Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2019 - 5 StR 466/18

bei uns veröffentlicht am09.01.2019

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
5 StR 466/18
vom
9. Januar 2019
in dem Sicherungsverfahren
gegen
ECLI:DE:BGH:2019:090119U5STR466.18.0

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. Januar 2019, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Mutzbauer,
Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Sander, Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Schneider, Richter am Bundesgerichtshof Dr. Berger, Prof. Dr. Mosbacher
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof S. , Staatsanwältin als Gruppenleiterin K.
als Vertreterinnen des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 14. Mai 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -

Gründe:


1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.


2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der seit mindestens 2011 an einer paranoiden Psychose leidende Beschuldigte im September 2017 nach einem misslungenen Selbsttötungsversuch für die Dauer von zwei Wochen gemäß § 12 HmbPsychKG in einer geschlossenen Station für psychisch Kranke in H. untergebracht.
3
a) Fünf Tage nach seiner Aufnahme trank er ca. eine Flasche Korn, die von einem Mitpatienten eingeschmuggelt worden war. Er geriet in Streit mit einer Mitpatientin. Als eine Pflegerin schlichtend eingriff und den Beschuldigten aufforderte, auf sein Zimmer zu gehen, stritt er sich mit dieser, sagte: „Ich stech‘ dich ab“, lachte sie aus und kündigte an, ihr ins Gesicht zu spucken. Eine weite- re Pflegerin kam dazu, um beide voneinander zu trennen. Dabei entwickelte sich ein Gerangel. Der Beschuldigte ging schließlich hinter der einen Pflegerin her. Als diese sich zu ihm umdrehte, spuckte er ihr ins Gesicht und schlug ihr zunächst mit der flachen Hand, dann mit der Faust ins Gesicht. Länger anhaltende Schmerzen erlitt sie hierdurch nicht.
4
Wegen des Übergriffs wurde die Fixierung des Beschuldigten angeordnet. Ihm gelang es, zuvor aus seinem Zimmer ein Einhandmesser mit einer ca. zehn Zentimeter langen Klinge sowie eine Dose mit Reizgas zu nehmen und in seinen Hosenbund zu stecken. Nach dem Fixieren von Händen und Füßen äußerte er, er werde die zuvor verletzte Pflegerin und eine anwesende weitere Pflegerin abstechen. Er befreite seine linke Hand aus der Fixierung, ergriff sein Messer, schnitt die Fixiergurte für die rechte Hand und die Füße auf und wollte die Station verlassen. Dabei hielt er das Messer und das Reizgasspray sichtbar in den Händen. Einen Pfleger forderte er auf, die Tür zu öffnen, was dieser aus Angst vor einer Eskalation tat.
5
b) Von herbeigerufenen Polizeibeamten wurde der Beschuldigte in einem nahegelegenen Wohngebiet angetroffen. Er stand mittig auf der Fahrbahn und hielt Messer und Spray weiterhin in der Hand. Als er der Polizisten gewahr wur- de, die „Stehen bleiben, Polizei“ gerufen hatten, betätigte er einmal das Pfeffer- spray in Richtung von zwei Beamtinnen. Diese mussten zu seiner Verfolgung durch den Sprühnebel laufen, wodurch eine von ihnen einen eineinhalb Stun- den andauernden Hustenanfall erlitt. Der Beschuldigte sprühte ein zweites Mal in Richtung der anderen Polizistin, die hierdurch Schmerzen in den Augen verspürte , ließ dann Messer und Spray fallen und sich festnehmen. Er wurde zurück auf seine Station gebracht und dort erneut fixiert. Auf ihn wirkte im Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von etwa 2,6 g/l ein.
6
c) Nach diesem Vorfall blieb der Beschuldigte weiterhin in der Klinik in einer geschlossenen Station. Nach ca. zwei Monaten Aufenthalt erhielt er erstmals Ausgang in den Hof der Klinik. Dort konsumierte er Alkohol, den er auf die Station geschmuggelt hatte. Absprachewidrig begab er sich in einen nahegelegenen Supermarkt, kaufte dort ein Küchenmesser mit ca. zehn Zentimeter langer Klinge und wollte mit einem vor dem Krankenhaus haltenden Taxi zu einer Bank fahren. Ein hinzugekommener Pfleger überredete ihn, wieder zurück ins Krankenhaus zu gehen. Als sie dieses erreichten, zog der Beschuldigte das noch verpackte Messer aus seiner Jacke und öffnete die Verpackung, wobei er sich an der Hand verletzte. Er hielt die Klinge nun in Richtung des Pflegers und eines Wachmanns und sagte: „Bleibt alle weg!“ Damit wolle er sie daran hindern , seine Flucht zu unterbinden. Als er wieder Richtung Parkplatz ging, redete der Pfleger auf ihn ein, was ihn schließlich dazu veranlasste, das Messer wegzuwerfen. Die Blutalkoholkonzentration betrug dabei 1,5 Promille.
7
2. Das Landgericht hat angenommen, die drei festgestellten Taten seien „im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB“ begangen wor- den. Der Beschuldigte leide seit mindestens 2011 an einer paranoiden Psychose , die auch Grund für seine Alkoholabhängigkeit sei. In allen drei Fällen sei es zu einer „erheblichen Einschränkung der Einsichtsfähigkeitin das Unrecht der Tat“ gekommen. An einer Unterbringung nach § 63 StGB hat sich die Straf- kammer gehindert gesehen, weil es sich bei den Anlasstaten nicht um erhebli- che Taten im Sinne von § 63 Satz 1 StGB handele und keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehe, dass der Beschuldigte schwerwiegendere Taten begehen werde.

II.


8
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.
9
1. Das Landgericht hat zu Unrecht die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht.
10
a) Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat, während die Schuld des Angeklagten nicht gemindert wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat. Die Voraussetzungen des § 21 StGB sind in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann zu bejahen, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 26. Mai 2015 – 3 StR 143/15 mwN).
11
b) Dies hat das Landgericht ersichtlich nicht bedacht, denn es stellt wiederholt allein darauf ab, dass bereits die bloße Verminderung der Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten zur Anwendung von § 21 StGB führe. Dieser unzutreffende Ausgangspunkt der Schuldfähigkeitsbestimmung hat auch Auswirkungen auf die Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB, nämlich des für die Anordnung erforderlichen Zustands bei Tatbegehung und der Gefährlichkeitsprognose.
12
2. Die an sich rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum Tatgeschehen können nicht bestehen bleiben, weil sie den Beschuldigten belasten und er sie mangels Beschwer nicht mit einem Rechtsmittel angreifen konnte (vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 – 1 StR 542/11, NStZ-RR 2012, 355, 357).
13
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
14
a) Bei sicherem Ausschluss von Schuldunfähigkeit ist das Sicherungsverfahren nach § 416 StPO in das Strafverfahren überzuleiten. Das Sicherungsverfahren ist nach Wortlaut und Sinn des § 413 StPO für lediglich vermindert Schuldfähige nicht vorgesehen (BGH, Urteil vom 28. Oktober 1982 – 4 StR 472/82, BGHSt 31, 132, 136).
15
b) Bezüglich der Gefährlichkeitsprognose wird zu bedenken sein, dass der Einsatz eines Pfeffersprays gegenüber Menschen in aller Regel eine erhebliche Tat im Sinne von § 63 Satz 1 StGB darstellt (vgl. näher BGH, Urteil vom 26. Juli 2018 – 3 StR 174/18). Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass sich ein solcher Angriff – wie nach den bisher getroffenen Feststellungen – gegen Polizeibeamte im öffentlichen Straßenraum richtet. Bei geringfügigeren Übergriffen innerhalb einer Betreuungseinrichtung stellt der Bundesgerichtshof zwar darauf ab, dass im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose aggressives Verhalten gegenüber damit erfahrenem Personal nicht ohne weiteres dem Verhalten in Freiheit gleichgestellt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202 mwN). Auch bei der Gewichtung von Bedrohungen und einfachen körperlichen Attacken gegen Polizeibeamte ist in den Blick zu nehmen, dass Angriffe gegen Personen, die professionell mit derartigen Konfliktsituationen umgehen, dafür entsprechend geschult sind und in der konkreten Situation über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen, möglicherweise weniger gefährlich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2017 – 4 StR 565/16, NStZ-RR 2017, 308, 309 mwN). Nach den bisherigen Feststellungen ist allerdings nicht ersichtlich, dass sich die betroffenen Polizeibeamtinnen wirksam gegen die Pfeffersprayattacken hätten wehren können.
16
Schließlich ist zu beachten, dass die vom Sachverständigen und der Strafkammer als eher für wahrscheinlich gehaltene Eigengefährdung durchaus auch mit einer erheblichen Fremdgefährdung einhergehen kann, selbst wenn ein nicht schuldfähig Handelnder mögliche Folgen für Dritte ausblendet (vgl. insoweit BGH, Urteil vom 10. Dezember 2009 – 4 StR 435/09, NStZ-RR 2010, 105). Nach den bisherigen Feststellungen wollte sich der Beschuldigte Anfang September 2017 in einem Kellerraum des Klinikums H. durch Entzünden eines Einweggrills – und damit auch unter möglicher Gefährdung Dritter – selbst töten.
Mutzbauer Sander Schneider
Berger Mosbacher

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2019 - 5 StR 466/18

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2019 - 5 StR 466/18

Referenzen - Gesetze

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus


Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und

Strafprozeßordnung - StPO | § 413 Zulässigkeit


Führt die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit des Täters nicht durch, so kann sie den Antrag stellen, Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie als Nebenfolge die Einziehung selbständig anzuord

Strafprozeßordnung - StPO | § 416 Übergang in das Strafverfahren


(1) Ergibt sich im Sicherungsverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Schuldfähigkeit des Beschuldigten und ist das Gericht für das Strafverfahren nicht zuständig, so spricht es durch Beschluß seine Unzuständigkeit aus und verweist die Sache
Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2019 - 5 StR 466/18 zitiert 5 §§.

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Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

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Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 S t R 1 4 3 / 1 5
vom
26. Mai 2015
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 26. Mai 2015
einstimmig beschlossen:
Die Revision desAngeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 8. Dezember 2014 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Ergänzend bemerkt der Senat: Das Urteil hält der rechtlichen Prüfung auch stand, soweit das Landgericht den Angeklagten im Fall II.5. der Urteilsgründe wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt hat. Allerdings ist das - sachverständig beratene - Landgericht insoweit davon ausgegangen, dass eine erhebliche Einschränkung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht sicher ausgeschlossen sei. Diese Annahme begegnet grundsätzlich rechtlichen Bedenken und könnte den Bestand des Schuldspruchs gefährden.

a) Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat, während die Schuld des Angeklagten nicht gemindert wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat. Die Voraussetzungen des § 21 StGB sind in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann zu bejahen, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist. Fehlt dem Täter aus einem in § 20 StGB genannten Grund die Einsicht, ohne dass ihm dies zum Vorwurf gemacht werden kann, ist auch bei verminderter Einsichtsfähigkeit nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anwendbar, so dass in diesen Fällen ein Schuldspruch ausscheidet (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 2. August 2012 - 3 StR 259/12, juris Rn. 5 mwN).

b) Der Senat kann hier aber aufgrund des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe ausschließen, dass das Landgericht bei der Beurteilung der Schuld (auch) auf die Einsichtsfähigkeit und nicht allein auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten abgestellt hat. Hierfür spricht insbesondere, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit des Angeklagten allein unter dem Gesichtspunkt einer vorübergehenden krankhaften seelischen Störung wegen seines der Tat vorangegangenen Alkohol- und Cannabiskonsums in Betracht kam und das Landgericht das Vorliegen aller anderen Eingangsmerkmale des § 20 StGB mit näherer Begründung tragfähig verneint hat.
Schäfer Pfister Hubert Gericke Spaniol

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 542/11
vom
7. Februar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
7. Februar 2012, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Jäger,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Verteidigerin des Nebenklägers,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 7. Juni 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

I.


1
Dem Angeklagten war in der unverändert zugelassenen Anklage - allein - versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Lediglich ergänzend wurde im Anklagesatz angemerkt, die Tat stehe „im Zusammenhang mit einem Streit um ein Drogengeschäft“, das dann im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen näher dargestellt wurde. Das Landgericht hat den Angeklagten - von dem genannten Tatvorwurf - freigesprochen. Sein Stich in den Unterbauch des Geschädigten sei durch Notwehr gerechtfertigt gewesen (§ 32 StGB).
2
Die Staatsanwaltschaft beanstandet den Freispruch mit der Sachrüge. Zum einen beruhten die Feststellungen zur Notwehrlage auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung. Zum anderen verweist die Revision (erstmals der General- staatsanwalt in Karlsruhe in seiner ergänzenden Äußerung zur Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft) auf eine Verletzung des § 264 StPO. Die Jugendkammer habe ihrer Kognitionspflicht nicht genügt. Das im Anklagesatz angesprochene Drogengeschäft - ein gescheiterter Versuch des Angeklagten, Marihuana zu erwerben - stehe, auch wenn es sich nicht als Handeltreiben im Sinne der Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes darstelle, in so engem zeitlichen, räumlichen, sachlichen und persönlichem Zusammenhang mit den Vorgängen, die Grundlage des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Tötung sind, dass das Betäubungsmittelgeschäft Teil der angeklagten Tat im Sinne von § 264 StPO sei. Das Landgericht hätte, nach entsprechendem Hinweis gemäß § 265 StPO, das Tatgeschehen auch im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz prüfen und gegebenenfalls den Angeklagten dementsprechend verurteilen müssen.
3
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Das Landgericht hat seiner Kognitionspflicht nicht genügt.

II.


4
Das Landgericht hat festgestellt:
5
Der in Mainz wohnhafte Angeklagte hatte im Herbst 2010 im Alter von 16 Jahren mit dem Konsum von Marihuana begonnen. Er rauchte regelmäßig am Wochenende Joints.
6
Im Dezember 2010 besuchte der Angeklagte einige Tage seinen Vetter in Karlsruhe. Am 19. Dezember 2010 entschlossen sich der Angeklagte, sein Vetter und dessen Freund dazu, gemeinschaftlich 200 Gramm Marihuana für 1.200,-- € zu kaufen. Jeder sollte ein Drittel dieser Menge erhalten und dementsprechend jeweils mit 400,-- € zur Bezahlung des Kaufpreises beitragen. Der Angeklagte wollte sich damit einen größeren Vorrat zum Eigenverbrauch zulegen, damit er das Rauschgift nicht in kleineren, teureren Mengen auf seinem heimischen Drogenmarkt beschaffen musste. Der Vetter kannte eine - wie er meinte - geeignete Quelle. Dies war W. , das spätere Tatopfer. W. erklärte sich mit dem Handel einverstanden.
7
Tatsächlich konnte und wollte W. kein Rauschgift liefern. Seine Absicht war, sich mittels eines Täuschungsmanövers der 1.200,-- € Kaufgeld ohne Gegenleistung zu bemächtigen.
8
Am Abend des 19. Dezember 2010 trafen sich die drei Käufer gegen 17.30 Uhr in Karlsruhe-Daxlanden mit dem vermeintlichen Lieferanten, der zur Verstärkung noch eine weitere Person mitgebracht hatte. W. forder- te „Vorkasse“. Sein Dealer sitze in der Nähe in einem Auto. Das bestellte Rauschgift gebe dieser aber nur gegen gleichzeitige Bezahlung heraus. Er - W. - dürfe sich nur alleine mit ihm treffen. Nach 15 Minuten werde er mit dem bestellten Betäubungsmittel zurückkommen.
9
Der Angeklagte und seine beiden Begleiter lehnten zunächst ab, vorab zu bezahlen. W. bot daraufhin sein Handy - Neuwert ca. 270,-- € - als Pfand an. Als der Vetter des Angeklagten dann noch versicherte, man könne W. vertrauen, übergaben die drei Käufer diesem schließlich den Kaufbetrag, jeder 400,-- €. Das Mobiltelefon nahm der Angeklagte in Verwahrung. W. hatte von vorneherein vor, sich dieses später wieder zurückzuholen , notfalls mit Gewalt.

10
W. und sein Begleiter entfernten sich und kehrten - nach drei telefonischen Nachfragen, wo sie denn blieben - verspätet gegen 18.35 Uhr zurück. W. forderte vom Angeklagten in aggressivem Ton, ihm sein Telefon auszuhändigen. Er sei von seinem Dealer „abgezogen“ worden. Er könne deshalb weder das bestellte Rauschgift liefern noch das übergebene Geld zurückzahlen. Er benötige sein Telefon, um den, der ihn „abgerippt“ habe, anzurufen. Der Angeklagte verweigerte die Herausgabe.
11
W. verlieh nun seiner Forderung Nachdruck. Von gleicher Statur und Größe wie der Angeklagte stellte er sich unmittelbar vor diesen hin und stieß ihn mit beiden Händen gegen den Brustkorb. Der Angeklagte musste zurückweichen. W. erhob die Hände zu einem weiteren Stoß. Der Angeklagte schlug sie nach unten und wich noch einige Schritte zurück.
12
W. fasste nach einem Schlagring in seiner Jackentasche, schob ihn über seine rechte Hand, ballte diese, zog sie auf Höhe seiner Hüfte zurück und holte aus, um dem etwa 50 Zentimeter entfernten Angeklagten mit dem Schlagring ins Gesicht zu schlagen.
13
Der Angeklagte befürchtete, dadurch schwer verletzt zu werden. Um sich gegen den unmittelbar bevorstehenden Angriff zu wehren und diesen zu beenden , holte der Angeklagte mit schnellem Griff ein Messer aus der Hosentasche, klappte es auf und stach W. mit erheblicher Wucht auf der linken Seite unterhalb des Nabels in den Bauch.
14
Durch den Einstich quollen einige Dünndarmschlingen aus der Bauchdecke. Mehrere lebenswichtige Blutgefäße wurden verletzt. Dies führte zu hohem Blutverlust. Nur glücklichen Umständen war es zu verdanken, dass W. nicht auf der Stelle verblutete. Er sackte zu Boden und erbrach sich. Sein Begleiter nahm die in den Schuhen des Schwerverletzten versteckten 1.200,-- € an sich und setzte einen Notruf ab. Ohne die zeitnah im St.Vincentius-Klinikum durchgeführte Notoperation hätte W. nicht überlebt.
15
Der Angeklagte sah, wie W. zusammenbrach. Er rannte sofort weg zur nächsten Bushaltestelle, fuhr zum Hauptbahnhof und weiter mit dem Zug zurück nach Mainz.

III.


16
Das freisprechende Urteil des Landgerichts hat keinen Bestand.
17
1. Es kann dahinstehen, ob das Landgericht eine Notwehrsituation rechtsfehlerfrei festgestellt hat.
18
2. Denn das Urteil verfällt schon deshalb der Aufhebung, da das Landgericht das Tatgeschehen, die angeklagte Tat im Sinne von § 264 StPO, nicht unter allen tatsächlichen und strafrechtlichen Gesichtspunkten gewürdigt hat; es hat seiner Kognitionspflicht nicht genügt.
19
Dies ist auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts hin zu berücksichtigen. Ob es einer Verfahrensrüge bedurft hätte, wenn der nicht beachtete Teil gemäß § 154a StPO ausgeschieden gewesen wäre, kann dahinstehen (Sachrüge genügt: BGH, Urteil vom 18. Juli 1995 - 1 StR 320/95; Verfahrensrü- ge erforderlich: BGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 - 4 StR 370/95 -, BGHR StPO § 154a III Wiedereinbeziehung 3). Denn eine Teileinstellung ist hier nicht erfolgt, auch nicht - in Verkennung der Rechtslage - gemäß § 154 StPO (die dann als Beschränkung gemäß § 154a StPO anzusehen wäre).
20
Die bisherigen Feststellungen begründen den hinreichenden Verdacht, dass sich der Angeklagte eines versuchten (§ 22 StGB) Vergehens des Erwerbs von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG oder gar eines versuchten Verbrechens gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG (Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführung eines Gegenstandes , der seiner Art nach zur Verletzung von Menschen geeignet und bestimmt ist) schuldig gemacht hat. Die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Versuch des Erwerbs von Betäubungsmitteln und der Messerstich zur Abwehr des Angriffs mit dem Schlagring bilden einen einheitlichen Lebenssachverhalt.
21
Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung (§ 264 Abs. 1 StPO) ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Hierbei handelt es sich um einen eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im Sinne des sachlichen Rechts. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört - unabhängig davon, ob Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) vorliegt - das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, selbst wenn diese Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind. Bei der Beurteilung des Tatumfangs kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Be- tracht kommenden Verhaltensweisen - unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung - ein enger sachlicher Zusammenhang besteht; selbst zeitliches Zusammentreffen der einzelnen Handlungen ist weder erforderlich noch ausreichend (vgl. zu allem BGH, Urteil vom 17. März 1992 - 1 StR 5/92 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 21; BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 700/98 -, BGHSt 45, 211, 212 f. = BGHR StPO § 264 I Tatidentität 30; BGH, Urteil vom 14. März 2001 - 3 StR 446/00 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 32; BGH, Urteil vom 9. August 2011 - 1 StR 194/11 - Rn. 16 f.; BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 - 1 StR 412/11 -, Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 28. August 2003 - 2 BvR 1012/01).
22
Gemessen hieran, besteht zwischen der Herbeiführung der Stichverletzung und dem versuchten Erwerb der Betäubungsmittel eine ausreichende Verknüpfung.
23
Die körperliche Auseinandersetzung stellt sich als Eskalation des Geschehens um den versuchten Erwerb von 200 Gramm Marihuana dar. Sie ist noch dessen Teil. W. wollte mit dem Faustschlag die Rückgabe des als Pfand für den Kaufpreis übergebenen Mobiltelefons gewaltsam durchsetzen. Auch wenn der Versuch, sich Betäubungsmittel zu verschaffen, mit der Rückkehr des W. ohne das bestellte Marihuana auch für den Angeklagten erkennbar endgültig gescheitert war, ist der Kampf um das Handy mit dem Erwerbsversuch situativ, d.h. sachlich, räumlich, persönlich und zeitlich so eng verbunden, dass von Tatidentität und sogar von natürlicher Handlungseinheit im Sinne von § 52 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2007 - 4 StR 576/07 - Rn. 3, Wegnahme eines Handys nach vollendeter schwerer räuberischer Erpressung) auszugehen ist. Die Mitteilung über das Scheitern der - angeblichen - Bemühungen, an Marihuana zu kommen und den behaupteten Verlust des Geldes ging unmittelbar in die gewaltsame Auseinandersetzung um das Mobiltelefon über. Die Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren würde den hier zu beurteilenden Lebenssachverhalt unnatürlich aufspalten.
24
Das Landgericht hätte deshalb - wie von der Revision vorgetragen - nach einem Hinweis auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts (§ 265 StPO) gemäß § 264 StPO von Amts wegen, also auch ohne einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft und ohne Bindung an die Einschätzung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, den Unrechtsgehalt der prozessualen Tat auch im Hinblick auf das Betäubungsmittelgeschäft ausschöpfen müssen. Innerhalb derselben prozessualen Tat ist der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft grundsätzlich unteilbar (vgl. BGH, Urteil vom 14. März 2001 - 3 StR 446/00 -, BGHR StPO § 264 I Tatidentität 32).
25
3. Da mit dem möglichen Betäubungsmitteldelikt - sogar materiell rechtliche - Tatidentität besteht, führt die aufgezeigte Verletzung der Kognitionspflicht zwingend zur Aufhebung des Freispruchs vom Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Denn wenn der Freispruch in Rechtskraft erwachsen würde, stünde dies der weiteren Verfolgung der Tat unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Drogendelikts wegen des Verbots aus Art. 103 Abs. 3 GG entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96 -, BGHR StPO § 353 Aufhebung 1; BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09 - Rn. 12; BGH, Urteil vom 17. Januar 2001 - 2 StR 437/00).
26
Auch Feststellungen können im vorliegenden Fall nicht aufrecht erhalten bleiben.

27
Dies gilt zunächst für diejenigen zum versuchten Erwerb von Marihuana. Ohne Hinweis darauf, dass auch die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz in Betracht kommt unter Aufzeigung der Tatsachen , auf denen diese Möglichkeit beruht, konnte und musste der Angeklagte seine Verteidigung nicht hierauf ausrichten. Auch konnte er sich revisionsrechtlich gegen diese Feststellungen nicht zur Wehr setzen.
28
Feststellungen zu den Grundlagen des Freispruchs können in der hier gegebenen Konstellation (Freispruch unter Außerachtlassung eines tateinheitlichen strafrechtlich relevanten Geschehens) zwar grundsätzlich bestehen bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 15. September 1983 - 4 StR 535/83 -, BGHSt 32, 84, 86 ff. [Der 4. Strafsenat hat dort entschieden, dass die rechtsfehlerfreien Feststellungen , auf deren Grundlage der Tatrichter den dortigen Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlages freigesprochen hatte, von der Urteilsaufhebung nicht mit umfasst werden, wenn die Staatsanwaltschaft mit ihrer erfolgreichen Revision allein geltend macht, dass es der Tatrichter unter Verstoß gegen § 264 StPO unterlassen hatte, den zuvor gemäß § 154a Abs. 2 StPO aus den Verfahren ausgeschiedenen Vorwurf eines Verstoßes gegen das Waffengesetz wieder einzubeziehen, nachdem er zu dem Ergebnis gelangt war, dass eine Verurteilung wegen versuchten Totschlages nicht in Betracht kommt.]; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. November 2000 - 3 StR 472/00 -, BGHR StPO § 353 II Teilaufhebung 2). Es muss dann aber sicher sein, dass die aufrechterhaltenen Feststellungen im neuen tatgerichtlichen Verfahren nicht - auch nur teilweise - Grundlage einer Verurteilung werden könnten. Denn diese den Angeklagten dann belastenden Feststellungen konnte er bei einem Freispruch revisionsrechtlich nicht beanstanden. Außerdem dürfen die in Frage stehenden strafrechtlich relevanten Vorgänge nicht so eng mit einander verbunden sein, dass bei teilweiser Aufrechterhaltung die Gefahr widersprüchlicher Erkenntnisse im neuen Verfahren besteht. Die Aufrechterhaltung von Feststellungen bei Freispruch unter Verletzung der Kognitionspflicht hinsichtlich derselben Tat gemäß § 264 StPO wird daher nur in seltenen Fällen in Betracht kommen. Eine Überdehnung des § 353 Abs. 2 StPO seitens des Revisionsgerichts berührt auch das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2006 - 2 BvR 1765/05). Im vorliegenden Fall kann wegen des engen Zusammenhangs des den Freispruch betreffenden Teils der Tat mit dem möglichen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz nur mit einer umfassenden Aufhebung der Weg zu insgesamt widerspruchsfreien Feststellungen eröffnet werden. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Jugendkammer wird deshalb den dem Angeklagten zur Last gelegten Sachverhalt in eigener tatrichterlicher Verantwortung in vollem Umfang erneut zu prüfen und darüber zu entscheiden haben. Nack Rothfuß Hebenstreit Elf Jäger

(1) Ergibt sich im Sicherungsverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Schuldfähigkeit des Beschuldigten und ist das Gericht für das Strafverfahren nicht zuständig, so spricht es durch Beschluß seine Unzuständigkeit aus und verweist die Sache an das zuständige Gericht. § 270 Abs. 2 und 3 gilt entsprechend.

(2) Ergibt sich im Sicherungsverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Schuldfähigkeit des Beschuldigten und ist das Gericht auch für das Strafverfahren zuständig, so ist der Beschuldigte auf die veränderte Rechtslage hinzuweisen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Behauptet er, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen. Ist auf Grund des § 415 in Abwesenheit des Beschuldigten verhandelt worden, so sind diejenigen Teile der Hauptverhandlung zu wiederholen, bei denen der Beschuldigte nicht zugegen war.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn sich im Sicherungsverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens ergibt, daß der Beschuldigte verhandlungsfähig ist und das Sicherungsverfahren wegen seiner Verhandlungsunfähigkeit durchgeführt wird.

Führt die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit des Täters nicht durch, so kann sie den Antrag stellen, Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie als Nebenfolge die Einziehung selbständig anzuordnen, wenn dies gesetzlich zulässig ist und die Anordnung nach dem Ergebnis der Ermittlungen zu erwarten ist (Sicherungsverfahren).

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 174/18
vom
26. Juli 2018
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
ECLI:DE:BGH:2018:260718U3STR174.18.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26. Juli 2018, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Becker,
die Richter am Bundesgerichtshof Gericke, Dr. Tiemann, Dr. Berg, Hoch, als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof - in der Verhandlung -, Richter am Landgericht - bei der Verkündung - als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt aus Düsseldorf als Verteidiger,
Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 8. Dezember 2017 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren, zu dem eine Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung hinzuverbunden wurde, den Antrag der Staatsanwaltschaft, den Beschuldigten gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, zurückgewiesen und ihn von dem Anklagevorwurf wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen die Ablehnung des Antrags auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Beschuldigte seit etwa 30 Jahren an einer chronifizierten Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie, die sich paranoid-halluzinatorisch auswirkt. Die damit einhergehende verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit führt dazu, dass er alles, was in seiner Umwelt geschieht, unreflektiert auf sich bezieht, sich deshalb angegriffen fühlt und gegenüber anderen schnell ausfallend sowie beleidigend wird, ohne tatsächlich einen Grund dafür zu haben. Da er sich vermehrt in Situationen wähnt, in denen er meint, sich verteidigen zu müssen, führt er praktisch immer eine Reizstoffsprühdose (früher vorwiegend CS-Gas, in letzter Zeit Pfefferspray ) bei sich.
3
Zwischen dem 30. April 2013 und dem 28. Oktober 2015 war der Beschuldigte in fünf Fällen an Auseinandersetzungen beteiligt, bei denen er sich krankheitsbedingt unter Verkennung der Realität angegriffen fühlte. In deren Verlauf verletzte er die vermeintlichen Angreifer, indem er ihnen CS-Gas bzw. Pfefferspray ins Gesicht sprühte. Die Geschädigten erlitten dadurch jeweils ein schmerzhaftes Brennen der Augen, das zumindest einige Minuten lang andauerte und teilweise erst durch eine Augenspülung im Krankenhaus behoben werden konnte; außerdem zogen sich die Geschädigten jeweils mehrere Stunden anhaltende Rötungen der Augen zu. Der Beschuldigte war in allen Fällen schuldunfähig (§ 20 StGB), weil seine Unrechtseinsichtsfähigkeit krankheitsbedingt aufgehoben war.
4
Von der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat die Strafkammer aufgrund folgender Erwägungen abgesehen:
5
Der Beschuldigte habe zwar in allen Fällen den objektiven Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) verwirklicht, und es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass er auch künftig gleichgelagerte Taten begehen, insbesondere CS-Gas oder Pfefferspray gegenüber anderen einsetzen werde. Bei den zu erwartenden Taten handele es sich aber nicht um solche, durch welche die Opfer im Sinne des § 63 Satz 1 StGB seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder gefährdet würden.
6
Nach dem in der Hauptverhandlung erstatteten rechtsmedizinischen Gutachten zu den Auswirkungen von CS-Gas oder Pfefferspray sei davon auszugehen , dass CS-Gas - je nach "Kontamination" und persönlicher Empfindlichkeit - unangenehm bis deutlich schmerzhaft sein könne. Ein durch Kontakt mit den Augen hervorgerufenes Brennen in den Augen könne ohne Behandlung einige Minuten bis hin zu mehreren Stunden anhalten. Wenn das CS-Gas eingeatmet werde, verursache es Reizungen der Atemwege und könne Husten oder ein Brennen in den Bronchien zur Folge haben. Bei "nicht vorgeschädigten" Personen verbleibe kein gesundheitlicher Schaden. Bei "erheblich vorgeschädigten" Personen, beispielsweise Asthmatikern, könne der Reizstoff demgegenüber zu erheblichen Beeinträchtigungen führen und schwere Atemnot sowie einen lebensbedrohlichen Zustand hervorrufen.
7
Pfefferspray verursache - je nach "Kontamination" und persönlicher Empfindlichkeit - auf der Haut ein deutliches Brennen und Rötungen, nach Kontakt mit den Augen wirke es mitunter erheblich schmerzhaft. Unbehandelt könne das Brennen (mit abnehmender Tendenz) durchaus einige Stunden anhalten, bis die Symptome im Regelfall am Folgetag verschwunden seien.
8
Die danach aufgrund künftiger Taten des Beschuldigten wahrscheinlichen Verletzungen anderer seien noch als leichte körperliche Schädigungen anzusehen, nicht jedoch dem für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB erforderlichen Bereich mittlerer Kriminalität zuzurechnen.

II.


9
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Die Annahme des Landgerichts, dass die von dem Beschuldigten zukünftig zu erwartenden Taten nicht geeignet seien, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu rechtfertigen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
10
1. Im Hinblick auf den im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose gemäß § 63 Satz 1 StGB anzulegenden Prüfungsmaßstab gilt:
11
Nach der am 1. August 2016 in Kraft getretenen neuen Fassung der Vorschrift durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 8. Juli 2016 (BGBl. I S. 1610) ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Mit der Neuregelung sollten die Voraussetzungen konkretisiert werden, unter denen "erhebliche" rechtswidrige Taten seitens des Täters zu erwarten sind, um die Rechtspraxis noch stärker für das mit Verfassungsrang ausgestattete Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu sensibilisieren (BT-Drucks. 18/7244, S. 17). Dabei hat sich der Gesetzgeber an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen orientiert und im Hinblick auf die zu erwartenden Taten zwischen "Vermögensdelikten" im weitesten Sinne sowie gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichteten Taten differenziert (BT-Drucks. aaO, S. 18, 20). Bei Vermögensdelikten im weitesten Sinne wollte er die Schwelle für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegenüber dem bisherigen Rechtszustand anheben. Deshalb sollen in diesem Bereich nunmehr nur noch solche Taten eine Unterbringung nach § 63 StGB rechtfertigen können, durch welche "schwerer" wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (BT-Drucks. aaO, S. 20 f.). Bei Taten, die gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichtet sind, insbesondere bei Körperverletzungsdelikten, wollte der Gesetzgeber die Anforderungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus demgegenüber nicht anheben. Insoweit beschränkte sich das Ziel der Neuregelung darauf, die in der Rechtsprechung bereits angelegte, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in zunehmendem Maße Bedeutung beimessende Entwicklung aufzugreifen und zu verstetigen, indem der frühere Gesetzestext - im Wesentlichen klarstellend - durch die Bestimmung ergänzt wurde, dass Taten zu erwarten sein müssen, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch "erheblich" geschädigt oder "erheblich" gefährdet werden (BT-Drucks. aaO, S. 18, 42; BGH, Beschluss vom 3. August 2016 - 4 StR 305/16, juris; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 63 Rn. 1).
12
Dementsprechend ist nach wie vor davon auszugehen, dass nur solche Taten als erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB anzusehen sind, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden empfindlich bzw. schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (vgl. BT-Drucks. aaO, S. 18; BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202 mwN). Das kommt bei Gewalt- und Aggressionsdelikten regelmäßig in Betracht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2011 - 2 BvR 2181/11, NJW 2012, 513, 514; BGH, Beschlüsse vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202; vom 25. April 2012 - 4 StR 81/12, juris Rn. 5), ist indes stets anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu prüfen (BT-Drucks. aaO, S. 18; BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202 mwN). Einfache Körperverletzungen im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB, die nur mit geringer Gewaltanwendung verbunden sind und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit lediglich unwesentlich überschreiten, reichen grundsätzlich nicht aus; das gilt beispielsweise für eine einfache Ohrfeige (BGH, Beschluss vom 28. August 2012 - 3 StR 304/12, juris Rn. 4 f.), das Ziehen an den Haaren, einen Stoß gegen die Brust oder einen Kniff ins Gesäß (BT-Drucks. aaO, S. 19). Nicht erforderlich ist hingegen, dass Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch "schwer" geschädigt werden (BT-Drucks. aaO, S. 19). Dementsprechend sind etwa Faustschläge ins Gesicht in der Regel bereits mittlerer Kriminalität zuzurechnen , insbesondere wenn sie Platzwunden zur Folge haben, die ärztlich versorgt werden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. August 2010 - 3 StR 268/10, juris).
13
2. Daran gemessen hat das Landgericht die künftig von dem Beschuldigten zu erwartenden rechtswidrigen Taten - gefährliche Körperverletzungen im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB durch den Einsatz von CS-Gas oder Pfefferspray - zu Unrecht als nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB angesehen. Den Urteilsgründen zufolge handelt es sich dabei keineswegs um lediglich niedrigschwellige Gewaltdelikte. Da der Einsatz von CS-Gas oder Pfefferspray nach den Ausführungen der sachverständig beratenen Strafkammer selbst bei "nicht vorgeschädigten" Personen zu "deutlichen" bzw. "erheblichen" Schmerzen führt (UA S. 17, 18), die einige Minuten bis hin zu mehreren Stunden anhalten, wird die Erheblichkeitsschwelle der von § 223 Abs. 1 StGB tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit der Tatopfer mehr als nur unwesentlich überschritten. So stellt schon ein nur einige Minuten anhaltendes schmerzhaftes Brennen in den Augen eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und damit der körperlichen Unversehrtheit dar, die sich deutlich von Fallgestaltungen wie einer Ohrfeige, einem Stoß gegen die Brust oder einem Ziehen an den Haaren abhebt. Das gilt erst recht für Reizzustände, die - etwa weil eine Augenspülung im Krankenhaus erforderlich ist - einen längeren Zeitraum andauern.
14
3. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung des Urteils erfasst auch den Freispruch, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das neue Tatgericht an Stelle der Unterbringung eine Strafe verhängen wird (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; s. dazu BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2013 - 3 StR 349/13, juris Rn. 8 mwN).
Becker Gericke Tiemann Berg RiBGH Hoch befindet sich im Urlaub und ist daher gehindert zu unterschreiben. Becker

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 635/10
vom
22. Februar 2011
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 22. Februar 2011 gemäß § 349
Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 8. September 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat gegen den Beschuldigten im Sicherungsverfahren die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg.
2
1. Grundlage für die Anordnung der Maßregel gegen den nicht vorbestraften , an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leidenden Beschuldigten sind vier in den Jahren 2009 und 2010 im Abstand von jeweils mehreren Monaten begangene Straftaten:
3
(1) eine am 25. Februar 2009 während einer vom Amtsgericht Landau angeordneten Unterbringung im Pfalzklinikum begangene vorsätzliche Körperverletzung zum Nachteil eines mit dem Reinigen des Bodens befassten Zeugen ,
4
(2) eine am 14. Juli 2009 zum Nachteil seines Betreuers begangene versuchte Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung,
5
(3) eine am 14. Januar 2010 zum Nachteil seines Betreuers begangene Bedrohung, die dieser allerdings nicht ernst nahm, und
6
(4) Beleidigungen zweier Mitarbeiterinnen seines Betreuers am 23. März 2010, wobei die Kammer bezüglich einer vom Beschuldigten zudem begangenen versuchten Körperverletzung einen strafbefreienden Rücktritt angenommen hat.
7
Hinsichtlich der Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten hat sich die Strafkammer den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen, wonach damit zu rechnen sei, dass der Beschuldigte auch künftig gleich gelagerte Straftaten begehen werde, "eine Steigerung von Gewalt über das bekannte Maß hinaus" sei aber nicht zu erwarten (UA 12).
8
2. Diese Feststellungen und Wertungen rechtfertigen die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht.
9
a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist eine außerordentlich beschwerende Maßnahme. Deshalb darf sie nur angeordnet werden , wenn die Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Dies erfordert zwar nicht, dass die Anlasstaten selbst erheblich sind, die zu erwartenden Taten müssen aber schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen und daher zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. März 2008 - 4 StR 6/08; vom 16. Juli 2008 - 2 StR 161/08 jeweils mwN). Die lediglich latente Gefahr oder bloße Möglichkeit zukünftiger Straftaten reicht nicht aus (BGH, Beschlüsse vom 10. September 2008 - 2 StR 291/08, vom 11. März 2009 - 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198).
10
b) Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat die Strafkammer nicht belegt.
11
aa) Die Erheblichkeit drohender Taten kann sich ohne weiteres aus dem Delikt selbst ergeben, etwa bei Verbrechen. Ist dies nicht der Fall, kommt es grundsätzlich auf die zu befürchtende konkrete Ausgestaltung der Taten an (BGH, Beschluss vom 3. April 2008 - 1 StR 153/08, Urteil vom 12. Juni 2008 - 4 StR 140/08, NStZ 2008, 563, 564). Dabei sind zu erwartende Gewalt- und Aggressionsdelikte regelmäßig zu den erheblichen Taten zu rechnen (BGH, Urteil vom 17. Februar 2004 - 1 StR 437/03, Beschlüsse vom 3. April 2008 - 1 StR 153/08, vom 10. August 2010 - 3 StR 268/10). Todesdrohungen gehören hierzu indes nur, wenn sie geeignet sind, den Bedrohten nachhaltig und massiv in seinem elementaren Sicherheitsempfinden zu beeinträchtigen; dies ist insbesondere der Fall, wenn sie aus der Sicht des Betroffenen die nahe liegende Gefahr ihrer Verwirklichung in sich tragen (BGH, Beschluss vom 3. April 2008 - 1 StR 153/08, Urteil vom 12. Juni 2008 - 4 StR 140/08, NStZ 2008, 563, 564, Beschluss vom 20. Februar 2009 - 5 StR 555/08, NStZ 2009, 383; vgl. auch BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 5 StR 209/10). Die Gefahr bloßer Beleidigungen ist dagegen grundsätzlich nicht geeignet, eine Unterbringung nach § 63 StGB zu rechtfertigen.
12
bb) Auf dieser Grundlage vermag allein die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte künftig den Anlasstaten gleich gelagerte Straftaten begehen wird, die Maßregelanordnung nicht zu begründen.
13
Soweit die Kammer auf die Möglichkeit tätlicher Auseinandersetzungen während einer Unterbringung abstellt, handelt es sich zwar für sich betrachtet um gewichtige Straftaten. Jedoch sind solche Verhaltensweisen innerhalb einer Einrichtung nicht ohne weiteres denjenigen Handlungen gleichzusetzen, die ein Täter außerhalb einer Betreuungseinrichtung begeht (BGH, Beschluss vom 16. Juli 2008 - 2 StR 161/08 mwN). Dies gilt jedenfalls, wenn - wozu indes in dem angefochtenen Urteil nähere Feststellungen fehlen - es um das Verhalten eines in einer psychiatrischen Klinik Untergebrachten gegenüber dem im Umgang mit schwierigen und aggressiven Patienten erfahrenem oder geschultem Personal geht. Aggressives Verhalten in diesem Bereich ist nicht gleichzusetzen mit Handlungen in Freiheit gegenüber beliebigen Dritten oder dem Täter nahe stehenden Personen. Solche Taten verlangen daher - jedenfalls soweit sie nicht dem Bereich schwerster Rechtsgutsverletzungen zuzurechnen sind - schon nach ihrem äußeren Eindruck weit weniger nach einer Reaktion durch ein strafrechtliches Sicherungsverfahren und Anordnung einer strafrechtlichen Maßregel (BGH, Urteil vom 22. Januar 1998 - 4 StR 354/97, NStZ 1998, 405). Hinzu kommt, dass der Beschuldigte mit Ausnahme der Anlasstat vom 25. Februar 2009 bisher durch vergleichbare Taten ersichtlich noch nicht in Erscheinung getreten ist, obwohl er seit dem Jahr 1995 vielfach stationär in psychiatrischen Einrichtungen aufgenommen und behandelt werden musste (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2009 - 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198).
14
Auch zu erwartende Taten nach der Art und Intensität der zum Nachteil seines Betreuers oder dessen Mitarbeiter begangenen Taten sind nicht ohne weiteres geeignet, die Unterbringung des Beschuldigten zu rechtfertigen. Sie wurden von ihm jeweils in einer aus seiner Sicht besonderen Situation begangen (vor der Tat vom 14. Juli 2009 hatte der Betreuer die Bitte des Beschuldigten nach Geld abgelehnt; vor der Tat vom 14. Januar 2010 hatte sich der Beschuldigte aus seiner Wohnung ausgesperrt und seinen Betreuer gebeten, einen Schlüsseldienst zu verständigen, was dieser ebenfalls ablehnte). Hinzu kommt, dass sich der Beschuldigte bei diesen Taten zunächst nur verbalaggressiv verhalten hat, er bei Einschreiten dritter Personen von Gewalthandlungen absah oder abgebracht werden konnte und sich beruhigen ließ (vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 2010 - 5 StR 492/10).
15
Insgesamt vermögen die vom Beschuldigten begangenen und drohenden Taten, die zudem in ihrer Intensität und Gefährlichkeit jedenfalls keine Steigerung erfuhren, die außerordentlich schwere Maßregel des § 63 StGB nicht zu rechtfertigen (vgl. zu einem von den Straftaten her ähnlich gelagerten, jedoch ein Nachbarschaftsverhältnis betreffenden Fall BGH, Beschluss vom 22. Juli 2010 - 5 StR 256/10, NStZ-RR 2011, 12). Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass sich der Beschuldigte "als Opfer eines weit verzweigten Komplotts aus Ärzten, Betreuern, Polizei und Nachbarschaft" (UA 19) sieht, gegenüber denen es indes nach den Feststellungen der Strafkammer bislang ersichtlich nur in seltenen - den oben wiedergegebenen - Fällen zu Aggressionsdurchbrüchen kam.
16
3. An einer das Sicherungsverfahren abschließenden Entscheidung und einer Aufhebung des Unterbringungsbefehls ist der Senat jedoch gehindert; denn es ist nicht auszuschließen, dass weitere Feststellungen die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten gemäß § 63 StGB rechtfertigen können. Die Strafkammer hat es insbesondere unterlassen, nähere Feststellungen zu den Taten zu treffen, die Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzungen betrafen und entweder "auf den Privatklageweg verwiesen oder nach § 170 Abs. 2 StPO, teilweise wegen Schuldunfähgkeit eingestellt" wurden (UA 4, 5). Auch zu dem vom Sachverständigen in Zusammenhang mit der Gefährlichkeitsprognose erwähnten Einsatz eines Messers (UA 12) verhält sich das Urteil nicht weiter.
Ernemann Solin-Stojanović Cierniak
Franke Mutzbauer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 565/16
vom
14. Februar 2017
in der Strafsache
gegen
wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:140217B4STR565.16.0

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 14. Februar 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 16. August 2016 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der vorsätzlichen Trunkenheit im Verkehr und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung freigesprochen. Zugleich hat es seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Außerdem hat es die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von weiteren zwei Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen trank der Angeklagte am 28. August 2014 zuhause Bier. Gegen 22.00 Uhr fuhr er mit seinem Pkw zu einer Tankstelle, um weiteres Bier zu kaufen. Dabei war ihm bekannt, dass er aufgrund vorangegan- genen Alkoholgenusses und des Konsums von Cannabis fahruntüchtig war. Schließlich fuhr er geradeaus über einen Kreisverkehr, wodurch sein Pkw beschädigt wurde und liegen blieb. Zu diesem Zeitpunkt wurde er bereits von einer Polizeistreife mit eingeschaltetem Blaulicht verfolgt. Nachdem er einer Aufforderung der Polizeibeamten zum Verlassen seines Fahrzeugs keine Folge geleistet hatte, wurde er aus dem Fahrzeug gezogen und zur Durchführung weiterer Durchsuchungsmaßnahmen an das Auto gelehnt. In der Folge wurde der Angeklagte zunehmend aggressiver und musste deshalb gefesselt werden. Danach unternahm er mehrere Kopfstöße in Richtung eines Polizeibeamten, der diesen jedoch ausweichen konnte. Dabei beleidigte er den Beamten unter anderem mit den Worten „Scheißbulle“ und „Hurensohn“. Nachdem er in den Streifenwagen verbracht worden war, versuchte er erneut, den neben ihm sitzenden Polizeibeamten mit Kopfstößen zu treffen; außerdem wiederholte er ständig die bereits angeführten Beleidigungen.
3
Die sachverständig beratene Strafkammer hat angenommen, dass der Angeklagte bei Tatbegehung aufgrund einer paranoiden Schizophrenie mit akuter psychotischer Symptomatik sowie einer Alkohol- und Cannabisintoxikation bei sekundärer Alkoholabhängigkeit und THC-Missbrauch schuldunfähig war.
4
2. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hat keinen Bestand, weil die Urteilsgründe nicht belegen , dass zwischen der psychischen Erkrankung des Angeklagten und den Anlasstaten ein symptomatischer Zusammenhang besteht.
5
a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Dazu ist eine konkrete Darlegung erforderlich, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 4. August 2016 – 4 StR 230/16, insofern nicht abgedruckt in NStZ 2016, 747).
6
b) Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
7
Soweit das Landgericht im Anschluss an den Sachverständigen ausführt, dass der Angeklagte schon allein aufgrund der feststellbaren akuten Symptomatik der schizophrenen Psychose mit u.a. Wahnideen, Beobachtungsgefühlen und Denkstörungen nicht mehr in der Lage gewesen sei, zwischen der Fahrt und den ihm bekannten rechtlichen Vorgaben abzuwägen und sein Verhalten „ethisch zu kommentieren“, wird daraus nicht deutlich, ob und inwieweit bei dem Angeklagten zum Tatzeitpunkt tatsächlich Wahnideen etc. vorhanden waren und wie sich diese auf seine Tatmotivation und seine Handlungsmöglichkeiten ausgewirkt haben. Der festgestellte Anlass für die Trunkenheitsfahrt (weiteres Bier kaufen) und die Situation im Zeitpunkt der Durchfahrt durch den Kreisverkehr (Verfolgung durch die Polizei) lassen eine psychotische Handlungsmotivation nicht erkennen. Auch die sich anschließenden Widerstandshandlungen und Beleidigungen enthalten für sich genommen keinen Hinweis auf ein psychotisches Erleben oder ein Verkennen der Situation; sie sind vielmehr ebenso gut normal-psychologisch erklärbar. Die weitere Erwägung der Strafkammer, der Angeklagte habe sich krankheitsbedingt in seinem Auto am sichersten gefühlt, was zu dem zwanghaften Verhalten geführt habe, sich in das Auto zu setzen, ist für die konkrete Tatsituation nicht mit Tatsachen unterlegt und lässt sich mit der mitgeteilten Motivation für die Fahrt nicht in Einklang bringen.
8
3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist auch der Freispruch des Angeklagten mit aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2016 – 4 StR 78/16, Rn. 12, Beschluss vom 5. August 2014 – 3 StR 271/14, BGHR StPO § 358 Abs. 2 Satz 2 Freispruch 1). Damit verliert auch die Anordnung einer isolierten Sperrfrist gemäß §§ 69, 69a Abs. 1 Satz 3 StGB ihre Grundlage.
9
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:
10
Sollte die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf der Grundlage des § 63 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 8. Juli 2016 erneut in Betracht gezogen werden, wird hinsichtlich der Gefährlichkeitsprognose zu berücksichtigen sein, dass Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, nicht ohne weiteres dem Bereich der erheblichen Straftaten zuzurechnen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 – 2 BvR 298/12, RuP 2014, 31, 32). Sollte der neue Tatrichter zu dem Ergebnis gelangen, dass von dem Beschuldigten in Zukunft (auch) Taten vergleichbar der Anlasstat zum Nachteil der eingesetzten Polizeibeamten zu erwarten sind, wird er bei deren Gewichtung in den Blick zu nehmen haben, dass Angriffe gegen Personen, die professionell mit derartigen Konfliktsituationen umgehen, dafür entsprechend geschult sind und in der konkreten Situation über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen, möglicher- weise weniger gefährlich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2017 – 4 StR 595/16, Rn. 19).
Sost-Scheible Cierniak Franke
Bender Quentin

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 435/09
vom
10. Dezember 2009
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 10. Dezember
2009, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Franke,
Dr. Mutzbauer
als beisitzende Richter,
Richter am Amtsgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 10. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen wendet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft , die vom Generalbundesanwalt vertreten wird. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen entfachte die Beschuldigte, die schon tagelang Selbstmordgedanken gehegt und sogar einen entsprechenden Versuch unternommen hatte, unter Verwendung von Brennspiritus ein Feuer im Dachgeschoss des unter anderem von ihr und ihrem Ehemann bewohnten Mehrfamilienhauses, um sich durch Einatmen von Rauchgasen zu töten. Beim Anblick des Feuers erschrak sie jedoch und verließ fluchtartig den Dachboden; auch ihr anschließender Versuch, sich vor einen Zug zu werfen, scheiterte, weil der Triebwagenführer rechtzeitig eine Schnellbremsung einleitete. Da das Feuer frühzeitig entdeckt wurde, konnten die anwesenden Hausbewohner das Gebäude unverletzt verlassen. Der entstandene Sachschaden beträgt etwa 60.000 €.
3
Die Strafkammer ist - sachverständig beraten - rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Beschuldigte bei Begehung der Tat wegen einer schweren krankhaften seelischen Störung nicht einsichtsfähig gewesen war. Die Beschuldigte leide seit mehr als 30 Jahren an einer affektiven Störung im Sinne einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD 10: F 32.3). Obwohl sie seit dem Jahre 1993 medikamentös behandelt werde, habe sich ihr Zustand fortlaufend verschlechtert. Zudem seien seit 2006 grenzwertige psychotische Symptome in Form von Beziehungsideen aufgetreten, die auf ihre jeweiligen Nachbarn gerichtet seien. Zwischen Dezember 2006 und Dezember 2007 habe ihre Suizidalität drei stationäre Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik erforderlich gemacht.
4
2. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hat das Landgericht mit folgender Begründung verneint:
5
Zwar dauere die schwere krankhafte seelische Störung fort. Entgegen der Auffassung der gehörten Sachverständigen Dr. S. ergebe die Gesamtwürdigung der Person der Beschuldigten und der Anlasstat jedoch nicht, dass von ihr infolge ihres Zustands weitere erhebliche Straftaten zu erwarten seien und sie deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Das folge schon daraus, dass die Beschuldigte, obwohl sie seit vielen Jahren an der depressiven Störung leide, bisher weder strafrechtlich in Erscheinung getreten sei noch fremdaggressives Verhalten gezeigt habe. Außerdem sei die Fremdgefährdung bei der Anlasstat nur "bei Gelegenheit" einer beabsichtigten Selbsttötung der Be- schuldigten erfolgt und stünde nicht in Bezug zu der wahnhaften Symptomatik in Form von "grenzwertigen" Beziehungsideen.
6
3. Die Ablehnung der Unterbringung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
7
a) Der Tatrichter ist zwar nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, da dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann (BGH, Urteil vom 16. Dezember 1992 - 2 StR 440/92, BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5). Will er aber eine Frage, für deren Beantwortung er sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss er die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt , ob er das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten , auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGH aaO; BGH, Beschluss vom 25. April 2006 - 1 StR 579/05 = NStZ-RR 2006, 242, 243; Beschluss vom 13. September 2001 - 3 StR 333/01 m.w.N.). Dies lässt die angefochtene Entscheidung vermissen.
8
Soweit das Landgericht entgegen dem Sachverständigengutachten eine qualifizierte Steigerung der affektiven Störung in den letzten beiden Jahren vor der Anlasstat verneint und dabei darauf abstellt, dass die Vorstellung der Beschuldigten , einem "Nachbarschaftsterror" ausgesetzt zu sein, zeitlich und örtlich auf eine frühere Wohnsituation beschränkt sei, lässt es außer Acht, dass die Beschuldigte auch in ihrer neuen Mietwohnung die unbegründete und über- triebene Sorge hegte, ihre Vermieter wollten sie wegen ihrer Krankheit "loswerden" und die Nachbarn würden hinter ihrem Rücken schlecht über sie reden.
9
b) Schon im Ansatz fehl geht die weitere Überlegung der Strafkammer, wonach gegen eine qualifizierte Steigerung der affektiven Störung spreche, dass die Beschuldigte auf den "akustischen Nachbarschaftsterror" nicht mit fremdaggressivem Verhalten reagiert habe. Nach den Ausführungen der Sachverständigen zum Krankheitsbild ist dieses zwar nicht durch Fremdaggression, sondern durch ausgeprägte Suizidalität gekennzeichnet. Da die Beschuldigte bei ihren Selbsttötungsbestrebungen aber, wie die Sachverständige ausgeführt hat, mögliche Folgen für Dritte ausblendet, entsteht aus einer erhöhten Suizidalität auch eine erhöhte Gefahr für die Allgemeinheit.
10
4. Wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers unterliegt das Urteil insgesamt der Aufhebung. Die Möglichkeit, die Beschuldigte belastende, für sich genommen rechtsfehlerfrei getroffene Feststellungen zum äußeren Tathergang teilweise aufrecht zu erhalten, scheidet aus, da die Beschuldigte das Urteil insoweit nicht hätte anfechten können (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2000 - 3 StR 595/99, NStZ-RR 2000, 300 m.w.N.).
11
Sollte der neue Tatrichter eine fortdauernde Gefährlichkeit der Beschuldigten feststellen, wird er zu prüfen haben, ob die von der Beschuldigten ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit durch eine konsequente medizinische Behandlung, für deren Durchführung bereits ein Betreuer bestellt ist, abgewendet werden kann. In diesem Fall würde es, worauf auch die Revisionsführerin hingewiesen hat, nahe liegen, die Vollstreckung der Unterbringung gemäß § 67 b StGB zur Bewährung auszusetzen (vgl. BGH aaO; BGH, Urteil vom 20. Februar 2008 - 5 StR 575/07, jeweils m.w.N.).
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Franke Mutzbauer