Bundesgerichtshof Urteil, 11. Mai 2010 - 1 StR 40/10

bei uns veröffentlicht am11.05.2010

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 40/10
vom
11. Mai 2010
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Mordes u.a.
hier: nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. Mai 2010,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Rothfuß,
Prof. Dr. Jäger,
Prof. Dr. Sander,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 7. Oktober 2009 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels und die durch dieses dem Verurteilten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen, gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 2 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

I.


2
Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
3
1. Der im Übrigen Unbestrafte wurde durch das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 8. Dezember 1998 wegen Vergewaltigung und versuchten Mordes (Einzelfreiheitsstrafe: neun Jahre) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.
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a) Dieser Anlassverurteilung lag zugrunde, dass der damals 22 Jahre alte Verurteilte in der Nacht auf den 17. März 1998 die 65 Jahre alte B. , die er nach Hause zu fahren versprochen hatte, gegen Mitternacht an einem abgelegenen Ort gegen ihren Willen entkleidet, ihre Arme mit einem Schal an einer Kopfstütze seines Autos festgebunden und sowohl die Brüste als auch den Scheidenbereich berührt hatte. Nachdem Frau B. es abgelehnt hatte, an seinem erigierten Glied zu manipulieren und den Oralverkehr auszuführen, erzwang der Verurteilte diesen, indem er ihren Kopf festhielt. Hierdurch gelangte er nach kurzer Zeit außerhalb des Mundes zum Samenerguss. Als er im Anschluss daran weiterfuhr, entschloss er sich, Frau B. zu töten, um sie an einer Strafanzeige zu hindern. Er würgte sie mit beiden Händen, bis sie bewusstlos wurde. Der Verurteilte öffnete die Beifahrertür und legte sein von ihm für tot gehaltenes Opfer auf eine Wiese. Als er bemerkte, dass es noch lebte, schlug er ihm wiederum in direkter Tötungsabsicht mit seiner 440 g schweren, ca. 26 cm langen Metalltaschenlampe mehrmals heftig auf den Kopf. Frau B. erlitt hierdurch lange, tiefe Platzwunden und wurde blutüberströmt erneut bewusstlos. Durch zufällig vorbeikommende Passanten wurde sie am Morgen entdeckt und konnte gerettet werden.
5
b) Der Verurteilte beabsichtigte, im April 1998 mit seiner damaligen Verlobten zusammenzuziehen. Auch wegen dieser bevorstehenden Veränderung in seinem Leben hatte er den Eindruck, dass „´alle anderen` sein Leben regeln würden“. Den Geschlechtsverkehr mit seiner Partnerin empfand er „nicht mehr als absolut befriedigend und kam zu der Überzeugung, dass es nicht nur … ´Sex unter der Bettdecke` und in längeren Abständen von bis zu 2-3 Wochen zum nächsten Akt geben könne“. Unter Berücksichtigung dessen fand der damals mit einem Gutachten zu den Voraussetzungen der §§ 20, 21 und 63 StGB beauftragte psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. R. „in seinen sexuel- len Vorstellungen und Begehrenshaltungen … keine auffälligen Inhalte“. Vor diesem Hintergrund wurde die gemäß dem am 31. Januar 1998 in Kraft getretenen § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB formell in Betracht kommende Anordnung primärer Sicherungsverwahrung bei der Anlassverurteilung nicht in Erwägung gezogen.
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2. a) Der Verurteilte verbüßte die Strafhaft seit Januar 1999 zunächst in der Justizvollzugsanstalt Ba. . Am 5. Juli 2001 begann er etwa drei Monate nach seiner Aufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalt W. eine Therapie. Da die Therapeuten den Verurteilten als sog. explosiven, sexuell aggressiven Täter einordneten und der Ansicht waren, die Tat habe „nichtsexuellen Bedürfnissen gedient“, bestand das Hauptziel der Therapie in der Verringerung der angenommenen Störung der Sexualpräferenz und einer umfassenden Rückfallprävention.
7
Der Verurteilte nahm in der Zeit bis 15. Juli 2003 aktiv und regelmäßig an insgesamt 169 tiefenpsychologisch orientierten Gruppentherapiesitzungen, acht Einzeltherapiegesprächen, 85 Gruppensitzungen der „Gruppe Sexualität“, 85 Sitzungen „Sozialtraining“, 72 Sitzungen „Gestaltungstherapie“, 69 Sitzungen „Musiktherapie“ und 74 Sitzungen „Entlassungstraining“ sowie an weiteren 107 Sitzungen teil, in denen ein persönliches Rückfallpräventionsprogramm differenziert erarbeitet wurde. Hierbei verhielt er sich kooperativ, setzte sich konstruktiv mit seinem Deliktsverhalten auseinander und erwarb eine gesteigerte Opferempathie. Insgesamt erwies sich der Verurteilte „als in seiner Persönlichkeit gereift“, so dass ihm eine „günstige Prognose“ gestellt wurde.
8
b) Der Verurteilte wurde anschließend in die Justizvollzugsanstalt Ba. verlegt und in der dortigen sozialtherapeutischen Anstalt in das sog. therapeutische Setting integriert. Zur Vorbereitung von Vollzugslockerungen wurde der Sachverständige Dr. Bl. beauftragt, ein Prognosegutachten zu erstellen. Dieser kam am 2. Juli 2004 zu dem Ergebnis, dass eine „sexuell-sadistische Determination der Tat nicht ausgeschlossen werden könne“ , wenn auch die Annahme näher liege, „dass die Tat eine Sexualisierung eines nicht sexuellen Bedürfnisses darstelle“. Es bestehe sowohl auf diagnostischer als auch auf therapeutischer Ebene noch Klärungs- und Handlungsbedarf , bevor über die Gewährung von Lockerungen nachgedacht werden könne.
9
c) In der Folge nahm der Verurteilte erneut an einer Ärgerbewältigungsund einer Rückfallpräventionstherapie teil. Als es nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe nicht zu einer Entlassung kam und ihm ein Justizangestellter „immer wieder vorhielt, er müsse Phantasien gehabt haben“, entschied sich der Verurteilte, auch hierüber seinem Therapeuten Be. , mit dem er die Tat aufzuarbeiten versuchte, zu berichten. Bis Frühjahr 2006 teilte er diesem nach und nach mit, dass er vor der Tat Phantasien gehabt habe, die auf die Ausübung von Macht gegenüber seinem Opfer gerichtet waren. Seit Ende 1996 sei der Wunsch gewachsen, „die Geschlechtspartnerin zu dominieren und so die Grenzen der Legalität zu überschreiten“. Er stellte sich „immer öfter vor, seine imaginären Geschlechtspartnerinnen verbal einzuschüchtern, sich so über ihren Willen hinwegzusetzen, sie zu erniedrigen und eine Position der Macht zum Geschlechtsverkehr auszunutzen. Dabei musste sein Opfer machen, was er sagte, musste ihn anschauen und ihn abschließend oral befriedigen.“
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Diese Phantasien hätten ihn zunächst erschreckt, ihm später aber ein gutes Gefühl gegeben, wobei er sich teilweise selbst befriedigt habe. Sie wären häufiger geworden, bis er sich entschlossen habe, sie „in der Realität 1:1 umzusetzen“. Während der Fahrt mit Frau B. habe er gedacht, jetzt habe er die Gelegenheit dazu. Bei der Tat habe er eine starke sexuelle Erregung gehabt , weil sein Bedürfnis nach Macht über sein ihm unsympathisches Opfer genau so befriedigt worden sei, wie er es sich in seinen Phantasien vorgestellt hatte. Wie in einem „Rauschzustand“ habe er einen „traumhaften“, seinen bislang besten Orgasmus erlebt. Weniger als eine Minute später habe er sich jedoch beim Anblick seines Opfers schlecht gefühlt sowie Traurigkeit und Ekel empfunden.
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d) Unter Berücksichtigung dieser Phantasien diagnostizierte der erneut beauftragte Sachverständige Dr. Bl. am 5. September 2006 eine sexuellsadistische Entwicklung des Verurteilten, bei dem ein „sehr hohes Wiederholungsrisiko für Delikte der gleichen Oberkategorie“ vorliege. Am 21. Juli 2008 gelangte der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. N. zu dem Ergebnis , das Rückfallrisiko des Verurteilten hänge von der Entlassungssituation und einer angemessenen Nachsorge ab. Ohne Therapie und Kontrolle liege die Rückfallwahrscheinlichkeit im Langzeitverlauf zwischen 15 und 40 %, bei optimaler Therapie könne sie unter 1 % gesenkt werden. Da die Justizvollzugsanstalt das von Prof. Dr. N. vorgeschlagene „Risikomanagement“ für „undurchführbar“ hielt, wurden dem Verurteilten weiterhin keine Lockerungen gewährt. Im Dezember 2008 nahm dieser von sich aus Kontakt zu dem in der Therapie von Straftätern erfahrenen Diplom-Psychologen Bo. aus Würzburg auf. Dieser erklärte sich zu einer Behandlung des Verurteilten bereit, da er dessen Offenheit und Therapiewillen als „sehr hoch“ bewertete.
12
3. Am 19. November 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg beim Landgericht die Einleitung des Verfahrens zur Unterbringung des Verurteilten in der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Mit Beschluss vom 20. Januar 2009 ordnete die Kammer dessen einstweilige Unterbringung an, die nach dem Ende der Strafhaft seit 7. Februar 2009 vollzogen wurde.
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Am Tag der Urteilsverkündung wurde der Unterbringungsbefehl aufgehoben. Der Verurteilte beabsichtigte, zunächst bei seinen Eltern, die ihn während des Freiheitsentzugs regelmäßig besucht hatten, in A. zu wohnen. Zugleich erging ein umfangreicher Beschluss zur Ausgestaltung der - unbefristeten - Führungsaufsicht. Danach hat der Verurteilte insbesondere - sich von Montag bis Freitag täglich bei seinem Bewährungshelfer zu melden, - eine ambulante psychotherapeutische Behandlung seiner sexuellen Störung bei dem Psychotherapeuten Bo. durchzuführen, sich diesem einmal wöchentlich vorzustellen und die Therapie dem Bewährungshelfer nachzuweisen, - sich auf dessen Verlangen unverzüglich zu einem Psychiater zu begeben und von diesem verschriebene Medikamente einzunehmen oder sich verabreichen zu lassen, - sich auf Verlangen des Psychotherapeuten oder des Psychiaters in eine stationäre Behandlung in einem näher bezeichneten Sozialzentrum, hilfsweise in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalten W. oder Ba. zu begeben.
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Mit sämtlichen seine Behandlung betreffenden Weisungen hatte sich der Verurteilte in der Hauptverhandlung, in der er auch hinsichtlich seiner Phantasien bereitwillig Angaben gemacht hatte, einverstanden erklärt. Zudem hat er alle ihn behandelnden Ärzte und Therapeuten von ihrer Schweigepflicht namentlich gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft entbunden.

15
4. Die Strafkammer hat die vom Verurteilten während des Strafvollzugs offenbarten Phantasien und die hierauf basierende, zu a) dargelegte Diagnose als Nova angesehen. Im jetzigen Verfahren hat sie Dr. Bl. und Prof. Dr. N. als psychiatrische Sachverständige gehört.
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a) Aufgrund deren insoweit übereinstimmenden und unter Darlegung der Voraussetzungen näher begründeten Ausführungen gelangte sie zu der Überzeugung , dass beim Verurteilten eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer sexuell-sadistischen Ausprägung (ICD-10: F 65.8) bzw. ein sexueller Sadismus (DSM-IV: 302.84) vorliegt. Soweit seine Persönlichkeit zudem sowohl narzisstische als auch schizoide Züge aufweise, würden diese aber „bei weitem“ nicht ein Ausmaß erreichen, welches für die Annahme einer Persönlichkeitsstörung spreche.
17
b) Zu den maßgeblichen Faktoren für die Gefährlichkeitsprognose hat die Strafkammer ausgeführt:
18
aa) Ausgangspunkt sei für den Sachverständigen Dr. Bl. die sog. Basisrate erneuter Delinquenz gewesen. Diese habe er - gestützt auf internationale Rückfallforschungen - bei Vergewaltigungen auf ca. 40 %, das mittlere statistische Risiko einer neuerlichen Straftat durch einen (allgemein) verurteilten Delinquenten hingegen auf 36 % bestimmt. Um eine individuelle Prognose stellen zu können, habe der Sachverständige wissenschaftlich gesicherte (tatspezifische , biographische und psychiatrisch determinierte) Kriterien herangezogen:
19
Dabei habe für den Verurteilten gesprochen, dass er bislang erst eine Straftat und diese nicht aus „monetären Aspekten“ begangen habe, zudem keine familiäre Delinquenzbelastung, keine Psychose und Suchterkrankung bestünde , er keine antisozialen Wesensmerkmale aufweise, die sadistischen Elemente nicht auf andere Persönlichkeitsbereiche übergegangen seien und eine intensive therapeutische Bearbeitung des Delikts und des psychiatrischen Störungsmusters stattgefunden habe, zu der der Verurteilte weiterhin bereit sei. Negativ seien vor allem bedeutsam das niedrige Alter des Verurteilten bei der ohne „hochspezifische Täter-Opfer-Beziehung“ begangenen Tat, die dabei vielgestaltig gezeigte „exzessive Gewalt“ sowie die erhebliche Differenz zum Alter des Opfers, ferner die Art der sexuellen Störung sowie die schizoiden Persönlichkeitselemente.
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Nach Ansicht dieses Sachverständigen müsse im Ergebnis „mit einer sehr hohen Wiederauftretenswahrscheinlichkeit“ von der Begehung neuer Straftaten der gleichen Oberkategorie durch den Verurteilten gerechnet werden. Dieser könne auch nicht ausreichend mit einem „Risikomanagement“ begegnet werden, da insofern eine „Rundumbetreuung“ geboten sei, weil eine Entlassung „zwangsläufig zu einer Intensivierung der Gedanken mit den entsprechenden … Folgen führen würde“. Prognostisch „ungemein ungünstig“ wirke sich aus, dass sich der Verurteilte erst geöffnet habe, als es zu keiner Zwei-Drittel-Entlassung gekommen sei.
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bb) Der Sachverständige Prof. Dr. N. erläuterte, dass der diagnostizierte sexuelle Sadismus nicht zwangsläufig zu einem Rückfall führen müsse, denn die Basisrate liege für diese Tätergruppe zwischen 15 und 40 %. Wende man zur individuellen Prognose anerkannte Kataloge von - denen des Sachverständigen Dr. Bl. im Wesentlichen vergleichbaren - Risikofaktoren an, so liege der Verurteilte teils in der untersten, teils in der mittleren Risikokategorie. Insgesamt würden sich die positiven und die negativen Faktoren die Waage halten. Die Rückfallwahrscheinlichkeit liege daher unter Berücksichtigung der Basisrate jedenfalls unter 50 %, d.h. die Mehrheit der Täter mit vergleichbaren Dispositionen schaffe es, nicht rückfällig zu werden. Indem die Führungsaufsicht entsprechend ausgestaltet werde, könne ein effektives Risikomanagement geschaffen und die Rückfallwahrscheinlichkeit unter 10 % reduziert werden.

II.


22
Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat die Strafkammer abgelehnt. Zwar lägen die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB und hinreichende Nova vor; die Kammer hat aber unter eigener Abwägung der maßgeblichen Faktoren nicht die Überzeugung gewonnen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung erheblicher Straftaten besteht. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung dürfe „als äußerst belastende Maßregel … nur in außergewöhnlichen, seltenen Ausnahmefällen“ angeordnet werden. Angesichts der insoweit geltenden hohen Anforderungen sei dem Verurteilten die erforderliche Gefährlichkeitsprognose mit Blick auf die „Vielzahl positiver Prognosemerkmale“, namentlich seine Therapiebereitschaft, und die engmaschige Ausgestaltung der Führungsaufsicht nicht zu stellen.

III.


23
Den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat das Landgericht im Ergebnis zutreffend zurückgewiesen. Die angefochtene Entscheidung ist entgegen der Ansicht der Revision frei von durchgreifenden Rechtsfehlern.

24
a) Das Landgericht hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 Satz 1 StGB durch die Anlassverurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen (zumindest) einer Katalogtat zutreffend als erfüllt angesehen.
25
b) Die erstmalig im Jahre 2006 vom Verurteilten offen gelegten Phantasien und den infolge dessen diagnostizierten sexuellen Sadismus hat die Strafkammer als die für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung erforderlichen Nova angesehen. Die Frage, ob die Kammer diese Umstände hat insofern ausreichen lassen dürfen, braucht der Senat letztlich nicht zu entscheiden.
26
aa) An die Annahme neuer Tatsachen sind ohnehin stets strenge Anforderungen zu stellen (BGH, Beschl. vom 12. Januar 2010 - 3 StR 439/09), zumal die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung den Bestand eines rechtskräftigen Urteils tangiert und nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein soll (BGHSt 50, 275, 278 m.w.N.; BVerfG StV 2006, 574, 575; NJW 2009 980, 982). Als „neue Tatsachen“ kommen deshalb nur solche in Betracht, die in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (BGHR StGB § 66b Neue Tatsachen
3) und schon für sich genommen von besonderem Gewicht sind (BGH StV 2006, 67, 71).
27
bb) Diese Voraussetzungen können - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - im Einzelfall zwar auch psychiatrische Befundtatsachen erfüllen , nämlich dann, wenn sie die an sich bereits zuvor bekannte Gefährlichkeit eines Verurteilten in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lassen (vgl.
BVerfG, Kammer, Beschl. vom 23. August 2006 - 2 BvR 226/06; BGH NStZ-RR 2007, 199). Der Senat neigt aber für die nachfolgend dargestellte (cc.) spezielle Konstellation dazu, eine besonders sorgfältige Prüfung des Gewichts dieser in Betracht gezogenen Befundtatsachen für notwendig zu halten.
28
cc) Das Landgericht hat - im Rahmen der Erwägungen zur Gefährlichkeitsprognose - die Meinung vertreten, § 66 StGB hätte weder zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung noch später die Anordnung von Sicherungsverwahrung bereits mit der ersten Verurteilung vorgesehen. Dies trifft nicht zu, da § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB bereits mit Wirkung zum 31. Januar 1998 in das Gesetz eingefügt worden war. Ob die im Ursprungsverfahren zuständige Kammer möglicherweise demselben Rechtsirrtum unterlegen war, teilt das angefochtene Urteil nicht mit. Wäre dies so, könnte bereits dieser Umstand der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung entgegenstehen. Denn durch die Anwendung des § 66b StGB dürfen im Ausgangsverfahren bei der Prüfung der primären Sicherungsverwahrung begangene Rechtsfehler oder Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden nicht korrigiert werden (vgl. BGHSt 50, 121, 126; BGH, Beschl. vom 12. Januar 2010 - 3 StR 439/09; BGH, Urt. vom 13. Januar 2010 - 1 StR 372/09).
29
Dem Urteil lässt sich jedoch hinreichend deutlich entnehmen, dass die Strafkammer des Ursprungsverfahrens bei zutreffender Beurteilung der Rechtslage die nun als Nova gewerteten Umstände auch bei sorgfältiger, am Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO gemessener Prüfung (vgl. BGH StV 2006, 413; BGH, Urt. vom 23. März 2006 - 1 StR 476/05) nicht hätte erkennen können. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass auch der mit der Begutachtung des zum damaligen Zeitpunkt über seine sexuellen Phantasien schweigenden Verurteilten beauftragte psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. R. in dessen sexuellen Vorstellungen und Begehrenshaltungen keine auffälligen Inhalte erkennen konnte und es bis zur „Öffnung“ des Verurteilten mehreren psychologischen und psychiatrischen Fachkräften über acht Jahre hinweg nicht gelungen war, Näheres über die diesbezüglichen Vorstellungen zu erfahren (vgl. BGHSt 50, 275, 280).
30
c) Die Strafkammer hat jedenfalls rechtsfehlerfrei die zukünftige Gefährlichkeit des Verurteilten i.S.d. § 66b Abs. 2 StGB verneint. Dem Tatgericht kommt insofern ein Beurteilungsspielraum zu; seine Entscheidung unterliegt der revisionsgerichtlichen Überprüfung nur eingeschränkt (BGH NStZ-RR 2008, 40, 41). Diese hat keinen Rechtsfehler ergeben.
31
aa) Insbesondere hat das Landgericht ausführlich und sorgfältig die gebotene Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs vorgenommen und dabei einen zutreffenden Prüfungsmaßstab angelegt (BGH NStZ 2007, 92; BGH, Urt. vom 11. Oktober 2007 - 4 StR 246/07).
32
Ausgehend von dem (auch) durch die beiden Sachverständigen vermittelten wissenschaftlichen Kenntnisstand, namentlich den empirischen RückfallBasisraten , hat sie vor allem anhand tatspezifischer, biographischer und psychiatrischer Kriterien eine individuelle Gefährlichkeitsprüfung durchgeführt (vgl. BGHSt 50, 121, 130 f.; BGH, Urt. vom 11. Oktober 2007 - 4 StR 246/07). Deren Darstellung in den Urteilsgründen lässt insbesondere Lücken oder Widersprüche nicht erkennen.
33
Auch die Revision zeigt Rechtsfehler nicht auf. Soweit sie die „Basisrate von 40 %“ als falsch bewertet ansieht, hat der Senat unter Berücksichtigung der im Urteil mitgeteilten Daten bereits Zweifel, ob der Wert empirisch zureichend gesichert und zudem für die hier in Rede stehende Tätergruppe repräsentativ ist. Die Revision verkennt aber vor allem, dass es auf vorhandene statistische Werte gerade nicht maßgeblich ankommt, weil allein die jeweilige individuelle Prüfung der Gefährlichkeit entscheidend ist. Mit den Gutachten der beiden psychiatrischen Sachverständigen hat die Strafkammer sich im Einzelnen, umfassend und mit vertretbaren Argumenten auseinandergesetzt. Es stellt auch keinen Widerspruch dar, wenn die Strafkammer im Rahmen der Prognose es einerseits positiv wertet, dass der Verurteilte im Übrigen unbestraft ist, und es andererseits als negativ ansieht, dass zwischen dem Entstehen der Phantasien und der diese verwirklichenden Tat nur ein kurzer Zeitraum gelegen hat. Denn hiermit würdigt sie, dass der Verurteilte unabhängig von seinen Phantasien nicht straffällig geworden ist.
34
bb) Schließlich stellt es keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar, dass das Landgericht eine auf § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB gestützte Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nicht ausdrücklich erwogen hat, obwohl dessen formelle Voraussetzungen ebenfalls vorlagen. Denn auch insofern hätte es der Prognose zukünftiger Gefährlichkeit des Verurteilten bedurft, die das Landgericht gerade nicht getroffen hat. Nack Wahl Rothfuß Jäger Sander

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 11. Mai 2010 - 1 StR 40/10

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Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der
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1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 439/09
vom
12. Januar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Januar 2010 gemäß § 349
Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 15. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten mit einer Verfahrensbeanstandung sowie der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
2
1. Das Landgericht hat festgestellt:
3
Gegen den Verurteilten wurde bereits im Alter von 19 Jahren wegen mehrerer Brandstiftungsdelikte eine Jugendstrafe von unbestimmter Dauer ver- hängt. Den Taten ging jeweils eine situationsgebundene Verärgerung voraus, die der Verurteilte nicht bewältigen konnte und die sich deshalb in der Brandlegung entlud. Nach seiner Entlassung aus einem neunmonatigen Freiheitsentzug lernte der Verurteilte R. kennen, die er Ende 1982 heiratete. Am 20. Februar 1984 erdrosselte er seine Frau, nachdem es in der Ehe zunehmend zu Streitigkeiten gekommen war. Er wurde deshalb am 26. September 1984 vom Landgericht Hildesheim wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, die er bis zur Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung im Februar 1989 teilweise verbüßte. Im Sommer 1990 lernte der Verurteilte die damals 19jährige V. kennen und heiratete sie wenige Monate später. Die Eheleute lebten mit dem Sohn B. aus einer früheren Verbindung von Frau V. und der gemeinsamen Tochter Va. zunächst ohne Auffälligkeiten zusammen. Ab März 1992 kam es indes auch in dieser Ehe zu einer krisenhaften Entwicklung, in deren Verlauf die Ehefrau Trennungsabsichten äußerte, sich mit der Ehe unzufrieden zeigte und häufig an dem Verurteilten "herumnörgelte". In der Nacht zum 21. Mai 1993 tötete dieser seine Ehefrau sowie seinen Stiefsohn. Er wurde deshalb am 26. Januar 1994 vom Landgericht Hannover wegen Totschlags in zwei Fällen (Einzelstrafen von elf und zwölf Jahren) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt. Das Schwurgericht ging in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen von nicht erheblich eingeschränkter Schuldfähigkeit aus und stellte fest, der Verurteilte "sei leicht kränkbar, unausgewogen in Durchsetzungsfähigkeit und Passivität, ein auf die eigene Geltung bedachter Mensch mit einem ausgeprägten Bedarf an Anerkennung und Neigung zu impulsiv unbedachten Verhaltensmustern"; bei ihm "bestehe ein hohes Risiko für weitere brutale Gewaltentfaltung gegenüber Menschen, die eine Partnerbeziehung zu ihm eingingen"; er habe "sich mit dem Risiko, das von seiner Person ausgehe, nicht auseinandergesetzt". Die Gesamtfreiheitsstrafe begründete das Landgericht auch damit, dass der Verurteilte "für künftige Partner eine erhebliche Gefahr" darstelle. Im Anschluss daran führte es aus: "Die Anordnung von Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht, weil die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB - zweimal Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr (§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder Begehung von drei vorsätzlichen Straftaten (§ 66 Abs. 2 StGB) - nicht vorliegen."
4
Der Verurteilte verbüßte die Strafe aus dem Urteil vom 26. Januar 1994 bis zum 29. Mai 2008 vollständig. Seither wird die Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vollstreckt. Das Strafende ist für den 26. November 2010 notiert. Die Staatsanwaltschaft hat am 8. April 2008 den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gestellt.
5
2. Das Landgericht ist nunmehr sachverständig beraten zu der Überzeugung gelangt, dass der Verurteilte aufgrund eines Hanges zu erheblichen Straftaten mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in § 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB vorausgesetzten Art begehen werde. Es hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung auf § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB gestützt. Dies ergibt sich daraus, dass es darlegt, zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung im Januar 1994 hätten "die formellen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung" nicht vorgelegen, "so dass die Anordnung aus rechtlichen Gründen nicht" habe "erfolgen" können. Folgerichtig enthält das Urteil keine Feststellungen zu etwaigen nach der Anlassverurteilung erkennbar gewordenen, neuen Tatsachen im Sinne von § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB. Vielmehr führt das Landgericht aus, dass die schon 1994 bekannte Gefährlichkeit des Angeklagten andauere.
6
3. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
7
a) Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt regelmäßig voraus, dass nach einer Verurteilung wegen einer bestimmten Anlasstat und vor dem Ende des Strafvollzugs Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB). Diese "erkennbar werdenden" Tatsachen - in Literatur und Rechtsprechung durchweg als "neue" Tatsachen bezeichnet - sind insoweit zwingende gesetzliche Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung; in ihnen muss sich auch die hangbedingte Gefährlichkeit des Verurteilten widerspiegeln (vgl. BGHSt 50, 275, 279).
8
An die Annahme neuer Tatsachen sind, zumal die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung den Bestand eines rechtskräftigen Urteils tangiert und nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein soll (BGHSt 50, 275, 278 m. w. N.; BVerfG StV 2006, 574, 575; NJW 2009 980, 982), strenge Anforderungen zu stellen. Es kommen nur solche Umstände in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder vom Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkannt werden konnten. Allein die neue Bewertung bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bekannter Tatsachen genügt nicht (BGHSt 50, 180, 188; 50, 275, 278; 50, 373, 379; BGH NJW 2006, 3154, 3155). Nur so ist sichergestellt, dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden (BGHSt 50, 121, 126; 50, 284, 297; BVerfG StV 2006, 574, 576).
9
b) Nur ausnahmsweise sind neue Tatsachen nicht erforderlich: War im Zeitpunkt der Anlassverurteilung die Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen nicht möglich, so kann die Gefährlichkeit auch aus tatsächlichen Umständen abgeleitet werden, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits erkennbar waren (§ 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB, eingefügt durch das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht vom 13. April 2007 - BGBl I 513).
10
Die Voraussetzungen für diese Ausnahmeregelung liegen hier jedoch nicht vor. Vielmehr hätte das Landgericht in seinem Urteil vom 26. Januar 1994 gegen den Verurteilten Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB anordnen können.
11
aa) Nach § 66 Abs. 2 StGB ist die Verhängung von Sicherungsverwahrung möglich, wenn der Angeklagte drei vorsätzliche Straftaten begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wenn er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird und darüber hinaus die Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB (hangbedingte Gefährlichkeit) gegeben sind.
12
Diese drei vorsätzlichen Taten müssen nicht gemeinsam in der Entscheidung abgeurteilt werden, in welcher die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB angeordnet wird. Vielmehr können eine oder zwei von ihnen schon vorher rechtskräftig abgeurteilt sein (st. Rspr.; RGSt 68, 330, 331; BGHSt 1, 313, 317; BGH NJW 1964, 115; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Gefährlichkeit 1). Diese Rechtsprechung ist seit jeher dem Standardkommentar zum Strafgesetzbuch zu entnehmen (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 12; so schon Tröndle/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 9; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 9). Soweit dort § 66 Abs. 2 StGB als "in erster Linie für unentdeckt gebliebene gefährliche Serientäter gedachte" Vorschrift bezeichnet wird (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 11; so schon Trönd- le/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 7; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 7), kann dies zu Missverständnissen keinen Anlass geben.
13
bb) Entgegen der - sowohl bei der Anlassverurteilung als auch bei der verfahrensgegenständlichen Entscheidung vertretenen - Ansicht des Landgerichts waren danach die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB bereits im Zeitpunkt des Urteils vom 26. Januar 1994 gegeben, da der Angeklagte wegen insgesamt drei Vorsatztaten , für die er Strafen von sieben Jahren und sechs Monaten, von elf und von zwölf Jahren verwirkt hatte, zu Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt wurde.
14
c) Die deshalb für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten notwendigen neuen Tatsachen hat das Landgericht nicht festgestellt. Die Maßregel hat daher keinen Bestand. Der Senat schließt angesichts der Darlegungen im angefochtenen Urteil aus, dass in einer neuen Verhandlung noch Tatsachen festgestellt werden könnten, die für die Gefährlichkeitsprognose des Verurteilten bedeutsam, aber erst nach der Anlassverurteilung erkennbar geworden sind. Er entscheidet daher selbst, dass die Maßregelanordnung entfällt.
15
4. Der Senat sieht Anlass zu folgenden ergänzenden Bemerkungen:
16
a) Da die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht vorliegen , muss der Senat nicht entscheiden, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (AZ 19359/04) Anlass gibt, an der Vereinbarkeit der Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB mit dem Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechtskonvention zu zweifeln.
17
b) Eine an die derzeitige Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim anknüpfende Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht. Zwar waren bei Erlass dieses Urteils die sich aus der späteren Tötung zweier weiterer Menschen ergebenden , gefährlichkeitsbegründenden Tatsachen noch nicht erkennbar, so dass insoweit Nova angenommen werden könnten. Die nachträgliche Maßregelverhängung würde hier indes an dem Vorrang des zwischenzeitlich durchgeführten Erkenntnisverfahrens vor dem Landgericht Hannover (vgl. BGHSt 50, 373; BGH NStZ 2008, 332) scheitern. Becker Pfister von Lienen Hubert Schäfer

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 439/09
vom
12. Januar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Januar 2010 gemäß § 349
Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 15. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten mit einer Verfahrensbeanstandung sowie der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
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1. Das Landgericht hat festgestellt:
3
Gegen den Verurteilten wurde bereits im Alter von 19 Jahren wegen mehrerer Brandstiftungsdelikte eine Jugendstrafe von unbestimmter Dauer ver- hängt. Den Taten ging jeweils eine situationsgebundene Verärgerung voraus, die der Verurteilte nicht bewältigen konnte und die sich deshalb in der Brandlegung entlud. Nach seiner Entlassung aus einem neunmonatigen Freiheitsentzug lernte der Verurteilte R. kennen, die er Ende 1982 heiratete. Am 20. Februar 1984 erdrosselte er seine Frau, nachdem es in der Ehe zunehmend zu Streitigkeiten gekommen war. Er wurde deshalb am 26. September 1984 vom Landgericht Hildesheim wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, die er bis zur Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung im Februar 1989 teilweise verbüßte. Im Sommer 1990 lernte der Verurteilte die damals 19jährige V. kennen und heiratete sie wenige Monate später. Die Eheleute lebten mit dem Sohn B. aus einer früheren Verbindung von Frau V. und der gemeinsamen Tochter Va. zunächst ohne Auffälligkeiten zusammen. Ab März 1992 kam es indes auch in dieser Ehe zu einer krisenhaften Entwicklung, in deren Verlauf die Ehefrau Trennungsabsichten äußerte, sich mit der Ehe unzufrieden zeigte und häufig an dem Verurteilten "herumnörgelte". In der Nacht zum 21. Mai 1993 tötete dieser seine Ehefrau sowie seinen Stiefsohn. Er wurde deshalb am 26. Januar 1994 vom Landgericht Hannover wegen Totschlags in zwei Fällen (Einzelstrafen von elf und zwölf Jahren) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt. Das Schwurgericht ging in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen von nicht erheblich eingeschränkter Schuldfähigkeit aus und stellte fest, der Verurteilte "sei leicht kränkbar, unausgewogen in Durchsetzungsfähigkeit und Passivität, ein auf die eigene Geltung bedachter Mensch mit einem ausgeprägten Bedarf an Anerkennung und Neigung zu impulsiv unbedachten Verhaltensmustern"; bei ihm "bestehe ein hohes Risiko für weitere brutale Gewaltentfaltung gegenüber Menschen, die eine Partnerbeziehung zu ihm eingingen"; er habe "sich mit dem Risiko, das von seiner Person ausgehe, nicht auseinandergesetzt". Die Gesamtfreiheitsstrafe begründete das Landgericht auch damit, dass der Verurteilte "für künftige Partner eine erhebliche Gefahr" darstelle. Im Anschluss daran führte es aus: "Die Anordnung von Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht, weil die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB - zweimal Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr (§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder Begehung von drei vorsätzlichen Straftaten (§ 66 Abs. 2 StGB) - nicht vorliegen."
4
Der Verurteilte verbüßte die Strafe aus dem Urteil vom 26. Januar 1994 bis zum 29. Mai 2008 vollständig. Seither wird die Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vollstreckt. Das Strafende ist für den 26. November 2010 notiert. Die Staatsanwaltschaft hat am 8. April 2008 den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gestellt.
5
2. Das Landgericht ist nunmehr sachverständig beraten zu der Überzeugung gelangt, dass der Verurteilte aufgrund eines Hanges zu erheblichen Straftaten mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in § 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB vorausgesetzten Art begehen werde. Es hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung auf § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB gestützt. Dies ergibt sich daraus, dass es darlegt, zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung im Januar 1994 hätten "die formellen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung" nicht vorgelegen, "so dass die Anordnung aus rechtlichen Gründen nicht" habe "erfolgen" können. Folgerichtig enthält das Urteil keine Feststellungen zu etwaigen nach der Anlassverurteilung erkennbar gewordenen, neuen Tatsachen im Sinne von § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB. Vielmehr führt das Landgericht aus, dass die schon 1994 bekannte Gefährlichkeit des Angeklagten andauere.
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3. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
7
a) Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt regelmäßig voraus, dass nach einer Verurteilung wegen einer bestimmten Anlasstat und vor dem Ende des Strafvollzugs Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB). Diese "erkennbar werdenden" Tatsachen - in Literatur und Rechtsprechung durchweg als "neue" Tatsachen bezeichnet - sind insoweit zwingende gesetzliche Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung; in ihnen muss sich auch die hangbedingte Gefährlichkeit des Verurteilten widerspiegeln (vgl. BGHSt 50, 275, 279).
8
An die Annahme neuer Tatsachen sind, zumal die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung den Bestand eines rechtskräftigen Urteils tangiert und nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein soll (BGHSt 50, 275, 278 m. w. N.; BVerfG StV 2006, 574, 575; NJW 2009 980, 982), strenge Anforderungen zu stellen. Es kommen nur solche Umstände in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder vom Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkannt werden konnten. Allein die neue Bewertung bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bekannter Tatsachen genügt nicht (BGHSt 50, 180, 188; 50, 275, 278; 50, 373, 379; BGH NJW 2006, 3154, 3155). Nur so ist sichergestellt, dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden (BGHSt 50, 121, 126; 50, 284, 297; BVerfG StV 2006, 574, 576).
9
b) Nur ausnahmsweise sind neue Tatsachen nicht erforderlich: War im Zeitpunkt der Anlassverurteilung die Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen nicht möglich, so kann die Gefährlichkeit auch aus tatsächlichen Umständen abgeleitet werden, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits erkennbar waren (§ 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB, eingefügt durch das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht vom 13. April 2007 - BGBl I 513).
10
Die Voraussetzungen für diese Ausnahmeregelung liegen hier jedoch nicht vor. Vielmehr hätte das Landgericht in seinem Urteil vom 26. Januar 1994 gegen den Verurteilten Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB anordnen können.
11
aa) Nach § 66 Abs. 2 StGB ist die Verhängung von Sicherungsverwahrung möglich, wenn der Angeklagte drei vorsätzliche Straftaten begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wenn er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird und darüber hinaus die Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB (hangbedingte Gefährlichkeit) gegeben sind.
12
Diese drei vorsätzlichen Taten müssen nicht gemeinsam in der Entscheidung abgeurteilt werden, in welcher die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB angeordnet wird. Vielmehr können eine oder zwei von ihnen schon vorher rechtskräftig abgeurteilt sein (st. Rspr.; RGSt 68, 330, 331; BGHSt 1, 313, 317; BGH NJW 1964, 115; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Gefährlichkeit 1). Diese Rechtsprechung ist seit jeher dem Standardkommentar zum Strafgesetzbuch zu entnehmen (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 12; so schon Tröndle/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 9; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 9). Soweit dort § 66 Abs. 2 StGB als "in erster Linie für unentdeckt gebliebene gefährliche Serientäter gedachte" Vorschrift bezeichnet wird (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 11; so schon Trönd- le/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 7; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 7), kann dies zu Missverständnissen keinen Anlass geben.
13
bb) Entgegen der - sowohl bei der Anlassverurteilung als auch bei der verfahrensgegenständlichen Entscheidung vertretenen - Ansicht des Landgerichts waren danach die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB bereits im Zeitpunkt des Urteils vom 26. Januar 1994 gegeben, da der Angeklagte wegen insgesamt drei Vorsatztaten , für die er Strafen von sieben Jahren und sechs Monaten, von elf und von zwölf Jahren verwirkt hatte, zu Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt wurde.
14
c) Die deshalb für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten notwendigen neuen Tatsachen hat das Landgericht nicht festgestellt. Die Maßregel hat daher keinen Bestand. Der Senat schließt angesichts der Darlegungen im angefochtenen Urteil aus, dass in einer neuen Verhandlung noch Tatsachen festgestellt werden könnten, die für die Gefährlichkeitsprognose des Verurteilten bedeutsam, aber erst nach der Anlassverurteilung erkennbar geworden sind. Er entscheidet daher selbst, dass die Maßregelanordnung entfällt.
15
4. Der Senat sieht Anlass zu folgenden ergänzenden Bemerkungen:
16
a) Da die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht vorliegen , muss der Senat nicht entscheiden, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (AZ 19359/04) Anlass gibt, an der Vereinbarkeit der Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB mit dem Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechtskonvention zu zweifeln.
17
b) Eine an die derzeitige Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim anknüpfende Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht. Zwar waren bei Erlass dieses Urteils die sich aus der späteren Tötung zweier weiterer Menschen ergebenden , gefährlichkeitsbegründenden Tatsachen noch nicht erkennbar, so dass insoweit Nova angenommen werden könnten. Die nachträgliche Maßregelverhängung würde hier indes an dem Vorrang des zwischenzeitlich durchgeführten Erkenntnisverfahrens vor dem Landgericht Hannover (vgl. BGHSt 50, 373; BGH NStZ 2008, 332) scheitern. Becker Pfister von Lienen Hubert Schäfer

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 372/09
vom
13. Januar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
hier: Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung am 16.
Dezember 2009 und in der Sitzung vom 13. Januar 2010, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Jäger,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte - in der Verhandlung - und
Justizangestellte - bei der Verkündung -
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 27. Februar 2009 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen, gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 2 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sach- und eine Formalrüge gestützten, vom Generalbundesanwalt nicht vertretenen Revision. Dem Rechtsmittel bleibt der Erfolg versagt.

I.


2
Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
3
1. Der Verurteilte wurde bislang - neben zweier, hier unerheblicher Geldstrafen wegen Diebstahls in den Jahren 1981 und 1982 - wie folgt bestraft:
4
a) Mit Urteil des Landgerichts München II vom 10. Mai 1985 wurde er wegen Vergewaltigung einer fünfzehnjährigen Schülerin - am 27. August 1984 unter Fesselung und Verschleppung mit seinem Pkw - in Tateinheit mit sexuel- ler Nötigung zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zwei Drittel dieser Strafe verbüßte er bis zum 8. Juni 1988. Die Reststrafe wurde nach Ablauf einer vierjährigen Bewährungszeit mit Wirkung vom 21. Oktober 1992 erlassen.
5
b) Grundlage des jetzigen Verfahrens - Anlassverurteilung - ist das Urteil des Landgerichts München II vom 16. März 1995. Wegen zweier tateinheitlicher Vergewaltigungen, jeweils mit sexueller Nötigung, (eine Tat im rechtlichen Sinne ) am 16./17. April 1994 erkannte das Gericht auf eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren.
6
Der Anlassverurteilung vom 16. März 1995 lag zugrunde, dass der Verurteilte in der Nacht vom 16. auf den 17. April 1994 zwei 14 und 15 Jahre alte Anhalterinnen in seinem speziell hierfür präparierten VW-Bus nach sorgfältiger Tatplanung über mehrere Stunden hinweg sexuell misshandelte und vergewaltigte. Dabei versetzte er die Mädchen unter Bedrohung mit einer Pistole in Todesangst , verklebte deren Mund und fesselte sie. Beiden Mädchen stach er schließlich mit einer Nadel zweimal in die inneren Schamlippen und zog einen Faden durch diese. Die Fäden hielt er bei der Weiterfahrt zunächst in der Hand und verknotete sie später bei der Freilassung seiner Opfer. Zudem führte er ring- und schlauchartige Gegenstände in die Scheide der Mädchen ein.
7
Die Anordnung von primärer Sicherungsverwahrung - gemäß § 66 StGB in der damals geltenden Fassung - schied seinerzeit bereits deshalb aus, weil die vom Gesetz geforderten formellen Voraussetzungen - zwei Vorverurteilungen (§ 66 Abs. 1 StGB) bzw. drei Straftaten (§ 66 Abs. 2 StGB) - fehlten.
8
Gleichwohl führte das damals erkennende Gericht in den Urteilsgründen aus: „Im Übrigen konnte die Strafkammer in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof. Dr. Nedopil“ - er war bestellt zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des damaligen Angeklagten - „auch keinen Hang des Angeklagten zu erheblichen Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 und 2 StGB feststellen. Außer der einschlägigen Vorstrafe haben sich diesbezüglich keine sicheren Anhaltspunkte ergeben.“
9
2. Die Haftzeit des Verurteilten verlief nach den Feststellungen der Strafkammer „ohne besondere Vorkommnisse“. Seine Ehe wurde geschieden (bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache hatte der Verurteilte „ein arbeitsames Leben geführt und für seine Familie gesorgt“).
10
Der Verurteilte bezeichnete sich weiterhin als unschuldig, insbesondere den Mitgefangenen gegenüber, zu denen er allerdings mit Ausnahme des Zeugen B. wenig Kontakt pflegte. Dabei äußerte er, nur eines der Mädchen habe zivilrechtlich Schadensersatz begehrt, dabei auf seine Kosten den Führerschein gemacht und einen Motorroller erworben. Der Zeuge B. drängte ihn immer wieder, das „unrichtige“ Urteil nicht auf sich beruhen zu lassen und ein Wiederaufnahmeverfahren zu betreiben. Vor diesem Hintergrund äußerte der Verurteilte mehrfach, die „Schlampen bekämen ihr Fett ab“, für sie lasse er „sich etwas einfallen“. Diese „in ihrer Bedeutung ungenauen Kraftausdrücke“ belegten indes, so die Strafkammer, keine erhöhte Gewaltbereitschaft. Der Kontext der Äußerungen lasse es zumindest in gleichem Grad wahrscheinlich erscheinen, dass der Verurteilte damit lediglich einer Erörterung der Tat mit seinem Mitgefangenen aus dem Weg gehen wollte.
11
Im Rahmen der Prüfung einer bedingten Entlassung aus der Strafhaft erstattete der Sachverständige Prof. Dr. Athen ein Psychiatrisches Gutachten. Angesichts der nach seiner Einschätzung fortbestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten empfahl er eine bedingte Entlassung nicht.
12
Der Verurteilte bewarb sich während der Strafhaft zweimal für eine Sexualtherapie in anderen Vollzugsanstalten. Von einer dieser Einrichtungen wurde er abgelehnt, da er - im Jahre 1951 geboren - zu alt sei. Die in einer weiteren Anstalt schon begonnene Therapie wurde abgebrochen, da der Verurteilte nach Einschätzung der Therapeuten noch eine zu lange Reststrafe zu verbüßen hatte. Erst im Jahre 2007 - am 17. April 2008 stand das Haftende an - sollte der Verurteilte in die sozialtherapeutische Abteilung seiner Justizvollzugsanstalt verlegt werden. Der Verurteilte widersetzte sich, da er nicht krank sei. Dies wurde mit einem dreitägigen Arrest disziplinarisch geahndet - der einzigen Disziplinarmaßnahme gegen den Verurteilten während der gesamten Haftzeit. Nachdem er - dann wohl doch verlegt - zu einer Mitwirkung an der Therapie gleichwohl nicht zu gewinnen war, wurde er wieder in den Normalvollzug überwiesen.
13
3. Am 22. Januar 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München II die Einleitung des Verfahrens zur Unterbringung des Verurteilten in der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Im Hinblick auf die bevorstehende Entlassung beantragte die Staatsanwaltschaft zudem den Erlass eines Unterbringungsbefehls. Diesen Antrag wies das Landgericht München II zurück, das Oberlandesgericht München gab ihm auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft statt. Seit dem Ende der Strafhaft - 17. April 2008 - befand sich der Verurteilte in vorläufiger Unterbringung bis zum Erlass des hier angefochtenen Urteils am 27. Februar 2009, mit dem zugleich der Unterbringungsbefehl aufge- hoben wurde. (Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Aufhebung des Unterbringungsbefehls verwarf das Oberlandesgericht München inzwischen mit Beschluss vom 7. Mai 2009.) Der Verurteilte nahm Wohnung bei seinem Bruder in Nordrhein-Westfalen.
14
4. Im nunmehrigen Verfahren zur Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung hörte die Strafkammer zwei psychiatrische Sachverständige , Dr. Mattias Hollweg und Dr. Kuznik. Zu einer Exploration war der Verurteilte nicht bereit. Zur Gefährlichkeitsprognose führte die Strafkammer aus:
15
Aus Sicht der Sachverständigen ergab die Beweisaufnahme über die den beiden Urteilen vom 10. Mai 1985 und vom 16. März 1995 zugrunde liegenden Feststellungen hinaus keine neuen relevanten Umstände von Gewicht für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten, wenn man die Äußerungen zu seinen Opfern - wie die Strafkammer - nicht als ernstlich gemeinte Drohungen ansieht. Dieses und die weitere Bemerkung des Verurteilten dem Zeugen B. gegenüber, wonach eine Frau „nichts wert“ sei, man könne sie „gebrauchen“ und „wegwerfen“, belegten allerdings eine anhaltend frauenverachtende Einstellung.
16
Die Therapieverweigerung im Jahre 2007 stelle keinen die Gefahrprognose erhöhenden Umstand dar. Es sei nachvollziehbar, dass der Verurteilte wegen der bei Gefangenen üblichen Legendenbildung - er sei zu Unrecht verurteilt - in der eigenen Vollzugsanstalt eine Therapie nicht antreten wollte.
17
Insgesamt ergebe sich aber aus den zwei Urteilen aus den Jahren 1985 und 1995 eine ungünstige Prognose mit hoher Rückfallwahrscheinlichkeit. Bei gestörter Sexualpräferenz (ICD 10 F 65.5) sei eine Steigerung der Gewalt zu verzeichnen durch Hinzutreten sadistischer Handlungen, eine Zunahme der Intensität des Handlungsablaufs und der Erniedrigung der Opfer. Ungünstig zu bewerteten sei auch die Vorplanung - Bereitstellung der Tatwerkzeuge - und das Suchverhalten des Verurteilten (junge Anhalterinnen) bei der letzten Tat. Mit Einschränkung günstig sei das fortgeschrittene Alter des Verurteilten zu sehen.
18
Der Gutachter im Ausgangsverfahren, Prof. Dr. Nedopil, verwies bei seiner Anhörung darauf, dass es 1995 noch Stand der Wissenschaft gewesen sei, eine Wiederholungsgefahr nur dann anzunehmen, wenn zwischen zwei einschlägigen Taten auch positiv Befunde über Auffälligkeiten im Sexualleben getroffen werden könnten. Da nach Angaben der Ehefrau insoweit alles normal verlaufen sei, seien ihm nur die beiden Straftaten als Beurteilungsgrundlage verblieben, zwischen denen ein Zeitraum von knapp zehn Jahren liege. Heute beurteile er das anders. Für die Annahme einer sexuellen Deviation genüge nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft nunmehr das Vorliegen von zwei Straftaten. Grund hierfür sei „in der wechselseitigen Beeinflussung sowohl der Fortschritt der Wissenschaft wie auch die erhöhte Sensibilisierung der Öffentlichkeit gegenüber Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“.

II.


19
Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat die Strafkammer abgelehnt.
20
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 StGB sei schon mangels Vorliegens der dafür zusätzlichen formellen Voraussetzungen des § 66 StGB rechtlich nicht möglich.
21
Auch die Maßregel nach § 66b Abs. 2 StGB scheide aus. Es lägen keine neuen, erst während des Strafvollzugs erkennbar gewordene Tatsachen von Gewicht vor, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinwiesen.
22
Die hier relevanten Tatsachen seien deshalb nicht - wie von § 66b Abs. 2 StGB gefordert - neu, weil die den Hang zu erheblichen Straftaten sowie die Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit begründenden Befundtatsachen bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bekannt gewesen seien. „Vorliegend beruhen die von den Sachverständigen (Dr. Hollweg und Dr. Kuznik ) und den sachverständigen Zeugen (Prof. Dr. Nedopil und Prof. Dr. Athen) bekundeten devianten Entwicklungen der Sexualität des Antragsgegners, die Grundlage der Feststellung eines Hanges bilden könnten, auf Tatsachen, die in den Urteilen des Landgerichts München II aus den Jahren 1995 und 1985 festgehalten sind, und den darauf gegründeten fachlichen Schlussfolgerungen dieser Personen. Tatsachen aus der Zeit nach der letzten Verurteilung des Antragsgegners ... haben keinen Eingang in die Bekundungen der sachverständigen Zeugen oder die Gutachten der Sachverständigen gefunden ... und sind auch für das Gericht nicht ersichtlich.“
23
Prognoserelevant seien auch nicht die „Kraftausdrücke“ des Verurteilten in Bezug auf seine beiden Opfer. Diese hätten der Untermauerung seiner Legende gedient, unschuldig verurteilt worden zu sein. Als Grund hierfür komme in Betracht, dass unter den Insassen einer Vollzugsanstalt diejenigen Gefange- nen, die wegen Sexualdelikten verurteilt wurden, zumal bei Opfern im kindlichen und jugendlichen Alter, in der internen Hierarchie auf niedrigster Stufe stehen und daher prädestinierte Ziele für Angriffe der Mitgefangenen seien. Ein erhöhter Gefährlichkeitsgrad könne aus den Äußerungen des Verurteilten deshalb nicht geschlossen werden. Dies sieht die Strafkammer auch darin bestätigt, dass der Verurteilte nach seiner Entlassung fernab vom Umfeld der Geschädigten in Bayern bei seinem Bruder in Nordrhein-Westfalen Wohnung nahm.
24
Auch der fehlende Therapiewille in der Endphase der Strafhaft stelle sich nicht als neue Tatsache im Sinne von § 66b StGB dar. Es könne nicht festgestellt werden, dass der - seinerzeit bestreitende - damalige Angeklagte sich bei der Verhandlung im Jahre 1995 bereit gefunden habe, sich einer Therapie zu unterziehen. Außerdem sei auch die Ablehnung einer Therapie im Jahre 2007 in der Vollzugsanstalt, in der er viele Jahre verbracht hat, vor dem Hintergrund seiner Unschuldslegende nachvollziehbar und lasse keinen Schluss auf erhöhte Gefährlichkeit zu.

III.


25
Den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat das Landgericht im Ergebnis zutreffend zurückgewiesen. Die angefochtene Entscheidung entspricht der Rechtslage und ist auch sonst frei von durchgreifenden Rechtsfehlern.
26
1. Der Rüge der Verletzung formellen Rechts bleibt der Erfolg versagt.
27
Die Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet die Ablehnung ihres Beweisantrags vom 23. Februar 2009 auf Vernehmung des Vorsitzenden und eines weiteren Richters des Ausgangsverfahrens. Nach dem Inhalt der Revisionsbegründungsschrift richtet sich die Rüge nur gegen die Zurückweisung der Beweiserhebung über die unter Nr. 3 des Antrags genannten Umstände. Auch insoweit hat die Strafkammer den Beweisantrag mit noch tragfähiger Begründung zurückgewiesen. Über die in den verlesenen Urteilgründen genannten Anknüpfungstatsachen hinaus enthält der Beweisantrag keinen konkreten Tatsachenvortrag zur Feststellung eines Hanges im Zusammenhang mit der Anlassverurteilung.
28
2. Die Zurückweisung des Antrags auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hält auch sachlich-rechtlicher Prüfung stand.
29
a) Die Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB liegen - wie die Strafkammer im Einzelnen zutreffend dargestellt hat - schon aus formellen Gründen nicht vor.
30
Zusätzlich zu den Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 StGB müssen nämlich auch die (übrigen) Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sein. Das ist aber nicht der Fall: Zwar würde für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB (in der jetzt geltenden Fassung) eine Vorverurteilung vor der Anlassverurteilung genügen. Die Vorverurteilung aus dem Jahre 1985 hat jedoch gemäß § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB wegen „Rückfallverjährung“ außer Betracht zu bleiben. Zwischen dem Ende des hierauf beruhenden Strafvollzugs - am 8. Juni 1988 - und der neuen Tat - am 16. April 1994 - waren mehr als fünf Jahre vergangen. Da die Anlassverurteilung nur wegen einer Tat erfolgte, sind auch die Vorausset- zungen einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ohne Vorverurteilung gemäß § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB nicht gegeben.
31
b) Auch § 66b Abs. 2 StGB bietet im vorliegenden Fall keine Grundlage zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung.
32
Zwar sind insoweit die formellen Eingangsvoraussetzungen - Anlassverurteilung wegen einer Katalogtat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren - gegeben. Das Landgericht München II verhängte mit Urteil vom 16. März 1995 gegen den Verurteilten wegen eines Verbrechens gegen die sexuelle Selbstbestimmung - Vergewaltigung - eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren (14 Jahre).
33
Die von der Strafkammer referierten Darlegungen der Sachverständigen und der sachverständigen Zeugen - das Landgericht selbst äußert sich hierzu nicht ausdrücklich - lassen auch den Schluss zu, dass der Verurteilte infolge eines Hangs zur Begehung erheblicher (Sexual-)Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist (zum Erfordernis der Feststellung eines entsprechenden Hangs auch bei § 66b Abs. 2 StGB vgl. BGH, Beschl. vom 9. Januar 2007 - 1 StR 605/06 - [BGHSt 51, 191] Rdn. 21).
34
Dies beruht jedoch allein auf den Feststellungen in den Urteilen vom 10. Mai 1985 und vom 16. März 1995. Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB setzt aber - wie in den Fällen des Abs. 1 Satz 1 - zusätzlich voraus, dass sich diese Gefährlichkeit ergänzend auch aus der Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzugs ergibt.
35
Es müssen deshalb nach der Anlassverurteilung vor dem Ende des Strafvollzugs Tatsachen - und zwar neue Tatsachen - erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinweisen und in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (vgl. BGH, Urt. vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 - [BGHSt 50, 284, 296]; Beschlüsse vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05 - Rdn. 15; 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - [BGHSt 50, 373, 378]; 9. Januar 2007 - 1 StR 605/06 - Rdn. 10, insoweit in BGHSt 51, 191 nicht abgedruckt ; 17. Juni 2008 - 1 StR 227/08 - Rdn. 13; 7. Oktober 2008 - GSSt 1/08 - [BGHSt 52, 379, 389 Rdn. 32]; BVerfG - Kammer - Beschl. vom 23. August 2006 - 2 BvR 226/06 - [BVerfGK 9, 108]).
36
Denn § 66b Abs. 2 StGB eröffnet nicht die Möglichkeit, die bei der Anlassverurteilung gemäß der damaligen und insoweit bis heute unveränderten Rechtslage verwehrte primäre Anordnung der Sicherungsverwahrung (gemäß § 66 Abs. 1 StGB) bei Strafende aufgrund derselben Erkenntnisgrundlage wie zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nachzuholen.
37
§ 66b Abs. 1 Satz 2 StGB, der keine neuen Tatsachen voraussetzt, gilt - ersichtlich - nicht für § 66b Abs. 2 StGB. Dies hat der Gesetzgeber klargestellt: Diese Regelung wurde für „Altfälle“ geschaffen (insbesondere im Hinblick darauf , dass § 66 StGB auf im Beitrittsgebiet begangene Taten zunächst nicht anwendbar war). Durch dieses Gesetz - das am 18. April 2007 in Kraft getretene Gesetz zur Reform zur Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I 513) - wurden zugleich in § 66b Abs. 2 StGB die Worte eingefügt, dass „Tatsachen der in Absatz 1 Satz 1 genannten Art“ verwertet werden dürfen, die „nach einer Verurteilung... erkennbar“ geworden sind. Solche Tatsachen müssen also „neu“ sein.
38
Rechtspolitische Anregungen im Zusammenhang mit dem damaligen Gesetzgebungsverfahren, die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch für diejenigen Fälle im Grundsatz zu ermöglichen, in denen - etwa wie hier wegen der eingetretenen „Rückfallverjährung“ - bei der Anlassverurteilung aus rechtlichen Gründen keine Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB angeordnet werden konnte und auch gegenwärtig nicht angeordnet werden könnte, blieben erfolglos (vgl. BGH, Urt. vom 17. Juni 2008 - 1 StR 227/08 - Rdn. 14 ff.; Kett-Straub GA 2009, 586, 599 f.; zum Anwendungsbereich des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB vgl. auch BGH, Urt. vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09 - Rdn. 25 ff.). Inwieweit eine derartige Regelung in Fällen der vorliegenden Art allerdings überhaupt möglich wäre ohne mit den bestehenden Vorschriften über die „Rückfallverjährung“ (§ 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 4 Satz 3 StGB) in einen Wertungswiderspruch zu geraten, kann hier dahinstehen.
39
„Neue Tatsachen“ liegen dann nicht vor, wenn sie dem früheren Tatrichter bekannt waren oder wenn sie ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären und erkennen müssen. In diesem Sinne erkennbar sind zunächst solche Umstände, die ein Tatrichter nach Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO für die Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung hätte aufklären müssen.
40
Hier kam im Zusammenhang mit der Anlassverurteilung die Anordnung einer Sicherungsverwahrung allerdings schon aus formellen Gründen von vorneherein nicht in Betracht. Dann musste sich das damals zuständige Gericht mit der Frage eines Hanges des Angeklagten und seiner Gefährlichkeit im Hinblick auf die Maßregel seinerzeit im Grundsatz auch nicht auseinandersetzen.
41
Für die Beantwortung der Frage, ob in derartigen Fällen eine Tatsache im Sinne von § 66b Abs. 2 StGB neu ist, kann aber auch dann nur maßgebend sein, ob die der Bewertung (von Hang und Gefährlichkeit) zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits vorlagen und für das damals erkennende Gericht erkennbar waren (vgl. auch BGH, Beschl. vom 25. Juli 2006 - 1 StR 274/06 - Rdn. 12). Nicht neu sind demnach in diesen Fällen solche Tatsachen, die das Gericht, hätte es die Anordnung einer Sicherungsverwahrung zu prüfen gehabt, seinerzeit hätte feststellen müssen und können.
42
Allerdings wird es auf derartige außerhalb der Kognitionspflicht des Gerichts der Anlassverurteilung liegende Erkenntnismöglichkeiten in aller Regel nicht ankommen. Denn Umstände, die den Hang eines Angeklagten zu erheblichen Straftaten und seine Gefährlichkeit begründen, kennzeichnen auch maßgeblich seine Persönlichkeit und sind für die Strafzumessung und die Frage der Schuldfähigkeit von grundlegender Bedeutung. So liegt es jedenfalls in diesem Fall. Deshalb konnte sich der zur Frage der Schuldfähigkeit des damaligen Angeklagten gehörte Sachverständige im Verfahren, das der Anlassverurteilung zugrunde lag, auf derselben Tatsachenbasis auch zum Hang äußern.
43
Dass die Sachverständigen die Frage des Hangs des Verurteilten zu erheblichen Straftaten und seine Gefährlichkeit nunmehr - 14 Jahre später - und zwar aufgrund derselben Anknüpfungstatsachen anders beurteilen, stellt keine neue Tatsache im Sinne von § 66b Abs. 1 und 2 StGB dar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - [BGHSt 50, 275, 279]; 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - [BGHSt 50, 373, 379, 383]; 25. Juli 2006 - 1 StR 274/06 - Rdn. 11 f.; im Unterschied zu § 66b Abs. 3 StGB, vgl. BVerfG - Kammer - Beschl. vom 5. August 2009 - 2 BvR 2098, 2633/08 - B. I. 3. b) aa)

(3)).

44
Voraussetzung für die Einordnung eines während des Strafvollzugs bekannt gewordenen Sachverhalts als „neue Tatsache“ im Sinne des § 66b StGB ist, dass er die Gefährlichkeit des Betroffenen höher oder in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lässt (vgl. BGH, Beschl. vom 12. September 2007 - 1 StR 391/07). Derartiges konnte die Strafkammer vorliegend nicht feststellen (wie dies auch das Oberlandesgericht München in seinem eingehend begründeten Beschluss vom 7. Mai 2009 zutreffend dargelegt hat).
45
Als möglicherweise „neue Tatsachen“ standen allein die gegenüber Mitgefangenen geäußerten Drohungen in Bezug auf die Tatopfer im Raum. Dass hieraus kein Schluss auf eine erhöhte Gefährlichkeit gezogen werden kann, hat die Strafkammer ausführlich und tragfähig damit begründet, dass dies lediglich Teil der - in der Vollzugsanstalt für einen Sexualstraftäter mit jugendlichen Opfern geradezu existenznotwendigen - Unschuldslegende gewesen sei. Diese Bewertung des Landgerichts ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
46
Der Generalbundesanwalt hat dies mit seinen Ausführungen in der Revisionshauptverhandlung ebenso beurteilt und deshalb beantragt, die Revision der Staatsanwaltschaft zu verwerfen. Dem folgte der Senat aus den dargelegten Gründen. Nack Rothfuß Hebenstreit Elf Jäger

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn

1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist,
2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist,
3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist,
4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist,
5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder
6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.

(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.

(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 476/05
vom
23. März 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
21. März 2006 in der Sitzung am 23. März 2006, an denen teilgenommen haben
:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl
als Vorsitzender
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts Passau vom 10. Juni 2005 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat gegen den Betroffenen die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn sogleich in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus überwiesen. Hiergegen richtet sich die Revision des Betroffenen, die die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
3
Der im Jahr 1934 geborene Betroffene erlitt 1955 bei einem Motorradunfall eine Schädelbasisfraktur, in deren Folge es bei ihm zu einer organischen Persönlichkeitsstörung kam. Ein schon damals festgestellter frontaler Hirnsubstanzdefekt führte zu einem fortschreitenden Persönlichkeitsabbau. 1994 wurde er wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe verurteilt, im selben Jahr auch wegen dreier Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er hatte ein Kind jeweils auf den Arm genommen, ihm unter dem T-Shirt an die Brust und über der Kleidung an die Scheide gefasst und ihm schließlich Zungenküsse gegeben. Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit zur Tatzeit konnte nicht ausgeschlossen werden. Nach Verlängerung der Bewährungszeit wurde die Freiheitsstrafe Ende 1997 erlassen.
4
Das Landgericht Passau verurteilte den Betroffenen schließlich am 16. März 1999 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafen jeweils zwei Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe; sog. Anlassverurteilung in dieser Sache). Er hatte im Sommer 1986 von der damals 12-jährigen Tochter einer Frau, deren Liebhaber er war, den Geschlechtsverkehr erzwungen, indem er dem Kind drohte, sonst seine Schwester "zu gebrauchen". Da sich das Mädchen nicht einschüchtern ließ und sich wehrte, packte er es, riss ihm die Hose herunter und warf es auf eine Couch. Er drückte es an den Schultern nieder und führte den ungeschützten Verkehr bis zum Samenerguss durch. Zwei Wochen nach diesem Vorkommnis wiederholte sich der Vorgang. Wegen zweier ähnlich liegender Taten zum Nachteil der Schwester des Opfers stellte das Landgericht das Verfahren wegen Verjährung ein.
5
Der Betroffene verbüßte die verhängte Freiheitsstrafe vollständig. Für die Zeit nach der Vollstreckung der Strafe ordnete das Landgericht Bayreuth mit Beschluss vom 6. Februar 2002 für die Dauer von fünf Jahren Führungsaufsicht an und brachte den Betroffenen darüber hinaus mit Beschluss vom 10. April 2002 nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung besonders rückfallgefährdeter hochgefährlicher Straftäter (BayStrUBG) unbefristet in einer Justiz- vollzugsanstalt unter. Mit Beschluss vom 16. Dezember 2003 wurde der Vollzug dieser Anordnung für die Dauer eines Jahres ausgesetzt und dem Betroffenen auferlegt, in einem Seniorenhaus Aufenthalt zu nehmen. Da es dort im Januar und Februar 2004 zu sexuellen Übergriffen auf demente Mitbewohnerinnen kam, widerrief die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 26. März 2004 die Aussetzung. Der Betroffene wurde wieder in den Unterbringungsvollzug genommen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Bundesländern mit Urteil vom 10. Februar 2004 die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass landesrechtlicher sicherungsverwahrender Vorschriften aus verfassungsrechtlichen Gründen abgesprochen und die Geltung solcher Bestimmungen bis zum 30. September 2004 befristet hatte (BVerfGE 109, 190), überwies die Strafvollstreckungskammer den Betroffenen nach § 67a Abs. 2 StGB in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Dort befindet er sich seither, mittlerweile aufgrund Unterbringungsbeschlusses nach § 275a Abs. 5 StPO.
6
2. Unter der Zwischenüberschrift "Neuere Entwicklung des Betroffenen" hat die Strafkammer sodann weiter festgestellt:
7
Der Betroffene unterzog sich während des Strafvollzugs nach seiner Verurteilung im Jahr 1999 wegen der beiden 1986 begangenen Vergewaltigungstaten keinerlei psychotherapeutischen Maßnahmen. Eine Sexualtherapie lehnte er stets ab. Ebenso stritt er auch in der Haft die Taten ab und entzog somit möglichen therapeutischen Maßnahmen jegliche Grundlage. Aufgrund bestehender Störungen im kognitiven Bereich und im Hinblick auf die während der Haftzeit fortgeschrittene hirnorganische Persönlichkeitsstörung vermag er die Grenzen zu sexuell deviantem Verhalten nicht zu erkennen und nicht zu reflektieren.
8
Dies führte dazu, dass er sich während seines Aufenthalts in dem Seniorenhaus wiederholt an Mitbewohnerinnen heranmachte, diese an Orte verbrachte , welche vom Pflegepersonal nicht beobachtet wurden, dort deren Unterkörper entkleidete und ihnen die Windelhose öffnete oder die Unterhose auszog , um sich daran sexuell zu ergötzen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Vorfälle:
9
- Am 14. Januar 2004 fand eine Pflegekraft die an ausgeprägter Demenzerkrankung leidende Heimbewohnerin B. im Zimmer des Betroffenen mit völlig entkleidetem Unterkörper vor, während sich der Betroffene im Badezimmer aufhielt und gerade dabei war seine Hose hochzuziehen.
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- Am 2. Februar 2004 öffnete der Betroffene im Zimmer der ausgeprägt demenzkranken Bä. deren Windelhose und fasste sie am Intimbereich an. Dabei wurde er von einer Pflegerin angetroffen, die "ihn schimpfte" und fortschickte.
11
- Am 14. Februar 2004 kam eine Pflegekraft hinzu, als er Frau Bä. eine "doppelte Windelhose" machte, indem er ihr die Unterhose auszog und über der Windel eine grüne Windel anzog.
12
- An einem weiteren nicht näher bestimmbaren Tag im Januar oder Februar 2004 traf eine Pflegekraft den Betroffenen dabei an, wie er Frau Bä. auf dem Gang vor den Zimmern von oben in das T-Shirt langte und an ihrer Brust manipulierte.
13
3. Bei seiner Gesamtwürdigung hat das Landgericht angenommen, dass vom Betroffenen eine erhebliche Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung Anderer ausgehe. Krankheitsbedingt sei bei ihm keine Reflektionsfähigkeit mehr vorhanden. Aufgrund seiner organischen Persönlichkeitsstörung sei er nicht mehr in der Lage, im Sexualbereich Grenzen zu erkennen. Wegen seiner erstmals in der Haft aufgetretenen Erektionsstörungen sei auch nach Auffassung der beiden gehörten Sachverständigen erfahrungsgemäß mit der Zuwendung zu immer jüngeren Kindern als Ersatzobjekten zu rechnen, von denen kein unüberwindbarer Widerstand zu erwarten sei, ebenso aber auch mit Ersatzhandlungen und impulsiven Übersprungshandlungen. Diese Entwicklung des Betroffenen spiegele sich in seinen Taten im Seniorenheim wider, wo er sich zwar nicht mehr an Kindern, aber doch an widerstandsunfähigen Personen vergangen habe. Bei ihm liege eine sexuelle Störung mit Steigerung der sexuellen Appetenz vor. Auch wenn man Handlungen wie beispielsweise das "Begrabschen" nicht als erheblich einstufen wolle, so gehe vom Betroffenen gleichwohl eine erhebliche Gefahr für die sexuelle Selbstbestimmung Anderer aus. Angesichts der kognitiven Defizite und der mangelnden Reflektionsfähigkeit des Betroffenen bestehe situationsbedingt immer die konkrete Gefahr, dass sich - ausgehend von den Reaktionen des Opfers - auch gravierende Straftaten entwickeln könnten.
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4. Das Landgericht geht bei seiner rechtlichen Würdigung vom Vorliegen der Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung aus und knüpft an die Verurteilung durch das Landgericht Passau vom 16. März 1999 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen an (§ 66b Abs. 1 StGB). Der Hang des Betroffenen, erhebliche Straftaten zu begehen, werde durch die Vorstrafen wegen der Vergewaltigung junger Mädchen belegt. Dieser Hang habe weder während der Haft noch wegen des fortgeschrittenen Alters des Betroffenen ein Ende gefunden. Aufgrund der organischen Persönlichkeitsstörung wirke sich das zunehmende Alter vielmehr sogar gefahrerhöhend aus.
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Vor Ende der Haftzeit seien Tatsachen erkennbar geworden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinwiesen. Er habe während der Haftzeit jegliche Sexualtherapie verweigert und sei nicht therapiefähig , weil er die begangenen Taten immer geleugnet habe. Krankheitsbedingt fehle ihm die Reflektionsfähigkeit über ein mögliches sexualdeviantes Verhalten. Das beruhe auf der organischen Persönlichkeitsstörung als Nachwirkung eines unfallbedingten Hirnsubstanzdefekts, der zu einem fortschreitenden Persönlichkeitsabbau führe. Bei den genannten Gesichtspunkten handele es sich "allesamt um Umstände, die erst in der Haft aufgetreten bzw. - wie der hirnorganische Abbau - fortgeschritten" seien. Die Vorfälle im Seniorenheim belegten die geschilderten Tatsachen bezüglich der Entwicklung des Betroffenen , deren Ursachen und Fortschritt erst in der Haft erkennbar geworden seien.
16
5. Die mit dem Urteil ausgesprochene Überweisung des Betroffenen in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus begründet die Strafkammer damit, dass diese von beiden Sachverständigen ausdrücklich empfohlen worden sei. Die organische Persönlichkeitsstörung des Betroffenen und die Auffälligkeiten unterstrichen das Erfordernis einer hochqualifizierten therapeutischen und pflegerischen Betreuung. Dort könne auch erprobt werden, ob durch eine etwaige medikamentöse Intervention die Verhaltensauffälligkeiten gebessert werden könnten. Deshalb halte auch die Kammer die Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus für sachgemäß. Dafür biete das Gesetz aber gegenwärtig keine ausdrückliche Möglichkeit. Zwar sei parallel zum gegenständlichen Verfahren betreffend die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung ein objektives Sicherungsverfahren nach den §§ 413 ff. StPO beim Landgericht Hof anhängig. Dessen Gegenstand sei der sexuelle Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person, nämlich der demenzkranken Frau Bä. (Manipulation an der Brust; vgl. oben, vierter Vorfall). Der Ausgang jenes Verfahrens sei für die Kammer jedoch nicht absehbar und nicht beeinflussbar. Die unmittelbare Anwendung des § 67a Abs. 2 StGB sei nicht möglich. Der Fall zeige jedoch, dass hier ein Bedürfnis für eine gleichzeitige resozialisie- rungsfördernde Überweisung in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bestehe, obgleich die Anordnungsvoraussetzungen für diese Maßnahme (§ 63 StGB) nicht vorlägen.

II.


17
Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es läßt besorgen , das Landgericht könne Umstände als "neue Tatsachen" im Sinne der gesetzlichen Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung (§ 66b Abs. 1 StGB) behandelt haben, die von Rechts wegen nicht berücksichtigungsfähig sind oder bei denen dies nach den Urteilsgründen zumindest zweifelhaft ist und unklar bleibt. Das erweist sich als Darlegungs- und Erörterungsmangel , der zur Aufhebung des Urteils führt.
18
1. Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt voraus, dass vor Ende des Vollzuges der Freiheitsstrafe aus der Anlassverurteilung Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66b Abs. 1 StGB). "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66b StGB sind nur solche, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz (Anlassverurteilung) und vor Ende des Vollzuges der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562; NJW 2006, 531, 535). Aber auch Umstände, die für einen sorgfältigen Tatrichter bei der Anlassverurteilung erkennbar oder aufklärungsbedürftig waren, sind nicht neu im Sinne des § 66b StGB (BGH NStZ 2006, 155, 156). Darüber hinaus müssen die neuen Tatsachen eine "gewisse Erheblichkeitsschwelle" überschreiten (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 12). Sie müssen schon für sich Gewicht haben und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdi- gung aller Umstände auf eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung des Lebens , der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Anderer durch den Betroffenen hindeuten (BGH NJW 2006, 531, 535).
19
2. Die vom Landgericht angeführte "neuere Entwicklung" des Betroffenen weist Tatsachen aus, die die Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres zu rechtfertigen vermögen.
20
Die Strafkammer hat in einem eigenständigen Abschnitt der Urteilsgründe die "neuere Entwicklung" des Betroffenen dargestellt. Dabei hat sie seine fehlende Therapiebereitschaft und sein Bestreiten der Anlasstaten auch in der Strafhaft, den fortschreitenden hirnorganischen Abbau sowie die sexualbezogenen Verhaltensweisen im Umgang mit demenzkranken pflegebedürftigen Frauen während seines Aufenthaltes in einem Seniorenheim angeführt. Diese Gesichtspunkte hat sie auch in der abschließenden rechtlichen Bewertung aufgegriffen , aber nicht verdeutlicht, ob sie in bestimmten Umständen etwa keine neuen Tatsachen gesehen und diese lediglich bei der Gesamtwürdigung und Prognose herangezogen hat. Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe spricht eher dafür, dass sie in allen Umständen, die sie unter der "neueren Entwicklung" des Betroffenen aufgeführt hat, neue Tatsachen im Sinne des § 66b StGB gesehen hat. Insoweit gilt:
21
a) Die sexualbezogenen Vorfälle im Seniorenheim haben hier als "neue Tatsachen" von vornherein außer Betracht zu bleiben, weil sie sich nicht während des Vollzuges der Freiheitsstrafe ereignet haben. Vielmehr befand sich der Betroffene in dem in Rede stehenden Zeitraum in einer nachträglichen landes- rechtlichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die ausgesetzt war. Für diese sog. Übergangsfälle hat der Gesetzgeber nochmals ausdrücklich das bestätigt, was sich bereits aus dem Wortlaut des § 66b Abs. 1 StGB ergibt: Umstände aus der landesrechtlichen Unterbringung (nach BayStrUBG) sind keine neuen Tatsachen im Sinne des § 66b StGB (Art. 1a Satz 2 EGStGB; so auch die Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 20). Sie können allenfalls bei der anzustellenden Gefährlichkeitsprognose mit berücksichtigt werden (vgl. Gesetzesbegründung aaO).
22
b) Hinsichtlich der danach verbleibenden Umstände, die als "neue Tatsachen" im Sinne des Gesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich berücksichtigungsfähig sind, lässt sich den Urteilsgründen nicht eindeutig entnehmen, ob sie bereits für den früheren Tatrichter erkennbar oder ihm sogar bekannt waren. Die Strafkammer hat sich damit nicht in nachprüfbarer Weise auseinandergesetzt. In den Urteilsgründen klingt jedoch an, dass der Betroffene die Anlasstaten auch schon im Erkenntnisverfahren bestritten hat. Dies ist dem Senat auch aufgrund seiner Befassung mit der seinerzeitigen Revision des Betroffenen gegen das Urteil des Landgerichts Passau vom 16. März 1999 bekannt (1 StR 547/99). Damit liegt nahe, dass auch in der Therapieverweigerung des Betroffenen keine neue Tatsache gesehen werden kann; das wäre nur dann der Fall, wenn das Ursprungsgericht zum Zeitpunkt der Verurteilung davon hätte ausgehen können, der Betroffene werde sich im Strafvollzug einer Erfolg versprechenden Therapie unterziehen (BGH, Beschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 = NStZ 2006, 155; Beschluss vom 19. Januar 2006 - 4 StR 393/05 - Umdruck S. 12; vgl. zur eingeschränkten Bedeutung fehlender Therapiebereitschaft weiter BVerfGE 109, 190, 241; BGH NJW 2005, 2022, 2024; Bericht des Rechtsausschusses BTDrucks. 15/3346, S. 17).
23
c) Ähnlich liegt es für den vom Landgericht festgestellten frontalen Hirnsubstanzdefekt, der sich in der Folge eines schweren Motorradunfalls entwickelt hat, den der Betroffene bereits im Jahr 1955 erlitt. Schon in früherer Zeit war bei ihm ersichtlich in dessen Folge bei strafbaren Handlungen eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen. Das Landgericht hätte sich deshalb damit auseinandersetzen müssen, ob und inwieweit es sich bei dieser Entwicklung um eine schon für den Tatrichter der Anlasstat erkennbare neue Tatsache gehandelt hat und, wenn ja, ob gegebenenfalls allein das Fortschreiten des Hirnsubstanzdefekts als einzig verbleibende neue Tatsache die Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnte (vgl. für einen erstmals festgestellten frontal betonten Hirnsubstanzdefekt als "neue Tatsache" BGH, Beschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - Umdruck S. 6 = NStZ 2006, 155, 156). Das Revisionsgericht vermag diese Bewertung, die tatrichterliche Aufgabe ist, grundsätzlich nicht zu ersetzen.
24
3. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung kann mithin keinen Bestand haben. Schon deshalb entfällt auch die zugleich ausgesprochene Überweisung des Betroffenen in den Vollzug der Maßregel nach § 63 StGB. Diese rechtliche Bewertung entspricht insoweit auch dem vom Generalbundesanwalt in der Revisionshauptverhandlung gestellten Antrag, der von seiner Antragsschrift abweicht.

III.


25
Der Senat sieht im Blick auf die erforderliche Neuverhandlung der Sache Anlass zu den nachfolgenden Hinweisen:
26
1. Das Landgericht, dem die durch den Bundesgerichtshof herausgebildeten Maßstäbe zur Auslegung des § 66b StGB zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht bekannt sein konnten, wird nunmehr zu prüfen haben, ob neue, erstmals in der Strafhaft des Betroffenen hervorgetretene erhebliche Tatsachen feststellbar sind, die bei Aburteilung der Anlasstaten nicht erkennbar waren. Auf dieser Grundlage wird die Frage eines Hanges des Betroffenen zur Begehung von Sexualstraftaten und seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB erneut zu beurteilen sein. Bei der Gefährlichkeitsprognose allerdings kann seine gesamte Entwicklung in den Blick genommen werden (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 20). Im Einzelnen wird das Landgericht auch Folgendes zu bedenken haben:
27
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist die schwerste Unrechtsfolge , die zum Strafrecht im weiteren Sinne gehört (BVerfGE 109, 190, 211 ff.; BGH, Beschluss vom 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - Umdruck S. 7). Sie ist als letztes Mittel in seltenen Fällen für extrem gefährliche Täterpersönlichkeiten gerechtfertigt (BVerfGE 109, 190, 242). Ihre Anwendung ist nach dem Willen des Gesetzgebers restriktiv zu handhaben (Gesetzesbegründung, aaO, S. 10, 12 f.; BVerfGE aaO, S. 236; BGH aaO, S. 8 m.w.N.). Daran hat sich die Auslegung der Vorschrift zu orientieren.
28
Die neue Strafkammer wird weiter im Auge zu behalten haben, dass "neue Tatsachen" im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB schon für sich Gewicht haben und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdigung aller Umstände auf eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit , der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Anderer durch den Betroffenen hindeuten müssen (BGH NJW 2006, 531, 535). Soweit hier letztlich allein das Fortschreiten des Hirnabbaus des Betroffenen infrage stehen sollte, wird zudem zu verlangen sein, dass dieser sich nach außen während der Strafhaft in irgendeiner Form manifestiert und ausgedrückt hat. Der Senat weist in diesem Zusammenhang auch auf die Möglichkeit einer Rücknahme des Antrags der Staatsanwaltschaft hin (vgl. dazu BGH NJW 2006, 852, 853 Rdn. 10 f.).
29
2. Zudem wird es nahe liegen, dem objektiven Sicherungsverfahren (§§ 413 ff. StPO, § 63 StGB) beim Landgericht Hof Fortgang zu geben und gegebenenfalls dort einstweilige Maßnahmen zu treffen, mag in jenem Verfahren auch die Erheblichkeit der rechtswidrigen Tat besonders prüfungsbedürftig erscheinen (§ 184f Nr. 1 StGB; vgl. zur daneben bestehenden Möglichkeit der landesrechtlichen Unterbringung auch § 1 Abs. 1 BayUntbrG). Dem anhängigen Sicherungsverfahren kommt allerdings hier kein Vorrang zu, weil die dort gegenständlichen Vorfälle sich nach der Entlassung des Betroffenen aus der Strafhaft ereignet haben. Wäre dies anders und erwiesen sie sich zugleich als "neue Tatsachen" im Sinne des § 66b Abs. 1 StGB, so wäre das Sicherungsverfahren , das ebenfalls den Schutz der Allgemeinheit bezweckt, vorrangig zu betreiben (vgl. zum Vorrang des Erkenntnisverfahrens, wenn dort die Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung besteht: BGH, Beschluss vom 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - Umdruck S. 10 f.).
30
3. Darüber hinaus weist der Senat darauf hin, dass die vom Landgericht sogleich ("uno actu") mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfolgte Überweisung des Betroffenen in die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (nach § 67a Abs. 2 StGB i. V. m. § 63 StGB) dem Zustand des Betroffenen zwar in praktischer Hinsicht Rechnung trägt, aber rechtlichen Bedenken begegnet. Diese hat das Landgericht gesehen, indes an- genommen, sie aus Gründen praktischer Bedürfnisse vernachlässigen zu dürfen.
31
Die Überweisung in die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus darf nicht zugleich mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ausgesprochen werden. Der Gesetzgeber hat wohl im Grundsatz für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel offen halten wollen. Darauf deuten die Materialien hin, denen zufolge die Überweisungsvorschrift des § 67a Abs. 2 StGB auch bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung anwendbar sein soll (Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887, S. 14; in diese Richtung auch BVerfGE 109, 190, 242 f.). Für die Überweisung ist jedoch die Strafvollstreckungskammer zuständig. Bei einer Entscheidung durch die Strafkammer würde nicht der gesetzliche Richter tätig (so schon BGH, Beschluss vom 15. Februar 2006 - 2 StR 4/06 - Umdruck S. 10). Angesichts des Gewichts des Eingriffs einer nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in das Freiheitsgrundrecht hält es der Senat zudem ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für nicht statthaft, durch eine "uno actu" ausgesprochene Überweisung in die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus gewissermaßen auf diesem Umwege die nachträgliche Unterbringung in der Maßregel des § 63 StGB einzuführen. Hätte der Gesetzgeber diese Möglichkeit schaffen wollen, so hätte das ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung bedurft.
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Hält man die Überweisungsvorschrift für anwendbar, so ist sie demzufolge ihrem Wortlaut gemäß auszulegen: Die Überweisung ist "nachträglich" möglich , wenn dadurch die Resozialisierung des Betroffenen besser gefördert werden kann (§ 67a Abs. 2 StGB), insbesondere die dort mögliche Behandlung oder auch nur Betreuung seinem Zustand am ehesten gerecht zu werden vermag.
33
Das Landgericht hat all dies im rechtlichen Ansatz selbst so gesehen, sich jedoch zur Schließung der von ihm angenommenen Gesetzeslücke berechtigt erachtet. Der Senat vermag dem nicht beizupflichten. Wahl Boetticher Schluckebier Kolz Hebenstreit

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.