasstes Verhalten des Klägers unter einem „Damoklesschwert“ keine Gewähr für ein längerfristiges Ausbleiben von Sucht und Delinquenz bietet. Dem im Prognosegutachten (S. 18) wiedergegebenen Vermerk des Bezugstherapeuten vom 29. Juli 2014 über die Unterbringung zufolge hat sich der Kläger gewandt und sehr ausführlich geäußert und dabei ein „sehr angepasstes Verhalten (,überall keine Probleme')“ gezeigt. Er ist teils „devot“ aufgetreten. Dem ebenfalls hier wiedergegebenen Therapeuten-Vermerk vom 2. September 2014 ist zu entnehmen, dass sich der Kläger die Therapeuten-Sprache zu eigen gemacht hat (auch in der Epikrise des Bezirkskrankenhauses P. vom 5.8.2016 – S. 5 – findet sich die Bemerkung, der Kläger sei zeitweise durch ein bemühtes und auch etwas überangepasstes Verhalten aufgefallen; gleichwohl wird im selben Schreiben – ohne Auseinandersetzung mit dieser Verhaltensbeobachtung – anerkennend festgestellt, der Kläger besitze die Fähigkeit, sich gegenüber Bezugspflegeteam und Therapeuten zu öffnen, sei reflektiert und sozial hochkompetent, hoch therapiemotiviert, engagiert und hole sich stets Rat). Aus dem Vermerk vom 29. Juli 2014 ergibt sich auch, dass er auf die Frage nach vorhandenem Suchtdruck taktiert hat; er hat zunächst ausweichend, dann aber angepasst reagiert, indem er Auslösesituationen (Diskothek) beschrieben hat mit dem Bemerken, diese widerten ihn im Rückblick an. Dem im Prognosegutachten vom 29. Januar 2016 zitierten Vermerk vom 15. September 2014 ist zu entnehmen, dass der Kläger einen Kontrollverlust „rasch bagatellisiert“ hat. Der Kläger hat durch sein (äußerlich) mustergültiges Verhalten während der Unterbringung erreicht, dass trotz seiner zahlreichen einschlägigen Vorahndungen die durch das Urteil vom 4. Februar 2014 verhängte Freiheitsentziehung von vier Jahren und sechs Monaten auf zwei Jahre und sechs Monate – die Unterbringung eingeschlossen – verkürzt worden ist (am 14.8.2013 ist er vorläufig festgenommen worden; in der Zeit bis zur Entlassung aus dem Maßregelvollzug am 18.3.2016 ist auch die Ersatzfreiheitsstrafe für den Strafbefehl vom 10.6.2013 über 30 Tagessätze wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln vollzogen worden). Bereits nach seiner Verhaftung am 27. Februar 2005 wegen des Verdachts des Rauschgifthandels hat der Kläger versucht, mithilfe einer freiwilligen Therapie im Wege des § 35 BtMG die weitere Haft abzuwenden (vgl. das Schreiben der Bezirksklinik H. vom 13.7.2005). Nachdem ihm dies nicht gelungen und im Strafurteil vom 26. Januar 2006 die Maßregel der Unterbringung verhängt worden ist (in seinem Schreiben vom 16.11.2006 an die Ausländerbehörde spricht der Kläger von einer vorgesehenen Therapiedauer von zwei Jahren), hat er durch vorsätzliche Mitwirkungsverweigerung einen Abbruch der Unterbringung (Erledigung wegen Aussichtslosigkeit) herbeigeführt, weil die Dauer der Unterbringung zwecks Durchführung der fachlicherseits für nötig gehaltenen Therapie länger gewesen wäre als die Reststrafe. Ein derartiger leichtfertiger Umgang mit der Therapiechance spricht gegen eine echte Therapiebereitschaft (vgl. Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 216). Nach Verbüßung der Reststrafe hat der Kläger, der nun unter Führungsaufsicht gestanden hat, eine Therapie von weniger als sechs Monaten (bis Dezember 2007) absolviert. Der Kläger selbst hat die anschließende drogenfreie Phase ab Dezember 2007 in einen Zusammenhang mit der im Wesentlichen gleichzeitigen Führungsaufsicht gestellt (vgl. S. 21 des Prognosegutachtens vom 29.1.2016 sowie S. 2 der Epikrise des Bezirkskrankenhauses P. vom 5.8.2016: „habe allerdings fünf Jahre Führungsaufsicht gehabt“). Diese positive Phase fällt zudem in einen Zeitraum, in dem die Ausländerbehörde die bereits angekündigte Ausweisung zurückgestellt hat, um die weitere Entwicklung des Klägers abzuwarten (ausländerbehördliches Schreiben vom 6.2.2007; zum Legalbewährungsdruck eines Ausweisungsverfahrens, vgl. Rn. 35). Nach wenigen Jahren hat der Kläger mit dem Drogenkonsum und auch mit dem Drogenhandel erneut begonnen.

Eine Gesamtwürdigung dieses Verhaltens ergibt, dass dem Kläger weniger an der Suchtbefreiung als an einer schnellen Beendigung der mit Haft und Unterbringung verbundenen persönlichen Einschränkungen gelegen ist und dass er in der Lage ist, sich für die Erhaltung oder Wiedergewinnung persönlicher Freiheit in hohem Maß den staatlichen Verhaltensanforderungen anzupassen, ohne den erforderlichen inneren Wandel tatsächlich zu vollziehen. Hierbei handelt es sich um keine seltene Erscheinung (zur Scheinmotivation vgl. Patzak, a.a.O., § 35 Rn. 31, 32, 215 ff., 242), denn staatliche Druckmittel sind insofern zwiespältige Resozialisierungsmittel, als sie einerseits ein Gegengewicht zum Suchtdruck bilden, andererseits aber in einem Spannungsverhältnis zu der Erfahrung stehen, dass ein Therapieerfolg bei freiwilliger Mitwirkung signifikant wahrscheinlicher ist.

Unberücksichtigt bleibt im Beschluss vom 3. März 2016 schließlich auch, dass der Kläger, der seit dem 17. Lebensjahr an Nikotin gewöhnt ist, 20 bis 30 Zigaretten (schwarzer Tabak) pro Tag raucht (das Prognosegutachten vom 29.1.2016 erwähnt dies auf S. 23 des Prognosegutachtens, enthält sich aber diesbezüglich jeder Kommentierung) und demzufolge weiterhin von Suchtmechanismen abhängig ist.

Unberücksichtigt bleibt auch, dass der Kläger weder über gute Erwerbschancen noch über tiefere Bindungen verfügt (vgl. Rn. 40). Dies ist wesentlich für die Resozialisierungswahrscheinlichkeit; §§ 56 Abs. 1 Satz 2, 57 Abs. 1 Satz 2 StGB nennen als Prognoseindizien die Persönlichkeit, das Vorleben und die Lebensverhältnisse, zu denen wesentlich die Qualität von Bindungen und Beziehungen sowie die Ausbildungs- und Erwerbsbiografie gehören.

Es fällt allerdings auf, dass das Strafvollstreckungsgericht trotz seiner (ausländerrechtlich gesehen) nicht hinreichend differenzierten Entscheidung die längst mögliche Bewährungszeit (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB sowie § 36 Abs. 4 BtMG) festgelegt hat.

Das Gewicht der negativen ausländerrechtlichen Prognoseindizien wird auch nicht dadurch aufgewogen, dass seit der Entlassung des Klägers aus Haft und Maßregelvollzug Anhaltspunkte für Delinquenz oder Drogenkonsum nicht mehr aufgetreten sind und seine Entwicklung seitens des Bewährungshelfers günstig beurteilt wird.

In der Beschreibung der am 4. Februar 2014 abgeurteilten Straftat, die der Kläger den Therapeuten im Bezirkskrankenhaus P. geliefert hat (vgl. S. 4 des Berichts des Bezirkskrankenhauses vom 5.8.2016), werden die Geschehnisse unrichtig dargestellt und beschönigt, sodass von einer auch heute noch fehlenden Einsicht des Klägers in das von ihm begangene Unrecht ausgegangen werden muss. Das Strafgericht hat nicht - wie vom Kläger gegenüber den Therapeuten des Bezirkskrankenhauses angegeben - festgestellt, dass dem Kläger unreiner Stoff verkauft worden sei, den er nicht mehr habe weiterverkaufen können, und der Dealer ihn gesucht und auch seine Familie bedroht habe, weshalb er ihm habe zuvorkommen müssen. Das Strafgericht ist aufgrund eines Rauschgiftvortests von einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt ausgegangen (vgl. S. 3 und S. 9 der Anklageschrift vom 22.10.2013 sowie S. 9 des Strafurteils vom 4.2.2014). Dem Strafurteil ist auch nicht zu entnehmen, dass der Kläger die im Bericht des Bezirkskrankenhauses wiedergegebene beschönigende Darstellung im Strafverfahren zu seiner Verteidigung vorgetragen hätte.

Seit seiner Entlassung am 18. März 2016 steht der Kläger unter Bewährung, muss also nicht nur bei Straftaten, sondern bereits bei Verstößen gegen Bewährungsauflagen mit einer erneuten Inhaftierung rechnen. Es entspricht allgemeiner Erfahrung (und der Absicht des Gesetzgebers), dass die Möglichkeit, eine zur Bewährung verfügte Strafaussetzung/Strafrestaussetzung zu widerrufen, einen erheblichen Legalbewährungsdruck darstellt (Stree/Kinzig, a.a.O., § 57 Rn. 14 m.w.N. und Rn. 1: „Damoklesschwert“; ähnlich Patzak, a.a.O., § 36 BtMG Rn. 68), also zu erheblichen Anstrengungen in Richtung Selbstdisziplin und Lebensordnung führen kann. Weiterhin ist der Kläger durch den vorliegend streitgegenständlichen Bescheid vom 7. November 2014 ausgewiesen worden. Eine drohende Ausweisung erzeugt insbesondere bei Personen mit Hafterfahrung (Ausgewiesene besitzen diese regelmäßig und auch der Kläger besitzt sie) häufig einen Legalbewährungsdruck, der über denjenigen einer drohenden Inhaftierung hinausgeht; hierzu trägt auch der Umstand bei, dass im Ausweisungsrechtsstreit aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Der Stellungnahme der Bezugstherapeutin vom 9. November 2015, den eigenen Angaben des Klägers vom selben Tag und dem Bericht über den Maßregelvollzug ab 2014 (alle zitiert im Prognosegutachten vom 29.1.2016, S. 20, 25 und 32) sowie dem Bewährungshilfebericht vom 6. Februar 2017 ist zu entnehmen, dass der Kläger in der Ausweisung eine gewichtige Bedrohung sieht. Dieser besondere Legalbewährungsdruck ist auch den Äußerungen der Beteiligten und Gutachter in anderen Verfahren zu entnehmen (vgl. beispielsweise S. 26 des Senatsbeschlusses vom 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris sowie S. 10 des Senatsbeschlusses vom 14.8.2017 – 19 ZB 16.541) und entspricht allgemein den Erfahrungen des Senats. Demzufolge ist das Legalverhalten des Klägers in einer Zeit, in der er nicht nur unter Bewährung steht, sondern ihm auch die Ausweisung droht, zwar grundsätzlich als günstiges Indiz für die ausweisungsrechtliche, über die Zeiträume mit Legalbewährungsdruck hinausgehende Prognose heranzuziehen. Jedoch kommt diesem Indiz nur ein geringes, die gravierenden negativen Prognosekriterien nicht überwiegendes Gewicht zu, weil es angesichts des mehrschichtigen Abstinenz- und Legalbewährungsdrucks, der während des rechtstreuen Verhaltens besteht (und in mindestens demselben Maß während des Strafvollzugs und des Maßregelvollzugs), nach allgemeiner Erfahrung und auch nach der Auffassung der Strafgesetzgebers (der durch die Drohung mit Strafvollstreckung die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs der Erprobungsphase in Freiheit zu erhöhen beabsichtigt) nicht den Schluss auf ein gleichartiges Verhalten in Zeiträumen gewährleistet, in denen dieser Druck nicht besteht. Die gegenwärtig auf den Kläger einwirkenden Druckmittel sind nicht geeignet, das Unterlassen von Straftaten auf Dauer zu erzwingen, und bewirken in einem großen Teil der Fälle – zu dem der vorliegende Fall angesichts der erwähnten Umstände mit großer Wahrscheinlichkeit gehört – keinen inneren Wandel, sondern nur ein druckmittelbedingtes Anpassungsverhalten ohne Nachhaltigkeit (z.B. eine ordnungsgemäße Führung in der Haft und in der Bewährungszeit, jedoch nicht während deren gesamter Dauer oder nicht lange über sie hinaus, oder die Teilnahme an einer Drogentherapie ohne nachhaltige Suchtbefreiung, vgl. Rn. 28, 29). In fast allen vom Senat überprüften Ausweisungsfällen sind Strafrestaussetzungen bzw. Vollstreckungszurückstellungen (zum Teil mehrfach) erfolgt, jedoch erneut Straftaten nicht lange nach dem Ablauf der jeweiligen Bewährungszeit (oder sogar noch während dieser) begangen worden. Ein geringes Gewicht kommt dem Legalverhalten des Klägers nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug auch deshalb zu, weil er bereits gezeigt hat, dass er durch Haft und Strafaussetzung nicht nachhaltig zu beeindrucken ist, weil er durch mehrere Therapien nicht nachhaltig von seiner Abhängigkeit befreit worden ist und weil die gegenwärtige Situation keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Entwicklung aufweist, die sich von der negativen Entwicklung des Klägers nach früheren vielversprechenden Ansätzen unterscheidet.

4. Vor dem Hintergrund der tatbestandsmäßigen Gefährdungslage gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG ist bei der vorzunehmenden Interessenabwägung von einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einerseits und von besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen nach § 55 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 AufenthG auszugehen. Die nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG vorzunehmende Gesamtabwägung der gegenläufigen Interessen führt – auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK – zum Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- oder Familienlebens. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Gerichtshof) kann eine Aufenthaltsbeendigung einen – rechtferti-gungsbedürftigen – Eingriff in das Privat- oder Familienleben darstellen, wenn der Ausländer über starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat verfügt, das Privat- oder Familienleben in diesem fest verankert ist und sich nicht auf eine lose Verbindung beschränkt (U.v. 16.6.2005 – Sisojeva u.a. Lettland [Sisojeva I], Nr. 60654/00 – EuGRZ 2006, 554). Eine danach den Schutz des Privat- oder Familienlebens auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat kommt grundsätzlich für solche Ausländer in Betracht, die aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8.96 – NVwZ 1999, 303). Mögliche Eingriffe in das Recht eines Ausländers auf Achtung seines Privat- oder Familienlebens sind unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft und müssen ein ausgewogenes Gewicht zwischen den gegenläufigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herstellen. Dabei ist eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durchzuführen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 30.3.2010 – 1 C 8.09 – juris m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung sein, der rechtliche Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts und Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Bindungen des Ausländers im Inland sind in Beziehung zu setzen zu den Bindungen an seinen Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist.

Hinsichtlich des Schutzes der familiären Beziehungen ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofes anerkannt, dass selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verdrängen. Vielmehr ist anhand der sog. „Boultif-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden (vgl. z.B. EuGH, U.v. 18.10.2006 – Nr. 46410/99 <Üner> juris Rn. 57 ff.) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist zu berücksichtigen, dass Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewährt und allein aufgrund formal-rechtlicher Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen nicht entfaltet (vgl. BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris). Wie der Gerichtshof betont auch das Bundesverfassungsgericht, dass selbst gewichtige familiäre Belange sich nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durchsetzen (z.B. B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 23). Es ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. BVerfG, B.v. 1.12.2008 a.a.O., B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NVwZ 2013, 1207). Über die familiären Belange hinaus ist das Interesse des Klägers an einem Verbleib im Bundesgebiet unter Berücksichtigung der Dauer seines Aufenthalts und des Maßes seiner Integration angemessen zu würdigen.

Nach diesen Maßstäben kann sich der Kläger nicht erfolgreich auf eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung im Rahmen des Art. 8 EMRK berufen, denn der Anspruch des Klägers auf Schutz seines Privatlebens wird von den widerstreitenden öffentlichen Belangen überwogen, namentlich den in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Belangen der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen. Die Delinquenz des Klägers und die Gefahr der Begehung erneuter erheblicher Straftaten überwiegen seine schutzwürdigen sozialen und familiären Bindungen im Bundesgebiet. Zwar ist der Kläger in der Bundesrepublik geboren und hier aufgewachsen. Aber selbst für faktische Inländer besteht kein generelles Ausweisungsverbot; die besondere Härte, die eine Ausweisung wegen der Verwurzelung im Bundesgebiet für diese Personengruppe darstellt, ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19).

Dem Kläger steht zwar ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zur Seite. Dieses überwiegt jedoch nicht das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse, das sich aus der vom Kläger ausgehenden gegenwärtigen, tatsächlichen und hinreichend schweren Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft ergibt. Der Kläger wohnt zwar seit seiner Geburt im Jahre 1979 im Bundesgebiet, ist assoziationsberechtigt und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Sein Leben ist aber seit dem 14. Lebensjahr von Drogenkonsum (vgl. den von ihm verfassten „Suchtverlauf“, Bl. 227 der Ausländerakte) und seit dem 16. Lebensjahr von Straftaten maßgeblich geprägt, sodass er nicht schutzwürdig hat davon ausgehen können, dass – wenn er als Erwachsener dieses Verhalten fortsetzt – sein Aufenthaltsrecht von längerem Bestand sein wird. Der Kläger hat sich nicht nur in erheblichem Umfang (insbesondere zweimal durch Drogenhandel) strafbar gemacht; ihm ist auch der Aufbau einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage nicht gelungen. Insgesamt kann von einer Integration in die Lebensverhältnisse des Bundesgebiets nicht gesprochen werden. Es spricht zwar viel dafür, dass die Entwicklung des Klägers negativ durch seinen Vater beeinflusst worden ist, den er als gewalttätigen Alkoholiker beschreibt. Jedoch wohnt der Kläger bereits seit dem Jahr 1998 nicht mehr in der elterlichen Wohnung und hat mehrfach die Möglichkeit gehabt, mit fachlicher Unterstützung seine persönlichen Probleme zu bewältigen. Seinem Verhalten ist aber zu entnehmen, dass er die Problem- und Suchtbewältigung zurückstellt, wenn er dadurch persönliche Einschränkungen vermeiden kann. Der Kläger hat keinen Schulabschluss. Begonnene Ausbildungen hat er abgebrochen. Mit selbständigen Tätigkeiten (D2-Shop, Model- und Eventmanagement, Medienberater) ist er ebenfalls nicht erfolgreich gewesen. Das Gefühl, mit der D2-Filiale überlastet zu sein, hat den Kläger zur Schließung der Filiale bewogen; den erneuten Drogenrückfall im Vorfeld der Verurteilungen vom 16. Juli 2003, 2. Juni 2004 und 26. Januar 2006 hat er ebenfalls auf diese Überlastung zurückgeführt (vgl. S. 22 des Prognosegutachtens vom 29.1.2016). Wegen Überlastung hat er auch das Praktikum im Messebau im Frühjahr 2015 abgebrochen, für das die Unterbringung im Maßregelvollzug gelockert worden war; infolge seiner enttäuschten/subdepressiven Gefühle musste er damals durch das Nachsorge-Therapeutenteam aufgefangen werden. Im Übrigen hat er in Callcentern gearbeitet. Der Kläger hat angegeben, sein längstes Arbeitsverhältnis habe ungefähr ein Jahr gedauert. Im vorliegenden Verfahren hat er bestritten, jemals arbeitslos gewesen zu sein. Er hat dies jedoch nicht belegt und sein unstetes Berufsleben spricht dagegen; überdies ist dem Strafurteil vom 26. Januar 2006 (S. 5) seine Mitteilung zu entnehmen, er sei zwischen Oktober 2003 und Februar 2005 arbeitslos gewesen. Seit längerer Zeit arbeitet der Kläger zwar erneut in einem Callcenter; hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Kläger unter dem Eindruck des schwebenden Ausweisungsverfahrens und der Möglichkeit eines Bewährungswiderrufs steht. Der Kläger hat Schulden, die nach seinen Angaben „hauptsächlich aus den strafrechtlichen Verurteilungen stammen“. Der Kläger ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Die drei Partnerinnen, mit denen der Kläger nach seinen Angaben jeweils etwa ein Jahr lang eine Beziehung gehabt hat, haben ebenfalls Drogen konsumiert (vgl. S. 23 des Prognosegutachtens vom 29.1.2016). Angesichts seiner Volljährigkeit kommt den Beziehungen zu seiner Mutter (sein Vater ist im Jahr 2008 verstorben) kein wesentliches Gewicht zu. Der Kläger hat zwar vorgetragen, er kümmere sich um seine schwerkranke Mutter. Gegen eine Beistandsgemeinschaft von Gewicht spricht jedoch zum einen, dass die Mutter erst vor kurzem ein halbes Jahr in der Türkei verbracht hat, und zum anderen, dass der Kläger angegeben hat, er sehe seine Mutter (und eine Schwester, die bei der Mutter wohne) meistens 14-tägig am Samstag oder Sonntag (vgl. S. 21 des Prognosegutachtens vom 29.1.2016), und zu Betreuungsleistungen nichts ausgeführt hat. Der Kläger behauptet zwar, er habe keinerlei Bindungen an die Türkei oder Beziehungen dorthin. Dies ist jedoch nicht glaubhaft. Zu den Herkunftsfamilien seiner Eltern hat sich der Kläger nicht geäußert. Der Vater des Klägers hat nach dessen Angaben vor seinem Tod „die meiste Zeit des Jahres“ bzw. „die Hälfte des Jahres“ in seiner türkischen Heimat verbracht, in der auch die Mutter des Klägers mehr als 20 Jahre lang gelebt hat und erst kürzlich lang zu Besuch gewesen ist. Unter diesen Umständen drängen sich nähere und weitere verwandtschaftliche Bindungen in der Türkei auf, auf die sich der Kläger beim Aufbau einer Existenz stützen kann. In finanzieller Hinsicht kann der Kläger beim Aufbau einer Existenz in der Türkei von seiner Mutter unterstützt werden, zu der er nach seiner Angabe ein gutes Verhältnis hat. Sie dürfte zumindest zur Überweisung kleiner Beträge in der Lage sein, die angesichts der allgemeinen Lebensverhältnisse in der Türkei eine erhebliche Hilfe darstellen können. Nachdem der Kläger fast 20 Jahre lang bei seinen Eltern gewohnt hat, ist von ausreichenden türkischen Sprachkenntnissen auszugehen. Der Kläger ist voll erwerbsfähig und in einem Alter, in dem ihm der Aufbau eines Privatlebens zumutbar und möglich ist. Die Befürchtung, er werde zum Wehrdienst eingezogen werden, ist unbegründet (vgl. die E-Mail des türkischen Generalkonsulats in N., Bl. 404 der Ausländerakte).

Das Prozesskostenhilfegesuch für das Zulassungsantragsverfahren war abzulehnen, da – wie sich aus Obigem ergibt – der Zulassungsantrag keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne der §§ 166 VwGO, 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat.

Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsantragsverfahrens beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

(1) Ist eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen vorsätzlicher Straftaten oder eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen Straftaten der in § 181b genannten Art vollständig vollstreckt worden, tritt mit der Entlassung der verurteilten Person aus dem Strafvollzug Führungsaufsicht ein. Dies gilt nicht, wenn im Anschluss an die Strafverbüßung eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird.

(2) Ist zu erwarten, dass die verurteilte Person auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen wird, ordnet das Gericht an, dass die Maßregel entfällt.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 16. August 2016 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht und die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung auf acht bzw. zehn Jahre befristet wurden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat die Beklagte die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf acht bzw. sechs Jahre reduziert. Im Zulassungsverfahren wendet sich der Kläger auch gegen die Länge dieser Sperrfrist.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.). Die im Zulassungsantrag erwähnten Zulassungsgründe der besonderen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO) sind bereits nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 S. 4 VwGO; 2.).

1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 –1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat in den Entscheidungsgründen des Urteils vom 10. August 2017 dargelegt, dass vom Kläger aufgrund der langjährigen, nicht therapierten Drogensucht (Heroin), der wiederholten Verurteilungen wegen Drogenbesitzes und – handels und des Drogenkonsums in der Justizvollzugsanstalt auch gegenwärtig eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe, weil die Wiederholung vergleichbarer Straftaten drohe. Es könne nicht vorausgesagt werden, ob der Kläger – trotz Therapiewilligkeit – eine Drogentherapie erfolgreich absolviere. Bei der Abwägung seines Bleibeinteresses mit dem öffentlichen Interesse an seiner Ausreise kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass das Ausweisungsinteresse überwiege. Der Kläger habe sich zwischen seinem sechsten und zwölften Lebensjahr und zwischen 2004 bis 2012 in der Türkei aufgehalten und sei daher mit den türkischen Lebensverhältnissen hinreichend vertraut. In der Bundesrepublik habe er sich nicht integriert, er habe keinen Schulabschluss und keine abgeschlossene Berufsausbildung. Er sei bereits seit 17 Jahren mit seiner Ehefrau verheiratet, die vorhandene Bindung stehe aber einer Ausweisung wegen des bei einem Rückfall bedrohten hochrangigen Rechtsguts nicht entgegen. Der Kläger habe mehrere Chancen erhalten, ein straffreies Leben zu führen. Zuletzt habe er im Jahr 2014 eine Duldung erhalten, um mit seiner Ehefrau zusammenzuleben und sich in eine Therapie zu begeben. Insgesamt betrachtet gehe der Schutz der Bevölkerung vor Betäubungsmittelkriminalität vor.

Hiergegen bringt der Kläger vor, dass das Gericht seinen Status als faktischer Inländer und die gerichtlichen Auflagen der Strafvollstreckungskammer im Rahmen der Führungsaufsicht nicht geprüft und bedacht habe. Auch die lange Dauer der Ehe sei nicht berücksichtigt worden. Die Ehefrau könne als Deutsche nicht darauf verwiesen werden, den Schengen-Raum zu verlassen, um mit dem Kläger in der Türkei zu leben. Bei den Straftaten des Klägers handle es sich überwiegend um abstrakte Gefährdungsdelikte, er habe keine schwerwiegende Gewalt gegen andere Personen ausgeübt. Insofern hätte der Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Verhältnis zu den engen familiären Bindungen zurückgestellt werden müssen.

Mit diesen Ausführungen zieht der Kläger die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht ernstlich in Zweifel. Zunächst ist das Verwaltungsgericht bei der Überprüfung der Ausweisungsverfügung an den Vorgaben aus Art. 8 EMRK zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger noch hinreichend tragfähige Bindungen zu seinem Heimatland hat. Demgegenüber sind die Bindungen an die Bundesrepublik nicht so gewichtig, dass ihm ein Leben in seinem Herkunftsland nicht zugemutet werden kann. Der am 9. März 1975 in der Türkei geborene Kläger hat sich von seinem ersten bis zwölften Lebensjahr (zusammen mit seinen Eltern) überwiegend in der Türkei (und einigen europäischen Ländern) aufgehalten. Er besuchte in der Türkei die Schule. Erst im Jahr 1987 ist er zusammen mit seiner Mutter, die sich inzwischen vom Vater hatte scheiden lassen, wieder ins Bundesgebiet eingereist, wo er zunächst bei seinen Großeltern in Kiel wohnte, bevor er in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten verzog. Zum 21. Oktober 1993 wurde er von Amts wegen abgemeldet, weil sein Aufenthaltsort nicht bekannt war. Die Beklagte wies ihn wegen diverser Straftaten, auch aus dem Bereich des Betäubungsmittelrechts, mit Bescheid vom 28. November 1994 aus dem Bundesgebiet aus. Nach seinen eigenen Angaben hielt sich der Kläger von September 1993 bis März 1994 in Kalifornien auf, um dort seine Drogensucht behandeln zu lassen. Danach sei er in die Türkei gereist, wo er sich bis März 1996 aufgehalten habe. Am 7. Mai 1996 wurde der Kläger wegen illegalen Aufenthalts in M. festgenommen. Nachdem er erfolglos ein Asylverfahren durchgeführt hatte, wurde er am 20. August 1996 in die Türkei abgeschoben. Am 10. August 1998 wurde der Kläger erneut in M. aufgegriffen. Er gab an, als Asylbewerber in den Niederlanden zu leben. In der Folgezeit wurde er trotz einer Rückübernahmezusage der niederländischen Behörden wiederholt im Bundesgebiet anlässlich der Begehung von Straftaten festgenommen. Er reiste jedes Mal freiwillig in die Niederlande aus. Am 20. Februar 2002 wurde der Kläger erneut im Bundesgebiet angetroffen. Gegen ihn erging ein Haftbefehl wegen Handeltreibens mit Kokain. Das Landgericht Landshut verurteilte ihn wegen des Kokainhandels und Verstößen gegen das Waffengesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Seine Ehefrau, die er am 24. November 1999 den Niederlanden geheiratet hatte, wurde zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zu Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Nachdem die Staatsanwaltschaft auf die weitere Strafvollstreckung verzichtet hatte (§ 456a StPO), erfolgte am 21. September 2004 die Abschiebung des Klägers in die Türkei. Dort verbüßte er eine mehrjährige Haftstrafe, u.a. wegen Drogenbesitzes. Nach der Befristung der Wirkungen der Ausweisung vom 28. November 1994 und der Abschiebung vom 21. September 2004 reiste der Kläger am 21. September 2014 wieder in das Bundesgebiet ein. Er erhielt von der Beklagten zunächst eine Duldung unter der Bedingung, dass er sich einer Drogentherapie unterziehe. Vom 30. April 2015 bis zum 29. Oktober 2017 befand sich der Kläger in Haft. Der Inhaftierung lag eine Verurteilung wegen Drogenbesitzes und Weitergabe von Drogen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten zugrunde.

Diese Schilderung des Werdegangs des Klägers zeigt deutlich, dass er sich lediglich von 1987 bis Anfang 1993 und dann erst wieder ab 2014 legal im Bundesgebiet aufgehalten hat. Von einem Hineinwachsen in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik bei gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland – dies ist Voraussetzung für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK – kann bei diesem Lebenslauf nicht gesprochen werden. Der Kläger ist inzwischen 42 Jahre alt und hat sich in Verhältnis zu seinem Lebensalter nur relativ kurze Zeit hier aufgehalten. Angesichts der bei den Aufenthalten im Bundesgebiet zu Tage getretenen Straffälligkeit fehlt es zudem an einer Integrationsleistung des Klägers.

Auch die seit 17 Jahren bestehende Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen und die seit der Wiedereinreise im Jahr 2014 gelebte eheliche Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik machen die Ausweisung des Klägers nicht unverhältnismäßig. Die unter dem Schutz von Art. 8 EMRK und Art. 6 GG stehende eheliche Lebensgemeinschaft führt zu keinem generellen Ausweisungsverbot, sondern ist lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen (z.B. BayVGH, B.v. 13.2.2014 – 10 ZB 13.1628 – juris Rn. 4 m.w.N.). Es ist zwar zutreffend, dass der Ehefrau des Klägers als deutscher Staatsangehöriger nicht zugemutet werden kann, die eheliche Lebensgemeinschaft mit dem Kläger in der Türkei fortzusetzen. Angesichts der seit nahezu dreißig Jahren bestehenden Heroinabhängigkeit des Klägers und der dadurch bedingten Gefahr der Begehung weiterer Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität ist jedoch eine vorübergehende Trennung der Eheleute mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu vereinbaren. Sie haben auch in der Vergangenheit die eheliche Lebensgemeinschaft außerhalb des Bundesgebiets gelebt. Die Ehefrau musste während der Inhaftierung des Klägers in der Türkei über einen längeren Zeitraum eine Trennung hinnehmen und konnte ihn nur gelegentlich dort besuchen. Auch als der Kläger sich in den Niederlanden aufhielt, unterhielt die Ehefrau einen weiteren Wohnsitz in der Bundesrepublik. Hinzu kommt, dass sie ihn in Kenntnis der Ausweisung und des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots für Deutschland geheiratet hat. Etwaigen Härten kann unter Umständen mit der Erteilung von Betretenserlaubnissen begegnet werden.

Die Ausweisung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil dem Kläger vor seiner Ausweisung keine Gelegenheit mehr eingeräumt wurde, an einer Drogentherapie teilzunehmen und die Auflagen aus dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer zu erfüllen. Abzustellen ist bei der Überprüfung der Gefahrenprognose bei einer Ausweisungsentscheidung ausschließlich auf den aktuellen Zeitpunkt und nicht darauf, wie sich die Prognose nach Beendigung der Führungsaufsicht darstellen würde (vgl. zum Zeitpunkt Entlassung aus der Haft BayVGH, B.v. 29.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 19, B.v. 27.10.2017 – 10 ZB 17.993 – juris Rn. 16; zum Anspruch auf Drogentherapie BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 9; B.v. 13.3.2017 – 10 ZB 17.226 – Rn. 10).

Es erweist sich auch als zutreffend, dass die Beklagte dem Ausweisungsinteresse Vorrang vor dem Bleibeinteresse des Klägers eingeräumt hat. Insbesondere ist sie zu Recht davon ausgegangen, dass vom ihm eine erhebliche Gefahr weiterer Straftaten aus dem Drogenbereich ausgeht. Der Kläger ist seit Vollendung seines 14. Lebensjahres kontinuierlich strafrechtlich in Erscheinung getreten. Seine Straftaten sind auch – aber nicht nur – seiner Drogensucht geschuldet. Er hat in nicht unerheblichen Umfang Handel mit Betäubungsmittel getrieben. Im Rahmen der letzten Verurteilung konnte ihm zwar der Handel mit Heroin nicht nachgewiesen werden, er hatte jedoch eine größere Menge Heroin und die für einen Verkauf von geringeren Mengen erforderlichen Utensilien (Waage mit Anhaftungen) in seinem Besitz. Die Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität und ihrer Begleiterscheinungen zum Schutz der Bevölkerung stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Die vom Kläger begangen Drogendelikte sind angesichts der für sie bestehenden abstrakten Strafandrohung als sehr schwerwiegend einzustufen. Daran ändert sich nichts, dass er bei seinen Straftaten nur gelegentlich geringe körperliche Gewalt ausgeübt hat oder ein Nachweis dafür, dass durch die vom Kläger verkauften oder weitergegebenen Drogen konkret Menschen in ihrer körperlichen Unversehrtheit verletzt wurden, nicht geführt werden kann. Demgegenüber sind seine persönlichen Bindungen im Bundesgebiet und sein Wunsch, die eheliche Lebensgemeinschaft hier aufrecht zu erhalten, aus den dargestellten Gründen geringer zu gewichten.

Bezüglich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf acht bzw. sechs Jahre bei Einhaltung näher definierter Bedingungen hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die im Ermessen der Behörde liegende Bestimmung der Länge der Sperrfrist halte einer Überprüfung nach § 114 Satz 1 VwGO stand. Die Beklagte habe die maßgeblichen Kriterien bei der Bestimmung der Frist berücksichtigt. Maßstabsbildend seien die erhebliche Wiederholungsgefahr und die Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter. Die Bindungen zur Ehefrau und zum Bundesgebiet seien berücksichtigt worden.

Insoweit bringt der Kläger vor, die unverhältnismäßig lange Frist sei nicht mit den Beziehungen des Klägers zu Deutschland und zum gesamten EU-Gebiet in Einklang zu bringen.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ergeben sich aus diesem Vorbringen nicht. Wie oben ausgeführt, hielt sich der Kläger abgesehen von seiner Kindheit und Jugend nicht über einen längeren Zeitraum rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Etwaige Bindungen zu anderen europäischen Staaten sind im Rahmen einer Befristung des durch die Ausweisung bewirkten Einreise- und Aufenthaltsverbots für das Bundesgebiet (siehe § 11 Abs. 1 AufenthG) nicht zu berücksichtigen.

2. Die grundsätzliche Bedeutung und die rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten der Rechtssache i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO sind schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 S. 4 VwGO).

Um einen auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist, erläutern, weshalb die vorformulierte Frage klärungsbedürftig ist und darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 10.10.2017 – 10 ZB 17.1517 – juris Rn. 21). Vorliegend fehlt es bereits an der Formulierung einer konkreten Rechts- oder Tatsachenfrage.

Dem Vorbringen im Zulassungsantrag lässt sich auch nicht entnehmen, worin die besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten der Rechtssache liegen sollen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts München rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

(1) Hat jemand wegen einer Straftat, bei der das Gesetz Führungsaufsicht besonders vorsieht, zeitige Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt, so kann das Gericht neben der Strafe Führungsaufsicht anordnen, wenn die Gefahr besteht, daß er weitere Straftaten begehen wird.

(2) Die Vorschriften über die Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§§ 67b, 67c, 67d Abs. 2 bis 6 und § 68f) bleiben unberührt.

(1) Die Führungsaufsicht dauert mindestens zwei und höchstens fünf Jahre. Das Gericht kann die Höchstdauer abkürzen.

(2) Das Gericht kann eine die Höchstdauer nach Absatz 1 Satz 1 überschreitende unbefristete Führungsaufsicht anordnen, wenn die verurteilte Person

1.
in eine Weisung nach § 56c Abs. 3 Nr. 1 nicht einwilligt oder
2.
einer Weisung, sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen, oder einer Therapieweisung nicht nachkommt
und eine Gefährdung der Allgemeinheit durch die Begehung weiterer erheblicher Straftaten zu befürchten ist. Erklärt die verurteilte Person in den Fällen des Satzes 1 Nr. 1 nachträglich ihre Einwilligung, setzt das Gericht die weitere Dauer der Führungsaufsicht fest. Im Übrigen gilt § 68e Abs. 3.

(3) Das Gericht kann die Führungsaufsicht über die Höchstdauer nach Absatz 1 Satz 1 hinaus unbefristet verlängern, wenn

1.
in Fällen der Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 2 aufgrund bestimmter Tatsachen Gründe für die Annahme bestehen, dass die verurteilte Person andernfalls alsbald in einen Zustand nach § 20 oder § 21 geraten wird, infolge dessen eine Gefährdung der Allgemeinheit durch die Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten zu befürchten ist, oder
2.
sich aus dem Verstoß gegen Weisungen nach § 68b Absatz 1 oder 2 oder auf Grund anderer bestimmter Tatsachen konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine Gefährdung der Allgemeinheit durch die Begehung weiterer erheblicher Straftaten zu befürchten ist, und
a)
gegen die verurteilte Person wegen Straftaten der in § 181b genannten Art eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verhängt oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde oder
b)
die Führungsaufsicht unter den Voraussetzungen des § 68b Absatz 1 Satz 3 Nummer 1 eingetreten ist und die Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe oder die Unterbringung wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255, verhängt oder angeordnet wurde.
Für die Beendigung der Führungsaufsicht gilt § 68b Absatz 1 Satz 4 entsprechend.

(4) In den Fällen des § 68 Abs. 1 beginnt die Führungsaufsicht mit der Rechtskraft ihrer Anordnung, in den Fällen des § 67b Abs. 2, des § 67c Absatz 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 4 und des § 67d Absatz 2 Satz 3 mit der Rechtskraft der Aussetzungsentscheidung oder zu einem gerichtlich angeordneten späteren Zeitpunkt. In ihre Dauer wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher die verurteilte Person flüchtig ist, sich verborgen hält oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird.

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Mai 2015 - 5 K 3589/13 - geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Aufhebung eines Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbots.
Der Kläger wurde nach seinen Angaben am ...1957 in Buffalo im Bundesstaat New York geboren. Er reiste im Jahr 1986 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, den er später zurücknahm. Er ist seit seiner Einreise nicht im Besitz eines ausländischen Ausweisdokuments. Versuche, seine Staatsangehörigkeit zu klären, führten bislang nicht zum Erfolg.Am 18.03.1988 heiratete der Kläger eine deutsche Staatsangehörige. Die Ehe besteht nach wie vor. Die Ehefrau ist mittlerweile infolge eines Schlaganfalls schwerbehindert und auf Betreuungsleistungen angewiesen.
Der Kläger ist siebenmal strafrechtlich in Erscheinung getreten. U.a. verurteilte ihn am 11.07.1994 das Landgericht Stuttgart wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, in zwei Fällen in nicht geringer Menge, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren. Am 16.10.1997 folgte eine Verurteilung zu der Freiheitstrafe von zwei Jahren sechs Monaten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Zuletzt verurteilte das Landgericht Stuttgart den Kläger am 08.06.2006 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Nach (nahezu) vollständiger Verbüßung dieser Strafe wurde der Kläger am 31.10.2012 aus der Haft entlassen. Zuvor hatte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Karlsruhe durch Beschluss vom 02.02.2011 die bewährungsweise Aussetzung der Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafe abgelehnt.
Durch Beschluss vom 12.09.2012 hatte das Landgericht Stuttgart Führungsaufsicht für die Dauer von fünf Jahren nach Haftentlassung angeordnet und einen Bewährungshelfer bestellt.
Mit Verfügung vom 05.02.2007 hatte das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Die gegen die Verfügung erhobene Klage blieb erfolglos (Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 25.07.2007 - 5 K 2538/07 -).
Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 21.06.2013 beantragte der Kläger beim Regierungspräsidium Stuttgart die Befristung der Wirkungen der Ausweisung ohne vorherige Ausreise.
Der Kläger erhob am 27.09.2013 Untätigkeitsklage.
Mit Verfügung vom 06.05.2014 befristete das Regierungspräsidium Stuttgart die Wirkungen der Ausweisung vom 05.02.2007 auf drei Jahre, wobei die Frist mit der Ausreise/Abschiebung beginnt. Das Regierungspräsidium ging in der Verfügung davon aus, dass die Gefahr der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten hoch sei. Unter Berücksichtigung des Gewichts des Ausweisungsgrundes und des verfolgten Ausweisungszwecks setzt es in einem Schritt die Sperrfrist auf sieben Jahre nach erfolgter Ausreise/Abschiebung fest. Als Umstand für die Relativierung berücksichtigte es, dass der Kläger mit einer inzwischen über siebzigjährigen deutschen Ehefrau verheiratet ist, die im Jahr 1996 einen Schlaganfall erlitt hatte, seitdem auf den Rollstuhl angewiesen ist und er mit ihr in Stuttgart in häuslicher Gemeinschaft lebt. Eine Befristung auf sofort kam nach Auffassung des Regierungspräsidiums nicht in Frage. Die deutsche Ehefrau sei bei der Bestreitung ihres Lebensunterhalts nicht zwingend auf die Lebenshilfe des Klägers angewiesen, zumal sie sich dieser während der Inhaftierung des Klägers auch nicht habe bedienen können.
Im April 2014 beantragte der Kläger bei der Landeshauptstadt Stuttgart die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Insoweit ist beim Verwaltungsgericht Stuttgart ein Klageverfahren anhängig.
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Zur Begründung seiner Klage trug der Kläger im Wesentlichen vor, die in der Verfügung vorgenommene Interessenabwägung sei höchst peinlich. Die Bedeutung des im Haushalt verfügbaren Ehegattens zur Verrichtung der anfallenden Aufgaben sei übersehen worden. Dass es soziale Dienste gebe, mindere den verfassungsrechtlichen Rang des Angewiesenseins der Ehefrau auf seine Unterstützung nicht.
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Der Beklagte trat der Klage entgegen.
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Durch Urteil vom 29.05.2015 verpflichtete das Verwaltungsgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 06.05.2014 zur Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf sofort und ohne vorherige Ausreise. Zur Begründung führte es aus:
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Bei der Bestimmung der Länge der Frist seien in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedürfe der prognostischen Einschätzung, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liege, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermöge. Bei einer aus generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung komme es - soweit sie zulässig sei - darauf an, wie lange von ihr noch eine abschreckende Wirkung auf andere Ausländer ausgehe. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist müsse sich aber in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Die Abwägung sei nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu treffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts könne in bestimmten Fällen eine vollständige Beseitigung der in § 11 Abs. 1 AufenthG geregelten Wirkungen der Ausweisung geboten sein. Dies könne zum einen deshalb geboten sein, weil seit der Verfügung einer nicht vollzogenen Ausweisung ein so langer Zeitraum verstrichen sei, dass die zum Ausweisungszeitpunkt bestehenden spezial- oder generalpräventiven Gründe entfallen seien. Ein Anspruch auf vollständige Beseitigung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG könne sich aber auch aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, etwa weil schützenswerte familiäre Belange im Sinne von Art. 6 GG dies erforderten. Die Beseitigung der in §11 Abs. 1 AufenthG geregelten Wirkungen der Ausweisung setze nicht die vorherige Ausreise des Ausländers voraus. Ausgehend von diesen Grundsätzen sei dem Begehren des Klägers zu entsprechen. Allerdings sei auch das Gericht nicht davon überzeugt, dass praktisch ausgeschlossen werden könne, dass der Kläger weitere schwerwiegende Straftaten begehen werde. Insbesondere sei der Kläger nach wie vor nicht bereit, das große Unrecht des zuletzt abgeurteilten versuchten Mordes einzusehen. So habe er in der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren die wenig glaubhafte Theorie von einer Verschwörung im Zusammenhang mit dem Vorfall vom 28.11.2005 wiederholt; ferner habe er dem Landgericht eine beachtliche Voreingenommenheit wegen seiner Vorstrafen unterstellt. Nach dem Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung habe der Kläger zudem ein ausgeprägtes Anspruchsdenken, das eine Auseinandersetzung mit der Frage der Rechtmäßigkeit und Moralität des eigenen Verhaltens offensichtlich erheblich erschwere. So habe der Kläger auf die gleich zu Beginn seiner Anhörung gestellte Frage nach dem Umfang seiner Betreuungsleistungen für seine Ehefrau erst einmal sein erhebliches Unverständnis mit seiner ausländerrechtlichen Stellung geäußert; offensichtlich wolle er für sich einen Anspruch auf Aufenthalt in der Bundesrepublik (und wohl auch auf Einbürgerung) allein aus dem Umstand herleiten, dass er im Jahr 1988 eine deutsche Ehefrau habe heiraten dürfen und die Ehe fortbestehe. Dass aber etwa selbst das wiederholte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu keinen nennenswerten ausländerrechtlichen Konsequenzen geführt habe, übergehe der Kläger schlicht. Freilich schätzte das Gericht die Wiederholungsgefahr nicht mehr als besonders hoch ein. Die letzte Tat habe der Kläger vor neuneinhalb Jahren begangen; er gehe mittlerweile auf die sechzig zu. Die vollständige Verbüßung der langen Freiheitsstrafe habe den Kläger nach Einschätzung des Gerichts beeindruckt. Zudem sei nach Angaben der Bewährungshilfe der bisherige Verlauf der nunmehr auch schon rund zweieinhalb Jahre andauernden Führungsaufsicht positiv. Welche Länge die Frist ausgehend von den vorstehenden Erwägungen in dem ersten Schritt haben müsse, könne offenbleiben, denn unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts sei in jedem Fall die vollständige Beseitigung der Wirkungen der Ausweisung geboten. Nach Auffassung des Gerichts verletze nämlich der mit der Setzung einer Frist verbundene faktische Zwang, das Bundesgebiet zu verlassen, den Kläger in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichte Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren, die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhielten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Der Betroffene brauche es nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung dieser Gesichtspunkte daran gehindert zu werden, bei seinem im Bundesgebiet lebenden Ehepartner ständigen Aufenthalt zu nehmen. Eingriffe in seine diesbezügliche Freiheit seien nur dann und insoweit zulässig, als sie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich seien. Das Gericht habe nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die Ehefrau des Klägers auf dessen - von ihm tatsächlich erbrachte - Lebenshilfe angewiesen sei. Der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass er nahezu sämtliche im Haushalt anfallenden Arbeiten erledige und auch seiner Ehefrau umfassend zur Seite stehe. Der Frage, ob die Lebenshilfe auch etwa durch die - nach Angaben des Klägers: drei - Kinder der Klägerin oder, wie während der Zeit seiner Inhaftierung, durch einen Sozialdienst erbracht werden könne, brauche das Gericht ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nachzugehen. Der Beistand könne auch nur in der Bundesrepublik Deutschland erbracht werden.
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Auf den rechtzeitig gestellten Antrag des Beklagten hat der Senat durch Beschluss vom 04.09.2015 - dem Beklagten am 15.09.2015 zugestellt - die Berufung zugelassen.
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Am 14.10.2015 hat der Beklagte die Berufung unter Stellung eines Antrags wie folgt begründet:
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Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in der seit 01.08.2015 geltenden Fassung sei nunmehr über die Befristung der Ausweisungswirkungen und die Läge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Diese Ermessensentscheidung sei mittlerweile nachgeholt worden. Hiernach gehe vom Kläger nach wie vor eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus, wobei hier nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das Ausmaß der drohenden Rechtsgutsverletzung sich relativierend auf das Maß der festzustellenden Eintrittswahrscheinlichkeit auswirke, weshalb im Fall des Klägers angesichts der begangenen Straftaten geringe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zu stellen seien. Zu berücksichtigen sei, dass beim Kläger bis 31.10.2017 Führungsaufsicht angeordnet worden sei, was aber nach § 68 Abs. 1 StGB vorausgesetzt habe, dass die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten gegeben sei. Im Übrigen sei das Verwaltungsgericht selbst davon ausgegangen, dass die Begehung weiterer Straftaten nicht ausgeschlossen werden könne. In einem ersten Schritt sei daher eine Frist auf sieben Jahre zugrunde gelegt worden. Vor Ablauf von sieben Jahren könne nicht davon ausgegangen werden, dass die spezial- und generalpräventiven Zwecke der Ausweisung erfüllt seien. Diese Frist sei dann unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit und des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe auf drei Jahre reduziert worden. Da der Kläger mit Rücksicht auf die Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen und deren gesundheitliche Situation (unter der Voraussetzung gleich bleibender Umstände) weiter geduldet werde, bestehe - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - auch kein faktischer Zwang zur Ausreise, um die Frist überhaupt in Lauf zu setzen. Sollte die Kriminalitätsprognose sich in der Zukunft zugunsten des Klägers verbessern, so bestehe die Möglichkeit einer weiteren Verkürzung der Frist bzw. der vollständigen Aufhebung des Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbots. Gegenwärtig bewirke die Fristsetzung, dass eine Aufenthaltsverfestigung verhindert werde. Nach § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG solle das Verbot aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Titels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorlägen. Zwar lägen hier an sich die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vor. Allerdings liege in Anbetracht des massiven Fehlverhaltens des Klägers und seiner groben mehrfachen Missachtung der deutschen Rechtsordnung gegenwärtig noch eine Atypik vor, weshalb der Regelanspruch nicht bestehe und ein Titel nicht zu erteilen sei.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29.05.2015 - 5 K 3589/13 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
20 
die Berufung zurückzuweisen; hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, das Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbot auf den 31.10.2016 aufzuheben und höchst hilfsweise auf den 31.10.2016 nach vorheriger Ausreise zu befristen.
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Entgegen der Auffassung des Beklagten sei ihm aufgrund europarechtlicher Erwägungen kein Ermessen eingeräumt und weiter eine rechtlich gebundene Entscheidung zu treffen. Es lägen aber keine spezialpräventiven Gründe mehr vor. Wenn auch nach Auffassung des Beklagten wegen des Schutzes aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG das Aufenthaltsverbot nicht durchsetzbar sei, so bestehe kein Raum für ein solches Verbot. Europarechtlich sei ein Zwischenstadium, wie das einer Duldung, gerade nicht vorgesehen. Die Nickeligkeiten des deutschen Fremdenrechts seien dem auf Einfachheit bedachten Unionsrecht fremd.
22 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens verweist der Senat auf die gewechselten Schriftsätze. Ihm lagen die Akten des Verwaltungsgerichts sowie die Akten des Regierungspräsidiums Stuttgart vor.

Entscheidungsgründe

 
23 
Die zulässige, insbesondere unter Stellung eines Antrags rechtzeitig und formgerecht begründete Berufung des Beklagten hat Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf (sofortige) Aufhebung des Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbot, er kann eine solche auch nicht auf den 31.10.2016 bzw. eine Befristung auf den 31.10.2016 (nach vorheriger Ausreise) beanspruchen.
24 
Nach der für die Entscheidung des Senats maßgeblichen seit 01.08.2015 geltenden Fassung des § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist über die Befristung des Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbots von Amts wegen zusammen mit der Ausweisung zu entscheiden. In einem sog. Altfall, wie er hier gegeben ist, kann dieses naturgemäß nicht mehr geschehen; vielmehr ist die Befristung nachzuholen.
25 
§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sieht vor, dass die Entscheidung der Ausländerbehörde über die Länge der Frist von dieser im Ermessenswege zu treffen ist. Davon ausgehend stellt sich die angegriffene Entscheidung im konkreten Fall zwar als rechtmäßig dar (dazu unten 4.). Allerdings ist der Senat der Auffassung, dass Entscheidungen nach § 11 AufenthG nF bei Ausweisungen aufgrund übergeordneter Gründe auch nach neuer Rechtslage als gebundene erfolgen müssen. Denn regelmäßig ist nur dadurch systemkonform die Verhältnismäßigkeit der zugrunde liegenden Ausweisung, die nunmehr stets als gebundene Entscheidung ergeht, sicherzustellen (dazu sogleich unter 1. bis 3.). Insoweit ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 11 AufenthG in der Fassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 unverändert zu übertragen.
26 
1. Das Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 (BGBl I S. 2258) hatte das Bundesverwaltungsgericht zum Anlass einer umfassenden Neubestimmung des Befristungsregimes genommen und - jedenfalls in Ermangelung eines ausdrücklichen entgegenstehenden Wortlauts - die Fristbestimmung als gebundene Entscheidung interpretiert und letztlich am Antragserfordernis nicht mehr festgehalten, obwohl der Wortlaut der Norm an sich keine andere Interpretation zuließ. Es hat sich dabei zum einen von den unionsrechtlichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie leiten lassen, aber ausdrücklich offen gelassen, ob etwa die Ausweisungsverfügung eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie ist. Weiter hat es das nationale Verfassungsrecht, nämlich die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, fruchtbar gemacht und schließlich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK herangezogen. Es führt in diesem Zusammenhang im Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255 (vgl. auch Urteile vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - InfAuslR 2012, 397; vom 13.12.2012 - 1 C 14.12 - InfAuslR 2013, 141) aus, dass in der Gesamtschau der sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie aus dem Unionsrecht ergebenden Argumente und der erstmals mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 im Grundsatz eingeführten Höchstfrist von fünf Jahren die schützenswerten privaten Interessen des Betroffenen an der Befristung nunmehr in einer Weise aufgewertet seien, dass vor dem Hintergrund des insoweit offenen Wortlauts des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht mehr angenommen werden könne, der Verwaltung sei ein Spielraum zur Rechtskonkretisierung im Einzelfall eingeräumt, der nur auf die Einhaltung äußerer Grenzen gerichtlich überprüfbar sei. Die Regelung sei auch in ihrem europäischen Gesamtzusammenhang betrachtet nunmehr so zu verstehen, dass dem Betroffenen ein Recht auf eine vollständige gerichtliche Kontrolle der Dauer der Befristung eingeräumt sei, um sein Recht auf eine verhältnismäßige Aufenthaltsbeendigung zu sichern.
27 
Wenn der Gesetzgeber sich nunmehr entschieden hat, in § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Prinzip der Ermessensentscheidung festzuschreiben, so sah er sich offenbar durch die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht daran gehindert, den früheren Rechtszustand bzw. die frühere Sichtweise wieder herzustellen (vgl. den Hinweis auf das Urteil vom 14.02.2012 in BT-Drucks. 18/4097, S. 36). Zwar ist in diesem Zusammenhang einzuräumen, dass das Bundesverwaltungsgericht auf den ersten Blick eine solche Interpretation herausgefordert hat, wenn es auf einen „offenen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F.“ hingewiesen und in der Schwebe gelassen hatte, was im Falle eines nicht offenen Wortlauts zu gelten hätte. Wenn aber Geltungsgrund des Anspruchs auf Befristung und uneingeschränkte richterliche Kontrolle verfassungsrechtliche, unionsrechtliche und menschenrechtliche Vorgaben sein sollen, die das „Recht auf eine verhältnismäßige Aufenthaltsbeendigung“ sichern sollen, so kann die verfassungs- und völkerrechtliche Zulässigkeit eines Ermessensspielraums nicht tragfähig begründet werden. Hinzu kommt ein weiteres: Es bestehen ungeachtet des Ansatzes des Bundesverwaltungsgerichts nunmehr grundlegende strukturelle Einwände gegen die Zulässigkeit der Einräumung eines Ermessensspielraums. Denn nach der neuen Rechtslage ergeht die Ausweisungsentscheidung selbst ausnahmslos und nicht nur im Ausnahmefall ohne jeden behördlichen Ermessensspielraum als eine rechtlich gebundene und umfassend interessenabwägende Entscheidung, die (lediglich) die Rechtsgrenze der Verhältnismäßigkeit zu wahren hat. Dann aber stellte es einen strukturellen Widerspruch bzw. eine gedankliche Ungereimtheit dar, wenn hier ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Ermessensspielraum bestünde und der Ausländerbehörde eine mehr oder weniger große autonome Steuerungsmöglichkeit eingeräumt wäre. Denn die Dauer des Verbots ist gleichfalls für das Gewicht der Interessenbetroffenheit des Ausländers von essentieller Bedeutung und gestaltet, wenn auch nicht formal, so doch inhaltlich untrennbar die durch die Ausweisung ausgelösten Folgen. Aus den vorgenannten verfassungsrechtlichen wie auch strukturellen Erwägungen folgt, dass bei der Anwendung des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kein behördlicher Ermessensspielraum bestehen kann (vgl. GK-AufenthG § 11 Rn. 65 ff; a.A. aber etwa Zeitler, in: HTK-AuslR, § 11 AufenthG zu Abs. 3 Nr. 1, ohne aber überhaupt auf die Problematik einzugehen). Der Senat kann an dieser Stelle allerdings offen lassen, ob in Bezug auf die Rechtsfolgen einer Zurückweisung bzw. Abschiebung und deren Befristung eine Ermessensentscheidung ausgeschlossen ist, denn in diesen Fällen dürfte der argumentative Ansatz nicht identisch sein.
28 
2. Was die Fristbestimmung im Einzelnen betrifft, so nimmt vor dem unionsrechtlichen Hintergrund des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG (RFRL) § 11 Abs. 3 Satz 2 eine grundsätzliche Differenzierung vor. In der Regel darf die Frist zunächst die Dauer von fünf Jahren nicht überschreiten. Ausnahmsweise darf diese Frist aber überschritten werden, wenn der oder die Betreffende aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde oder wenn von ihm/ihr eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Diese Ausnahmefrist darf sodann in der Regel nicht für einen längeren Zeitraum als zehn Jahre festgesetzt werden.
29 
Aus dieser Differenzierung folgt zunächst im Ausgangspunkt, dass oberhalb der Grenze von fünf Jahren allein spezialpräventive Gründe für die Bestimmung der Fristlänge herangezogen werden dürfen, während unterhalb dieser Grenze grundsätzlich auch generalpräventive Überlegungen maßgeblich sein können (vgl. allerdings den missverständlichen Leitsatz Nr. 1, der davon spricht, dass die Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 a.F. allein spezialpräventiven Zwecken diene, der aber keine Entsprechung in den Entscheidungsgründen findet BVerwG, Urteil vom 14.05.2013 - 1 C 13.12 - InfAuslR 2013, 334; vgl. demgegenüber aber wieder Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 - InfAuslR 2013, 418). Dieses gilt jedenfalls für die Fallgruppe der schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des Absatzes 3 Satz 2 Alt. 2. Für Alt. 1 - den Fall der strafgerichtlichen Verurteilung - gilt formal betrachtet keine Beschränkung auf spezialpräventive Gründe, wörtlich genommen müssen an sich überhaupt keine Gründe vorliegen (zur Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie GK-AufenthG § 11 Rn. 115). Gleichwohl ist auch hier das Befristungsregime in untrennbarem Zusammenhang mit der Ausweisungsentscheidung zu sehen, die aus spezial- und ggf. generalpräventiver Erwägung den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewährleisten soll. Deshalb könnte eine Befristungsentscheidung, die nicht mehr der Absicherung und Gewährleistung der mit der Ausweisung selbst verfolgten Zwecke dient, keine Rechtfertigung finden, sie wäre nicht mehr erforderlich und letztlich unverhältnismäßig, weshalb allein der Umstand einer strafgerichtlichen Verurteilung, ohne dass weitere die konkrete Befristung tragende und rechtfertigende Aspekte hinzutreten, eine Verlängerung von vornherein nicht zu rechtfertigen vermag.
30 
Die nunmehr gesetzlich in § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG bestimmte Regelobergrenze von zehn Jahren ist der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geschuldet, wonach in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellen soll, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden könne und sich die Persönlichkeitsentwicklung weiter in die Zukunft kaum abschätzen lasse, ohne spekulativ zu werden (vgl. Urteil vom 13.12.2012 - 1 C 20.11 - InfAuslR 2013, 169; vom 13.12.2012 - 1 C 14.12 - InfAuslR 2013, 141; vom 14.5.2013 - 1 C 13.12 - InfAuslR 2013, 334). Ob diese Annahme ausreichend valide und daher sachgerecht ist bzw. ob es Aufgabe der Verwaltungsgerichte sein kann, ohne nähere Belege eine solche Grenze festzulegen, bedarf hier keiner Entscheidung (mehr). Denn die gesetzliche Festlegung einer solchen Regelfrist von 10 Jahren liegt in der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und überschreitet den hierdurch gesteckten Rahmen nicht, da sie nicht offenkundig sachfremd bzw. unzutreffend ist.
31 
Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen nach der aktuellen Rechtslage die Frist von 10 Jahren überschritten werden darf, bedarf im vorliegenden Fall keiner weiteren Prüfung.
32 
Für den Regelfall, dass die Befristung zusammen mit der Ausweisung erfolgt, sieht mit § 11 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AufenthG das geltende Recht nunmehr vor, dass das Verbot auch aufgehoben werden kann. Aus diesem Grund ist formal betrachtet kein Raum mehr für eine bislang übliche Tenorierung, wonach die Befristung auf sofort (ohne vorherige Ausreise) erfolgt.
33 
Nach dem mittlerweile in ständiger Rechtsprechung vom Bundesverwaltungsgericht vertretenen Ansatz (vgl. Urteil vom 06.03.2014 - 1 C 2.13 - InfAuslR 2014, 223 m.w.N.) ist die maßgebliche festzusetzende Frist (und für die Beantwortung der Frage, ob ein Verbot aufzuheben ist, gilt nichts anderes) in zwei deutlich voneinander zu trennenden Schritten zu ermitteln: Im ersten Schritt ist allein der Frage nachzugehen, ob die konkret mit der Ausweisung (besser: dem Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbot) verfolgten Zwecke nach Ablauf der Frist aller Voraussicht erreicht sein werden, ob - mit anderen Worten - die spezial- und/oder ggf. generalpräventiven Zwecke eine Aufrechterhaltung des Verbots nach einer an dieser Stelle zu bestimmenden Höchstfrist nicht mehr zu rechtfertigen vermögen. In einem zweiten Schritt sind sämtliche im konkreten Kontext schutzwürdigen Interessen des Ausländers oder der Ausländerin in den Blick zu nehmen. Nur wenn und soweit die im ersten Schritt ermittelte Frist auch mit Verfassungs-, Unionsrecht und völkerrechtlichen Grundsätzen kompatibel ist, kann diese Bestand haben; erforderlichenfalls ist diese in dem gebotenen Maße zu verkürzen oder ggf. vollständig aufzuheben. Dabei haben Verwaltung und Rechtsprechung zwischen den oftmals erheblichen und gewichtigen öffentlichen Interessen an einer Aufrechterhaltung des Verbots einerseits und den geschützten Interessen der Betroffenen einen praktisch verträglichen und verhältnismäßigen Ausgleich herzustellen. An dieser Entscheidungsstruktur ist auch nach der neuen Rechtslage festzuhalten. Sie findet ihren (andeutungsweisen) Niederschlag in § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, wenn dort die Fallkonstellationen der Zweckerreichung und sodann die der noch nicht erfolgten Zweckerreichung bei gleichzeitig bestehenden (überwiegenden) schutzwürdigen Belangen angesprochen werden. Selbst wenn man im vorliegenden Zusammenhang von der Zulässigkeit einer Ermessensentscheidung ausgeht, ist diese durch die Kriterien der zweistufigen Prüfung in der Regel in erheblichem Umfang gebunden.
34 
Strukturell sieht das Gesetz - verfassungs- und unionsrechtlich unbedenklich - vor, dass die jeweils gesetzte Frist erst mit der erfolgten Ausreise in Lauf gesetzt wird (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Nur im Fall der gänzlichen Aufhebung des Verbots wegen dessen Zweckerreichung oder aus Gründen der Wahrung überwiegender schutzwürdiger Belange des Ausländers oder der Ausländerin wird in diesem Fall eine vorherige Ausreise nicht vorausgesetzt; ein solches Erfordernis wäre nicht nur sinnlos, sondern auch in jeder Hinsicht unverhältnismäßig. Daher kann bereits aus Rechtsgründen auch das vom Kläger hilfsweise unterbreitete Begehren einer Aufhebung zu einem späteren Zeitpunkt (ohne vorherige Ausreise) von vornherein keinen Erfolg haben.
35 
3. Der Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass im Falle des Klägers eine Überschreitung der Fünf-Jahres-Grenze (sowohl unter dem Aspekt der strafgerichtlichen Verurteilung wie auch dem der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung) zulässig und auch erforderlich ist. In Anbetracht der erheblichen vor der letzten Verurteilung begangenen Drogendelikte und der letzten Verurteilung wegen versuchten Mordes ist auch in Ansehung der Tatsache, dass der Kläger mittlerweile drei Jahre wieder in Freiheit ist, unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung der inmitten stehenden Rechtsgüter und demgemäß des möglicherweise drohenden großen Schadens noch von einem nicht zu vernachlässigenden Risiko der Begehung erheblicher Straftaten auszugehen. Die bereits vom Verwaltungsgericht bewerteten Stellungnahmen des Klägers zu der letzten Verurteilung und der ihr zugrunde liegenden Taten, die er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in bemerkenswerter Offenheit und Eindeutigkeit wiederholt hat, machen deutlich, dass von einer erfolgreichen Überwindung der strafrechtlichen Vergangenheit nicht ausgegangen werden kann. Dieses wird auch nicht zuletzt eindrucksvoll durch die Stellungnahme der Psychotherapeutischen Ambulanz an die Strafvollstreckungskammer vom 04.09.2014 bestätigt, die eine Einstellung der Therapie befürwortet, weil sie trotz ihrer langen Dauer zu keiner Aufarbeitung der begangenen Straftat(en) geführt habe. Der Kläger hat dort und sodann gegenüber dem Verwaltungsgericht sowie dem Senat strikt in Abrede gestellt, das Opfer der der landgerichtlichen Verurteilung zugrunde liegenden Tat mit Tötungsvorsatz rechtswidrig angegriffen zu haben, sondern sich auf Notwehr berufen. Das Urteil des Landgerichts enthält eine ausführliche und in sich stimmige Beweiswürdigung und liefert keinen Anhalt dafür, die Einlassung des Klägers auch nur ansatzweise für plausibel halten zu können. Die Risikoprognose wird auch nicht durch den Umstand infrage gestellt, dass sich der Kläger unter der angeordneten Führungsaufsicht in nicht zu beanstandender Weise verhalten hat. Auch wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung über die Anordnung der Führungsaufsicht keine Bindungswirkung für das Aufenthaltsrecht ausgeht, kann der Senat nicht außer Acht lassen, dass die Anordnung nach § 68 Abs. 1 StGB voraussetzt, dass trotz Verbüßung der Freiheitsstrafe nach wie vor die konkrete Gefahr der Begehung weiterer Straftaten besteht. Zudem kann nicht übersehen werden, dass im Falle des Klägers zunächst die gesetzliche Höchstdauer von fünf Jahre vollständig ausgeschöpft worden war und bislang eine Verkürzung nicht verfügt wurde (vgl. § 68c Abs. 1 StGB). Zwar hat der Bewährungshelfer mittlerweile bei der Strafvollstreckungskammer angeregt, die Dauer der Führungsaufsicht zu verkürzen. Dieses ist aber unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft sowie der Führungsaufsichtsstelle, insbesondere aber der Stellungnahme der Psychotherapeutischen Ambulanz vom 04.09.2014 nicht zu erwarten, abgesehen davon, dass, wie bereits dargelegt, eine Bindung des Senats hiervon nicht ausginge. Auch muss angemessen in Rechnung gestellt werden, dass im Jahre 2011 (Beschluss vom 02.02.2011) der Antrag auf Aussetzung des Strafrestes mit nachvollziehbaren und anschaulich die Wiederholungsgefahr herausarbeitenden Argumenten von der Strafvollstreckungskammer abgelehnt worden war. Deren ausführliche Begründung steht der Annahme entgegen, die spezialpräventiven Gründe könnten mittlerweile vollständig entfallen oder so unbedeutend geworden sein, dass sie unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Klägers nicht mehr relevant sind.
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Mit dem Beklagten ist davon auszugehen, dass - bei gleichbleibenden Verhältnissen - eine vollständige Ausschöpfung der Regelobergrenze von 10 Jahren nicht erforderlich ist. Der Senat lässt sich dabei maßgeblich von der Überlegung leiten, dass der Kläger mittlerweile über drei Jahre beanstandungsfrei in Freiheit lebt, weshalb von einem geringeren Risiko der Begehung weiterer erheblicher Straftaten auszugehen ist, als dieses noch zum Zeitpunkt der Freilassung aus der Strafhaft der Fall war. Der Senat sieht keine zwingende rechtliche Notwendigkeit, im ersten Beurteilungsschritt eine exakte Frist festzulegen, wenn ohnehin - wie hier - im zweiten Schritt eine erhebliche Reduzierung erfolgen muss. Allerdings muss etwa die Größenordnung bestimmt werden, um einerseits für die Bestimmung der Frist und die hierfür erforderliche Abwägung im zweiten Schritt einen ausreichend sicheren Ausgangs- und Anhaltspunkt festlegen zu können und andererseits für die Zukunft eine ausreichende Basis für eine etwa erforderlich werdende Verlängerungs- oder Verkürzungsentscheidung festzulegen. Hiernach erachtet der Senat eine moderate Überschreitung der Fünf-Jahres-Grenze und eine Einordnung im Bereich von etwa sieben Jahren für erforderlich, aber auch ausreichend, wovon auch der Beklagte ausgegangen ist.
37 
Der Senat ist weiter der Auffassung, dass - auch heute und von heute an gerechnet (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - 1 B 11.13 - juris) - eine Befristung von drei Jahren vor dem Hintergrund der konkreten Situation des Klägers, insbesondere seines Alters und der Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, des Gesundheitszustands seiner deutschen Ehefrau und deren Betreuungsbedürftigkeit, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Unterstellt der Kläger würde heute ausreisen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - a.a.O.), endeten die Wirkungen des Verbots etwas über ein Jahr nach Ablauf der angeordneten Führungsaufsicht. Wird der Kläger sich in diesem letzten Zeitraum - gerade ohne die Führungsaufsicht und ohne die Kontrolle durch einen Bewährungshelfer - weiter beanstandungsfrei verhalten, so wäre der Gesichtspunkt der Zweckverfolgung nicht mehr kompatibel mit schützenswerten Belangen des Klägers. In diesem Zusammenhang weist der Beklagte allerdings im Ausgangspunkt zu Recht auf den vom Verwaltungsgericht übersehenen bzw. nicht ausreichend gewürdigten Umstand hin, dass den ehelichen und familiären Belangen gegenwärtig in ausreichendem Maße durch die Erteilung einer Duldung (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) Rechnung getragen werden kann und auch tatsächlich wird, gleichwohl besteht ein beachtliches Interesse des Klägers und seiner Ehefrau, dass sie in überschaubarer Zeit wieder eine Legalisierung des Aufenthalts erreichen können. Nach erfolgreichem Durchlaufen einer angemessenen und überschaubaren „Bewährungszeit“ nach Ablauf der Führungsaufsicht ist es aber, wie der Beklagte zutreffend erkannt hat, nicht mehr gerechtfertigt, dem Kläger eine weitere Legalisierungsperspektive zu verweigern. Sollten bis dahin negative Entwicklungen des Klägers zu Tage treten, so besteht nunmehr nach § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Möglichkeit, die Frist wieder nachträglich zu verlängern, wie es auch der Kläger in der Hand hat, im Falle wesentlicher positiver Veränderungen in seiner Person bzw. sonstiger Veränderungen seiner schützenswerten Belange, eine weitere Verkürzung zu beantragen.
38 
Dem Kläger kann nicht darin gefolgt werden, dass unions- und europarechtlich der vorläufige Verweis auf eine Duldung zur Sicherung eines Mindestmaßes an Ehe- und Familienschutz nicht zulässig ist. Der Senat vermag insoweit keine bindenden Vorgaben zu erkennen. „Einfachheit“ ist kein unions- oder europarechtlich bindender Maßstab für die nationale Norminterpretation oder Normanwendung. Dem Beklagten ist darin zu folgen, dass die vorübergehende Aufrechterhaltung des Verbots ihre verhältnismäßige Rechtfertigung darin findet, dass jedenfalls eine Aufenthaltsverfestigung vermieden wird, um in dieser Zeit eine Konsolidierung und Stabilisierung des Klägers abwarten zu können. Sollten sich wesentliche Veränderungen zugunsten des Klägers ergeben, steht ihm, wie gesagt, ein weiterer Verkürzungsantrag offen.
39 
Eine Verpflichtung zur vollständigen Aufhebung des Verbots besteht hiernach nicht und folgt auch nicht aus § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Denn der Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass mit Rücksicht auf die nicht ausgeräumte Gefahr der erneuten Begehung erheblicher Straftaten eine Atypik im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vorliegt. Deshalb kann auch offen bleiben, ob nicht auch im Rahmen des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Ermessensentscheidung des Inhalts getroffen werden könnte, nicht vom Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen und damit die Erteilung des Titels nach § 25 Abs. 5 AufenthG abzulehnen mit der Folge, dass die Voraussetzungen des § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ebenfalls nicht vorlägen (vgl. auch GK-AufenthG § 11 Rn. 136).
40 
4. Aber selbst wenn man dem auf die gesetzlichen Vorgaben des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gestützten Ansatz des Beklagten folgt und von der Zulässigkeit einer Ermessensentscheidung ausgeht, so ist die von ihm später nachgeholte Entscheidung und deren Begründung (vgl. deren Schriftsatz vom 13.10.2015 an den Senat) nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat, wie sich auch aus den obigen Ausführungen ergibt, alle wesentlichen einzustellenden Abwägungsgesichtspunkte erkannt, nicht fehlerhaft gewichtet und angemessen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragend abgewogen. Insbesondere ist er unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter und in Ansehung der erheblichen Kriminalitätsbelastung des Klägers vor der letzten Verurteilung von einer noch relevanten und auch in Ansehung der schutzwürdigen Belange des Klägers nicht zu vernachlässigenden Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgegangen.
41 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
42 
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsache (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
43 
Beschluss vom 9. Dezember 2015
44 
Der Streitwert wird gem. § 63 Abs. 2, § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG auf5.000,- EUR festgesetzt.
45 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
23 
Die zulässige, insbesondere unter Stellung eines Antrags rechtzeitig und formgerecht begründete Berufung des Beklagten hat Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf (sofortige) Aufhebung des Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbot, er kann eine solche auch nicht auf den 31.10.2016 bzw. eine Befristung auf den 31.10.2016 (nach vorheriger Ausreise) beanspruchen.
24 
Nach der für die Entscheidung des Senats maßgeblichen seit 01.08.2015 geltenden Fassung des § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist über die Befristung des Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbots von Amts wegen zusammen mit der Ausweisung zu entscheiden. In einem sog. Altfall, wie er hier gegeben ist, kann dieses naturgemäß nicht mehr geschehen; vielmehr ist die Befristung nachzuholen.
25 
§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sieht vor, dass die Entscheidung der Ausländerbehörde über die Länge der Frist von dieser im Ermessenswege zu treffen ist. Davon ausgehend stellt sich die angegriffene Entscheidung im konkreten Fall zwar als rechtmäßig dar (dazu unten 4.). Allerdings ist der Senat der Auffassung, dass Entscheidungen nach § 11 AufenthG nF bei Ausweisungen aufgrund übergeordneter Gründe auch nach neuer Rechtslage als gebundene erfolgen müssen. Denn regelmäßig ist nur dadurch systemkonform die Verhältnismäßigkeit der zugrunde liegenden Ausweisung, die nunmehr stets als gebundene Entscheidung ergeht, sicherzustellen (dazu sogleich unter 1. bis 3.). Insoweit ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 11 AufenthG in der Fassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 unverändert zu übertragen.
26 
1. Das Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 (BGBl I S. 2258) hatte das Bundesverwaltungsgericht zum Anlass einer umfassenden Neubestimmung des Befristungsregimes genommen und - jedenfalls in Ermangelung eines ausdrücklichen entgegenstehenden Wortlauts - die Fristbestimmung als gebundene Entscheidung interpretiert und letztlich am Antragserfordernis nicht mehr festgehalten, obwohl der Wortlaut der Norm an sich keine andere Interpretation zuließ. Es hat sich dabei zum einen von den unionsrechtlichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie leiten lassen, aber ausdrücklich offen gelassen, ob etwa die Ausweisungsverfügung eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie ist. Weiter hat es das nationale Verfassungsrecht, nämlich die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, fruchtbar gemacht und schließlich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK herangezogen. Es führt in diesem Zusammenhang im Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - InfAuslR 2012, 255 (vgl. auch Urteile vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - InfAuslR 2012, 397; vom 13.12.2012 - 1 C 14.12 - InfAuslR 2013, 141) aus, dass in der Gesamtschau der sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie aus dem Unionsrecht ergebenden Argumente und der erstmals mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 im Grundsatz eingeführten Höchstfrist von fünf Jahren die schützenswerten privaten Interessen des Betroffenen an der Befristung nunmehr in einer Weise aufgewertet seien, dass vor dem Hintergrund des insoweit offenen Wortlauts des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht mehr angenommen werden könne, der Verwaltung sei ein Spielraum zur Rechtskonkretisierung im Einzelfall eingeräumt, der nur auf die Einhaltung äußerer Grenzen gerichtlich überprüfbar sei. Die Regelung sei auch in ihrem europäischen Gesamtzusammenhang betrachtet nunmehr so zu verstehen, dass dem Betroffenen ein Recht auf eine vollständige gerichtliche Kontrolle der Dauer der Befristung eingeräumt sei, um sein Recht auf eine verhältnismäßige Aufenthaltsbeendigung zu sichern.
27 
Wenn der Gesetzgeber sich nunmehr entschieden hat, in § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Prinzip der Ermessensentscheidung festzuschreiben, so sah er sich offenbar durch die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht daran gehindert, den früheren Rechtszustand bzw. die frühere Sichtweise wieder herzustellen (vgl. den Hinweis auf das Urteil vom 14.02.2012 in BT-Drucks. 18/4097, S. 36). Zwar ist in diesem Zusammenhang einzuräumen, dass das Bundesverwaltungsgericht auf den ersten Blick eine solche Interpretation herausgefordert hat, wenn es auf einen „offenen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F.“ hingewiesen und in der Schwebe gelassen hatte, was im Falle eines nicht offenen Wortlauts zu gelten hätte. Wenn aber Geltungsgrund des Anspruchs auf Befristung und uneingeschränkte richterliche Kontrolle verfassungsrechtliche, unionsrechtliche und menschenrechtliche Vorgaben sein sollen, die das „Recht auf eine verhältnismäßige Aufenthaltsbeendigung“ sichern sollen, so kann die verfassungs- und völkerrechtliche Zulässigkeit eines Ermessensspielraums nicht tragfähig begründet werden. Hinzu kommt ein weiteres: Es bestehen ungeachtet des Ansatzes des Bundesverwaltungsgerichts nunmehr grundlegende strukturelle Einwände gegen die Zulässigkeit der Einräumung eines Ermessensspielraums. Denn nach der neuen Rechtslage ergeht die Ausweisungsentscheidung selbst ausnahmslos und nicht nur im Ausnahmefall ohne jeden behördlichen Ermessensspielraum als eine rechtlich gebundene und umfassend interessenabwägende Entscheidung, die (lediglich) die Rechtsgrenze der Verhältnismäßigkeit zu wahren hat. Dann aber stellte es einen strukturellen Widerspruch bzw. eine gedankliche Ungereimtheit dar, wenn hier ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Ermessensspielraum bestünde und der Ausländerbehörde eine mehr oder weniger große autonome Steuerungsmöglichkeit eingeräumt wäre. Denn die Dauer des Verbots ist gleichfalls für das Gewicht der Interessenbetroffenheit des Ausländers von essentieller Bedeutung und gestaltet, wenn auch nicht formal, so doch inhaltlich untrennbar die durch die Ausweisung ausgelösten Folgen. Aus den vorgenannten verfassungsrechtlichen wie auch strukturellen Erwägungen folgt, dass bei der Anwendung des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kein behördlicher Ermessensspielraum bestehen kann (vgl. GK-AufenthG § 11 Rn. 65 ff; a.A. aber etwa Zeitler, in: HTK-AuslR, § 11 AufenthG zu Abs. 3 Nr. 1, ohne aber überhaupt auf die Problematik einzugehen). Der Senat kann an dieser Stelle allerdings offen lassen, ob in Bezug auf die Rechtsfolgen einer Zurückweisung bzw. Abschiebung und deren Befristung eine Ermessensentscheidung ausgeschlossen ist, denn in diesen Fällen dürfte der argumentative Ansatz nicht identisch sein.
28 
2. Was die Fristbestimmung im Einzelnen betrifft, so nimmt vor dem unionsrechtlichen Hintergrund des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG (RFRL) § 11 Abs. 3 Satz 2 eine grundsätzliche Differenzierung vor. In der Regel darf die Frist zunächst die Dauer von fünf Jahren nicht überschreiten. Ausnahmsweise darf diese Frist aber überschritten werden, wenn der oder die Betreffende aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde oder wenn von ihm/ihr eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Diese Ausnahmefrist darf sodann in der Regel nicht für einen längeren Zeitraum als zehn Jahre festgesetzt werden.
29 
Aus dieser Differenzierung folgt zunächst im Ausgangspunkt, dass oberhalb der Grenze von fünf Jahren allein spezialpräventive Gründe für die Bestimmung der Fristlänge herangezogen werden dürfen, während unterhalb dieser Grenze grundsätzlich auch generalpräventive Überlegungen maßgeblich sein können (vgl. allerdings den missverständlichen Leitsatz Nr. 1, der davon spricht, dass die Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 a.F. allein spezialpräventiven Zwecken diene, der aber keine Entsprechung in den Entscheidungsgründen findet BVerwG, Urteil vom 14.05.2013 - 1 C 13.12 - InfAuslR 2013, 334; vgl. demgegenüber aber wieder Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 - InfAuslR 2013, 418). Dieses gilt jedenfalls für die Fallgruppe der schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des Absatzes 3 Satz 2 Alt. 2. Für Alt. 1 - den Fall der strafgerichtlichen Verurteilung - gilt formal betrachtet keine Beschränkung auf spezialpräventive Gründe, wörtlich genommen müssen an sich überhaupt keine Gründe vorliegen (zur Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie GK-AufenthG § 11 Rn. 115). Gleichwohl ist auch hier das Befristungsregime in untrennbarem Zusammenhang mit der Ausweisungsentscheidung zu sehen, die aus spezial- und ggf. generalpräventiver Erwägung den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewährleisten soll. Deshalb könnte eine Befristungsentscheidung, die nicht mehr der Absicherung und Gewährleistung der mit der Ausweisung selbst verfolgten Zwecke dient, keine Rechtfertigung finden, sie wäre nicht mehr erforderlich und letztlich unverhältnismäßig, weshalb allein der Umstand einer strafgerichtlichen Verurteilung, ohne dass weitere die konkrete Befristung tragende und rechtfertigende Aspekte hinzutreten, eine Verlängerung von vornherein nicht zu rechtfertigen vermag.
30 
Die nunmehr gesetzlich in § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG bestimmte Regelobergrenze von zehn Jahren ist der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geschuldet, wonach in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellen soll, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden könne und sich die Persönlichkeitsentwicklung weiter in die Zukunft kaum abschätzen lasse, ohne spekulativ zu werden (vgl. Urteil vom 13.12.2012 - 1 C 20.11 - InfAuslR 2013, 169; vom 13.12.2012 - 1 C 14.12 - InfAuslR 2013, 141; vom 14.5.2013 - 1 C 13.12 - InfAuslR 2013, 334). Ob diese Annahme ausreichend valide und daher sachgerecht ist bzw. ob es Aufgabe der Verwaltungsgerichte sein kann, ohne nähere Belege eine solche Grenze festzulegen, bedarf hier keiner Entscheidung (mehr). Denn die gesetzliche Festlegung einer solchen Regelfrist von 10 Jahren liegt in der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und überschreitet den hierdurch gesteckten Rahmen nicht, da sie nicht offenkundig sachfremd bzw. unzutreffend ist.
31 
Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen nach der aktuellen Rechtslage die Frist von 10 Jahren überschritten werden darf, bedarf im vorliegenden Fall keiner weiteren Prüfung.
32 
Für den Regelfall, dass die Befristung zusammen mit der Ausweisung erfolgt, sieht mit § 11 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AufenthG das geltende Recht nunmehr vor, dass das Verbot auch aufgehoben werden kann. Aus diesem Grund ist formal betrachtet kein Raum mehr für eine bislang übliche Tenorierung, wonach die Befristung auf sofort (ohne vorherige Ausreise) erfolgt.
33 
Nach dem mittlerweile in ständiger Rechtsprechung vom Bundesverwaltungsgericht vertretenen Ansatz (vgl. Urteil vom 06.03.2014 - 1 C 2.13 - InfAuslR 2014, 223 m.w.N.) ist die maßgebliche festzusetzende Frist (und für die Beantwortung der Frage, ob ein Verbot aufzuheben ist, gilt nichts anderes) in zwei deutlich voneinander zu trennenden Schritten zu ermitteln: Im ersten Schritt ist allein der Frage nachzugehen, ob die konkret mit der Ausweisung (besser: dem Einreise-, Aufenthalts- und Erteilungsverbot) verfolgten Zwecke nach Ablauf der Frist aller Voraussicht erreicht sein werden, ob - mit anderen Worten - die spezial- und/oder ggf. generalpräventiven Zwecke eine Aufrechterhaltung des Verbots nach einer an dieser Stelle zu bestimmenden Höchstfrist nicht mehr zu rechtfertigen vermögen. In einem zweiten Schritt sind sämtliche im konkreten Kontext schutzwürdigen Interessen des Ausländers oder der Ausländerin in den Blick zu nehmen. Nur wenn und soweit die im ersten Schritt ermittelte Frist auch mit Verfassungs-, Unionsrecht und völkerrechtlichen Grundsätzen kompatibel ist, kann diese Bestand haben; erforderlichenfalls ist diese in dem gebotenen Maße zu verkürzen oder ggf. vollständig aufzuheben. Dabei haben Verwaltung und Rechtsprechung zwischen den oftmals erheblichen und gewichtigen öffentlichen Interessen an einer Aufrechterhaltung des Verbots einerseits und den geschützten Interessen der Betroffenen einen praktisch verträglichen und verhältnismäßigen Ausgleich herzustellen. An dieser Entscheidungsstruktur ist auch nach der neuen Rechtslage festzuhalten. Sie findet ihren (andeutungsweisen) Niederschlag in § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, wenn dort die Fallkonstellationen der Zweckerreichung und sodann die der noch nicht erfolgten Zweckerreichung bei gleichzeitig bestehenden (überwiegenden) schutzwürdigen Belangen angesprochen werden. Selbst wenn man im vorliegenden Zusammenhang von der Zulässigkeit einer Ermessensentscheidung ausgeht, ist diese durch die Kriterien der zweistufigen Prüfung in der Regel in erheblichem Umfang gebunden.
34 
Strukturell sieht das Gesetz - verfassungs- und unionsrechtlich unbedenklich - vor, dass die jeweils gesetzte Frist erst mit der erfolgten Ausreise in Lauf gesetzt wird (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Nur im Fall der gänzlichen Aufhebung des Verbots wegen dessen Zweckerreichung oder aus Gründen der Wahrung überwiegender schutzwürdiger Belange des Ausländers oder der Ausländerin wird in diesem Fall eine vorherige Ausreise nicht vorausgesetzt; ein solches Erfordernis wäre nicht nur sinnlos, sondern auch in jeder Hinsicht unverhältnismäßig. Daher kann bereits aus Rechtsgründen auch das vom Kläger hilfsweise unterbreitete Begehren einer Aufhebung zu einem späteren Zeitpunkt (ohne vorherige Ausreise) von vornherein keinen Erfolg haben.
35 
3. Der Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass im Falle des Klägers eine Überschreitung der Fünf-Jahres-Grenze (sowohl unter dem Aspekt der strafgerichtlichen Verurteilung wie auch dem der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung) zulässig und auch erforderlich ist. In Anbetracht der erheblichen vor der letzten Verurteilung begangenen Drogendelikte und der letzten Verurteilung wegen versuchten Mordes ist auch in Ansehung der Tatsache, dass der Kläger mittlerweile drei Jahre wieder in Freiheit ist, unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung der inmitten stehenden Rechtsgüter und demgemäß des möglicherweise drohenden großen Schadens noch von einem nicht zu vernachlässigenden Risiko der Begehung erheblicher Straftaten auszugehen. Die bereits vom Verwaltungsgericht bewerteten Stellungnahmen des Klägers zu der letzten Verurteilung und der ihr zugrunde liegenden Taten, die er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in bemerkenswerter Offenheit und Eindeutigkeit wiederholt hat, machen deutlich, dass von einer erfolgreichen Überwindung der strafrechtlichen Vergangenheit nicht ausgegangen werden kann. Dieses wird auch nicht zuletzt eindrucksvoll durch die Stellungnahme der Psychotherapeutischen Ambulanz an die Strafvollstreckungskammer vom 04.09.2014 bestätigt, die eine Einstellung der Therapie befürwortet, weil sie trotz ihrer langen Dauer zu keiner Aufarbeitung der begangenen Straftat(en) geführt habe. Der Kläger hat dort und sodann gegenüber dem Verwaltungsgericht sowie dem Senat strikt in Abrede gestellt, das Opfer der der landgerichtlichen Verurteilung zugrunde liegenden Tat mit Tötungsvorsatz rechtswidrig angegriffen zu haben, sondern sich auf Notwehr berufen. Das Urteil des Landgerichts enthält eine ausführliche und in sich stimmige Beweiswürdigung und liefert keinen Anhalt dafür, die Einlassung des Klägers auch nur ansatzweise für plausibel halten zu können. Die Risikoprognose wird auch nicht durch den Umstand infrage gestellt, dass sich der Kläger unter der angeordneten Führungsaufsicht in nicht zu beanstandender Weise verhalten hat. Auch wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung über die Anordnung der Führungsaufsicht keine Bindungswirkung für das Aufenthaltsrecht ausgeht, kann der Senat nicht außer Acht lassen, dass die Anordnung nach § 68 Abs. 1 StGB voraussetzt, dass trotz Verbüßung der Freiheitsstrafe nach wie vor die konkrete Gefahr der Begehung weiterer Straftaten besteht. Zudem kann nicht übersehen werden, dass im Falle des Klägers zunächst die gesetzliche Höchstdauer von fünf Jahre vollständig ausgeschöpft worden war und bislang eine Verkürzung nicht verfügt wurde (vgl. § 68c Abs. 1 StGB). Zwar hat der Bewährungshelfer mittlerweile bei der Strafvollstreckungskammer angeregt, die Dauer der Führungsaufsicht zu verkürzen. Dieses ist aber unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft sowie der Führungsaufsichtsstelle, insbesondere aber der Stellungnahme der Psychotherapeutischen Ambulanz vom 04.09.2014 nicht zu erwarten, abgesehen davon, dass, wie bereits dargelegt, eine Bindung des Senats hiervon nicht ausginge. Auch muss angemessen in Rechnung gestellt werden, dass im Jahre 2011 (Beschluss vom 02.02.2011) der Antrag auf Aussetzung des Strafrestes mit nachvollziehbaren und anschaulich die Wiederholungsgefahr herausarbeitenden Argumenten von der Strafvollstreckungskammer abgelehnt worden war. Deren ausführliche Begründung steht der Annahme entgegen, die spezialpräventiven Gründe könnten mittlerweile vollständig entfallen oder so unbedeutend geworden sein, dass sie unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Klägers nicht mehr relevant sind.
36 
Mit dem Beklagten ist davon auszugehen, dass - bei gleichbleibenden Verhältnissen - eine vollständige Ausschöpfung der Regelobergrenze von 10 Jahren nicht erforderlich ist. Der Senat lässt sich dabei maßgeblich von der Überlegung leiten, dass der Kläger mittlerweile über drei Jahre beanstandungsfrei in Freiheit lebt, weshalb von einem geringeren Risiko der Begehung weiterer erheblicher Straftaten auszugehen ist, als dieses noch zum Zeitpunkt der Freilassung aus der Strafhaft der Fall war. Der Senat sieht keine zwingende rechtliche Notwendigkeit, im ersten Beurteilungsschritt eine exakte Frist festzulegen, wenn ohnehin - wie hier - im zweiten Schritt eine erhebliche Reduzierung erfolgen muss. Allerdings muss etwa die Größenordnung bestimmt werden, um einerseits für die Bestimmung der Frist und die hierfür erforderliche Abwägung im zweiten Schritt einen ausreichend sicheren Ausgangs- und Anhaltspunkt festlegen zu können und andererseits für die Zukunft eine ausreichende Basis für eine etwa erforderlich werdende Verlängerungs- oder Verkürzungsentscheidung festzulegen. Hiernach erachtet der Senat eine moderate Überschreitung der Fünf-Jahres-Grenze und eine Einordnung im Bereich von etwa sieben Jahren für erforderlich, aber auch ausreichend, wovon auch der Beklagte ausgegangen ist.
37 
Der Senat ist weiter der Auffassung, dass - auch heute und von heute an gerechnet (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - 1 B 11.13 - juris) - eine Befristung von drei Jahren vor dem Hintergrund der konkreten Situation des Klägers, insbesondere seines Alters und der Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, des Gesundheitszustands seiner deutschen Ehefrau und deren Betreuungsbedürftigkeit, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Unterstellt der Kläger würde heute ausreisen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - a.a.O.), endeten die Wirkungen des Verbots etwas über ein Jahr nach Ablauf der angeordneten Führungsaufsicht. Wird der Kläger sich in diesem letzten Zeitraum - gerade ohne die Führungsaufsicht und ohne die Kontrolle durch einen Bewährungshelfer - weiter beanstandungsfrei verhalten, so wäre der Gesichtspunkt der Zweckverfolgung nicht mehr kompatibel mit schützenswerten Belangen des Klägers. In diesem Zusammenhang weist der Beklagte allerdings im Ausgangspunkt zu Recht auf den vom Verwaltungsgericht übersehenen bzw. nicht ausreichend gewürdigten Umstand hin, dass den ehelichen und familiären Belangen gegenwärtig in ausreichendem Maße durch die Erteilung einer Duldung (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) Rechnung getragen werden kann und auch tatsächlich wird, gleichwohl besteht ein beachtliches Interesse des Klägers und seiner Ehefrau, dass sie in überschaubarer Zeit wieder eine Legalisierung des Aufenthalts erreichen können. Nach erfolgreichem Durchlaufen einer angemessenen und überschaubaren „Bewährungszeit“ nach Ablauf der Führungsaufsicht ist es aber, wie der Beklagte zutreffend erkannt hat, nicht mehr gerechtfertigt, dem Kläger eine weitere Legalisierungsperspektive zu verweigern. Sollten bis dahin negative Entwicklungen des Klägers zu Tage treten, so besteht nunmehr nach § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Möglichkeit, die Frist wieder nachträglich zu verlängern, wie es auch der Kläger in der Hand hat, im Falle wesentlicher positiver Veränderungen in seiner Person bzw. sonstiger Veränderungen seiner schützenswerten Belange, eine weitere Verkürzung zu beantragen.
38 
Dem Kläger kann nicht darin gefolgt werden, dass unions- und europarechtlich der vorläufige Verweis auf eine Duldung zur Sicherung eines Mindestmaßes an Ehe- und Familienschutz nicht zulässig ist. Der Senat vermag insoweit keine bindenden Vorgaben zu erkennen. „Einfachheit“ ist kein unions- oder europarechtlich bindender Maßstab für die nationale Norminterpretation oder Normanwendung. Dem Beklagten ist darin zu folgen, dass die vorübergehende Aufrechterhaltung des Verbots ihre verhältnismäßige Rechtfertigung darin findet, dass jedenfalls eine Aufenthaltsverfestigung vermieden wird, um in dieser Zeit eine Konsolidierung und Stabilisierung des Klägers abwarten zu können. Sollten sich wesentliche Veränderungen zugunsten des Klägers ergeben, steht ihm, wie gesagt, ein weiterer Verkürzungsantrag offen.
39 
Eine Verpflichtung zur vollständigen Aufhebung des Verbots besteht hiernach nicht und folgt auch nicht aus § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Denn der Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass mit Rücksicht auf die nicht ausgeräumte Gefahr der erneuten Begehung erheblicher Straftaten eine Atypik im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vorliegt. Deshalb kann auch offen bleiben, ob nicht auch im Rahmen des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Ermessensentscheidung des Inhalts getroffen werden könnte, nicht vom Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen und damit die Erteilung des Titels nach § 25 Abs. 5 AufenthG abzulehnen mit der Folge, dass die Voraussetzungen des § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ebenfalls nicht vorlägen (vgl. auch GK-AufenthG § 11 Rn. 136).
40 
4. Aber selbst wenn man dem auf die gesetzlichen Vorgaben des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gestützten Ansatz des Beklagten folgt und von der Zulässigkeit einer Ermessensentscheidung ausgeht, so ist die von ihm später nachgeholte Entscheidung und deren Begründung (vgl. deren Schriftsatz vom 13.10.2015 an den Senat) nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat, wie sich auch aus den obigen Ausführungen ergibt, alle wesentlichen einzustellenden Abwägungsgesichtspunkte erkannt, nicht fehlerhaft gewichtet und angemessen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragend abgewogen. Insbesondere ist er unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter und in Ansehung der erheblichen Kriminalitätsbelastung des Klägers vor der letzten Verurteilung von einer noch relevanten und auch in Ansehung der schutzwürdigen Belange des Klägers nicht zu vernachlässigenden Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgegangen.
41 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
42 
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsache (vgl. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
43 
Beschluss vom 9. Dezember 2015
44 
Der Streitwert wird gem. § 63 Abs. 2, § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG auf5.000,- EUR festgesetzt.
45 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage weiter, die auf Aufhebung des Ausweisungsbescheids der Beklagten vom 2. August 2017 und hilfsweise auf Verpflichtung der Beklagten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die Länge der Sperrfrist herabzusetzten, gerichtet ist. Zudem beantragt er, ihm für das Zulassungsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Das ist jedoch nicht der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Aufhebung der Ausweisungsverfügung mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger auch gegenwärtig die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde. Er habe mehrere Straftaten begangen, die gegen verschiedene hochrangige Rechtsgüter gerichtet gewesen seien. Die Tatsache, dass er in enger zeitlicher Abfolge mehrere Straftaten begangen habe, indiziere bereits für sich genommen eine Wiederholungsgefahr. Eine innere Wandlung habe der Kläger nicht vollzogen. Die Folgen der Tat seien für das Kind erheblich und prägend für die gesamte Entwicklung. Einsicht sei vom Kläger auch in der Strafverhandlung nicht gezeigt worden. Die Abwägung ergebe, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiege. Die Ausweisung sei auch nicht unverhältnismäßig.

Hiergegen bringt der Kläger im Zulassungsverfahren im Wesentlichen vor, dass die Verurteilungen wegen angeblicher Körperverletzungen und wegen Kindesentziehung einzig und allein auf der Zeugenaussage der Ehefrau beruhten, die ihn abgrundtief hasse und eine notorische Lügnerin sei. Insoweit werde auf das psychiatrische Gutachten vom 30. September 2017 verwiesen. Dies habe das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Bezüglich der behaupteten Kindesentführung sei dem Verwaltungsgericht eine Vereinbarung der Eheleute vom 19. Januar 2013 vorgelegt worden, aus der sich ergebe, dass die Ehefrau damit einverstanden gewesen sei, dass die gemeinsame Tochter in Jordanien bei der Mutter des Klägers bleibe und erst wieder nach München komme, „wenn sie (die Ehefrau) sich geändert habe“. Weder diese Vereinbarung noch die Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der der Ehefrau das Sorgerecht für die Tochter abgesprochen worden sei, habe das Verwaltungsgericht berücksichtigt. Der Kläger habe seine Tochter vor einer Rabenmutter retten müssen, dies sei alles andere als Gleichgültigkeit. Sein Bleibeinteresse wiege besonders schwer, weil er eine Niederlassungserlaubnis besitze. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts missachte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Auf eine nicht näher bekannte Entscheidung des EuGH aus dem April 2018 werde verwiesen.

Mit diesem Vorbringen zieht der Kläger die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung jedoch nicht ernsthaft in Zweifel. Er ist strafgerichtlich mit rechtskräftigem Urteil vom 20. Oktober 2016 zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 8 Monaten wegen der Entziehung Minderjähriger in Tatmehrheit mit Betrug in Tatmehrheit mit fünf tatmehrheitlichen Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden. Diese strafrechtliche Verurteilung durfte das Verwaltungsgericht bei der Feststellung des Vorliegens einer Wiederholungsgefahr ohne weitere Nachprüfung zugrunde legen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, B.v. 24.2.1998 – 1 B 21.98 – juris zu § 47 Abs. 1 AuslG 1990; B. v. 8.5.1989 – 1 B 77.89 – InfAuslR 1989, 269 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965, jeweils m.w.N.) erfordert die Anwendung der auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung abstellenden Ausweisungstatbestände keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. Soweit es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung etwa auf die Umstände der Tatbegehung ankommt – z.B. im Rahmen der Feststellung einer Wiederholungsgefahr oder bei der Ermessensausübung – besteht zwar keine derartige strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung. Es ist aber geklärt, dass die Ausländerbehörden – und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte – in dieser Beziehung ohne weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen können und die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen dürfen (OVG NRW, B.v. 8.12.2015 – 18 A 2462/13 – juris Rn. 11). Etwas anderes gilt nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür dargetan werden, dass sich dem Verwaltungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen. Solche konkreten Anhaltspunkte ergeben sich weder aus dem Vorbringen in der ersten Instanz noch aus dem Zulassungsvorbringen. Der Kläger behauptet zwar, dass er die ihm zur Last gelegten Straftaten nicht begangen bzw. es sich um Nothilfe gehandelt habe, und beruft sich darauf, dass seine Ehefrau eine notorische Lügnerin sei. Dabei übersieht er aber, dass das Strafgericht seine Verurteilung nicht nur auf die Aussagen der Ehefrau im Strafverfahren, sondern auch auf die der weiteren Zeugen gestützt hat. Es hat die Eltern der Ehefrau und deren Betreuerin als Zeugen vernommen und ihre Glaubwürdigkeit bejaht. Bei dem vom Kläger im erstinstanzlichen und im Zulassungsverfahren vorgelegten psychiatrischen Gutachten vom 29. September 2017 handelt es sich dagegen um ein Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Ehefrau, das keine Aussagen zur Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen der im Strafverfahren trifft. Auch der Kläger wurde im Strafverfahren vernommen. Seine Aussage hat das Strafgericht als unglaubwürdig eingestuft, weil er die ihm aufgezeigten Widersprüche in seiner Aussage nicht erklären konnte. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zeugin, die der Kläger im Strafverfahren benannt hat, nachweislich vom Anwalt des Klägers in ihrem Aussageverhalten beeinflusst worden ist. Auch im Zulassungsverfahren ist das Vorbringen des Klägers nicht widerspruchsfrei. Im Strafverfahren hat er behauptet, dass seine Tochter auf Initiative seiner Ehefrau nach Jordanien verbracht worden und sie mit der Sorgerechtsübertragung einverstanden gewesen sei, während er nunmehr die Kindesentziehung als einen Akt der „Nothilfe“ für seine Tochter bezeichnet. Angesichts der ausführlichen Begründung des Strafurteils, das sich dezidiert mit der Glaubwürdigkeit der einzelnen Zeugen auseinandersetzt, konnte das Verwaltungsgericht daher die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts zum Verhalten des Klägers seiner Prognose der Wiederholungsgefahr zugrunde legen.

Mit dem Verweis auf sein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, die angeblich fehlerhafte Abwägungsentscheidung und eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zeigt der Kläger ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auf. Sein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse hat das Verwaltungsgericht berücksichtigt. Der Kläger legt nicht substantiiert da, aus welchen Gründen die zur Ausweisung führende Abwägungsentscheidung fehlerhaft sein sollte. Alle maßgeblichen Gesichtspunkte wurden von der Beklagten und dem Verwaltungsgericht in die Abwägungsentscheidung eingestellt; die für einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet sprechenden Gesichtspunkte überwiegen allerdings nicht das öffentliche Ausweisungsinteresse, weil vom Kläger auch gegenwärtig eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, er enge Beziehungen in sein Heimatland unterhält und auch seine Tochter dort lebt. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (17.4.2018, C-316/16), die Vorlagefragen zur Verlustfeststellung gegenüber Unionsbürgern beantwortet, ist für eine Ausweisungsentscheidung nach nationalem Recht nicht maßgeblich.

Ausführungen die Verkürzung der Sperrfrist betreffend und damit zur Begründetheit des Hilfsantrags enthält das Zulassungsvorbringen nicht.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren ist abzulehnen, weil die Voraussetzungen des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorliegen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet aus den genannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Die Kostenentscheidung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Kostenentscheidung für das Prozesskostenhilfeverfahren bedarf es nicht. Das Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist gerichtsgebührenfrei. Die im Prozesskostenhilfeverfahren entstandenen Kosten trägt jeder Beteiligte selbst (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).

Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und Abs. 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG. Eine Streitwertfestsetzung für das Prozesskostenhilfeverfahren ist nicht erforderlich, weil Kosten nicht erstattet werden.

Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

Tenor

I.

Unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. Oktober 2008 wird der Bescheid der Beklagten vom 11. April 2008 in der Fassung des in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 ergänzten Änderungsbescheids der Beklagten vom 27. Januar 2015 aufgehoben.

II.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger verfolgt mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen seine Ausweisung weiter.

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde am 6. November 1983 in München geboren und lebt seit seiner Geburt im Bundesgebiet. Er verfügt über einen Qualifizierenden Hauptschulabschluss und hat eine Lehre zum Maschinenbaumechaniker erfolgreich abgeschlossen. Am 17. April 1997 erhielt er eine zunächst bis 5. November 1999 befristete Aufenthaltserlaubnis, die aufgrund seines Antrags vom 4. November 1999 am 14. Dezember 1999 unbefristet verlängert wurde.

Nach Einstellung eines Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung nach § 170 Abs. 2 StPO im Jahr 2002 und Einstellung eines Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 153 Abs. 1 StPO im Jahr 2005 wurde der Kläger mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts München I vom 19. April 2007 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag nach den Feststellungen des Landgerichts folgender Sachverhalt zugrunde:

Während einer Hochzeitsfeier am 21. Juli 2006, an der der Kläger mit seiner Freundin teilnahm, begleitete diese eine zu den Hochzeitsgästen gehörende Freundin zu einem Treffen mit einem weiteren Gast, der diese Freundin kennenlernen wollte. Der Kläger beobachtete dies und machte zunächst seiner Freundin Vorwürfe, weil er ihr Verhalten für falsch hielt. Dann warf er der Freundin seiner Freundin vor, sie sei an allem schuld. Über die Frage der Freundin seiner Freundin, wie es für ihn wäre, wenn sie so mit ihm redete wie er mit ihr, ärgerte sich der Kläger so sehr, dass er ihr mit der flachen Hand so heftig auf die Wange schlug, dass sie taumelte und zu Boden gestürzt wäre, wäre sie nicht von einem anderen Anwesenden an den Armen festgehalten worden. Nachdem die Freundin der Freundin des Klägers am 22. Juli 2006 ihrer Familie von dem Vorfall berichtet hatte, rief ihr Schwager (im Folgenden: der Geschädigte) den Kläger an, um ihn zur Rede zu stellen. Im Verlauf des Gesprächs äußerte er sinngemäß, er werde den Kläger wieder dorthin zurückstecken, wo er herkomme. Der Kläger forderte ihn daraufhin auf, doch zu ihm zu kommen. Daraufhin begab der Geschädigte sich gemeinsam mit der Freundin der Freundin des Klägers und weiteren Angehörigen zur Wohnung des Klägers, um diesen zur Rede zu stellen und ihn zu einer Entschuldigung zu bewegen. Der Kläger, der über die telefonische Beleidigung aufgebracht war, bewaffnete sich mit einem feststehenden Jagd- oder Fischereimesser mit einer Klingenlänge von 8,5 cm und einer maximalen Klingenbreite von 2,7 cm, das an der Klinge einen Widerhaken besaß, und verließ seine Wohnung. Auf einer nahe gelegenen Freifläche traf er auf den Geschädigten und seine Begleiter. Er zog sofort sein Messer und erkundigte sich, wer ihn beleidigt habe. Er ließ sich durch den Geschädigten und seine Begleiter nicht beruhigen. Dem Geschädigten war nach seiner Vorstellung ein Rückzug nicht mehr möglich, wenn er vor seinen Verwandten nicht das Gesicht verlieren wollte. Auch der Kläger wollte Standhaftigkeit demonstrieren. Um seinem Ärger demonstrativ Ausdruck zu verleihen, versetzte er, ohne zu wissen, wer ihn beleidigt hatte, dem Geschädigten einen mit äußerster Wucht geführten Stich in den rechten zentralen Oberbauch, wobei er das Messer bis zum Heft in den Körper des Geschädigten rammte. Dadurch wurde die Bauchwand auf einer Länge von 10 cm von unten nach oben in Richtung des Rippenbogens durchtrennt. Nur durch Zufall wurden lebenswichtige Organe oder große Blutgefäße nicht getroffen. Zur Rettung des Geschädigten unternahm der Kläger nichts. Der Geschädigte wurde jedoch auf Veranlassung Dritter ins Krankenhaus eingeliefert und sofort operiert. Der Geschädigte litt auch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch an den beiden schlecht verheilten Stich- und Operationsnarben, die im Sitzen und Liegen schmerzten. Sport konnte er nicht treiben. Außerdem traten Magen- und Darmprobleme auf, die zu einem Gewichtsverlust von 10 kg führten. Infolge der verletzungsbedingten Schonhaltung bekam er schließlich Probleme mit der Halswirbelsäule.

Nachdem der Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten hatte, wies die Beklagte ihn mit Bescheid vom 11. April 2008 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1 des Bescheids), untersagte ihm die Wiedereinreise (Nr. 2 des Bescheids) setzte ihm eine Ausreisefrist bis zum 15. Mai 2008 und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat an, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 3 des Bescheids). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, als nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 Berechtigter dürfe der Kläger nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG nur im Rahmen einer Ermessensentscheidung und bei Vorliegen einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung für ein Grundinteresse der Gemeinschaft ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeute. Angesichts seiner Verurteilung wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten und der Gefahr weiterer schwerwiegender Straftaten seien diese Voraussetzungen erfüllt. Selbst wenn Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG anwendbar sei, stehe er angesichts dieser Verurteilung einer Ausweisung des Klägers nicht entgegen. Soweit der Kläger nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genieße, lägen die für die Ausweisung erforderlichen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Die pflichtgemäße Ermessensausübung ergebe auch unter Beachtung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, dass das öffentliche Interesse das private Interesse des Klägers eindeutig überwiege. Ergänzend wird auf die Gründe des Bescheids vom 11. April 2008 Bezug genommen.

Die gegen den Bescheid gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 9. Oktober 2008 ab und begründete dies im Wesentlichen wie folgt:

Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in eigenen Rechten. Der Kläger habe ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und erfülle im Hinblick auf seine abgeschlossene Ausbildung auch die Voraussetzungen von Art. 7 Satz 2 ARB 1/80. Die Ausweisung sei weder in formeller noch in materieller Hinsicht zu beanstanden. Sie verstoße nicht gegen das in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG verankerte Vier-Augen-Prinzip, weil die Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG aufgehoben worden sei. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 14 ARB 1/80 könne der Kläger nur im Rahmen einer Ermessensentscheidung und nur dann ausgewiesen werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, wobei eine strafrechtliche Verurteilung eine Ausweisung nur rechtfertigen könne, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Der Kläger genieße darüber hinaus nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG und Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz, der allerdings nicht weiter reiche als der assoziationsrechtliche. Die vom Kläger begangene Straftat des versuchten Mordes und der gefährlichen Körperverletzung stelle eine besonders schwerwiegende, Grundinteressen der Gesellschaft berührende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Es bestehe auch die Gefahr weiterer vergleichbarer Straftaten. Dabei dürften insoweit im Hinblick auf die betroffenen überragenden Schutzgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Aus den Tatumständen gehe hervor, dass der Kläger dazu neige, sich gegen Beleidigungen und Ehrverletzungen mit physischer Gewalt zur Wehr zu setzen. Die Ausweisung sei darüber hinaus verhältnismäßig und scheitere nicht am Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK. Zwar habe die Sozialisation des in Deutschland geborenen Klägers in der Bundesrepublik stattgefunden. Es sei jedoch anzunehmen, dass er mit der türkischen Sprache und Kultur hinreichend vertraut sei. Die Eltern und Brüder des Klägers lebten zwar im Bundesgebiet. Er habe aber in der Bundesrepublik bisher keine eigene Kernfamilie gegründet. Dass der seit mehreren Jahren volljährige Kläger auf die Hilfe seiner in Deutschland lebenden Familienangehörigen in besonderer Weise angewiesen sei, sei nicht erkennbar. Der Kontakt zu ihnen könne brieflich, telefonisch und im Rahmen von Betretenserlaubnissen aufrechterhalten werden. Zwar sei die Ausweisung auch deshalb ein erheblicher Eingriff in das Recht des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, weil er selbst nach einer Befristung keinen Anspruch auf Wiedereinreise in die Bundesrepublik habe. Die Ausweisung sei aber im Hinblick auf die massive Straffälligkeit des Klägers und die von ihm weiterhin ausgehende Gefahr für die überragenden Schutzgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit noch als verhältnismäßig anzusehen. Sonstige Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. Die Beklagte habe alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt und zutreffend gewichtet. Der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG komme ihm als türkischem Staatsangehörigen nicht zugute.

Seine Berufung, die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage, ob sich der Kläger weiterhin auf Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG berufen könne, zugelassen wurde, begründet der Kläger im Wesentlichen wie folgt:

Die Ausweisung verstoße gegen die Verfahrensgarantie des Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG, die auf türkische Staatsangehörige auch nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG, die die Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen durch eine zweite Verwaltungsinstanz durch einen erweiterten gerichtlichen Rechtsschutz ersetzt habe, weiterhin anzuwenden sei. Gelte die Richtlinie 2004/38/EG nur für Unionsbürger, nicht jedoch für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige, so müsse für Letztere zwingend der bisherige Standard erhalten bleiben. Die Nichtbeachtung von Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG führe dazu, dass die Ausweisung unheilbar rechtswidrig sei. Im Übrigen sei demgegenüber im Ergebnis aber davon auszugehen, dass die Richtlinie 2004/38/EG und damit Art. 28 Abs. 3 dieser Richtlinie auch für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige gelte. Der Kläger, der in den letzten zehn Jahren seinen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt habe, dürfe daher nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden. Die öffentliche Sicherheit werde durch den Kläger aber künftig nicht gefährdet. Eine konkrete Wiederholungsgefahr sei nicht zu erwarten. Durch seine soziale Integration und zielstrebige Berufsausbildung habe der bis zu seiner Verurteilung wegen der der Ausweisung zugrunde liegenden Tat nicht vorbestrafte Kläger dargetan, dass er bis dahin keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dargestellt habe. Außerdem habe er durch Entschuldigungen und Schmerzensgeldzahlungen zum Ausdruck gebracht, dass er die Tat bedauere. Das Verwaltungsgericht habe insbesondere das Nachtatverhalten des Klägers außer Acht gelassen. Zwar habe es erwähnt, dass der Kläger an einer zweimonatigen Gewaltpräventionsgruppe teilgenommen habe. Es habe dies und das gesamte positive Strafvollzugsverhalten jedoch bei der Bewertung der Ermessensentscheidung in keiner Weise berücksichtigt. Da sich der Kläger erstmals im Strafvollzug befinde, müsse davon ausgegangen werden, dass dies nachhaltige Wirkungen auf ihn ausübe, die ihn von künftigen Straftaten abhielten. Eine konkrete Wiederholungsgefahr, wie sie Art. 14 ARB 1/80 fordere, sei angesichts dessen beim Kläger nicht zu erkennen. Aus dem Gutachten im Strafprozess und der Tat allein könne auf eine solche Wiederholungsgefahr nicht geschlossen werden.

Der Kläger beantragt zuletzt,

das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. Oktober 2008 und den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2008 in der Fassung des Änderungsbescheids der Beklagten vom 27. Januar 2015 und der Ergänzung in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, der Ausweisungsbescheid sei rechtmäßig. Er verstoße insbesondere weder gegen Art. 9 Richtlinie 64/221/EWG noch gegen Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG. Es bestehe die konkrete Gefahr, dass der Kläger nach wie vor nicht in der Lage sei, seine Aggressionen zu kontrollieren. Kläger und Justizvollzugsanstalt hätten die Teilnahme an der Gewaltpräventionsgruppe für erforderlich gehalten. Beim Kläger liege nach dem im Strafprozess erstellten Gutachten wahrscheinlich eine eher geringe Stresstoleranz und innere Stabilität und eine allgemeine Unsicherheit bei noch nicht ausgereifter Identitätsbildung vor. Nach Lösung des Verlöbnisses könne die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin nicht mehr zur Stabilisierung des Klägers beitragen. Auch wenn der Kläger faktischer Inländer sei, sei zu berücksichtigen, dass er massiv straffällig geworden sei und abgesehen von den Bindungen zu seiner Herkunftsfamilie keine gewichtigen familiären Bindungen habe. Schließlich lägen Umstände vor, die dem Kläger die Integration in der Türkei erleichtern würden. Seine Großeltern lebten in der Türkei. Er habe Urlaubsaufenthalte dort verbracht, habe eine türkischsprachige Klasse besucht und seine Korrespondenz während der Haft belege seine Türkischkenntnisse.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses beteiligt sich an dem Verfahren, ohne einen eigenen Antrag zu stellen. Nachdem er sich zunächst den Ausführungen der Beklagten angeschlossen und ergänzend auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz, nach der Art. 9 Richtlinie 64/221/EWG auf nach dem 30. April 2006 ergangene Ausweisungsverfügungen keine Anwendung mehr finde, verwiesen hatte, meint er nunmehr, der Kläger habe eine zweite Chance verdient.

Das mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 10. Juli 2008 im Hinblick auf ein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof zur Frage der Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige ausgesetzte Verfahren (10 BV 08.3244) ist auf Antrag der Beklagten vom 22. Februar 2013 unter dem jetzigen Aktenzeichen (10 BV 13.421) fortgeführt worden.

Der Kläger ist nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe am 29. September 2011 aus der Justizvollzugsanstalt entlassen worden. Er steht für die Dauer von fünf Jahren unter Führungsaufsicht. Am 11. Februar 2013 hat er eine deutsche Staatsangehörige geheiratet. Am 7. Juni 2013 ist der gemeinsame Sohn des Klägers und seiner Ehefrau geboren worden, der ebenfalls deutscher Staatsangehöriger ist. Die Ehefrau und der Sohn des Klägers wohnen mit dem Kläger zusammen.

Mit Bescheid vom 27. Januar 2015 hat die Beklagte Nr. 2 des Bescheids vom 11. April 2008 dahingehend abgeändert, dass die Wiedereinreise für drei Jahre untersagt wird und die Frist mit der Ausreise beginnt. Außerdem hat sie in den Gründen des Bescheids die Ermessenserwägungen zur Ausweisung des Klägers aktualisiert und klargestellt, dass die Ermessensentscheidung nunmehr ausschließlich auf die Ausführungen im Bescheid vom 27. Januar 2015 gestützt werde.

Im Wesentlichen führt die Beklagte zur Begründung aus, der Ausweisung liege eine außerordentlich schwere Straftat zugrunde. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung sei durch den Kläger schwerwiegend gefährdet, so dass sein Aufenthalt im Allgemeininteresse zu beenden sei. Die privaten Belange müssten insbesondere im Hinblick darauf zurücktreten, dass dem Kläger aufgrund seiner Sprachkenntnisse, der Kontakte zu seinen in der Türkei lebenden Großeltern und seiner Vertrautheit mit der türkischen Kultur und Mentalität ein Leben in der Türkei zumutbar sei. Die Beziehung zu seiner deutschen Frau und seinem deutschen Kind werde dadurch relativiert, dass sie zu einer Zeit aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit entstanden sei. Besonderes Gewicht sei allerdings dem Interesse des Sohnes des Klägers an dessen Verbleib im Bundesgebiet beizumessen. Auf die Lebenshilfe seiner Eltern sei der Kläger nicht mehr angewiesen. Im Ergebnis überwiege trotz der sich abzeichnenden positiven Tendenz und der geänderten familiären Situation angesichts der Schwere der begangenen Straftat und der konkreten Gefahr weiterer Straftaten das öffentliche Interesse an der Ausweisung. Hinsichtlich der Befristung der Wirkungen der Ausweisung werde wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr im Hinblick auf die familiären Bindungen im Bundesgebiet ein Zeitraum von drei Jahren für erforderlich gehalten, um dem hohen Gefahrenpotenzial Rechnung tragen zu können.

In der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015, wegen deren Einzelheiten auf die Sitzungsniederschrift verwiesen wird, hat die Beklagte erklärt, ihre Ermessenserwägungen im Änderungsbescheid vom 27. Januar 2015 würden noch dahingehend vervollständigt, dass nunmehr die Eltern des Klägers in der Türkei wohnten und damit dort im Fall einer Aufenthaltsbeendigung für den Kläger ein weiterer Anlaufpunkt bestehe.

Ergänzend wird auf die beigezogenen Behördenakten sowie die Gerichtsakten in beiden Instanzen Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet. Die zulässige Anfechtungsklage, deren Gegenstand die Aufhebung des Bescheids vom 11. April 2008 in der Fassung ist, die er durch den Änderungsbescheid vom 27. Januar 2015 und die in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 zur Niederschrift abgegebene Erklärung der Beklagten zur Vervollständigung ihrer Ermessenserwägungen erhalten hat (I.), hat auch in der Sache Erfolg (II.).

I.

Gegenstand der Klage ist die Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 11. April 2015 in der Fassung des in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 ergänzten Änderungsbescheids der Beklagten vom 27. Januar 2015. Indem der Kläger seinen auf die Aufhebung des Bescheids vom 11. April 2008 in seiner ursprünglichen Fassung gerichteten Klageantrag auf den Änderungsbescheid vom 27. Januar 2015 erstreckt hat, hat er diesen bereits unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für eine Klageänderung nach § 125 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 91 Abs. 1 VwGO vorgelegen haben, nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 264 Nr. 2 und 3 ZPO in zulässiger Weise in die Klage einbezogen. Denn danach handelt es sich bei der Erstreckung der Anfechtungsklage auf den Bescheid vom 27. Januar 2015 nicht um eine Klageänderung. Im Übrigen wäre eine in der Einbeziehung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 liegende Klageänderung hier auch nach § 125 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 91 Abs. 1 VwGO zulässig.

1. Eine Klageänderung liegt vor, wenn sich der Streitgegenstand ändert. Der Streitgegenstand wird dabei durch den Klageanspruch als den mit der Klage geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruch und den Klagegrund als den dem Klageanspruch zugrunde liegenden Sachverhalt bestimmt (vgl. BVerwG, U.v. 24.10.2013 - 7 C 13.12 - juris Rn. 28 m. w. N.). Eine Klageänderung ist demzufolge grundsätzlich dann gegeben, wenn der Klageanspruch, der Klagegrund oder beide sich ändern (vgl. BVerwG a. a. O.).

Zwar wäre danach hier von einer Klageänderung auszugehen. Denn der Kläger hatte ursprünglich nur die Aufhebung des Bescheids vom 11. April 2008 beantragt, mit dem er aus der Bundesrepublik ausgewiesen (Nr. 1 des Bescheids vom 11. April 2008), ihm die Wiedereinreise untersagt (Nr. 2 des Bescheids vom 11. April 2008) und ihm für den Fall, dass er das Bundesgebiet nicht bis zum 15. April 2008 verlasse, die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat angedroht wurde, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 3 des Bescheids vom 11. April 2008). Mit dem in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 gestellten Antrag des Klägers, den Bescheid vom 11. April 2008 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 aufzuheben, hat sich aber der Streitgegenstand geändert. Denn es hat sich der Klageanspruch verändert, weil mit der Klage nicht mehr die Aufhebung des ursprünglichen Bescheids, sondern die Aufhebung dieses Bescheids in der geänderten Fassung begehrt wird, nach der dem Kläger die Wiedereinreise nicht mehr unbefristet, sondern nur noch für die Dauer von drei Jahren untersagt ist.

2. Jedoch ist es nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes der Klageantrag in der Hauptsache erweitert wird. Nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 264 Nr. 3 ZPO ist es darüber hinaus nicht als Klageänderung anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes statt des ursprünglich geforderten Gegenstands wegen einer später eingetretenen Veränderung ein anderer Gegenstand gefordert wird. Danach liegt hier eine Klageänderung aber nicht vor.

a) Durch die Beantragung der Aufhebung des Bescheids vom 11. April 2008 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 ist der Klageantrag im Sinne von § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 264 Nr. 2 ZPO erweitert worden, weil er damit auf den Bescheid vom 27. Januar 2015 erstreckt worden ist.

Ebenso fordert der Kläger mit dem Antrag, den Bescheid vom 11. April 2008 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 aufzuheben, im Sinne von § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 264 Nr. 3 ZPO einen anderen Gegenstand als mit seinem ursprünglichen Antrag, den Bescheid vom 11. April 2008 aufzuheben. Dies erfolgt auch wegen einer später eingetretenen Veränderung. Denn die Beklagte hat den mit der Klage angefochtenen Bescheid vom 11. April 2008 nach Klageerhebung geändert, indem sie das darin enthaltene Wiedereinreiseverbot mit dem Änderungsbescheid vom 27. Januar 2015 auf drei Jahre befristet hat.

b) Die Erweiterung des Klageantrags und die darin liegende Forderung eines anderen als des ursprünglichen Gegenstands sind darüber hinaus ohne Änderung des Klagegrundes erfolgt. Denn der dem Klageantrag zugrunde liegende Sachverhalt hat sich durch die Einbeziehung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 nicht geändert.

Der Bescheid vom 11. April 2008 und dieser Bescheid in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 unterscheiden sich nur insoweit, als der Bescheid vom 11. April 2008 dem Kläger die Wiedereinreise ohne zeitliche Beschränkung untersagt hat, während er in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 ein auf drei Jahre befristetes Wiedereinreiseverbot vorsieht. Dieser Unterschied hat aber nicht zur Folge, dass der Entscheidung über die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 11. April 2008 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 ein anderer Sachverhalt zugrunde zu legen wäre als der Entscheidung über eine Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid in seiner ursprünglichen Fassung.

Zum einen erweist sich im Fall der Rechtswidrigkeit der Ausweisung auch das von der Beklagten nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als gesetzliche Folge der Ausweisung ausgesprochene Wiedereinreiseverbot unabhängig davon als rechtswidrig, ob es nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG befristet worden ist oder nicht. Der rechtlichen Beurteilung des Wiedereinreiseverbots liegt daher in beiden Fällen einheitlich der Sachverhalt zugrunde, auf dessen Grundlage sich die Ausweisung als rechtswidrig darstellt. Zum anderen enthält die Anfechtungsklage gegen den Ausweisungsbescheid, wenn dieser wie der Bescheid vom 11. April 2008 keine Befristung der Wirkungen der Ausweisung verfügt hat, zugleich - als Minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung einen Hilfsantrag auf Verpflichtung des Trägers der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung dieser Wirkungen mit der Folge, dass im Fall der gerichtlichen Bestätigung der Ausweisung zugleich eine Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu treffen ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 39). Über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist in diesem Fall aber auch dann zu entscheiden, wenn eine solche Befristung nachträglich vorgenommen wird und die Anfechtungsklage gegen den Ausweisungsbescheid wie hier auf den Befristungsbescheid erstreckt wird (vgl. zur Statthaftigkeit der Anfechtungsklage gegen nachträgliche Befristungsentscheidungen BVerwG, B.v. 14.3.2013 - 1 B 17.12 - juris Rn. 13; B.v. 15.4.2013 - 1 B 22.12 - juris Rn. 31; kritisch dazu Armbruster/Hoppe, ZAR 2013, 309/315). In beiden Fällen ist dabei nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die im Rahmen der Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG festzusetzende Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen (vgl. dazu im Einzelnen BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 42; U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 40 f.; U.v. 14.5.2013 - 1 C 13.12 - juris Rn. 30 ff.). Auch im Falle der Rechtmäßigkeit der Ausweisung liegt dem Klageanspruch daher unabhängig davon, ob die Aufhebung des Bescheids vom 11. April 2008 oder die Aufhebung dieses Bescheids in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 begehrt wird, derselbe Sachverhalt zugrunde. Stimmt damit aber der für die Entscheidung über beide Klageanträge maßgebliche Sachverhalt überein, so hat die Einbeziehung des Bescheids vom 27. Januar 2015 nicht zu einer Änderung des Streitstoffs und damit des Klagegrundes geführt.

3. Im Übrigen wäre die Einbeziehung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015, selbst wenn es sich dabei um eine Klageänderung handeln würde, nach § 125 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 91 Abs. 1 VwGO zulässig, weil der Verwaltungsgerichtshof die Änderung für sachdienlich hält.

Sachdienlich ist eine Klageänderung in der Regel dann, wenn sie der endgültigen Beilegung des Rechtsstreits dient und der Streitstoff im Wesentlichen derselbe bleibt (vgl. BVerwG, U.v. 18.8.2005 - 4 C 13.04 - juris Rn. 22 m. w. N.; BayVGH, U.v. 26.6.2012 - 10 BV 09.2259 - juris Rn. 37). Beides ist hier der Fall.

Die Einbeziehung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 dient der endgültigen Beilegung des Rechtsstreits. Denn sie ermöglicht es, auch über die zulässige Dauer der Wirkungen der Ausweisung eine Entscheidung herbeizuführen, ohne dass es einer erneuten Klage gegen die im Änderungsbescheid vorgenommene Befristung des Wiedereinreiseverbots bedarf. Auch bleibt der Streitstoff im Wesentlichen derselbe. Wie dargelegt, ändert sich der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt durch die Einbeziehung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2015 in den Klageantrag nicht.

II.

Die Klage, die sich danach gegen den Bescheid vom 11. April 2008 in der Fassung des in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 ergänzten Änderungsbescheids der Beklagten vom 27. Januar 2015 richtet, ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben, weil er nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015, die für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Befristung ihrer Wirkungen und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung maßgeblich ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 12; U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 15; U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 12; U.v. 14.5.2013 - 1 C 13.12 - juris Rn. 9), sowohl hinsichtlich der Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland (1.) als auch hinsichtlich der Befristung des Wiedereinreiseverbots auf die Dauer von drei Jahren und der Abschiebungsandrohung (2.) rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

1. Die Ausweisung des Klägers, die an Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ANBA 1981, 4; im Folgenden: ARB 1/80) in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zu messen ist (a), ist rechtswidrig. Zwar ergibt sich dies nicht bereits daraus, dass die Ausweisung wegen eines Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschiften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl der Europäischen Gemeinschaften 1964 S. 850; im Folgenden: Richtlinie 64/221/EWG) formell rechtswidrig wäre (b). Jedoch sind die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung des Klägers nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht erfüllt (c).

a) Als Rechtsgrundlage für die Ausweisung des Klägers kommt nur Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG in Betracht. Denn der Kläger erfüllt die Voraussetzungen von Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80.

Nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war. Die praktische Wirksamkeit dieser Rechte setzt dabei zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf Unionsrecht beruht und vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist (vgl. EuGH, U.v. 16.3.2000 - Ergat, C-329/97 - juris Rn. 40; U.v. 11.11.2004 - Cetinkaya, C-467/02 - juris Rn. 31; U.v. 7.7.2005 - Aydinli, C-373/03 - juris Rn. 25; U.v. 16.2.2006 - Torun, C-502/04 - juris Rn. 20; BVerwG, U.v. 6.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 11). Danach ist der Kläger aber nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt.

aa) Der Kläger erfüllt zunächst die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80. Er ist Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt angehörte. Sein Vater kam 1972 nach Deutschland und arbeitete dort bei BMW, bei einer Arzneimittelfirma und schließlich am Flughafen München. Zwar hat der 1983 im Bundesgebiet geborene Kläger erstmals am 17. April 1997 eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 gilt aber entgegen seinem Wortlaut nicht nur für Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, sondern auch für ein Kind eines solchen Arbeitnehmers, das wie der Kläger im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurde und stets dort gelebt hat (vgl. EuGH, U.v. 11.11.2004 - Cetinkaya, C-467/02 - juris Rn. 20 ff, 26; U.v. 7.7.2005 - Aydinli, C-373/03 - juris Rn. 22; BVerwG, U.v. 6.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 11). Der Kläger hat schließlich von seiner Geburt bis zu seiner Inhaftierung im Juni 2006 und damit seit mindestens fünf Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz bei seinen Eltern gehabt und mit ihnen eine familiäre Lebensgemeinschaft geführt (vgl. EuGH, U.v. 11.11.2004 - Cetinkaya, C-467/02 - juris Rn. 30; U.v. 7.7.2005 - Aydinli, C-373/03 - juris Rn. 24).

bb) Der Kläger erfüllt außerdem die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 2 ARB 1/80. Denn er hat als Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der in Deutschland seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war, in der Bundesrepublik eine Berufsausbildung zum Maschinenbaumechaniker abgeschlossen.

cc) Schließlich hat der Kläger sein sich aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 ergebendes Aufenthaltsrecht auch nicht nachträglich wieder verloren.

aaa) Dieses Recht unterliegt lediglich in den beiden folgenden Fällen Beschränkungen (vgl. EuGH, U.v. 16.3.2000 - Ergat, C-329/97 - juris Rn. 45 ff.; U.v. 11.11.2004 - Cetinkaya, C-467/02 - juris Rn. 36; U.v.7.7.2005 - Aydinli, C-373/03 - juris Rn. 27; U.v.16.2.2006 - Torun, C-502/04 - juris Rn. 21 und 25; U.v. 8.12.2011 - Ziebell, C-371/08 - juris Rn. 49 m. w. N.). Zum einen ermöglicht es Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 den Mitgliedstaaten, in Einzelfällen bei Vorliegen triftiger Gründe den Aufenthalt des türkischen Migranten in ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken, wenn dieser durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet. Von dieser Möglichkeit hatte die Bundesrepublik im Falle des Klägers aber bis zu dessen Ausweisung durch den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2008, gegen die sich die Klage richtet, nicht Gebrauch gemacht. Zum anderen verliert der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 grundsätzlich, wenn er das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt. Dies hat der Kläger jedoch nicht getan.

bbb) Schließlich hat der Kläger, der bis zu seiner Inhaftierung im Juni 2006 für eine Leiharbeitsfirma gearbeitet hat, sein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 auch nicht dadurch verloren, dass er während seiner langen Freiheitsstrafe dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stand. Denn im Hinblick darauf, dass dieses Recht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nur nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder wegen eines Verlassens des Aufnahmemitgliedstaats während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigte Gründe beschränkt werden kann, unterliegt es wegen einer längeren Abwesenheit vom Arbeitsmarkt aufgrund einer mehrjährigen Freiheitsstrafe keinen Beschränkungen (vgl. EuGH, U.v. 11.11.2004 - Cetinkaya, C-467/02 - juris Rn. 38 f.; U.v. 7.7.2005 - Aydinli, C-373/03 - juris Rn. 27 f.; U.v. 16.2.2006 - Torun, C-502/04 - juris Rn. 25 f.; BVerwG, U.v. 6.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 12; U.v. 28.6.2006 - 1 C 4.06 - juris Rn. 13).

b) Die Ausweisung des Klägers auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ist nicht bereits deshalb wegen eines unheilbaren Mangels des Verwaltungsverfahrens formell rechtswidrig, weil sie gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG verstoßen hätte.

Nach dieser Regelung, die auf türkische Staatsangehörige mit assoziationsrechtlichem Aufenthaltsrecht anwendbar war (vgl. EuGH, U.v. 2.6.2005 - Dörr und Ünal, C-136/03 - juris Rn. 61 ff.; BVerwG, U.v. 13.9.2005 - 1 C 7.04 - juris Rn. 12; U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 22; U.v. 13.12.012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 28; U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 23), traf die Verwaltungsbehörde, soweit die vorgesehenen Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betrafen oder keine aufschiebende Wirkung hatten, die Entscheidung über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen konnte (Art. 9 Abs. 1 UAbsRichtlinie 64/221/EWG/EWG). Diese Stelle musste dabei eine andere sein als diejenige, die für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig war (Art. 9 Abs. 1 UAbsRichtlinie 64/221/EWG/EWG; sog. Vier-Augen-Prinzip).

Zwar wäre diese Regelung im Falle ihrer weiteren Anwendbarkeit durch die Ausweisung des Klägers verletzt worden, weil nach § 114 Satz 1 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur die Rechtmäßigkeit der nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde stehenden Ausweisung, nicht aber ihre Zweckmäßigkeit überprüft wird, ein Widerspruchsverfahren nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 AGVwGO nicht stattgefunden hat und auch sonst eine andere Stelle als die Beklagte vor Erlass des Ausweisungsentscheids vom 11. April 2008 zur Ausweisung des Klägers nicht Stellung genommen hatte (vgl. BVerwG, U.v. 13.9.2005 - 1 C 7.04 - juris Rn. 13; U.v. 6.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 14). Die Ausweisung wäre daher auch wegen eines Mangels des Verwaltungsverfahrens unheilbar rechtswidrig gewesen (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 16). Jedoch ist Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG seit Aufhebung dieser Richtlinie durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl EG Nr. L 158 S. 77: im Folgenden: Richtlinie 2004/38/EG) mit Wirkung zum 30. April 2006 für nach diesem Zeitpunkt ergangene Ausweisungsverfügungen wie den streitgegenständlichen Bescheid der Beklagten vom 11. April 2008 nicht mehr anwendbar (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 22 ff.; U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 28 ff.; U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 23 ff.; B.v. 15.4.2013 - 1 B 22.12 - juris Rn. 5 ff.).

Der Kläger meint demgegenüber, dass der verfahrensrechtliche Schutz, den Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG türkischen Staatsangehörigen gewähre, die über ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 verfügten, auch nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG deshalb fortgelten müsse, weil der Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG ersetzende Art. 31 Richtlinie 2004/38/EG nur für Unionsbürger gelte und ein ersatzloser Wegfall der in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG enthaltenen Verfahrensgarantie nicht hinnehmbar sei. Diese Argumentation rechtfertigt aber nicht die weitere Anwendung von Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG auf türkische Staatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80.

Zum einen ist durch die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG die in deren Art. 9 Abs. 1 enthaltene Verfahrensgarantie nicht ersatzlos entfallen. Vielmehr ist der Rechtsschutz gegen Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger, die über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrechts verfügen, nunmehr in entsprechender Anwendung des für Unionsbürger an die Stelle von Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG getretenen Art. 31 Richtlinie 2004/38/EG oder des Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend der Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl EG 2004 Nr. L 16 S. 44; im Folgenden: Richtlinie 2003/109/EG) gewährleistet (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 29; U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 23; B.v. 15.4.2013 1 B 22.12 - juris Rn. 5). Für die Anwendbarkeit des Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG spricht dabei, dass diese Regelung, nach deren Abs. 4 dem Ausgewiesenen der Rechtsweg in dem jeweiligen Mitgliedstaat offen steht, nach der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG den unionsrechtlichen Bezugsrahmen für die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger bildet, die wie der Kläger über ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 verfügen (vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 - Ziebell, C-371/08 - juris Rn. 79; BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 12).

Zum anderen würde die weitere Anwendung von Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385; im Folgenden: ZP) verstoßen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 25; U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 33; B.v. 15.4.2013 - 1 B 22.12 - juris Rn. 13 ff.). Nach dieser Regelung darf der Türkei in den vom Zusatzprotokoll erfassten Bereichen, zu denen auch die Ausweisung von assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen zählt (vgl. EuGH, U.v. 18.7.2007 - Derin, C-325/05 - juris Rn. 58 ff.), keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrags über die Gründung der Gemeinschaft einräumen. Dies wäre jedoch der Fall, wenn Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG weiterhin angewandt werden könnte.

Nach Art. 31 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens sind nach Art. 31 Abs. 3 Satz 1 Richtlinie 2004/38/EG dabei die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und Umstände zu überprüfen, auf denen die Entscheidung beruht. Nach Art. 31 Abs. 3 Satz 2 Richtlinie 2004/38/EG gewährleistet das Rechtsbehelfsverfahren darüber hinaus, dass die Entscheidung nicht unverhältnismäßig ist. Die Beteiligung einer anderen als der für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuständigen Stelle, wie sie Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG im Sinne eines Vier-Augen-Prinzips vorsah, ist daher nach Art. 31 Richtlinie 2004/38/EG für den Rechtsschutz von Unionsbürgern gegen solche Entscheidungen nicht mehr zwingend vorgeschrieben (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 23; U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 30; U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 23: B.v. 15.4.2013 - 1 B 22.12 - juris Rn. 6). Soweit nach Art. 31 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG die Einlegung des Rechtsbehelfs bei einem Gericht „und gegebenenfalls bei einer Behörde“ möglich sein muss, soll dies nur nationalen Regelungen Rechnung tragen, nach denen der gerichtlichen Überprüfung noch ein behördliches Widerspruchsverfahren vorgeschaltet ist. Eine Verpflichtung zur Beteiligung einer weiteren unabhängigen Stelle im Verwaltungsverfahren ergibt sich daraus aber nicht (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 30; B.v. 15.4.2013 - 1 B 22.12 - juris Rn. 6 ff.). Ist danach bei Unionsbürger betreffenden Entscheidungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit die Beteiligung einer solchen Stelle nicht erforderlich, so würden türkische Staatsangehörige, die assoziationsrechtlich aufenthaltsberechtigt sind, bei sie betreffenden derartigen Entscheidungen auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 aber besser gestellt als Unionsbürger. Der Türkei würde daher entgegen Art. 59 ZP eine günstigere Behandlung gewährt als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander einräumen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 25; U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 33; B.v. 15.4.2013 - 1 B 22.12 - juris Rn. 13 ff.).

c) Ist die Ausweisung des Klägers damit zwar nicht schon wegen einer Verletzung von Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG unheilbar formell rechtswidrig, so folgt ihre Rechtswidrigkeit jedoch daraus, dass die nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erforderlichen materiell-rechtlichen Ausweisungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind.

Entgegen der Ansicht des Klägers kann dabei Art. 28 Abs. 3 Buchstabe a Richtlinie 2004/38/EG, nach dem eine Ausweisung gegen Unionsbürger nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt werden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, im Falle von nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erfolgenden Ausweisungen allerdings nicht entsprechend angewandt werden, um die Tragweite von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu bestimmen (vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 - Ziebell, C-371/08 - juris Rn. 74). Vielmehr ist dazu Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG als Bezugsrahmen heranzuziehen (EuGH a. a. O. Rn. 79), nach dessen Abs. 1 bei einem langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung nur verfügt werden kann, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt.

Dementsprechend kann ein türkischer Staatsangehöriger, der wie der Kläger ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 besitzt, nach Art. 14 Abs. 1 ARB nur im Ermessenswege aufgrund einer Einzelfallprüfung ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland als des Aufnahmemitgliedstaats darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (vgl. EuGH a. a. O. Rn. 82 und 86; BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 13). Im Übrigen setzt die Ausweisung des Klägers, der seit 14.12.1999 eine nach § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgeltende unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich damit seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und deshalb nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießt, auch nach nationalem Recht schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung voraus (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).

Nach diesen Maßstäben erweist sich die Ausweisung des Klägers jedoch als rechtswidrig, weil zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr bestand (aa) und die Ausweisung außerdem zur Wahrung dieses Interesses nicht unerlässlich war (bb).

aa) Bei der Prüfung, ob eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft vorliegt, gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sind im Rahmen der Gefahrenprognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Demgemäß gelten umso geringere Anforderungen an den Eintritt eines Schadens für ein bedrohtes Rechtsgut, je bedeutender dieses ist. Jedoch reicht auch bei hochrangigen Rechtsgütern nicht jede auch nur entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts für die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr aus. Auch insoweit dürfen vielmehr keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 16; U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 16). Darüber hinaus sind bei der Gefahrenprognose nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse der Gesellschaft darstellen kann (vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 - Ziebell, C-371/08 - juris Rn. 84).

Eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft geht bei Berücksichtigung dieser Vorgaben von dem zu erwartenden persönlichen Verhalten des Klägers nach der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) aber nicht mehr aus.

aaa) Zwar würde es eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen, wenn der Kläger erneut eine Straftat begehen würde, die mit der der Ausweisung zugrunde liegenden vergleichbar ist. Denn der versuchte Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, der zur Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten geführt hat, hat das Leben und die Gesundheit des Opfers gefährdet. Die Rechtsgüter Leben und Gesundheit der Bürger nehmen aber in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang ein. Ihr Schutz ist daher ein Grundinteresse der Gesellschaft (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 19), das durch Straftaten, wie sie der Kläger begangen hat, erheblich beeinträchtigt wird. Angesichts des hohen Rangs der bedrohten Rechtsgüter und der schwerwiegenden Folgen, die eintreten können, wenn wie im Falle des Klägers dem Opfer mit einem mit Widerhaken versehenen Messer in lebensgefährlicher Weise tief in den Oberbauch gestochen wird, stellte die erneute Begehung vergleichbarer Taten durch den Kläger ohne weiteres für das betreffende Grundinteresse der Gesellschaft auch eine hinreichend schwere Gefahr dar.

Im Hinblick darauf und auf die Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten liegen darüber hinaus schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach § 56 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vor. Insbesondere hat der Kläger angesichts der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe einen Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht, der vorliegt, wenn ein Ausländer wegen einer oder mehrerer Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.

bbb) Jedoch stellt das persönliche Verhalten des Klägers nach Überzeugung des Senats keine gegenwärtige tatsächliche Gefahr mehr dar, die seine Ausweisung nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG rechtfertigen könnte.

Nach den Feststellungen des Schwurgerichts auf der Grundlage des im Strafverfahren eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens vom 30. Januar 2007 litt der durchschnittlich intelligente und eher zurückhaltende Kläger zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat unter Minderwertigkeitsgefühlen und reagierte gegenüber Kränkungen und Zurückweisungen übersensibel. Seine Stresstoleranz und innere Stabilität waren gering ausgeprägt. Es herrschte ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit vor. Der Gutachter ging zudem von einer noch nicht ausgereiften Identitätsbildung aus. Insbesondere die Sensibilität gegenüber Kränkungen und Zurückweisungen und die geringe Stresstoleranz des Klägers waren dabei maßgeblich mitursächlich dafür, dass es zu der der Ausweisung zugrunde liegenden Straftat kam.

Dass der Kläger sein Messer zog und damit schließlich zustach, hing mit der dem tatsächlichen Zusammentreffen vorangegangenen telefonischen Äußerung des Tatopfers zusammen, er werde den Kläger wieder dahin zurückstecken, wo er herausgekommen sei, die der Kläger als Beleidigung empfand. Denn bei Eintreffen des Tatopfers und seiner Begleiterinnen und Begleiter fragte der Kläger, der bis dahin nicht wusste, von wem diese Äußerung stammte, aufgebracht, wer ihn so beleidigt habe. Anlass für den Anruf des Tatopfers beim Kläger und das spätere Zusammentreffen war wiederum die Ohrfeige, die der Kläger der Schwägerin des Opfers am Abend zuvor gegeben hatte, weil er sich während einer verbalen Auseinandersetzung darüber ärgerte, dass diese ihn auf seine Äußerung hin, sie könne so nicht mit ihm reden, gefragt hatte, wie es denn wäre, wenn sie doch so mit ihm redete. Die Überempfindlichkeit des Klägers gegenüber Kränkungen und Zurückweisungen und seine geringe Stresstoleranz spielten daher eine entscheidende Rolle für den Geschehensablauf, der schließlich in den Totschlagsversuch und die damit einhergehende gefährliche Körperverletzung mündete.

Dementsprechend geht das psychiatrische Gutachten vom 2. Januar 2010 davon aus, dass die Gefahr eines Rückfalls hauptsächlich in Situationen besteht, in denen der Kläger sich wie bei der Begehung der seiner Verurteilung und Ausweisung zugrunde liegenden Straftat zurückgewiesen, abgewertet oder in seinem Selbstbild abgelehnt oder angegriffen fühlt (S. 29 des Gutachtens).

Nach Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs besteht aber angesichts der Entwicklung, die der Kläger seit der inzwischen mehr als achteinhalb Jahre zurückliegenden Tat durchlaufen hat, allenfalls noch die entfernte Möglichkeit, dass der Kläger erneut eine vergleichbare Straftat begehen wird. Dies reicht jedoch für die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr auch unter Berücksichtigung der im Hinblick auf die hohe Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter verminderten Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts nicht aus.

Der Kläger war nach der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt zur Führungsaufsicht vom 23. März 2011 während der Haft ruhig, fröhlich, offen, gutmütig und natürlich. Er trat respektvoll und verständig auf, verhielt sich gegenüber Bediensteten anständig, freundlich und hilfsbereit und war in der Gemeinschaft mit anderen Gefangenen gesellig und kameradschaftlich. Bei der Arbeit in einem Unternehmerbetrieb leistete er mit beständigem Fleiß fachgerechte und über dem Durchschnitt liegende Arbeit. Disziplinarisch ist er lediglich einmal im Jahr 2009 in Erscheinung getreten, weil er den Spion an seiner Haftraumtüre umgebaut und beschädigt hatte. Der Kläger bewarb sich im Mai 2007 für das anstaltsinterne soziale Kompetenztraining und nahm von Oktober bis Dezember 2007 an der Gewaltpräventionsgruppe der Justizvollzugsanstalt teil. Nach dem diesbezüglichen, im psychiatrischen Gutachten vom 2. Januar 2010 zusammengefassten Abschlussbericht vom 15. Dezember 2007 hat der Kläger regelmäßig und aktiv an den Behandlungsangeboten teilgenommen, gute Motivation gezeigt, an den Inhalten der Gruppe mitzuarbeiten, sich aus eigener Initiative öfter in das Gruppengeschehen eingebracht und seine Hausaufgaben zuverlässig und mit Sorgfalt erledigt. Er hat in ersten Ansätzen die auslösenden Bedingungen seiner Straftat erkennen können. Außerdem hat er gute Ansätze, Techniken und Strategien entwickelt, um zukünftig adäquater mit Konflikt- und Problemsituationen umgehen zu können. Eine Bearbeitung der Gewaltproblematik ist ihm vor allem auf der kognitiven Ebene gut möglich gewesen. Auf der emotionalen Ebene und der Verhaltensebene wurde allerdings noch eine Vertiefung für erforderlich gehalten.

Das psychiatrische Gutachten vom 2. Januar 2010 geht davon aus, dass das Verhaltensrepertoire des Klägers in der Situation, die zu der der Ausweisung zugrunde liegenden Straftat geführt hat, nicht ausreichend war, um einen Lösungsweg zu finden. Der Gutachter ist der Auffassung, dass die Teilnahme an der Gewaltpräventionsgruppe der Haftanstalt diesbezüglich lediglich einen Anfang gemacht habe, dass eine andauernde Veränderung und Erweiterung des Verhaltensrepertoires damit jedoch noch nicht abgeschlossen und deshalb eine weitere Therapie dringend erforderlich sei (S. 30 des Gutachtens). Nach seiner Einschätzung besteht zwar nicht die Gefahr, dass der Kläger wahllos fremde Personen attackieren werde, wohl aber dass im Rahmen von Beziehungskonflikten, insbesondere im Falle einer schweren Kränkung oder Erniedrigung, die alten Verhaltensmuster noch nicht so weit überwunden seien, dass es bei einer entsprechenden Konstellation nicht wieder zu aggressiven Durchbrüchen kommen könne (vgl. S. 30 f. des Gutachtens). Nach Ansicht des Gutachters ist daher von einer nicht mehr bestehenden Gefährlichkeit des Klägers erst unter der Bedingung auszugehen, dass eine erneute therapeutische Behandlung durchgeführt wird (S. 31 des Gutachtens).

Dementsprechend hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 10. März 2010, bestätigt durch den die sofortige Beschwerde des Klägers als unbegründet verwerfenden Beschluss des Oberlandesgerichts vom 14. April 2010, eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung abgelehnt. Außerdem hat sie unter Bezugnahme auf das psychiatrische Gutachten vom 2. Januar 2010 mit Beschluss vom 24. Juni 2011 festgestellt, dass nach Vollstreckung der Freiheitsstrafe Führungsaufsicht eintrete, weil nicht zu erwarten sei, dass der Kläger ohne diese Maßregel keine Straftaten mehr begehen werde. Gleichzeitig hat sie den Kläger im Hinblick darauf, dass nach dem Gutachten ohne eine vertiefende Bearbeitung der Gewaltproblematik ein Rückfall in alte Verhaltensweisen nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden könne, angewiesen, sich nach Haftentlassung einer ambulanten Psychotherapie bei einem namentlich bezeichneten Psychotherapeuten für die Dauer von mindestens einem Jahr zu unterziehen. An dieser Therapie hat der Kläger in der Zeit von Juli 2012 bis September 2013 teilgenommen. Mit seiner ärztlichen Mitteilung vom 9. September 2013 hat der Psychotherapeut der Bewährungshelferin des Klägers mitgeteilt, dass der Kläger am 9. September 2013 an der 14. psychotherapeutischen Sitzung teilgenommen habe, dass er sich an alle Abmachungen gehalten habe, dass nach seiner Meinung vom Kläger keine Gefahr mehr ausgehe und dass die Psychotherapie abgeschlossen werden könne.

Mit dem erfolgreichen Abschluss der psychotherapeutischen Behandlung besteht aber nicht nur nach Auffassung seines Therapeuten keine Gefahr mehr, dass der Kläger erneut ähnliche Straftaten wie diejenigen begeht, die seiner Verurteilung und Ausweisung zugrunde gelegen haben. Vielmehr sind damit auch die Bedingungen erfüllt, unter denen das Gutachten vom 2. Januar 2010 und ihm folgend die Strafvollstreckungskammer davon ausgegangen sind, dass der Kläger nicht mehr gefährlich ist. Dass nach Abschluss der im Beschluss über die Führungsaufsicht angeordneten Therapie die Gefahr der erneuten Begehung vergleichbarer Straftaten durch den Kläger nicht mehr besteht, steht aber auch zur Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs fest.

Der Senat geht aufgrund des Eindrucks, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 hinterlassen hat, davon aus, dass die erfolgreich abgeschlossene Therapie ihrem Zweck entsprechend (vgl. S. 30 des Gutachtens vom 2. Januar 2010) das Verhaltensrepertoire des Klägers in einer Weise verändert und erweitert hat, die es ihm ermöglicht, in Zukunft für Konflikte in Situationen wie derjenigen, die zu der der Verurteilung und Ausweisung zugrunde liegenden Straftat geführt hat, eine gewaltfreie Lösung zu finden. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt hat, wurde im Rahmen der Therapie, deren Gegenstand die Gewaltprävention, das persönliche Verhalten des Klägers und seine aktuelle Situation waren, insbesondere auch besprochen, wie er sich in einer Situation wie derjenigen, die zu seiner Straftat geführt hat, verhalten müsste. Dass dies zutrifft und dass der Kläger in der Therapie gelernt und verinnerlicht hat, wie er sich in solchen Situationen gewaltfrei verhalten kann, belegen seine Antworten in der mündlichen Verhandlung.

So hat er erläutert, er wisse nunmehr, dass es zur Vermeidung von derartigen Situationen notwendig sei, bereits vom Kopf her eine andere Einstellung zu haben. Er dürfe sich schon gedanklich auf eine Situation, wie sie seiner Straftat zugrunde gelegen habe, nicht mehr einlassen, sondern müsse alles versuchen, ihr von vornherein aus dem Weg zu gehen. Konkret würde er sich heute in ähnlicher Lage wahrscheinlich umdrehen und weggehen. Auch würde er, selbst wenn er es dürfte, aufgrund seiner geänderten Einstellung kein Messer und auch keine sonstige Waffe mehr mit sich führen. Bei einem Streit innerhalb der Familie, dem er nicht ausweichen könne, rede er heute länger darüber. Auf seine leichte Kränkbarkeit angesprochen hat der Kläger ausgeführt, man könne solche Gefühle nicht völlig ausschließen, wohl aber reduzieren. Wenn jemand heute seine Familie beleidigen würde, würde er zu diesem Zweck daran denken, dass er seiner Familie nicht helfe, wenn er sich über die Kränkung erregen und wie bei seiner damaligen Straftat reagieren würde, weil er dann ja seine Familie erneut allein lasse. Letzteres zeigt darüber hinaus, dass dem Kläger, der inzwischen verheiratet und Vater eines eineinhalb Jahre alten Sohnes ist, seine Familie wichtig ist und er das Familienleben nicht durch die erneute Begehung von Straftaten gefährden will.

Es kommt hinzu, dass der Kläger nach den im Gutachten vom 2. Januar 2010 getroffenen Feststellungen die volle Verantwortung für seine Tat übernommen hat, ohne sie zu bagatellisieren, und dass die lange Haftzeit bei ihm einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat (S. 27 des Gutachtens). Dies hat sich in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2015 bestätigt, in der der Kläger, der auch im Übrigen offen und bereitwillig Auskunft gegeben hat, nachvollziehbar dargelegt hat, dass ihm in der Haft klargeworden sei, was für einen Fehler er gemacht habe, und dass vor allem die Inhaftierung und das Bewusstsein, dass er „Mist gebaut“ habe, ihn seit der Tat wesentlich geprägt hätten.

Außerdem ist der Senat aufgrund des Eindrucks, den er vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger in den fast neun Jahren seit der seiner Verurteilung und Ausweisung zugrunde liegenden Straftat durch die Haft, die Auseinandersetzung mit seiner Tat, die Teilnahme an der Gewaltpräventionsgruppe in der Haft, die psychotherapeutische Behandlung nach der Entlassung und die Gründung einer eigenen Familie deutlich reifer geworden ist, als er es zum Zeitpunkt der Tat im Jahr 2006 und der Erstellung des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens vom 30. Januar 2007 war, das ihm noch eine durch geringe Stresstoleranz und innere Stabilität und durch allgemeine Unsicherheit gekennzeichnete nicht ausgereifte Identitätsbildung bescheinigte (S. 88 des Gutachtens). Da gerade diese Faktoren bei der Tatbegehung eine wesentliche Rolle gespielt haben, hat der mit der Einsicht in die Fehlerhaftigkeit seiner früheren Verhaltensmuster und in ihre negativen Folgen verbundene Reifungsprozess des Klägers die Wahrscheinlichkeit der erneuten Begehung vergleichbarer Straftaten nach Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs aber deutlich verringert.

Darüber hinaus ergeben sich auch aus dem Verhalten des Klägers keine Anhaltspunkte dafür, dass von ihm gegenwärtig tatsächlich noch eine hinreichend schwere Gefahr für das Leben und die Gesundheit anderer ausgeht. Das Verhalten des Klägers in der Haft war mit Ausnahme des Umbaus und der Beschädigung des Spions in der Haftraumtür beanstandungsfrei. Insbesondere war er während der Haftzeit nie in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt. Nach der Entlassung aus der Strafhaft hat er keine Straftaten mehr begangen. Seit der der Ausweisung zugrunde liegenden Straftat im Juni 2006 sind damit mehr als acht Jahre, seit der Haftentlassung im September 2011 mehr als drei Jahre und seit dem Abschluss der Psychotherapie im September 2013 mehr als ein Jahr vergangen, ohne dass der Kläger erneut straffällig geworden wäre. Nach den vorliegenden Berichten der Bewährungshilfe hat er zudem seit seiner Entlassung alle Termine zuverlässig eingehalten und beanstandungsfrei, offen und kooperativ mit den Bewährungshelferinnen zusammengearbeitet. Nach Abschluss der Psychotherapie wurde der Kläger auf Anregung der Bewährungshelferin vom 12. September 2013 noch im September 2013 aus der Liste der Risikoprobanden der Führungsaufsichtsstelle gestrichen.

Anhaltspunkte für eine beachtliche Wiederholungsgefahr ergeben sich auch nicht aus dem Verhalten des Klägers vor der seiner Verurteilung und Ausweisung zugrunde liegenden Straftat. Der Kläger war nicht vorbestraft. Außer einem nach § 153 Abs. 1 StPO wegen geringer Schuld eingestellten Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort am 15. August 2005 und einem nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellten Ermittlungsverfahren wegen einer leichten Körperverletzung am 17. Mai 2002 haben gegen ihn auch keine strafrechtlichen Ermittlungen stattgefunden. Soweit der Kläger daneben gegenüber dem Sachverständigen, der das psychiatrische Gutachten vom 2. Januar 2010 erstellt hat, angegeben hat, er sei vor der seiner Verurteilung zugrunde liegenden Straftat im Fußballverein oder in der Diskothek schon einmal in Schlägereien verwickelt gewesen, bei denen aber nie jemand ernsthaft verletzt worden sei, haben diese offensichtlich nicht zu Ermittlungsverfahren gegen den Kläger geführt. Im Übrigen reichen nach Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs auch diese etwaigen Körperverletzungen nicht aus, um von einer gegenwärtigen Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger auszugehen. Denn abgesehen davon, dass die betreffenden Vorfälle bereits viele Jahre zurückliegen, geht der Senat davon aus, dass sich die Einstellung des Klägers zur Anwendung von Gewalt durch den Eindruck der Haft, durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten im Rahmen der Gewaltpräventionsgruppe in der Justizvollzugsanstalt und der Psychotherapie nach der Entlassung aus der Haft sowie durch seine Heirat und die Geburt seines Sohnes im Vergleich zu der Zeit vor seiner Inhaftierung so gewandelt hat, dass in Zukunft Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben von ihm nicht mehr zu erwarten sind. Denn dies entspricht nicht nur der Einschätzung des Gutachtens vom 2. Januar 2010 und des Psychotherapeuten des Klägers, sondern wird, wie dargelegt, auch dadurch bestätigt, dass der Kläger mehr als acht Jahre nach der seiner Verurteilung und Ausweisung zugrunde liegenden Tat, mehr als drei Jahre nach seiner Haftentlassung und mehr als ein Jahr nach Therapieabschluss nicht straffällig geworden und insbesondere nicht wegen eines gewalttätigen Verhaltens aufgefallen ist.

Schließlich ergibt sich etwas anderes auch nicht daraus, dass die mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 24. Juni 2011 für die Dauer von fünf Jahren angeordnete Führungsaufsicht fortbesteht. Die Führungsaufsicht tritt gemäß § 68f Abs. 1 Satz 1 StGB mit der Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug kraft Gesetzes ein, wenn wie hier eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen vorsätzlicher Straftaten vollständig vollstreckt worden ist. Etwas anderes gilt nur, wenn nach § 68f Abs. 2 StGB angeordnet wird, dass die Führungsaufsicht entfällt, weil zu erwarten ist, dass der Verurteilte auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird. Davon hat die Strafvollstreckungskammer aber im Hinblick auf das Gutachten vom 2. Januar 2010 abgesehen, nach dem von einer Rückfallgefahr erst nach einer weiteren Psychotherapie nicht mehr ausgegangen werden konnte. Zwar hat die Strafvollstreckungskammer die Dauer der Führungsaufsicht, die nach § 68c Abs. 1 Satz 1 StGB mindestens zwei und höchstens fünf Jahre beträgt, auf fünf Jahre festgesetzt. Es hat dies allerdings nicht näher begründet. Auch hat es zum Zeitpunkt seiner Entscheidung weder berücksichtigen können, dass der Kläger die Psychotherapie, zu der er durch die Vollstreckungskammer angewiesen wurde, erfolgreich abgeschlossen hat noch dass der Kläger die Prognose, dass von ihm nach einer erfolgreichen Therapie die Gefahr weiterer Straftaten nicht mehr ausgeht, seitdem durch straffreies Verhalten bestätigt hat. Unter diesen Umständen ist der Verwaltungsgerichtshof durch die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer aber nicht daran gehindert, wie hier auf der Grundlage der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls und des persönlichen Eindrucks, den er vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, zu der Überzeugung zu gelangen, dass trotz des Fortbestehens der Führungsaufsicht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung keine gegenwärtige Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft mehr besteht (vgl. zur fehlenden Bindung der Verwaltungsgerichte an die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung hinsichtlich der Gefahrenprognose BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 - juris Rn. 23; U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18 ff.).

Ebenso wenig steht der Verneinung einer vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr entgegen, dass nach dem psychiatrischen Gutachten vom 2. Januar 2010 statistisch gesehen etwa ein Drittel der verurteilten Gewalttäter innerhalb von drei Jahren erneut verurteilt werden (vgl. S. 23 f. Gutachtens). Abgesehen davon, dass die statistisch hohe Rückfallwahrscheinlichkeit allenfalls ein Gesichtspunkt von vielen ist, die bei der anhand einer Prüfung aller Umstände des Einzelfalls zu erstellenden Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind, sprechen die im Gutachten vom 2. Januar 2010 darüber hinaus wiedergegebenen statistischen Erhebungen dafür, dass beim Kläger ein weit geringeres Rückfallrisiko besteht. Denn danach hatten Verurteilte, die während der Haft nicht durch Disziplinarmaßnahmen auffielen, deutlich niedrigere Rezidivraten als die Gesamtheit der Straftäter (S. 24 des Gutachtens). Neben der lediglich einmaligen disziplinarischen Ahndung des Klägers während der gesamten, mehr als fünfjährigen Haft spricht statistisch gesehen das Fehlen von Vorstrafen dafür, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit beim Kläger gering ist (vgl. S. 25 des Gutachtens). Im Übrigen ist auch der Sachverständige, der die von ihm referierten statistischen Daten und insbesondere die relativ hohe Rückfallwahrscheinlichkeit bei Gewaltdelikten bei seiner Prognose ausdrücklich berücksichtigt hat (vgl. S. 30 des Gutachtens), zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger nach einer erneuten und inzwischen durchgeführten Therapie nicht mehr gefährlich ist.

bb) Selbst wenn man anders als der Verwaltungsgerichtshof von einer gegenwärtigen Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft ausgeht, war die Ausweisung des Klägers zum für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung jedoch rechtswidrig. Denn sie war zur Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft nicht unerlässlich.

Dabei ist im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen (vgl. EuGH U.v. 8.12.2011 - Ziebell, C-371/08 - juris Rn. 82). Zu berücksichtigen sind dabei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind (vgl. EuGH a. a. O. Rn. 85), insbesondere die Dauer seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, sein Alter, die Folgen seiner Ausweisung für ihn und seine Familienangehörigen sowie seine Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat (Art. 12 Abs. 3 Richtlinie 2003/109/EG; vgl. EuGH a. a. O. Rn. 80). Ebenso sind die für die Wahrung des Grundinteresses der Gesellschaft bedeutsamen Umstände zu berücksichtigen wie die Art und Schwere der Straftat, die seit der Straftat vergangene Zeit und das Verhalten des Klägers in dieser Zeit (vgl. EGMR, U.v. 2.7.2001 - Boultif, Nr. 54273/00 - InfAuslR 2001, 476/478; U.v. 5.7.2005 - Üner, Nr. 46410/99 - DVBl 2006, 688).

Danach war die Ausweisung zur Wahrung des hier betroffenen Grundinteresses der Gesellschaft nach Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs aber nicht unerlässlich. Denn sie verstieß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar war sie ohne weiteres zur Wahrung dieses Grundinteresses geeignet und erforderlich, weil etwaige vom Kläger ausgehende Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik am wirksamsten durch seine Ausweisung abgewendet werden können. Jedoch überwiegt das in seinem Recht auf Privat- und Familienleben wurzelnde Interesse des Klägers, sich weiter im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, das mit der Ausweisung verfolgte öffentliche Interesse an der Wahrung des betreffenden Grundinteresses der Gesellschaft. Die Folgen der Ausweisung für den Kläger stehen deshalb zu dem mit dieser Maßnahme verfolgten Ziel außer Verhältnis.

aaa) Zwar kommt dem mit der Ausweisung verfolgten Ziel, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung vor weiteren Straftaten des Klägers zu schützen, angesichts des hohen Rangs dieser Rechtsgüter großes Gewicht zu. Dieses Gewicht ist aber dadurch deutlich vermindert, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger erneut Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit begeht, sehr gering ist. Denn, wie dargelegt, geht vom Kläger in Anbetracht des nachhaltigen Eindrucks, den die Haft bei ihm hinterlassen hat, der erfolgreich absolvierten Psychotherapie und des damit einhergehenden Einstellungswandels sowie der Tatsache, dass die der Ausweisung zugrunde liegende Straftat bereits acht Jahre zurückliegt und der Kläger weder während seiner mehr als fünfjährigen Haft noch in den mehr als drei Jahren seit seiner Entlassung aus dem Strafvollzug erneut durch Körperverletzungs-, Tötungs- oder andere Gewaltdelikte in Erscheinung getreten ist, allenfalls noch eine entfernte Gefahr der Begehung solcher Straftaten aus.

bbb) Demgegenüber beeinträchtigt die Ausweisung des in Deutschland geborenen und seit mehr als 31 Jahren hier lebenden Klägers neben seinem Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 GG sein Recht auf Privatleben nach Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EU-GR-Charta ebenso wie sein Recht auf Familienleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EU-GR-Charta sowie sein Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und sein Recht auf Pflege und Erziehung seines Kindes nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.

Der Entzug des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 und die damit verbundene Beeinträchtigung des Rechts des Klägers auf Privatleben wiegen dabei schwer. Der Kläger ist faktischer Inländer. Er ist in Deutschland geboren und hat 31 Jahre hier gelebt. Er hat die Schule mit dem Qualifizierenden Hauptschulabschluss beendet und eine Lehre zum Maschinenbaumechaniker erfolgreich abgeschlossen. Der Schwerpunkt seiner sozialen Kontakte liegt im Bundesgebiet. Seine Ehefrau und sein Sohn sowie seine Geschwister und ein großer Teil seiner Verwandten leben in Deutschland. Wie die umfangreiche Besucherliste der Justizvollzugsanstalt belegt, hat der Kläger darüber hinaus in der Bundesrepublik eine Reihe von Freunden und Bekannten. Zwar hat der Kläger auch Bindungen zu seinem Herkunftsland Türkei. Er ist in einer türkischen Familie aufgewachsen, spricht Türkisch und hat in der Grundschule eine türkische Klasse besucht, in der manche Fächer auch in türkischer Sprache unterrichtet wurden. Außerdem sind seine Eltern im Oktober 2014 in die Türkei zurückgekehrt, so dass er im Falle seiner Ausreise oder Abschiebung dorthin nicht auf sich allein gestellt wäre. Auch wenn man davon ausgeht, dass der Kläger sich unter diesen Umständen in der Türkei wohl eine neue Existenz aufbauen könnte, ändert dies jedoch nichts daran, dass seine Ausweisung und die damit verbundene Beeinträchtigung seines Rechts auf Privatleben für den in der Bundesrepublik geborenen und hier seit seiner Geburt lebenden und verwurzelten Kläger insbesondere im Hinblick auf seine familiären Beziehungen schwer wiegt und seinem Interesse, sich weiter im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, daher erhebliches Gewicht beizumessen ist.

Da die Ehefrau und der eineinhalbjährige Sohn des Klägers, die beide deutsche Staatsangehörige sind, in der Bundesrepublik leben, berührt seine Ausweisung nicht nur das Recht auf Privatleben, sondern stellt auch eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung seines Rechts auf Familienleben (Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EU-GR-Charta) sowie des Rechts auf Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und des Rechts auf Pflege und Erziehung seines Sohnes (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) dar. Zwar ist dabei zu berücksichtigen, dass die im Februar 2013 geschlossene Ehe des Klägers zu einem Zeitpunkt eingegangen worden ist, zu dem der Ehefrau des Klägers die der Ausweisung zugrunde liegende Straftat und die Ausweisung selbst bereits bekannt waren (vgl. EGMR, U.v. 2.7.2001 - Boultif, Nr. 54273/00 - InfAuslR 2001, 476/478; U.v. 5.7.2005 - Üner, Nr. 46410/99 - DVBl 2006, 688; U.v. 28.6.2011 - Nunez, Nr. 55597/09 - HUDOC Rn. 70), und dass dem Recht auf Privatleben und dem Schutz der Ehe in solchen Fällen ein vermindertes Gewicht beizumessen sein kann. Jedoch kommt andererseits dem Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Pflege und Erziehung seines Sohnes, das im Interesse des Kindes mit einer entsprechenden Pflicht einhergeht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), große Bedeutung zu.

Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm gebietet es, bei Entscheidungen über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 17; U.v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 16; B.v. 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 26; B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 12). Dabei ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen (BVerfG, B.v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 25; B.v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 18; B.v. 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 31; B.v 25.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 14). Kann die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik gelebt werden, weil weder dem Kind noch seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik zumutbar ist, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehöriger ist und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter eine Ausreise aus Deutschland nicht zugemutet werden kann, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange in der Regel zurück (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 19; B.v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 17; B.v. 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 27; B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 13). Auch eine vorübergehende Trennung kann sich als unzumutbar darstellen. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 22; B.v. 1.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 33; B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 14).

Nach diesen Maßgaben stellt sich die Ausweisung aber ungeachtet der Beziehungen des Klägers zur Türkei und der Eheschließung in Kenntnis seines unsicheren Aufenthaltsstatus als schwerwiegende Beeinträchtigung seines Interesses dar, sich weiter in der Bundesrepublik aufzuhalten. Denn die mit der Ausweisung verbundene Beeinträchtigung des Rechts auf Familienleben (Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EU-GR-Charta), des Rechts auf den Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und auf Pflege und Erziehung seines Sohnes (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) wiegen danach schwer.

Zwischen dem Kläger und seinem Sohn besteht seit dessen Geburt eine familiäre Lebensgemeinschaft. Der Kläger und seine Ehefrau leben zusammen mit ihrem Sohn in einer gemeinsamen Wohnung. Die familiäre Lebensgemeinschaft kann auch nur in der Bundesrepublik aufrechterhalten werden, weil sowohl die Ehefrau des Klägers als auch sein Sohn deutsche Staatsangehörige sind, denen es nicht zumutbar ist, die Bundesrepublik zu verlassen. Schließlich wäre von der Ausweisung und der damit verbundenen Trennung des eineinhalbjährigen Sohnes von seinem Vater ein sehr kleines Kind betroffen, das den Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen könnte und diese daher als endgültigen Verlust des Vaters erfahren würde. Die Folgen einer Trennung des Klägers von seinem Sohn auch nur für die Dauer des nach dem Änderungsbescheid vom 27. Januar 2015 auf drei Jahre befristeten Wiedereinreiseverbots haben daher großes Gewicht, zumal nach Art. 24 Abs. 2 EU-GR-Charta das Wohl des Kindes bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen eine vorrangige Erwägung sein muss.

ccc) Ist damit einerseits das Interesse des Klägers, sich weiter im Bundesgebiet aufzuhalten, durch die Ausweisung schwerwiegend beeinträchtigt und kommt andererseits dem Grundinteresse der Gesellschaft, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, angesichts der nur noch geringen Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut ein Tötungs-, Körperverletzungs- oder anderes Gewaltdelikt begehen wird, nur geringes Gewicht zu, so überwiegt das private Interesse des Klägers, in der Bundesrepublik zu bleiben. Die Ausweisung erweist sich als unverhältnismäßig und ist damit auch nicht zur Wahrung des betroffenen Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich.

2. Die daraus resultierende Rechtswidrigkeit der Ausweisung hat zur Folge, dass auch die Befristung des Wiedereinreiseverbots auf die Dauer von drei Jahren und die Abschiebungsandrohung rechtswidrig sind, den Kläger in seinen Rechten verletzen und daher aufzuheben sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

a) Die Voraussetzungen für eine Befristung des Wiedereinreiseverbots nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen nicht vor. Denn gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, nach dem die Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG befristet werden, setzt eine solche Befristung voraus, dass der Kläger ausgewiesen worden ist und deshalb nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen darf. Da die Ausweisung des Klägers jedoch rechtswidrig und daher aufzuheben ist, ist dies hier nicht der Fall.

b) Die Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig, weil die Androhung der Abschiebung nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG das Bestehen einer Ausreisepflicht voraussetzt, der Kläger jedoch nicht ausreisepflichtig ist. Zur Ausreise ist ein Ausländer nach § 50 Abs. 1 AufenthG verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss EWG-Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Diese Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt. Weder ist die nach § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgeltende unbefristete Aufenthaltserlaubnis des Klägers nach § 51 Abs. 1 Halbsatz 1 Nr. 5 AufenthG durch die Ausweisung erloschen noch hat er ihretwegen gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 verloren. Denn die Ausweisung ist, wie dargelegt, rechtswidrig und damit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 Abs. 2 und § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 709 Satz 2 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

IV. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 17. Juli 2015 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht sowie die Wirkungen der Ausweisung auf zehn Jahre befristet wurden. Anlass für die Ausweisung war die Verurteilung des Klägers zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes an seiner geschiedenen Ehefrau. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. November 2015 abgewiesen.

Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; 1.) noch wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO; 2.) oder wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; 3.) zuzulassen.

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

a) Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung (a.F.) für rechtmäßig erachtet.

Rechtsgrundlage für die Ausweisung sei § 53 Nr. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (a.F.). Da der Kläger den Status nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben habe, könne er gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, wobei eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen könne, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Dabei sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren, der eine Einzelfallwürdigung insbesondere auch der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechtspositionen verlange. Der Kläger genieße auch den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (a.F.).

Die Beklagte sei daher zutreffend von einer Ermessensentscheidung ausgegangen. Diese sei nicht zu beanstanden. Die Straftat, wegen der der Kläger verurteilt worden sei – Mord –, stelle eine besonders schwerwiegende, das Grundinteresse der Gesellschaft berührende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Auch habe die Beklagte zutreffend bejaht, dass die ernsthafte Gefahr einer vergleichbaren Straftat durch den Kläger nach der Haftentlassung bestehe. Bereits im Januar 2010 habe der Kläger eine schwere Gewalttat gegen seine Ehefrau und seine damals 16jährige Tochter verübt und sei deswegen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Zudem sei der Kläger vorher bereits dreimal wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden. Schließlich habe er am 12. Februar 2011 seine geschiedene Ehefrau auf brutale Weise ermordet. Das Verhalten des Klägers zeige, dass er in der Lage sei, gegenüber ihm nahestehenden Personen über Jahre hinweg seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen; es zeige eine ausgesprochene Verachtung gegenüber der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der mit ihm in Familiengemeinschaft lebenden, aber auch fremden Menschen. Der psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren habe ausgeführt, dass beim Kläger eine Persönlichkeitsakzentuierung mit überwiegend selbstunsicheren, dependenten, narzisstischen und von emotionaler Instabilität geprägten Charakterzügen vorliege; hinzu kämen Selbstunsicherheit, Eifersucht, Anspruchsdenken, reizbares, aggressives und streitsüchtiges Verhalten. Dass der Kläger in der Haft an einem „Projekt für Langstrafige zu Beginn der Haftzeit“ teilgenommen habe, könne die Wiederholungsgefahr nicht beseitigen.

Die Ausweisung sei auch mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar. Die Beklagte habe zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger durch seine Gewalttat seinen Kindern die Mutter genommen habe und diese die gewaltsamen Vorkommnisse in der Ehe und der Zeit danach bewusst miterlebt hätten. Zu seiner Tochter habe der Kläger schon immer ein sehr angespanntes Verhältnis gehabt, er habe sie auch geschlagen; sie sei volljährig und auf seinen Beistand nicht mehr angewiesen. Die Beziehung zu seinem 14jährigen Sohn sei intakt und schutzwürdig, allerdings beschränkten sich die Kontakte auf telefonische und briefliche Kontakte sowie Besuche in der Vollzugsanstalt. Bei einer möglichen Entlassung nach 15 Jahren werde der Sohn längst volljährig sein. Auch unter den anderen einschlägigen Gesichtspunkten sei die Ausweisung verhältnismäßig.

b) Die Beurteilung, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ist daher zu berücksichtigen. Die Änderung der Sach- und Rechtslage ist allerdings grundsätzlich nur in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen relevant (Seibert in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 2014, § 124a Rn. 57; vgl. auch BVerwG, B.v. 15.12.2003 – 7 AV 2.03 – NVwZ 2004, 744).

Der Senat hat daher das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 12. November 2015 unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens – mangels entgegenstehender Übergangsregelung – anhand der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung zu überprüfen. Eine – wie hier – nach altem Recht verfügte Ausweisung ist nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

c) Mit seinem Vorbringen hat der Kläger die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei rechtmäßig, gemessen an den nunmehr maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung, im Ergebnis nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ausgewiesen werden darf. Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, auf den sich der Kläger beruft, ist hier nicht einschlägig, da diese Rechtsstellung die Erteilung eines entsprechenden nationalen Aufenthaltstitels voraussetzt, der nur auf Antrag erteilt wird (Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1, Abs. 3, Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG). Eine solche Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU nach § 9a AufenthG hat der Kläger nicht besessen. Im Ergebnis genießt er aber den gleichen „Ausweisungsschutz“, denn auch als Aufenthaltsberechtigter nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei darf er – ebenso wie ein Besitzer der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU – gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

Aufgrund der Verurteilung des Klägers wegen des Mordes an seiner früheren Ehefrau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (und wegen der vorangegangenen Verurteilung wegen Körperverletzungsdelikten u.a. zum Nachteil seiner früheren Ehefrau und seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung) wiegt das Ausweisungsinteresse im Fall des Klägers gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer.

Die in § 54 AufenthG fixierten Tatbestände erfüllen zwei Funktionen: Sie sind gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG und weisen diesen Ausweisungsinteressen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG geforderte Abwägung zu. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 AufenthG ist deshalb entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch in diesem Fall stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 26).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats (z.B. B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn 14) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.

Der Kläger hat mit seinem Vortrag in der Zulassungsbegründung die diesen Anforderungen entsprechende Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass von ihm auch weiterhin eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (UA S. 30-34), nicht durchgreifend in Frage gestellt.

(1) Der Kläger bringt zunächst vor, er habe gemäß dem von der Justizvollzugsanstalt abgegebenen Persönlichkeitsbild bereits eine positive Entwicklung erkennen lassen. Während seines über vierjährigen Aufenthalts dort habe er sich bereits gut integriert und ein enges Verhältnis zum Wachpersonal aufgebaut. Trotz seines nicht unerheblichen Delikts habe er sich anstaltsintern hochgearbeitet und trotz seiner geringen fachlichen Qualifikation bis zu seinem Arbeitsunfall eine Vorarbeiterstellung innegehabt. Bereits die ersten Jahre seiner Inhaftierung hätten enorm zu seiner Resozialisierung beigetragen; diese Entwicklung werde sich auch im Verlauf der weiteren Haftzeit fortsetzen. In der Haft habe er auch an einer „Therapie mit Langstrafigen zu Beginn der Haftzeit“ teilgenommen; auch sei eine Therapie im Rahmen therapeutischer Einzelgespräche sowie einer Gruppensitzung erfolgt. Er sei in der Haft nie disziplinarisch aufgefallen, im Gegenteil habe er sich aufgrund des einschneidenden Erlebnisses der Verurteilung sowie der langen Haftstrafe in seinem Verhalten erheblich geändert.

Damit kann der Kläger aber die Prognose des Verwaltungsgerichts nicht entkräften. Der Kläger ist seit 1989 wiederholt wegen Gewalt-, aber auch Betäubungsmitteldelikten polizeilich auffällig geworden und mehrfach auch verurteilt worden und hat schließlich im Februar 2011 seine geschiedene Ehefrau auf außerordentlich brutale Weise getötet. Das im Strafurteil des Landgerichts vom 30. November 2012 ausführlich wiedergegebene psychiatrische Sachverständigengutachten (Bl. 682 ff. der Behördenakten), auf das sich auch das Verwaltungsgericht gestützt hat (UA S. 33), stellt beim Kläger eine sog. Persönlichkeitsakzentuierung mit überwiegend selbstsunsicheren, dependenten, narzisstischen und von emotionaler Instabilität geprägten Charakterzügen fest, welche beim Auftreten von Konflikten oder narzisstischen Kränkungen wiederholt in Form eines streitsüchtigen, reizbaren oder auch aggressiven Verhaltens zu Tage getreten seien und sich vornehmlich auf nahe Bezugspersonen und hier insbesondere auf die (frühere) Ehefrau konzentriert hätten. Die vom Kläger aufgrund dieser Charakterzüge ausgehende Gefahr kann nicht mit dem Verweis auf das – ohnehin zu erwartende – Wohlverhalten im Justizvollzug relativiert werden. Eine erfolgreiche therapeutische Behandlung der beschriebenen Defizite ist trotz der von den Betreuungspersonen in der Justizvollzugsanstalt positiv gewürdigten Fortschritte des Klägers (vgl. Bericht der JVA vom 30.10.2015, Bl. 141 ff. der VG-Akte) nicht feststellbar.

(2) Weiter trägt der Kläger vor, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Gefahrenprognose außer Acht gelassen, dass er frühestens nach 15 Jahren aus der Haft entlassen werden könne; auch eine solche Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung setze voraus, dass das Strafvollstreckungsgericht eine positive Prognose hinsichtlich einer Wiederholungsgefahr getroffen habe. Es ergebe sich ein Wertungswiderspruch, wenn das Verwaltungsgericht dem Kläger bescheinige, dass von ihm nach Haftentlassung weiter die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgehe, während eine Haftentlassung nur dann erfolgen könne, wenn das Strafvollstreckungsgericht zu der – nach frühestens 15 Jahren Haftzeit möglichen – Prognose komme, dass der Kläger keine weiteren Straftaten mehr begehe.

Maßgeblich für die vorzunehmende Gefahrenprognose ist jedoch, wie oben (1.b) ausgeführt, der Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung; es kommt darauf an, ob von dem Kläger „gegenwärtig“ eine schwerwiegende, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Das ist, wie dargelegt, zu bejahen. Es ist nicht erforderlich, mit der aufenthaltsrechtlichen Gefahrenprognose bis zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung nach Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung abzuwarten. Dass sich der Kläger ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, schließt nicht aus, dass sein Verhalten eine tatsächliche und gegenwärtige, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr darstellen kann, da dieser Umstand keinen Bezug zu seinem persönlichen Verhalten hat (EuGH, U.v. 13.7.2017 – C-193/16 – juris).

d) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 13.3.2017 – 10 ZB 17.226 – juris Rn. 6 ff. m.w.N.).

Im Fall des Klägers liegt aufgrund seiner Verurteilungen ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG vor; sein Bleibeinteresse wiegt nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG ebenfalls besonders schwer. Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei ermessensfehlerfrei und verhältnismäßig, begegnet auch unter dem Blickwinkel der Abwägung im Sinne von § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG keinen ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit. Das Verwaltungsgericht hat bei der vom Kläger angegriffenen Entscheidung sämtliche entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte im Rahmen der Nachprüfung der Ermessensentscheidung berücksichtigt, die nach neuer Rechtslage auch in diese Interessenabwägung einzustellen sind, und sie in nicht zu beanstandender Weise auch im Hinblick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK gewichtet.

Der Kläger hat in der Begründung des Zulassungsantrags insoweit keine Einwendungen vorgebracht.

2. Auch der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor.

Eine Rechtssache weist besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten auf, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern (Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124 Rn. 106).

Dies ist hier schon nicht nachvollziehbar dargelegt. Der Kläger verweist lediglich auf einige Aspekte, die im vorliegenden Fall – und ebenso in einer Vielzahl anderer Ausweisungsfälle – zu berücksichtigen sind, nämlich den Ausweisungsschutz aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei, die Eigenschaft als faktischer Inländer, seine familiären Bindungen und schließlich auf den Prognosemaßstab hinsichtlich seiner fortdauernden Gefährlichkeit. Zu einigen dieser Punkte, wie seinen langjährigen Aufenthalt („faktischer Inländer“) und seinen familiären Bindungen, hat der Kläger im Zulassungsverfahren nichts Detailliertes vorgetragen, was besondere Schwierigkeiten aufwerfen könnte; soweit auf die sich aus der Rechtsstellung aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei sich ergebenden Maßstäbe für die Gefahrenprognose hingewiesen wird, lässt sich diese Frage – wie oben gezeigt – ohne weiteres in Anwendung des § 53 Abs. 3 AufenthG im Zulassungsverfahren beantworten.

3. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.

Um einen auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt.

Diesen Anforderungen genügt weder der pauschale, völlig unbestimmte Hinweis auf „oben genannte“ Ausführungen noch die Bezugnahme auf die „Prognosekollision“ bei zu einer lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten; wie oben gezeigt (1. c) existiert eine solche „Prognosekollision“ nicht.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren und Beiordnung des Bevollmächtigten ist abzulehnen, weil das Rechtsmittel aus den dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 ZPO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

(1) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,
1a.
rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten
a)
gegen das Leben,
b)
gegen die körperliche Unversehrtheit,
c)
gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach den §§ 174, 176 bis 178, 181a, 184b, 184d und 184e jeweils in Verbindung mit § 184b des Strafgesetzbuches,
d)
gegen das Eigentum, sofern das Gesetz für die Straftat eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht oder die Straftaten serienmäßig begangen wurden oder
e)
wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oder tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte,
1b.
wegen einer oder mehrerer Straftaten nach § 263 des Strafgesetzbuchs zu Lasten eines Leistungsträgers oder Sozialversicherungsträgers nach dem Sozialgesetzbuch oder nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
2.
die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat, es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand,
3.
zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde, weil seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet,
4.
sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht oder
5.
zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft; hiervon ist auszugehen, wenn er auf eine andere Person gezielt und andauernd einwirkt, um Hass auf Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen oder zu verstärken oder öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften in einer Weise, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören,
a)
gegen Teile der Bevölkerung zu Willkürmaßnahmen aufstachelt,
b)
Teile der Bevölkerung böswillig verächtlich macht und dadurch die Menschenwürde anderer angreift oder
c)
Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt,
es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand.

(2) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist,
2.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,
3.
als Täter oder Teilnehmer den Tatbestand des § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Betäubungsmittelgesetzes verwirklicht oder dies versucht,
4.
Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht,
5.
eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, davon abhält, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben,
6.
eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt oder dies versucht oder wiederholt eine Handlung entgegen § 11 Absatz 2 Satz 1 und 2 des Personenstandsgesetzes vornimmt, die einen schwerwiegenden Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt; ein schwerwiegender Verstoß liegt vor, wenn eine Person, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, beteiligt ist,
7.
in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht oder in wesentlichen Punkten vorsätzlich keine, falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des Terrorismus oder der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verdächtig sind; die Ausweisung auf dieser Grundlage ist nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Rechtsfolgen verweigerter, falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde,
8.
in einem Verwaltungsverfahren, das von Behörden eines Schengen-Staates durchgeführt wurde, im In- oder Ausland
a)
falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels, eines Schengen-Visums, eines Flughafentransitvisums, eines Passersatzes, der Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht oder der Aussetzung der Abschiebung gemacht hat oder
b)
trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörden mitgewirkt hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde oder
9.
einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Tenor

Den Beschwerdeführern wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 6. November 2012 - VG 5 K 23/11.A - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht Cottbus zurückverwiesen.

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 24. Januar 2013 - OVG 3 N 5.13 - wird damit gegenstandslos.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000,- € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG zugunsten einer afghanischen Familie.

2

1. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige. Der 1981 geborene Beschwerdeführer zu 1. und die 1987 geborene Beschwerdeführerin zu 2. reisten im Jahr 2009 in das Bundesgebiet ein, die im März 2011 geborene Beschwerdeführerin zu 3. ist ihr gemeinsames Kind. Die Asylanträge der miteinander verheirateten Beschwerdeführer zu 1. und 2. wurden als unbegründet abgelehnt.

3

2. Mit ihren hiergegen gerichteten Klagen machten die Beschwerdeführer zu 1. und 2. geltend, in Kandahar von den Taliban mit dem Tode bedroht worden zu sein. Weder in ihrer Heimatregion Kandahar noch in einer sonstigen Provinz Afghanistans könne derzeit eine Familie mit Kleinkind ihre Existenz sichern, wenn sie nicht durch einen Familienverband abgesichert und aufgefangen werde. Auch litten die Beschwerdeführer zu 1. und 2. an Erkrankungen, die in Deutschland behandelt werden müssten.

4

3. Das Verwaltungsgericht Cottbus wies die Klagen durch Urteil vom 6. November 2012 zurück. Die Beschwerdeführer zu 1. und 2. hätten keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Beschwerdeführer zu 1. könne hinsichtlich der geltend gemachten Verfolgung durch die Taliban auf Kabul als inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Von ihm könne vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in Kabul aufhalte, da davon auszugehen sei, dass er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinde und insbesondere das Existenzminimum gesichert sei. Für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Staatsangehörige bestehe auch ohne familiären Rückhalt die Möglichkeit, als Tagelöhner mit Aushilfsjobs ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Der Beschwerdeführer zu 1. gehöre zu dieser Personengruppe, da er sich um den Lebensunterhalt der Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. nicht kümmern müsse. Diese könnten in die Heimatregion Kandahar zurückkehren, da ihnen dort keine Verfolgung oder sonst zu berücksichtigende Gefahr drohe. Denn die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. verfügten in Kandahar über familiären Rückhalt, der insoweit an die Stelle des Beschwerdeführers zu 1. treten könne. Es sei auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass sich die vorgetragenen Erkrankungen der Beschwerdeführer zu 1. und 2. im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund zielstaatsbezogener Umstände wesentlich verschlimmern würden.

5

4. Im Berufungszulassungsverfahren rügten die Beschwerdeführer zu 1. und 2., das Verwaltungsgericht habe gegen den in Art. 23 der so genannten Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG) niedergelegten Grundsatz der Wahrung des Familienverbandes verstoßen, indem es den Beschwerdeführern zumute, dauerhaft voneinander getrennt in Kabul und Kandahar leben zu müssen. Auch habe das Verwaltungsgericht seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts verletzt, indem es unterstellt habe, die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. könnten ohne Probleme nach Kandahar zurückkehren und würden dort von den Eltern der Beschwerdeführerin zu 2. aufgenommen. Weder habe das Verwaltungsgericht entsprechende Fragen an die Beschwerdeführer gerichtet, noch hätten diese von sich aus darauf eingehen müssen, da die vom Verwaltungsgericht im Urteil zugrundegelegte Trennung der Beschwerdeführer überraschend gewesen sei. Auch die Ablehnung der Beweisanträge hinsichtlich der geltend gemachten Erkrankungen verstoße gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör.

6

5. Mit Beschluss vom 24. Januar 2013 lehnte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Dass das Verwaltungsgericht Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie nicht berücksichtigt habe, weise höchstens auf eine materiell unrichtige Entscheidung hin, lasse jedoch nicht erkennen, warum die Vorschrift bei der Entscheidung über ein Abschiebungsverbot für eine Familie mit Kleinkind über den Einzelfall hinaus bedeutsam sei und ihre Reichweite im Interesse der Rechtseinheit und Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufungsverfahren bedürfe. Der von den Beschwerdeführern erhobene Vorwurf der ungenügenden Aufklärung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht werde vom Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG nicht erfasst. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Beschwerdeführer könnten sich trennen, sei keine unzulässige Überraschungsentscheidung. Es gebe auch keine Anhaltspunkte, dass die Ablehnung der erstinstanzlich gestellten Beweisanträge nicht vom Prozessrecht gedeckt sei.

7

6. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machen die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG geltend, weil das Oberverwaltungsgericht die Anforderungen an die Darlegung der Gründe für die Zulassung der Berufung überspannt habe. Es stelle sowohl im Hinblick auf Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie als auch hinsichtlich Art. 6 GG und Art. 8 EMRK eine abstrakte Frage dar, ob eine aufenthaltsbeendende Entscheidung in Kauf nehmen dürfe, dass eine Familie dauerhaft getrennt leben müsse. Das Verwaltungsgericht habe gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen, indem es in seinem Urteil von der Zumutbarkeit einer Trennung der Beschwerdeführer ausgegangen sei, ohne vorab auf diese Rechtsansicht hinzuweisen. Dadurch hätten die Beschwerdeführer keine Gelegenheit gehabt, eingehender zu ihrer familiären Situation vorzutragen und gegebenenfalls Beweisanträge zu einzelnen Fragen des Überlebens alleinstehender Frauen in Kandahar zu stellen. Mit ihren Entscheidungen verstießen die Gerichte schließlich gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Bei einer Abschiebung, die eine dauerhafte Trennung der Beschwerdeführer zur Folge habe, hätte eine Abwägung mit ihren familiären Belangen stattfinden müssen. Daran fehle es.

8

7. Das Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

9

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

10

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, obwohl sie nicht innerhalb der in § 93 Abs. 1 BVerfGG geregelten Monatsfrist eingelegt und begründet worden ist. Den Beschwerdeführern war insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu gewähren. Sie haben innerhalb der Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG glaubhaft gemacht, dass sie das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post gegeben haben, dass es bei normalem Verlauf der Dinge das Bundesverfassungsgericht fristgerecht hätte erreichen können. Die Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Post AG darf den Beschwerdeführern nicht als Verschulden zugerechnet werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Januar 2003 - 2 BvR 447/02 -, NJW 2003, S. 1516).

11

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG.

12

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfGE 51, 386 <396 f.>; 76, 1 <47>; 80, 81 <93>). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, Be-schluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, S. 171 <173>; BVerfGK 2, 190 <194>), auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, S. 67 <68>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, S. 682 <683>).

13

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfGK 7, 49 <56>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, S. 682 <683>).

14

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465>).

15

b) Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts wird den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Bei der nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu erstellenden Gefahrenprognose ist das Verwaltungsgericht von getrennten Aufenthaltsorten der Beschwerdeführer in Afghanistan ausgegangen. Es hat den Beschwerdeführer zu 1. der Personengruppe der alleinstehenden, arbeitsfähigen Männer zugeordnet, denen Kabul als inländische Fluchtalternative offensteht, während es für die Beschwerdeführerinnen zu 2. und 3. eine Rückkehr in die Heimatprovinz Kandahar als zumutbar erachtet hat. Obwohl das Verwaltungsgericht damit seiner Entscheidung zugrunde legt, dass die Beschwerdeführer in Afghanistan ihr künftiges Leben getrennt voneinander führen müssen, fehlt in dem Urteil jede Auseinandersetzung mit den aus Art. 6 GG folgenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an staatliche Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Dies zeigt, dass sich das Verwaltungsgericht des Einflusses des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie auf die Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. BVerwGE 90, 364 <369 f.>, zur vergleichbaren früheren Rechtslage) nicht bewusst gewesen ist.

16

c) Das angegriffene Urteil beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 6 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, den Beschwerdeführern günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das angegriffene Urteil auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück. Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts gegenstandslos. Seiner Aufhebung bedarf es nicht, weil von ihm insoweit keine selbstständige Beschwer ausgeht (vgl. BVerfGE 14, 320 <324>; 76, 143 <170>). Auf das Vorliegen der weiteren gerügten Verfassungsverstöße kommt es nicht an.

III.

17

Mit dieser Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

IV.

18

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Tenor

Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 2016 - 19 CS 16.1194 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 € (in Worten: fünftausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

1. Der am 1. Januar 1989 geborene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebte zunächst in der Türkei. Im Alter von drei Jahren zog er zu seinem Vater und dessen neuer Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland. Nach der Scheidung von Vater und Stiefmutter lebte er mit der Stiefmutter und deren zwei Kindern in Nürnberg. Er besuchte eine Förderschule bis zur neunten Klasse und verließ diese 2004 ohne Schulabschluss. Am 18. Januar 2005 erteilte ihm die Ausländerbehörde eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG. In der Folge nahm er ohne Erfolg an mehreren Bildungs- und Berufsvorbereitungsmaßnahmen teil. Im Jahr 2008 erlangte er den Hauptschulabschluss.

2

2. Er wurde mehrfach strafgerichtlich verurteilt: Am 9. März 2006 wurde er vom Amtsgericht wegen Diebstahls in zwei Fällen zu Freizeitarrest verurteilt. Am 11. August 2006 verurteilte ihn das Amtsgericht zu einem Kurzarrest von zwei Tagen und einer Geldauflage, weil er gemeinsam mit einem Freund die Verpackungen von X-Box-Spielen im Wert von 200 Euro aufgebrochen und diese an sich genommen hatte. Am 18. Juni 2007 wurde er vom Amtsgericht wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung, gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall und Beleidigung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Er befand sich vom 28. Februar 2007 bis zum Tag der Verurteilung in Untersuchungshaft; die ihm auferlegten 250 Arbeitsstunden leistete er ab. Am 2. Oktober 2008 verurteilte ihn das Amtsgericht unter Einbeziehung der Verurteilung vom 18. Juni 2007 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, nachdem er erneut X-Box-Spiele entwendet hatte. Er verbüßte im Anschluss einen Teil der Strafe. Mit Urteil vom 25. Juli 2011 wurde er vom Amtsgericht wegen des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt.

3

Am 7. Mai 2012 verurteilte ihn das Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 3 Monaten wegen Handeltreibens mit Marihuana in 74 Fällen. Er hatte im Zeitraum von Juli bis Oktober 2011 in seiner Wohnung Marihuana angebaut, dieses in kleinen Mengen an einen Bekannten verkauft und im Übrigen bei sich eingelagert. Die mit Beschluss des Amtsgerichts vom 14. Februar 2013 gewährte Haftentlassung auf Bewährung wurde widerrufen, nachdem er erneut Marihuana konsumiert und nicht ausreichend Kontakt zu seinem Bewährungshelfer gehalten hatte. Er verbüßte seine Haftstrafe ab dem 22. April 2014.

4

3. Die Ausländerbehörde leitete am 8. Januar 2014 ein Ausweisungsverfahren ein. Sein Verfahrensbevollmächtigter teilte unter anderem mit, der Beschwerdeführer beabsichtige, eine Suchtmitteltherapie anzutreten. Mit Bescheid vom 6. Mai 2015 wies die Ausländerbehörde den Beschwerdeführer aus der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete die sofortige Vollziehung an, forderte ihn zur Ausreise bis zum 1. Juni 2015 auf und drohte die Abschiebung an. Er erfülle die zwingenden Ausweisungstatbestände des § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG. Allerdings sei er Assoziationsberechtigter, weshalb eine Ausweisung nur als Ermessensausweisung möglich sei; das Ausweisungsinteresse überwiege sein Bleibeinteresse. Er sei wiederholt und schwer, unter anderem wegen Drogendelikten, straffällig geworden. Auch mehrfache Verurteilungen und Inhaftierungen hätten ihn nicht zu einem straffreien Leben anhalten können. Die Strafaussetzung zur Bewährung sei widerrufen worden. Es bestehe Wiederholungsgefahr. Demgegenüber könne er sich zwar auf den Assoziationsstatus berufen und sei im Wesentlichen in Deutschland aufgewachsen. Er habe sich hier jedoch nie wirtschaftlich integriert, und die von ihm ausgehenden Gefahren für höchste Rechtsgüter rechtfertigten die Schwierigkeiten, die er bei einer Rückkehr in die Türkei hinzunehmen habe. Die sofortige Vollziehung werde angeordnet, da er aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werde und ein langwieriges Gerichtsverfahren nicht abzuwarten sei.

5

4. Der Beschwerdeführer erhob Klage gegen diesen Bescheid und beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Zur Begründung führte er insbesondere aus, dass kein besonderes Vollzugsinteresse gegeben sei. Die Ausländerbehörde habe bei zahlreichen anderen spezialpräventiven Ausweisungen von der Anordnung des Sofortvollzugs abgesehen. Das Verwaltungsverfahren habe über ein Jahr gedauert, so dass eine besondere Eilbedürftigkeit nicht erkennbar sei. Die Begründung der sofortigen Vollziehung bestehe aus bloßen Worthülsen. Im Übrigen, so machte er mit der Klagebegründung von demselben Tag geltend, sei der Bescheid jedenfalls rechtswidrig.

6

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 18. August 2015 ab. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei nicht zu beanstanden, da die Ausländerbehörde auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten abgestellt habe. Die Verfügung erweise sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig. Die Ausländerbehörde habe zutreffend festgestellt, dass der Beschwerdeführer schon seit seinem Jugendalter in sich steigerndem Maße straffällig geworden sei. Auch während laufender Bewährung habe er mehrfach weitere Straftaten begangen und gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Die begonnene Drogentherapie habe er noch nicht erfolgreich abgeschlossen; im Übrigen bleibe die statistische Rückfallgefahr auch nach einer solchen hoch. Bei bedrohten Rechtsgütern von hervorgehobener Bedeutung gälten für die Feststellung einer Wiederholungsgefahr geringere Anforderungen. Es sei jedenfalls im Falle wiederholter Straffälligkeit nicht erforderlich gewesen, zur Frage der Wiederholungsgefahr ein Prognosegutachten einzuholen. Es sei dem Beschwerdeführer zumutbar, in die Türkei zurückzukehren, auch wenn er diese als Kleinkind verlassen habe. Auf Art. 6 GG könne er sich nicht berufen, da er erwachsen, unverheiratet und kinderlos sei. Ob die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre rechtmäßig sei, spiele im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO keine Rolle.

7

5. Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass der Sofortvollzug der Ausweisung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur bei einem das Ausweisungsinteresse übersteigenden Vollzugsinteresse angeordnet werden könne. Hierfür sei eine besondere Prognoseentscheidung zu treffen, die in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts fehle. Dabei sei zu berücksichtigen gewesen, dass er die letzte abgeurteilte Straftat 2011 begangen habe und die letzte Verurteilung 2012 erfolgt sei. Die Grundinteressen der Gemeinschaft seien nicht bedroht. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Handel mit Betäubungsmitteln erneut drohe, bestünden nicht. Der Erfolg der Klage sei offen, da es für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ankomme, im Eilverfahren deshalb eine Prognose über die Sachlage im Zeitpunkt dieser Verhandlung hätte getroffen werden müssen. Das Verwaltungsgericht habe außerdem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu der Bedeutung seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland nicht hinreichend berücksichtigt.

8

Der Verwaltungsgerichtshof wies die Beschwerde zurück. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts sei sowohl bei ihrem Erlass - gestützt auf § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG a. F. - als auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach den §§ 53 ff. AufenthG n. F. rechtmäßig gewesen. Der Beschwerdeführer habe nach altem Recht zwingende Ausweisungstatbestände verwirklicht, doch habe der assoziationsrechtliche Ausweisungsschutz zu einer Herabstufung als Ermessensausweisung geführt. Der Vortrag, es bestehe keine Wiederholungsgefahr, sei angesichts seiner regelmäßig und sich steigernden Straffälligkeit nicht ausreichend. Die keineswegs jugendtypische Delinquenz belege vielmehr die Wiederholungsgefahr. Da er vielfach auch Eigentumsdelikte, teilweise unter Gewaltanwendung, begangen habe, bestehe weiterhin die Gefahr, dass er in Anbetracht seiner Drogenabhängigkeit solche Taten wiederholen werde. Im Übrigen könne bei einem Drogenabhängigen vom Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht gesprochen werden, solange nicht eine Therapie abgeschlossen worden sei, deren Erfolg durch eine längere Zeit straffreien Verhaltens bestätigt sei. Die Ausweisungsverfügung sei auch bei Zugrundelegung des neuen Rechts rechtmäßig, da dieses die Rechtslage nach der früheren Rechtsprechung im Wesentlichen kodifiziert habe. Auch bei Zugrundelegung seines besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bleibe es aus den zuvor dargestellten Gründen bei einem Überwiegen des Ausweisungsinteresses. Die Anordnung des Sofortvollzugs sei angesichts der zu bekämpfenden akuten Gefahren erforderlich. Die bei Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile überwögen schließlich das Bleibeinteresse des Antragstellers bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens.

9

6. Unter dem 14. April 2016 beantragte der Beschwerdeführer bei dem Verwaltungsgericht die Abänderung des Beschlusses gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO. Er habe sich vom 17. Dezember 2015 bis zum 7. April 2016 zur stationären Behandlung seiner Abhängigkeitserkrankung in einem Therapiezentrum befunden und sei regulär entlassen worden. Die Prognose sei nach Angaben der behandelnden Therapeutin aufgrund seiner deutlichen Entscheidung für Abstinenz, seiner hohen Selbstreflexionsfähigkeit sowie der guten kognitiven Fähigkeiten günstig. Laut der vorgelegten Bescheinigung hatte der Beschwerdeführer in der Therapieeinrichtung zunächst Schwierigkeiten mit der Eingewöhnung. Er habe jedoch in der Folge einen guten Kontakt zu den Therapeuten aufgebaut, sich engagiert und habe auch schwierige Situationen, insbesondere Rückfälle anderer Patienten, gut gemeistert.

10

Die Ausländerbehörde trat dem Antrag entgegen und meinte insbesondere, veränderte relevante Umstände lägen nicht vor. Auch die Vertreterin des öffentlichen Interesses beantragte, den Antrag abzulehnen. Demgegenüber wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Mai 2016 die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt habe. Von der in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommenden Einschätzung könne nur aufgrund eines negativen kriminalprognostischen Gutachtens abgewichen werden.

11

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 25. Mai 2016 ab. Die abgeschlossene Drogentherapie führe nicht zum Wegfall einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Eine etwaige Verhaltensänderung müsse sich erst im Anschluss an den Therapieabschluss beweisen. Statistisch sei von einer erheblichen Rückfallquote auszugehen. Auch die Strafaussetzungsentscheidung binde im ausländerrechtlichen Verfahren nicht, da bei ersterer die Resozialisierung des Täters im Vordergrund stünde.

12

7. Der Beschwerdeführer legte hiergegen unter dem 11. Juni 2016 Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof ein. Insbesondere habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht ein besonderes Vollzugsinteresse bejaht, da jedenfalls eine akute Wiederholungsgefahr nicht mehr bestehe.

13

Mit Beschluss vom 9. September 2016 wies der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde zurück. Angesichts der tiefgreifenden und länger andauernden Suchtproblematik stelle die Therapie allenfalls einen Teilerfolg dar, der die Wiederholungsgefahr nicht entfallen lasse. Der Beschwerdeführer verfüge auch unabhängig von seiner Drogensucht über ein hohes Maß an krimineller Energie. Die Strafaussetzungsentscheidung nach § 36 BtMG, die wie eine Aussetzungsentscheidung nach § 57 StGB geringeres ausweisungsrechtliches Gewicht als eine Entscheidung nach § 56 StGB habe, stelle auf einen engeren strafvollzugsrechtlichen Prognosehorizont als die ausländerrechtliche Entscheidung ab. Der Sofortvollzug sei auch angesichts des schon einmal erfolgten Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung notwendig.

II.

14

Der Beschwerdeführer hat am 18. September 2016 Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs verletze ihn in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG, welches in Ausweisungssituationen angesichts der gravierenden Folgen für den Ausländer besonderen Schutz vermittle. Dabei sei das von Art. 8 EMRK gewährleistete Grundrecht auf Privatleben zu beachten. Die angegriffenen Entscheidungen hätten rechtsfehlerhaft eine Wiederholungsgefahr bejaht, da nach der erfolgten Strafaussetzung zumindest ein Gutachten hätte eingeholt werden müssen. Eine regelmäßige und sich steigernde Intensität von Straftaten des Beschwerdeführers liege nicht vor, der Bewährungswiderruf sei nur wegen des Verstoßes gegen Bewährungsauflagen und nicht wegen der Begehung von Straftaten erfolgt. Angesichts der vorgelegten Therapiebescheinigung sei die Prognose positiv gewesen; hierüber hätten sich die Gerichte nicht einfach hinwegsetzen dürfen. Schließlich sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt, da das Nachtatverhalten des Beschwerdeführers nicht ausreichend gewürdigt worden sei. In sich widersprüchlich sei dabei die Begründung, dass der Strafaussetzungsentscheidung ein kürzerer Prognosemaßstab als der ausländerrechtlichen Entscheidung zugrunde liege, da die Bewährungszeit wie die Befristung der Wirkung der Ausweisung auf fünf Jahre festgesetzt worden sei. Schließlich verstoße es gegen Art. 19 Abs. 4 GG, wenn die Gerichte Erlassinteresse und den Sofortvollzug nahezu wortgleich begründet hätten. Denn der Gesetzgeber habe gerade für Ausweisungen keinen Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Gesetzes wegen angeordnet, so dass das Regel-Ausnahmeverhältnis verkannt worden sei. Das besondere, über das Erlassinteresse hinausgehende Vollzugsinteresse hätte die Ausländerbehörde darlegen und nicht etwa der Beschwerdeführer widerlegen müssen.

III.

15

Die Akten des Ausgangsverfahrens, die Ausländerakte und die Akten des Strafverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Der Freistaat Bayern hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

IV.

16

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwer-de ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige (1.) Verfassungsbeschwerde ist in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet (2.).

17

1. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde gegen die Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist tauglicher Beschwerdegegenstand. Der Beschwerdeführer war insoweit, nachdem im Hinblick auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 21. März 2016 innerhalb der Verfassungsbeschwerdefrist geänderte Umstände aufgetreten waren, die den Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eröffneten, aufgrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gehalten, erst diesen Rechtsbehelf zu nutzen, bevor er Verfassungsbeschwerde einlegen konnte. Nachdem dieser Antrag von den Gerichten abgelehnt wurde, hat er innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG Verfassungsbeschwerde eingelegt.

18

2. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Beschränkung des Freizügigkeitsgrundrechts nach Art. 11 GG auf Deutsche schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. BVerfGE 35, 382 <399>). Die Ausweisung ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers (zu den Merkmalen eines Grundrechtseingriffs im Allgemeinen vgl. BVerfGE 105, 279 <299 f.>). Der Eingriff liegt im Entzug des Aufenthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5, § 50 Abs. 1 AufenthG); auf weitere mit der Ausweisung verbundene Rechtsnachteile kommt es daneben - für die Frage des Vorliegens eines Grundrechtseingriffs - nicht an. Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund gesetzlicher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht markiert in diesem Zusammenhang allerdings - vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen - der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die verfassungsrechtliche Grenze für Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>; vgl. auch BVerfGE 75, 108 <154 f.>; 80, 137 <153>).

19

Die einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers sowie deren Abwägung gegeneinander ist den Verwaltungsgerichten übertragen. Das Bundesverfassungsgericht kann diese gerichtlichen Entscheidungen nicht in allen Einzelheiten, sondern nur auf die Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe überprüfen (vgl. BVerfGE 27, 211 <219>; 76, 363 <389>). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich darauf, ob die Verwaltungsgerichte die für die Abwägung wesentlichen Umstände erkannt und ermittelt haben und ob die vorgenommene Gewichtung der Umstände den Vorgaben der Verfassung entspricht. Hierbei sind auch die Vorgaben der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu berücksichtigen (vgl. BVerfGK 11, 153 <159 ff.>). Danach besteht zwar für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGK 12, 37 <45>). Es ist im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr ist der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und - gegebenenfalls - Therapie. Auch bei Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz darf ein allgemeines Erfahrungswissen nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet (vgl. BVerfGK 12, 37 <41 f.>).

20

Diesen Maßstäben werden die gerichtlichen Entscheidungen ungeachtet des Umstands, dass im vorliegenden Fall starke Indizien für das Vorliegen hinreichender Gründe für eine Ausweisung und Abschiebung vorliegen dürften, nicht gerecht.

21

Zum einen hat der Verwaltungsgerichtshof im Verfahren über den Abänderungsantrag die Wiederholungsgefahr ausschließlich mit allgemeinen Erwägungen zur hohen Rückfallwahrscheinlichkeit bei Betäubungsmittelabhängigen begründet und die durchgeführte Drogentherapie sowie die Strafaussetzung zur Bewährung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG für nicht entscheidend gehalten. Zwar trifft es im Ausgangspunkt zu, dass Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte für die Frage der Wiederholungsgefahr nicht an die Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammern gebunden sind. Solchen Entscheidungen kommt jedoch eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Jedenfalls soweit die Prognose der Wiederholungsgefahr Bedeutung im Rahmen einer grundrechtlich erforderlichen Abwägung hat, bedarf es einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 -, juris, Rn. 36 m.w.N.). Auch die eher negative Bewertung der Therapiebescheinigung vom 7. April 2016 beruht auf der pauschalen Annahme, eine derartige Bescheinigung gewinne angesichts der statistisch erwiesenen hohen Rückfallquote erst "längere Zeit nach Straf- bzw. Therapieende" Bedeutung.

22

Nicht ausreichend ist es zum anderen, eine positive Entwicklung des Verurteilten ohne aussagekräftige Indizien darauf zurückzuführen, der Ausländer habe sich erst unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens zur Therapie - beziehungsweise allgemeiner zu einem rechtstreuen Verhalten - entschlossen. Denn mit einem solchen Verhalten während und nach der Inhaftierung sowie in laufender Bewährungszeit wird der Ausländer dem vom deutschen Strafvollzug bezweckten Resozialisierungsziel gerecht. Es ist mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren, wenn ein solches im Strafvollzug erwartetes und während laufender Bewährung gefordertes Verhalten ausländerrechtlich gegen den Betroffenen gewertet wird. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn offensichtlich ist, dass die Bemühungen des Ausländers ausschließlich dem Ausweisungsverfahren geschuldet sind. Dies ist vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer hatte sich vielmehr seit geraumer Zeit um eine Drogentherapie bemüht und hat diese nunmehr wie geplant abgeschlossen.

23

Schließlich fehlt es im angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs sowohl an einer individualisierten Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die nicht drogenbezogene Kriminalität des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Entscheidung acht Jahre zurückliegt, als auch an einer ernsthaften Berücksichtigung des Umstands, dass der 27-jährige Beschwerdeführer seit 24 Jahren in Deutschland lebt und - auch im Hinblick auf das Erreichen des Hauptschulabschlusses - möglicherweise als faktischer Inländer betrachtet werden muss, so dass der Vollzug der Ausweisung einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellen dürfte (vgl. im Übrigen zur möglichen Unverhältnismäßigkeit einer Ausweisung auch beim Handeltreiben mit nicht geringen Mengen an Marihuana BVerfGK 12, 37 <42>).

24

Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird, etwa wenn Ausländerbehörde oder Gericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben haben, welches eine Abweichung zulässt, oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen. Für eine derartige breitere Tatsachengrundlage ist vorliegend nichts ersichtlich. Ein Sachverständigengutachten haben Ausländerbehörde und Gerichte nicht eingeholt. Für die Annahme fortbestehender konkreter Gefahren für höchste Rechtsgüter hätte es konkreter Feststellungen zu den vom Beschwerdeführer drohenden Straftaten bedurft. Die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 21. März 2016 gesehene Gefahr, dass zu befürchten sei, dass der Beschwerdeführer wieder Cannabis konsumieren werde und zur Finanzierung seiner Sucht weitere Straftaten begehen werde, entbehrt nach den eigenen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs einer Grundlage im Verhalten des Beschwerdeführers.

25

Haben damit die Gerichte schon das Ausweisungsinteresse fehlerhaft bewertet, so ist die weitere Begründung, angesichts dieses Interesses müsse das Bleibeinteresse des Beschwerdeführers zurückstehen, verfassungsrechtlich nicht haltbar. Die tatsächlichen Feststellungen der Gerichte genügen insoweit den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, da sie eine Rückkehr des Beschwerdeführers schlicht für zumutbar halten, ohne Feststellungen zur Integrationsfähigkeit des Beschwerdeführers in der Türkei zu treffen, die er im Alter von drei Jahren verlassen hat.

26

3. Liegt mithin eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG vor, so bedarf es keiner Entscheidung, ob auch Art. 19 Abs. 4 GG verletzt worden ist.

V.

27

Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Die Kammer geht davon aus, dass vor der erneuten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs keine Abschiebung stattfinden wird.


VI.

28

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

IV. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2016 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahre befristet und seine Abschiebung aus der Haft in den Irak für den Fall des rechtskräftigen Widerrufs des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellten Abschiebungsverbots angedroht wurde. Weiter begehrt er die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für dieses Zulassungsverfahren.

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Sie sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG zulässig, weil das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich sei. Der Kläger habe schwere Straftaten begangen und es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Der arbeitslose Kläger konsumiere seit seinem frühen Jugendalter Rauschgift, seine Drogenabhängigkeit habe sich mit der Zeit zunehmend verfestigt. Er sei seit 2005 sechsmal u.a. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt worden, zuletzt wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei und über die Hälfte seiner Lebenszeit im Bundesgebiet verbracht habe. Aufgrund seiner wiederholten Straffälligkeit, der fehlenden wirtschaftlichen Integration und der weiterhin bestehenden Bindungen zu seinem Heimatland könne dem Kläger der Status eines faktischen Inländers nicht zugebilligt werden. Die Ausweisung sei aber auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK angemessen.

Die vom Kläger in der Zulassungsbegründung dagegen vorgebrachten Einwendungen begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils.

Soweit der Kläger geltend macht, entgegen der Darstellung im Urteil des Verwaltungsgerichts durchaus therapiewillig zu sein, inzwischen eine Zusage für eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme bei einer Drogenberatung erhalten zu haben und zum Beleg hierfür entsprechende, auch aktuelle Stellungnahmen bzw. Bestätigungen vorlegt, sind diese Rügen nicht geeignet, die Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts und damit des erstinstanzlichen Urteils ernstlich in Zweifel zu ziehen.

Denn in ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 - 1 C 13.12 - juris Rn. 12 mit Nachweisen der Rspr. des EuGH und des EGMR). Nach diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass das persönliche Verhalten des Klägers eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Insbesondere hat es die Gefahr der Wiederholung weiterer schwerwiegender Straftaten des Klägers im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zu Recht bejaht. Das Verwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. BayVGH B.v. 2.1.2019 - 10 ZB 18.1638 - juris Rn. 6; B.v. 14.6.2018 - 10 ZB 18.794 - juris Rn. 6; B.v. 20.3.2018 - 10 ZB 17.2512 - Rn. 5; B.v. 20.10.2017 - 10 ZB 17.993 - juris Rn. 6) zutreffend davon ausgegangen, dass von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange der Kläger nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Hiervon kann beim Kläger trotz Therapiemotivation und (nunmehriger) Zusage für eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme nicht ausgegangen werden. Denn er hat weder eine Drogentherapie begonnen noch diese erfolgreich abgeschlossen noch konnte er sich bislang eine ausreichend lange Zeit außerhalb des Maßregelvollzugs bewähren.

Daneben hat das Verwaltungsgericht bei seiner Gefährdungsprognose auch darauf abgestellt, dass der Kläger schon seit langer Zeit seinen Lebensunterhalt nicht mehr durch eigene Erwerbstätigkeit sichergestellt hat, seit seinem Jugendalter wiederholt straffällig geworden ist, im Strafvollzug mehrfach disziplinarrechtlich geahndet worden ist und laut Führungsbericht eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht habe befürwortet werden können. Es hat den Kläger zu Recht als mehrfachen Bewährungsversager mit einer extrem hohen Rückfallgeschwindigkeit eingestuft. Vor diesem Hintergrund ist es unabhängig davon, weshalb beim Kläger eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG unterblieben ist, und auch unter Berücksichtigung dessen, dass er sich seit Ende März 2018 im offenen Vollzug befindet, dabei seine Arbeitsleistung nach eigenen Angaben beanstandungsfrei sei und die Möglichkeit der Beschäftigung in Gestalt eines Ausbildungsverhältnisses bestehe, hinsichtlich der längerfristig angelegten ausländerrechtlichen Gefahrenprognose (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10) und des Schutzes besonders wichtiger Rechtsgüter hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger erneut Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität begehen wird.

Weiter wendet der Kläger ein, dass das Verwaltungsgericht die noch bestehende Flüchtlingseigenschaft und seine familiären Bindungen im Bundesgebiet wesentlich „stärker“ hätte berücksichtigen müssen. Hieraus lassen sich ebenfalls keine ernstlichen Richtigkeitszweifel ableiten. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht wegen der noch nicht bestandskräftig widerrufenen Flüchtlingseigenschaft die Ausweisung am Maßstab des § 53 Abs. 3 AufenthG geprüft. Auch hat das Verwaltungsgericht die familiäre Situation richtig erfasst. Soweit der Kläger nunmehr vorträgt, keine familiären Bindungen im Irak zu haben, überzeugt dies schon angesichts der Angaben seiner Mutter in ihrem Asylverfahren, wonach noch „Mutter, Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten“ im Heimatland lebten (Bl. 29 der Behördenakte), nicht.

Schließlich hat das Verwaltungsgericht dem Kläger zu Recht nicht den Status eines „faktischen Inländers“ zugebilligt. Das Gericht hat dabei entgegen dem Vortrag in der Zulassungsbegründung nicht verkannt, dass der Kläger mehr als die Hälfte seiner Lebenszeit im Bundesgebiet verbracht und sich gute deutsche Sprachkenntnisse angeeignet hat. Allerdings handelt es sich bei dem im Alter von 14 Jahren eingereisten Kläger nicht um einen faktischen Inländer (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 - 19 CE 17.2454 - juris Rn. 24 zu einem im Alter von fast 13 Jahren eingereisten Ausländer mit über fünfjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet), zumal ihm die Integration weder in wirtschaftlicher Hinsicht gelungen, noch er sozial-familiär in die hiesige Gesellschaft eingebunden ist. Auch wurden die Beziehungen zur Heimat und seine Sprachkenntnisse ausreichend berücksichtigt. Das Verwaltungsgericht hat insbesondere nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, weshalb keine völlige Entwurzelung anzunehmen ist und der Kläger entgegen seiner Einlassung über ausreichende turkmenische Sprachkenntnisse verfügt, um sich in seiner Heimat sprachlich zurechtzufinden, auch wenn er diese teilweise erst wieder auffrischen muss. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht selbst bei Annahme der Stellung eines faktischen Inländers die Ausweisung angesichts der abgeurteilten Straftaten und der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten als angemessen erachtet (s. UA S. 18 2. Absatz). Zu dieser selbständig tragenden Begründung verhält sich das Zulassungsvorbringen indes nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.

2. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren, der gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO nicht dem Vertretungszwang unterliegt, ist abzulehnen, weil der Zulassungsantrag aus den oben dargestellten Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Tenor

Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. September 2016 - 19 CS 16.1194 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 € (in Worten: fünftausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

1. Der am 1. Januar 1989 geborene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebte zunächst in der Türkei. Im Alter von drei Jahren zog er zu seinem Vater und dessen neuer Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland. Nach der Scheidung von Vater und Stiefmutter lebte er mit der Stiefmutter und deren zwei Kindern in Nürnberg. Er besuchte eine Förderschule bis zur neunten Klasse und verließ diese 2004 ohne Schulabschluss. Am 18. Januar 2005 erteilte ihm die Ausländerbehörde eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG. In der Folge nahm er ohne Erfolg an mehreren Bildungs- und Berufsvorbereitungsmaßnahmen teil. Im Jahr 2008 erlangte er den Hauptschulabschluss.

2

2. Er wurde mehrfach strafgerichtlich verurteilt: Am 9. März 2006 wurde er vom Amtsgericht wegen Diebstahls in zwei Fällen zu Freizeitarrest verurteilt. Am 11. August 2006 verurteilte ihn das Amtsgericht zu einem Kurzarrest von zwei Tagen und einer Geldauflage, weil er gemeinsam mit einem Freund die Verpackungen von X-Box-Spielen im Wert von 200 Euro aufgebrochen und diese an sich genommen hatte. Am 18. Juni 2007 wurde er vom Amtsgericht wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung, gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall und Beleidigung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Er befand sich vom 28. Februar 2007 bis zum Tag der Verurteilung in Untersuchungshaft; die ihm auferlegten 250 Arbeitsstunden leistete er ab. Am 2. Oktober 2008 verurteilte ihn das Amtsgericht unter Einbeziehung der Verurteilung vom 18. Juni 2007 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, nachdem er erneut X-Box-Spiele entwendet hatte. Er verbüßte im Anschluss einen Teil der Strafe. Mit Urteil vom 25. Juli 2011 wurde er vom Amtsgericht wegen des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt.

3

Am 7. Mai 2012 verurteilte ihn das Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 3 Monaten wegen Handeltreibens mit Marihuana in 74 Fällen. Er hatte im Zeitraum von Juli bis Oktober 2011 in seiner Wohnung Marihuana angebaut, dieses in kleinen Mengen an einen Bekannten verkauft und im Übrigen bei sich eingelagert. Die mit Beschluss des Amtsgerichts vom 14. Februar 2013 gewährte Haftentlassung auf Bewährung wurde widerrufen, nachdem er erneut Marihuana konsumiert und nicht ausreichend Kontakt zu seinem Bewährungshelfer gehalten hatte. Er verbüßte seine Haftstrafe ab dem 22. April 2014.

4

3. Die Ausländerbehörde leitete am 8. Januar 2014 ein Ausweisungsverfahren ein. Sein Verfahrensbevollmächtigter teilte unter anderem mit, der Beschwerdeführer beabsichtige, eine Suchtmitteltherapie anzutreten. Mit Bescheid vom 6. Mai 2015 wies die Ausländerbehörde den Beschwerdeführer aus der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete die sofortige Vollziehung an, forderte ihn zur Ausreise bis zum 1. Juni 2015 auf und drohte die Abschiebung an. Er erfülle die zwingenden Ausweisungstatbestände des § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG. Allerdings sei er Assoziationsberechtigter, weshalb eine Ausweisung nur als Ermessensausweisung möglich sei; das Ausweisungsinteresse überwiege sein Bleibeinteresse. Er sei wiederholt und schwer, unter anderem wegen Drogendelikten, straffällig geworden. Auch mehrfache Verurteilungen und Inhaftierungen hätten ihn nicht zu einem straffreien Leben anhalten können. Die Strafaussetzung zur Bewährung sei widerrufen worden. Es bestehe Wiederholungsgefahr. Demgegenüber könne er sich zwar auf den Assoziationsstatus berufen und sei im Wesentlichen in Deutschland aufgewachsen. Er habe sich hier jedoch nie wirtschaftlich integriert, und die von ihm ausgehenden Gefahren für höchste Rechtsgüter rechtfertigten die Schwierigkeiten, die er bei einer Rückkehr in die Türkei hinzunehmen habe. Die sofortige Vollziehung werde angeordnet, da er aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werde und ein langwieriges Gerichtsverfahren nicht abzuwarten sei.

5

4. Der Beschwerdeführer erhob Klage gegen diesen Bescheid und beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Zur Begründung führte er insbesondere aus, dass kein besonderes Vollzugsinteresse gegeben sei. Die Ausländerbehörde habe bei zahlreichen anderen spezialpräventiven Ausweisungen von der Anordnung des Sofortvollzugs abgesehen. Das Verwaltungsverfahren habe über ein Jahr gedauert, so dass eine besondere Eilbedürftigkeit nicht erkennbar sei. Die Begründung der sofortigen Vollziehung bestehe aus bloßen Worthülsen. Im Übrigen, so machte er mit der Klagebegründung von demselben Tag geltend, sei der Bescheid jedenfalls rechtswidrig.

6

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 18. August 2015 ab. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei nicht zu beanstanden, da die Ausländerbehörde auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten abgestellt habe. Die Verfügung erweise sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig. Die Ausländerbehörde habe zutreffend festgestellt, dass der Beschwerdeführer schon seit seinem Jugendalter in sich steigerndem Maße straffällig geworden sei. Auch während laufender Bewährung habe er mehrfach weitere Straftaten begangen und gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Die begonnene Drogentherapie habe er noch nicht erfolgreich abgeschlossen; im Übrigen bleibe die statistische Rückfallgefahr auch nach einer solchen hoch. Bei bedrohten Rechtsgütern von hervorgehobener Bedeutung gälten für die Feststellung einer Wiederholungsgefahr geringere Anforderungen. Es sei jedenfalls im Falle wiederholter Straffälligkeit nicht erforderlich gewesen, zur Frage der Wiederholungsgefahr ein Prognosegutachten einzuholen. Es sei dem Beschwerdeführer zumutbar, in die Türkei zurückzukehren, auch wenn er diese als Kleinkind verlassen habe. Auf Art. 6 GG könne er sich nicht berufen, da er erwachsen, unverheiratet und kinderlos sei. Ob die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre rechtmäßig sei, spiele im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO keine Rolle.

7

5. Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass der Sofortvollzug der Ausweisung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur bei einem das Ausweisungsinteresse übersteigenden Vollzugsinteresse angeordnet werden könne. Hierfür sei eine besondere Prognoseentscheidung zu treffen, die in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts fehle. Dabei sei zu berücksichtigen gewesen, dass er die letzte abgeurteilte Straftat 2011 begangen habe und die letzte Verurteilung 2012 erfolgt sei. Die Grundinteressen der Gemeinschaft seien nicht bedroht. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Handel mit Betäubungsmitteln erneut drohe, bestünden nicht. Der Erfolg der Klage sei offen, da es für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ankomme, im Eilverfahren deshalb eine Prognose über die Sachlage im Zeitpunkt dieser Verhandlung hätte getroffen werden müssen. Das Verwaltungsgericht habe außerdem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu der Bedeutung seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland nicht hinreichend berücksichtigt.

8

Der Verwaltungsgerichtshof wies die Beschwerde zurück. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts sei sowohl bei ihrem Erlass - gestützt auf § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG a. F. - als auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach den §§ 53 ff. AufenthG n. F. rechtmäßig gewesen. Der Beschwerdeführer habe nach altem Recht zwingende Ausweisungstatbestände verwirklicht, doch habe der assoziationsrechtliche Ausweisungsschutz zu einer Herabstufung als Ermessensausweisung geführt. Der Vortrag, es bestehe keine Wiederholungsgefahr, sei angesichts seiner regelmäßig und sich steigernden Straffälligkeit nicht ausreichend. Die keineswegs jugendtypische Delinquenz belege vielmehr die Wiederholungsgefahr. Da er vielfach auch Eigentumsdelikte, teilweise unter Gewaltanwendung, begangen habe, bestehe weiterhin die Gefahr, dass er in Anbetracht seiner Drogenabhängigkeit solche Taten wiederholen werde. Im Übrigen könne bei einem Drogenabhängigen vom Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht gesprochen werden, solange nicht eine Therapie abgeschlossen worden sei, deren Erfolg durch eine längere Zeit straffreien Verhaltens bestätigt sei. Die Ausweisungsverfügung sei auch bei Zugrundelegung des neuen Rechts rechtmäßig, da dieses die Rechtslage nach der früheren Rechtsprechung im Wesentlichen kodifiziert habe. Auch bei Zugrundelegung seines besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bleibe es aus den zuvor dargestellten Gründen bei einem Überwiegen des Ausweisungsinteresses. Die Anordnung des Sofortvollzugs sei angesichts der zu bekämpfenden akuten Gefahren erforderlich. Die bei Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile überwögen schließlich das Bleibeinteresse des Antragstellers bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens.

9

6. Unter dem 14. April 2016 beantragte der Beschwerdeführer bei dem Verwaltungsgericht die Abänderung des Beschlusses gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO. Er habe sich vom 17. Dezember 2015 bis zum 7. April 2016 zur stationären Behandlung seiner Abhängigkeitserkrankung in einem Therapiezentrum befunden und sei regulär entlassen worden. Die Prognose sei nach Angaben der behandelnden Therapeutin aufgrund seiner deutlichen Entscheidung für Abstinenz, seiner hohen Selbstreflexionsfähigkeit sowie der guten kognitiven Fähigkeiten günstig. Laut der vorgelegten Bescheinigung hatte der Beschwerdeführer in der Therapieeinrichtung zunächst Schwierigkeiten mit der Eingewöhnung. Er habe jedoch in der Folge einen guten Kontakt zu den Therapeuten aufgebaut, sich engagiert und habe auch schwierige Situationen, insbesondere Rückfälle anderer Patienten, gut gemeistert.

10

Die Ausländerbehörde trat dem Antrag entgegen und meinte insbesondere, veränderte relevante Umstände lägen nicht vor. Auch die Vertreterin des öffentlichen Interesses beantragte, den Antrag abzulehnen. Demgegenüber wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Mai 2016 die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt habe. Von der in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommenden Einschätzung könne nur aufgrund eines negativen kriminalprognostischen Gutachtens abgewichen werden.

11

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 25. Mai 2016 ab. Die abgeschlossene Drogentherapie führe nicht zum Wegfall einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Eine etwaige Verhaltensänderung müsse sich erst im Anschluss an den Therapieabschluss beweisen. Statistisch sei von einer erheblichen Rückfallquote auszugehen. Auch die Strafaussetzungsentscheidung binde im ausländerrechtlichen Verfahren nicht, da bei ersterer die Resozialisierung des Täters im Vordergrund stünde.

12

7. Der Beschwerdeführer legte hiergegen unter dem 11. Juni 2016 Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof ein. Insbesondere habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht ein besonderes Vollzugsinteresse bejaht, da jedenfalls eine akute Wiederholungsgefahr nicht mehr bestehe.

13

Mit Beschluss vom 9. September 2016 wies der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde zurück. Angesichts der tiefgreifenden und länger andauernden Suchtproblematik stelle die Therapie allenfalls einen Teilerfolg dar, der die Wiederholungsgefahr nicht entfallen lasse. Der Beschwerdeführer verfüge auch unabhängig von seiner Drogensucht über ein hohes Maß an krimineller Energie. Die Strafaussetzungsentscheidung nach § 36 BtMG, die wie eine Aussetzungsentscheidung nach § 57 StGB geringeres ausweisungsrechtliches Gewicht als eine Entscheidung nach § 56 StGB habe, stelle auf einen engeren strafvollzugsrechtlichen Prognosehorizont als die ausländerrechtliche Entscheidung ab. Der Sofortvollzug sei auch angesichts des schon einmal erfolgten Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung notwendig.

II.

14

Der Beschwerdeführer hat am 18. September 2016 Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs verletze ihn in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG, welches in Ausweisungssituationen angesichts der gravierenden Folgen für den Ausländer besonderen Schutz vermittle. Dabei sei das von Art. 8 EMRK gewährleistete Grundrecht auf Privatleben zu beachten. Die angegriffenen Entscheidungen hätten rechtsfehlerhaft eine Wiederholungsgefahr bejaht, da nach der erfolgten Strafaussetzung zumindest ein Gutachten hätte eingeholt werden müssen. Eine regelmäßige und sich steigernde Intensität von Straftaten des Beschwerdeführers liege nicht vor, der Bewährungswiderruf sei nur wegen des Verstoßes gegen Bewährungsauflagen und nicht wegen der Begehung von Straftaten erfolgt. Angesichts der vorgelegten Therapiebescheinigung sei die Prognose positiv gewesen; hierüber hätten sich die Gerichte nicht einfach hinwegsetzen dürfen. Schließlich sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt, da das Nachtatverhalten des Beschwerdeführers nicht ausreichend gewürdigt worden sei. In sich widersprüchlich sei dabei die Begründung, dass der Strafaussetzungsentscheidung ein kürzerer Prognosemaßstab als der ausländerrechtlichen Entscheidung zugrunde liege, da die Bewährungszeit wie die Befristung der Wirkung der Ausweisung auf fünf Jahre festgesetzt worden sei. Schließlich verstoße es gegen Art. 19 Abs. 4 GG, wenn die Gerichte Erlassinteresse und den Sofortvollzug nahezu wortgleich begründet hätten. Denn der Gesetzgeber habe gerade für Ausweisungen keinen Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Gesetzes wegen angeordnet, so dass das Regel-Ausnahmeverhältnis verkannt worden sei. Das besondere, über das Erlassinteresse hinausgehende Vollzugsinteresse hätte die Ausländerbehörde darlegen und nicht etwa der Beschwerdeführer widerlegen müssen.

III.

15

Die Akten des Ausgangsverfahrens, die Ausländerakte und die Akten des Strafverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Der Freistaat Bayern hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

IV.

16

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwer-de ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige (1.) Verfassungsbeschwerde ist in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet (2.).

17

1. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde gegen die Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist tauglicher Beschwerdegegenstand. Der Beschwerdeführer war insoweit, nachdem im Hinblick auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 21. März 2016 innerhalb der Verfassungsbeschwerdefrist geänderte Umstände aufgetreten waren, die den Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eröffneten, aufgrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gehalten, erst diesen Rechtsbehelf zu nutzen, bevor er Verfassungsbeschwerde einlegen konnte. Nachdem dieser Antrag von den Gerichten abgelehnt wurde, hat er innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG Verfassungsbeschwerde eingelegt.

18

2. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Beschränkung des Freizügigkeitsgrundrechts nach Art. 11 GG auf Deutsche schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. BVerfGE 35, 382 <399>). Die Ausweisung ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers (zu den Merkmalen eines Grundrechtseingriffs im Allgemeinen vgl. BVerfGE 105, 279 <299 f.>). Der Eingriff liegt im Entzug des Aufenthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5, § 50 Abs. 1 AufenthG); auf weitere mit der Ausweisung verbundene Rechtsnachteile kommt es daneben - für die Frage des Vorliegens eines Grundrechtseingriffs - nicht an. Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund gesetzlicher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht markiert in diesem Zusammenhang allerdings - vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen - der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die verfassungsrechtliche Grenze für Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>; vgl. auch BVerfGE 75, 108 <154 f.>; 80, 137 <153>).

19

Die einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers sowie deren Abwägung gegeneinander ist den Verwaltungsgerichten übertragen. Das Bundesverfassungsgericht kann diese gerichtlichen Entscheidungen nicht in allen Einzelheiten, sondern nur auf die Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe überprüfen (vgl. BVerfGE 27, 211 <219>; 76, 363 <389>). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich darauf, ob die Verwaltungsgerichte die für die Abwägung wesentlichen Umstände erkannt und ermittelt haben und ob die vorgenommene Gewichtung der Umstände den Vorgaben der Verfassung entspricht. Hierbei sind auch die Vorgaben der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu berücksichtigen (vgl. BVerfGK 11, 153 <159 ff.>). Danach besteht zwar für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGK 12, 37 <45>). Es ist im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr ist der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und - gegebenenfalls - Therapie. Auch bei Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz darf ein allgemeines Erfahrungswissen nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet (vgl. BVerfGK 12, 37 <41 f.>).

20

Diesen Maßstäben werden die gerichtlichen Entscheidungen ungeachtet des Umstands, dass im vorliegenden Fall starke Indizien für das Vorliegen hinreichender Gründe für eine Ausweisung und Abschiebung vorliegen dürften, nicht gerecht.

21

Zum einen hat der Verwaltungsgerichtshof im Verfahren über den Abänderungsantrag die Wiederholungsgefahr ausschließlich mit allgemeinen Erwägungen zur hohen Rückfallwahrscheinlichkeit bei Betäubungsmittelabhängigen begründet und die durchgeführte Drogentherapie sowie die Strafaussetzung zur Bewährung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG für nicht entscheidend gehalten. Zwar trifft es im Ausgangspunkt zu, dass Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte für die Frage der Wiederholungsgefahr nicht an die Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammern gebunden sind. Solchen Entscheidungen kommt jedoch eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Jedenfalls soweit die Prognose der Wiederholungsgefahr Bedeutung im Rahmen einer grundrechtlich erforderlichen Abwägung hat, bedarf es einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 -, juris, Rn. 36 m.w.N.). Auch die eher negative Bewertung der Therapiebescheinigung vom 7. April 2016 beruht auf der pauschalen Annahme, eine derartige Bescheinigung gewinne angesichts der statistisch erwiesenen hohen Rückfallquote erst "längere Zeit nach Straf- bzw. Therapieende" Bedeutung.

22

Nicht ausreichend ist es zum anderen, eine positive Entwicklung des Verurteilten ohne aussagekräftige Indizien darauf zurückzuführen, der Ausländer habe sich erst unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens zur Therapie - beziehungsweise allgemeiner zu einem rechtstreuen Verhalten - entschlossen. Denn mit einem solchen Verhalten während und nach der Inhaftierung sowie in laufender Bewährungszeit wird der Ausländer dem vom deutschen Strafvollzug bezweckten Resozialisierungsziel gerecht. Es ist mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren, wenn ein solches im Strafvollzug erwartetes und während laufender Bewährung gefordertes Verhalten ausländerrechtlich gegen den Betroffenen gewertet wird. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn offensichtlich ist, dass die Bemühungen des Ausländers ausschließlich dem Ausweisungsverfahren geschuldet sind. Dies ist vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer hatte sich vielmehr seit geraumer Zeit um eine Drogentherapie bemüht und hat diese nunmehr wie geplant abgeschlossen.

23

Schließlich fehlt es im angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs sowohl an einer individualisierten Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die nicht drogenbezogene Kriminalität des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Entscheidung acht Jahre zurückliegt, als auch an einer ernsthaften Berücksichtigung des Umstands, dass der 27-jährige Beschwerdeführer seit 24 Jahren in Deutschland lebt und - auch im Hinblick auf das Erreichen des Hauptschulabschlusses - möglicherweise als faktischer Inländer betrachtet werden muss, so dass der Vollzug der Ausweisung einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellen dürfte (vgl. im Übrigen zur möglichen Unverhältnismäßigkeit einer Ausweisung auch beim Handeltreiben mit nicht geringen Mengen an Marihuana BVerfGK 12, 37 <42>).

24

Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird, etwa wenn Ausländerbehörde oder Gericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben haben, welches eine Abweichung zulässt, oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen. Für eine derartige breitere Tatsachengrundlage ist vorliegend nichts ersichtlich. Ein Sachverständigengutachten haben Ausländerbehörde und Gerichte nicht eingeholt. Für die Annahme fortbestehender konkreter Gefahren für höchste Rechtsgüter hätte es konkreter Feststellungen zu den vom Beschwerdeführer drohenden Straftaten bedurft. Die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 21. März 2016 gesehene Gefahr, dass zu befürchten sei, dass der Beschwerdeführer wieder Cannabis konsumieren werde und zur Finanzierung seiner Sucht weitere Straftaten begehen werde, entbehrt nach den eigenen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs einer Grundlage im Verhalten des Beschwerdeführers.

25

Haben damit die Gerichte schon das Ausweisungsinteresse fehlerhaft bewertet, so ist die weitere Begründung, angesichts dieses Interesses müsse das Bleibeinteresse des Beschwerdeführers zurückstehen, verfassungsrechtlich nicht haltbar. Die tatsächlichen Feststellungen der Gerichte genügen insoweit den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, da sie eine Rückkehr des Beschwerdeführers schlicht für zumutbar halten, ohne Feststellungen zur Integrationsfähigkeit des Beschwerdeführers in der Türkei zu treffen, die er im Alter von drei Jahren verlassen hat.

26

3. Liegt mithin eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG vor, so bedarf es keiner Entscheidung, ob auch Art. 19 Abs. 4 GG verletzt worden ist.

V.

27

Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Die Kammer geht davon aus, dass vor der erneuten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs keine Abschiebung stattfinden wird.


VI.

28

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

(2) Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

(3) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, darf nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

(3a) Ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, darf nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.

(4) Ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, kann nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes) abgeschlossen wird. Von der Bedingung wird abgesehen, wenn

1.
ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt oder
2.
eine nach den Vorschriften des Asylgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

IV. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 17. Oktober 2017 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahre befristet und seine Abschiebung aus der Haft in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht wurde. Weiter begehrt er die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für dieses Zulassungsverfahren.

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, noch hat der Kläger die weiter angeführten Zulassungsgründe der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) in einer den Anforderungen gemäß § 124 Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO genügenden Weise dargelegt.

1.1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Sie sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG zulässig, weil das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich sei. Der Kläger habe schwere Straftaten begangen und es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers als „faktischer Inländer“ und Besitzer einer Niederlassungserlaubnis und stelle sich auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK als verhältnismäßig dar.

Die vom Kläger in der Zulassungsbegründung dagegen vorgebrachten Einwendungen begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils.

Soweit der Kläger geltend macht, das Verwaltungsgericht habe seine assoziationsrechtliche Stellung nach Art. 7 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 verkannt bzw. nicht hinreichend berücksichtigt, greift dieser den Prüfungsmaßstab der Ausweisungsverfügung betreffende Einwand nicht durch. Denn das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Ausweisungsverfügung unter Zugrundelegung eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 zu Recht am Maßstab des § 53 Abs. 3 AufenthG gemessen, der exakt die Voraussetzungen wiedergibt, die nach ständiger Rechtsprechung für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gemäß Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein müssen (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 28.3.2017 - 10 BV 16.1601 - juris Rn. 31 m.w.N.).

Weiter wendet der Kläger ein, zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts sei bei ihm die Prognose einer hinreichenden Wiederholungsgefahr nicht mehr gerechtfertigt. Er habe die Anlassstraftaten als Jugendlicher und Heranwachsender begangen, jedoch nunmehr auch unter dem Eindruck der Haft Einsicht gezeigt und einen entscheidenden Lebenswandel vollzogen. Er habe in der Justizvollzugsanstalt regelmäßig Sport betrieben, an den Gruppen „Anonyme Alkoholiker“ und „Alkohol und Gewalt“ teilgenommen sowie eine Ausbildung zum Bäcker begonnen. Hätte das Verwaltungsgericht zu diesen positiven Veränderungen den Leiter der Justizvollzugsanstalt, Herrn O., als Zeugen vernommen und wäre es dem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nachgekommen, hätte sich auch für das Gericht ergeben, dass er gegenwärtig keine Gefahr mehr für die Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland darstelle und von ihm keine neuen Straftaten zu erwarten seien. Auch hätte das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung die Straftaten vom 17. Januar, 2. Juni und 21. August 2015 nicht mehr mit heranziehen dürfen, weil dem schon aufgrund des Zeitmoments der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehe; ein jahrelanges Zuwarten der Behörde sei durchaus geeignet, insoweit einen schützenswerten Vertrauenstatbestand zu schaffen. Das Verwaltungsgericht habe trotz Einstellung des Strafverfahrens wegen eines Vorkommnisses in der Strafhaft am 3. August 2017 unter Missachtung der Unschuldsvermutung diese Tat zur Stützung seiner Gefahrenprognose herangezogen.

Diese Rügen sind nicht geeignet, die Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts und damit des erstinstanzlichen Urteils ernstlich in Zweifel zu ziehen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18) und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 - 10 ZB 16.2199 - juris Rn. 6 f.; zuletzt B.v. 31.1.2019 - 10 ZB 18.1534 - Rn. 12) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise beim Kläger eine hinreichende Wiederholungsgefahr erneuter schwerer Straftaten insbesondere gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter angenommen. Es hat bei seiner Prognose zutreffend auf die vom Kläger begangenen zahlreichen Straftaten, die hohe Rückfallgeschwindigkeit, das bei den Taten gezeigte erhebliche Aggressionspotenzial und die offensichtlich fehlende Selbstkontrolle, die hohe Bedeutung des bedrohten Rechtsguts der körperlichen Integrität und das selbst in der Haft noch fortgesetzte aggressive und gewalttätige Verhalten abgestellt. Es hat den Kläger zu Recht als mehrfachen Bewährungsversager mit einer extrem hohen Rückfallgeschwindigkeit eingestuft.

Das Verwaltungsgericht hat auch die vom Kläger für einen „entscheidenden Lebenswandel“ angeführten positiven Ansätze während der Haft nicht verkannt, jedoch in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats mit Blick auf die langfristig angelegte Prognoseentscheidung (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10) aus dem gezeigten Wohlverhalten noch nicht auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung (BayVGH, B.v. 16.2.2018 - 10 ZB 17.2063 - juris Rn. 10) geschlossen.

Entgegen der Auffassung des Klägers durfte das Verwaltungsgericht in seine Prognose auch die (früheren) Straftaten vom 17. Januar, 2. Juni und 21. August 2015 mit einbeziehen. Es hat den vom Kläger insoweit beanspruchten Vertrauensschutz zu Recht verneint, weil ein zum „Verbrauch“ des Ausweisungsgrunds führender „Verzicht“ von der Ausländerbehörde weder ausdrücklich noch konkludent erklärt worden ist und im Übrigen selbst ein durch einen ausdrücklichen Verzicht vermittelter Vertrauensschutz unter dem Vorbehalt stünde, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern (vgl. BayVGH, B.v. 8.9.2016 - 10 C 16.1214 - juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 16.11.1999 - 1 C 11.99 - juris Rn. 20). Allein das Verstreichen einer ohnehin relativ kurzen Zeitspanne ohne sofortige Reaktion der Ausländerbehörde vermag einen solchen Vertrauensschutz nicht zu vermitteln.

Nicht durchgreifend ist auch der Einwand, das Verwaltungsgericht habe unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung die dem Kläger vorgeworfene Tat vom 3. August 2017 (Körperverletzung während der Haft zulasten eines Mitgefangenen) berücksichtigt, obwohl der Kläger dies bis zuletzt bestritten habe und das Strafverfahren eingestellt worden sei. Die Unschuldsvermutung schützt nämlich nur vor Nachteilen, die einem Schuldspruch gleichkommen, nicht jedoch vor Rechtsfolgen ohne Strafcharakter (vgl. BVerwG, B.v. 20.1.2017 - 2 B 75.16 - juris Rn. 8, 11 ff.). Daher können grundsätzlich auch die in einem (später) eingestellten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegenständlichen Sachverhalte im Rahmen der Gefahrenprognose vorgehalten werden (BayVGH, B.v. 30.7.2018 - 10 CE 18.769 u.a. - juris Rn. 26). Unabhängig davon betraf dieser Tatvorwurf nur einen von mehreren während der Haft disziplinarisch geahndeten Vorfällen, die das Verwaltungsgericht zur Begründung des fortgesetzten, wesensimmanenten aggressiven Verhaltens des Klägers herangezogenen hat.

Ebenso wenig gefolgt werden kann dem Einwand des Klägers, bei der erforderlichen Einholung eines Sachverständigengutachtens wäre das Gericht in seiner Prognose zu einem für ihn günstigeren Ergebnis gelangt. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie des Senats ist geklärt, dass sich das Gericht bei dieser Prognoseentscheidung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 12, 18 m.w.N.; BayVGH, B.v. 16.3.2016 - 10 ZB 15.2109 - juris Rn. 18 m.w.N.; B.v. 31.1.2019 - 10 ZB 18.1534 - Rn. 15). Ein derartiger Sonderfall liegt hier nicht vor.

Die Einvernahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt als Zeugen zu den vom Kläger geltend gemachten positiven Veränderungen während der Haft war unabhängig davon, dass der Kläger sie in der mündlichen Verhandlung nicht förmlich beantragt hat (§ 86 Abs. 2 VwGO), schon deshalb nicht erforderlich, weil sich das Verwaltungsgericht bei der Bewertung der nachträglichen Entwicklung auf mehrere ausführliche schriftliche Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt stützen konnte.

Auch die auf die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 bis 3, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung bezogenen Rügen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Kläger wendet ein, das Verwaltungsgericht habe bei der Abwägung seine Verwurzelung in der Bundesrepublik Deutschland und vollständige Entwurzelung in der Türkei nicht hinreichend berücksichtigt sowie die Vorgaben des Art. 8 EMRK nicht ausreichend beachtet. Bei ihm handle es sich um einen faktischen Inländer ohne Bezug zur Türkei, der über keine ausreichenden Türkischkenntnisse verfüge und ohne soziale Unterstützung bei der derzeitigen wirtschaftlichen Krise in der Türkei nicht Fuß fassen könne. Dagegen besitze er einen mittleren Schulabschluss und berufliche sowie wirtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet, wo auch seine Eltern und seine Schwester lebten.

Das Verwaltungsgericht hat jedoch alle in die vorzunehmende Gesamtabwägung einzustellenden Umstände berücksichtigt und entgegen der Meinung des Klägers auch nicht fehlgewichtet. Es hat zum einen die engen und damit besonders schwerwiegenden Bindungen des seit seiner Geburt hier lebenden Klägers in Deutschland als „faktischer Inländer“ gesehen. Zum anderen hat es hinreichend berücksichtigt, dass der Kläger in der Türkei lediglich einige kürzere (Urlaubs-)Aufenthalte verbracht und dort über seine Großeltern - ohne derzeitigen Kontakt - (allenfalls) familiäre Anknüpfungspunkte hat. Es hat insbesondere nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass der Kläger entgegen seiner Einlassung über ausreichende türkische Sprachkenntnisse verfügt, um sich in der Türkei sprachlich zurechtzufinden, auch wenn er diese teilweise erst wieder auffrischen muss. Weiter hat das Verwaltungsgericht nicht verkannt, dass die Aufenthaltsbeendigung für den Kläger eine besonders einschneidende Veränderung seiner Lebenssituation darstellt. Es ist jedoch bei der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Abwägung aller Umstände des Einzelfalls in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens beim Kläger als im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt und verhältnismäßig anzusehen sei, weil die von ihm nach wie vor ausgehende Gefahr für bedeutende Schutzgüter (insbesondere die körperliche Unversehrtheit), die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Interessen eine Ausweisung unerlässlich mache.

1.2. Zur Darlegung der besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sind die entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts konkret zu benennen, die diese Schwierigkeiten aufwerfen, und es ist anzugeben, dass und aus welchen Gründen die Beantwortung dieser Fragen besondere Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine Begründung dafür zu geben, weshalb die Rechtssache an den entscheidenden Richter (wesentlich) höhere Anforderungen stellt als im Normalfall (Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1.10.2018, § 124a Rn. 75 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht. Der Kläger legt nicht dar, inwiefern insbesondere die Gefahrenprognose und die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung in seinem Fall wesentlich höhere Anforderungen an den Tatrichter als in sonstigen Ausweisungsfällen „faktischer Inländer“ stellen sollen.

1.3. Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 14.12.2018 - 21 ZB 16.1678 - juris Rn. 29; B.v. 24.1.2019 - 10 ZB 17.1343 - juris Rn. 11; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72). Dazu verhält sich das Zulassungsvorbringen jedoch in keiner Weise.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.

2. Der Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren ist abzulehnen, weil der Zulassungsantrag aus den oben dargestellten Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

IV. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 17. Juli 2015 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht sowie die Wirkungen der Ausweisung auf zehn Jahre befristet wurden. Anlass für die Ausweisung war die Verurteilung des Klägers zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes an seiner geschiedenen Ehefrau. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. November 2015 abgewiesen.

Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; 1.) noch wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO; 2.) oder wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; 3.) zuzulassen.

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

a) Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung (a.F.) für rechtmäßig erachtet.

Rechtsgrundlage für die Ausweisung sei § 53 Nr. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (a.F.). Da der Kläger den Status nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben habe, könne er gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, wobei eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen könne, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Dabei sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren, der eine Einzelfallwürdigung insbesondere auch der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechtspositionen verlange. Der Kläger genieße auch den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (a.F.).

Die Beklagte sei daher zutreffend von einer Ermessensentscheidung ausgegangen. Diese sei nicht zu beanstanden. Die Straftat, wegen der der Kläger verurteilt worden sei – Mord –, stelle eine besonders schwerwiegende, das Grundinteresse der Gesellschaft berührende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Auch habe die Beklagte zutreffend bejaht, dass die ernsthafte Gefahr einer vergleichbaren Straftat durch den Kläger nach der Haftentlassung bestehe. Bereits im Januar 2010 habe der Kläger eine schwere Gewalttat gegen seine Ehefrau und seine damals 16jährige Tochter verübt und sei deswegen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Zudem sei der Kläger vorher bereits dreimal wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden. Schließlich habe er am 12. Februar 2011 seine geschiedene Ehefrau auf brutale Weise ermordet. Das Verhalten des Klägers zeige, dass er in der Lage sei, gegenüber ihm nahestehenden Personen über Jahre hinweg seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen; es zeige eine ausgesprochene Verachtung gegenüber der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der mit ihm in Familiengemeinschaft lebenden, aber auch fremden Menschen. Der psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren habe ausgeführt, dass beim Kläger eine Persönlichkeitsakzentuierung mit überwiegend selbstunsicheren, dependenten, narzisstischen und von emotionaler Instabilität geprägten Charakterzügen vorliege; hinzu kämen Selbstunsicherheit, Eifersucht, Anspruchsdenken, reizbares, aggressives und streitsüchtiges Verhalten. Dass der Kläger in der Haft an einem „Projekt für Langstrafige zu Beginn der Haftzeit“ teilgenommen habe, könne die Wiederholungsgefahr nicht beseitigen.

Die Ausweisung sei auch mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar. Die Beklagte habe zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger durch seine Gewalttat seinen Kindern die Mutter genommen habe und diese die gewaltsamen Vorkommnisse in der Ehe und der Zeit danach bewusst miterlebt hätten. Zu seiner Tochter habe der Kläger schon immer ein sehr angespanntes Verhältnis gehabt, er habe sie auch geschlagen; sie sei volljährig und auf seinen Beistand nicht mehr angewiesen. Die Beziehung zu seinem 14jährigen Sohn sei intakt und schutzwürdig, allerdings beschränkten sich die Kontakte auf telefonische und briefliche Kontakte sowie Besuche in der Vollzugsanstalt. Bei einer möglichen Entlassung nach 15 Jahren werde der Sohn längst volljährig sein. Auch unter den anderen einschlägigen Gesichtspunkten sei die Ausweisung verhältnismäßig.

b) Die Beurteilung, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ist daher zu berücksichtigen. Die Änderung der Sach- und Rechtslage ist allerdings grundsätzlich nur in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen relevant (Seibert in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 2014, § 124a Rn. 57; vgl. auch BVerwG, B.v. 15.12.2003 – 7 AV 2.03 – NVwZ 2004, 744).

Der Senat hat daher das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 12. November 2015 unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens – mangels entgegenstehender Übergangsregelung – anhand der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung zu überprüfen. Eine – wie hier – nach altem Recht verfügte Ausweisung ist nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

c) Mit seinem Vorbringen hat der Kläger die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei rechtmäßig, gemessen an den nunmehr maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung, im Ergebnis nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ausgewiesen werden darf. Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, auf den sich der Kläger beruft, ist hier nicht einschlägig, da diese Rechtsstellung die Erteilung eines entsprechenden nationalen Aufenthaltstitels voraussetzt, der nur auf Antrag erteilt wird (Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1, Abs. 3, Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG). Eine solche Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU nach § 9a AufenthG hat der Kläger nicht besessen. Im Ergebnis genießt er aber den gleichen „Ausweisungsschutz“, denn auch als Aufenthaltsberechtigter nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei darf er – ebenso wie ein Besitzer der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU – gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

Aufgrund der Verurteilung des Klägers wegen des Mordes an seiner früheren Ehefrau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (und wegen der vorangegangenen Verurteilung wegen Körperverletzungsdelikten u.a. zum Nachteil seiner früheren Ehefrau und seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung) wiegt das Ausweisungsinteresse im Fall des Klägers gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer.

Die in § 54 AufenthG fixierten Tatbestände erfüllen zwei Funktionen: Sie sind gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG und weisen diesen Ausweisungsinteressen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG geforderte Abwägung zu. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 AufenthG ist deshalb entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch in diesem Fall stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 26).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats (z.B. B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn 14) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.

Der Kläger hat mit seinem Vortrag in der Zulassungsbegründung die diesen Anforderungen entsprechende Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass von ihm auch weiterhin eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (UA S. 30-34), nicht durchgreifend in Frage gestellt.

(1) Der Kläger bringt zunächst vor, er habe gemäß dem von der Justizvollzugsanstalt abgegebenen Persönlichkeitsbild bereits eine positive Entwicklung erkennen lassen. Während seines über vierjährigen Aufenthalts dort habe er sich bereits gut integriert und ein enges Verhältnis zum Wachpersonal aufgebaut. Trotz seines nicht unerheblichen Delikts habe er sich anstaltsintern hochgearbeitet und trotz seiner geringen fachlichen Qualifikation bis zu seinem Arbeitsunfall eine Vorarbeiterstellung innegehabt. Bereits die ersten Jahre seiner Inhaftierung hätten enorm zu seiner Resozialisierung beigetragen; diese Entwicklung werde sich auch im Verlauf der weiteren Haftzeit fortsetzen. In der Haft habe er auch an einer „Therapie mit Langstrafigen zu Beginn der Haftzeit“ teilgenommen; auch sei eine Therapie im Rahmen therapeutischer Einzelgespräche sowie einer Gruppensitzung erfolgt. Er sei in der Haft nie disziplinarisch aufgefallen, im Gegenteil habe er sich aufgrund des einschneidenden Erlebnisses der Verurteilung sowie der langen Haftstrafe in seinem Verhalten erheblich geändert.

Damit kann der Kläger aber die Prognose des Verwaltungsgerichts nicht entkräften. Der Kläger ist seit 1989 wiederholt wegen Gewalt-, aber auch Betäubungsmitteldelikten polizeilich auffällig geworden und mehrfach auch verurteilt worden und hat schließlich im Februar 2011 seine geschiedene Ehefrau auf außerordentlich brutale Weise getötet. Das im Strafurteil des Landgerichts vom 30. November 2012 ausführlich wiedergegebene psychiatrische Sachverständigengutachten (Bl. 682 ff. der Behördenakten), auf das sich auch das Verwaltungsgericht gestützt hat (UA S. 33), stellt beim Kläger eine sog. Persönlichkeitsakzentuierung mit überwiegend selbstsunsicheren, dependenten, narzisstischen und von emotionaler Instabilität geprägten Charakterzügen fest, welche beim Auftreten von Konflikten oder narzisstischen Kränkungen wiederholt in Form eines streitsüchtigen, reizbaren oder auch aggressiven Verhaltens zu Tage getreten seien und sich vornehmlich auf nahe Bezugspersonen und hier insbesondere auf die (frühere) Ehefrau konzentriert hätten. Die vom Kläger aufgrund dieser Charakterzüge ausgehende Gefahr kann nicht mit dem Verweis auf das – ohnehin zu erwartende – Wohlverhalten im Justizvollzug relativiert werden. Eine erfolgreiche therapeutische Behandlung der beschriebenen Defizite ist trotz der von den Betreuungspersonen in der Justizvollzugsanstalt positiv gewürdigten Fortschritte des Klägers (vgl. Bericht der JVA vom 30.10.2015, Bl. 141 ff. der VG-Akte) nicht feststellbar.

(2) Weiter trägt der Kläger vor, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Gefahrenprognose außer Acht gelassen, dass er frühestens nach 15 Jahren aus der Haft entlassen werden könne; auch eine solche Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung setze voraus, dass das Strafvollstreckungsgericht eine positive Prognose hinsichtlich einer Wiederholungsgefahr getroffen habe. Es ergebe sich ein Wertungswiderspruch, wenn das Verwaltungsgericht dem Kläger bescheinige, dass von ihm nach Haftentlassung weiter die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgehe, während eine Haftentlassung nur dann erfolgen könne, wenn das Strafvollstreckungsgericht zu der – nach frühestens 15 Jahren Haftzeit möglichen – Prognose komme, dass der Kläger keine weiteren Straftaten mehr begehe.

Maßgeblich für die vorzunehmende Gefahrenprognose ist jedoch, wie oben (1.b) ausgeführt, der Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung; es kommt darauf an, ob von dem Kläger „gegenwärtig“ eine schwerwiegende, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Das ist, wie dargelegt, zu bejahen. Es ist nicht erforderlich, mit der aufenthaltsrechtlichen Gefahrenprognose bis zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung nach Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung abzuwarten. Dass sich der Kläger ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, schließt nicht aus, dass sein Verhalten eine tatsächliche und gegenwärtige, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr darstellen kann, da dieser Umstand keinen Bezug zu seinem persönlichen Verhalten hat (EuGH, U.v. 13.7.2017 – C-193/16 – juris).

d) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 13.3.2017 – 10 ZB 17.226 – juris Rn. 6 ff. m.w.N.).

Im Fall des Klägers liegt aufgrund seiner Verurteilungen ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG vor; sein Bleibeinteresse wiegt nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG ebenfalls besonders schwer. Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei ermessensfehlerfrei und verhältnismäßig, begegnet auch unter dem Blickwinkel der Abwägung im Sinne von § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG keinen ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit. Das Verwaltungsgericht hat bei der vom Kläger angegriffenen Entscheidung sämtliche entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte im Rahmen der Nachprüfung der Ermessensentscheidung berücksichtigt, die nach neuer Rechtslage auch in diese Interessenabwägung einzustellen sind, und sie in nicht zu beanstandender Weise auch im Hinblick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK gewichtet.

Der Kläger hat in der Begründung des Zulassungsantrags insoweit keine Einwendungen vorgebracht.

2. Auch der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor.

Eine Rechtssache weist besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten auf, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern (Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124 Rn. 106).

Dies ist hier schon nicht nachvollziehbar dargelegt. Der Kläger verweist lediglich auf einige Aspekte, die im vorliegenden Fall – und ebenso in einer Vielzahl anderer Ausweisungsfälle – zu berücksichtigen sind, nämlich den Ausweisungsschutz aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei, die Eigenschaft als faktischer Inländer, seine familiären Bindungen und schließlich auf den Prognosemaßstab hinsichtlich seiner fortdauernden Gefährlichkeit. Zu einigen dieser Punkte, wie seinen langjährigen Aufenthalt („faktischer Inländer“) und seinen familiären Bindungen, hat der Kläger im Zulassungsverfahren nichts Detailliertes vorgetragen, was besondere Schwierigkeiten aufwerfen könnte; soweit auf die sich aus der Rechtsstellung aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei sich ergebenden Maßstäbe für die Gefahrenprognose hingewiesen wird, lässt sich diese Frage – wie oben gezeigt – ohne weiteres in Anwendung des § 53 Abs. 3 AufenthG im Zulassungsverfahren beantworten.

3. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.

Um einen auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt.

Diesen Anforderungen genügt weder der pauschale, völlig unbestimmte Hinweis auf „oben genannte“ Ausführungen noch die Bezugnahme auf die „Prognosekollision“ bei zu einer lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten; wie oben gezeigt (1. c) existiert eine solche „Prognosekollision“ nicht.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren und Beiordnung des Bevollmächtigten ist abzulehnen, weil das Rechtsmittel aus den dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 ZPO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Endet das Verfahren, ohne dass solche Anträge eingereicht werden, oder werden, wenn eine Frist für die Rechtsmittelbegründung vorgeschrieben ist, innerhalb dieser Frist Rechtsmittelanträge nicht eingereicht, ist die Beschwer maßgebend.

(2) Der Streitwert ist durch den Wert des Streitgegenstands des ersten Rechtszugs begrenzt. Das gilt nicht, soweit der Streitgegenstand erweitert wird.

(3) Im Verfahren über den Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels und im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung des Rechtsmittels ist Streitwert der für das Rechtsmittelverfahren maßgebende Wert.

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.