Bankrecht: Zum Rücktritt vom Versicherungsvertrag bei unzureichender Belehrung

published on 28/03/2014 16:15
Bankrecht: Zum Rücktritt vom Versicherungsvertrag bei unzureichender Belehrung
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Betreffend der Vorlagefrage an den EuGH ob ein Rücktritts- oder Widerspruchsrecht ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt.
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 19.12.2013 (Az.: C-209/12) folgendes entschieden:

Art. 15 I der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8.11.1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10.11.1992 geänderten Fassung iVm Art. 31 der Richtlinie 92/ 96/EWG ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist.


Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Endress und der Allianz Lebensversicherungs AG wegen seines Rücktritts von einem mit dieser Gesellschaft geschlossenen Lebensversicherungsvertrag.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung wurden durch die Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen aufgehoben und ersetzt, die wiederum durch die Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit mit Wirkung vom 1. November 2012 aufgehoben und ersetzt wurde. Aufgrund des Zeitpunkts, zu dem der im Ausgangsverfahren streitige Lebensversicherungsvertrag geschlossen wurde, sind jedoch noch die Bestimmungen der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung für die Entscheidung dieses Rechtsstreits maßgebend.

Zweite Richtlinie Lebensversicherung

Nach dem elften Erwägungsgrund der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung ist „[b]ei … Lebensversicherungen … dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit einzuräumen, innerhalb von 14 bis 30 Tagen von dem Vertrag zurückzutreten“.

Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung bestimmte:

„Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem er davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.


Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag … anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.“

Dritte Richtlinie Lebensversicherung

Im 23. Erwägungsgrund der Dritten Richtlinie Lebensversicherung hieß es:

„Im Rahmen eines einheitlichen Versicherungsmarkts wird dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen. Um diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, muss er im Besitz der notwendigen Informationen sein, um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen. Da die Dauer der Verpflichtungen sehr lang sein kann, ist diese Information für den Verbraucher noch wichtiger. Folglich sind die Mindestvorschriften zu koordinieren, damit er klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte und über die Stellen erhält, an die etwaige Beschwerden der Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten des Vertrages zu richten sind.“

Art. 31 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie bestimmte:

„ Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang II Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.



Die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel und zu Anhang II werden von dem [betreffenden] Mitgliedstaat … erlassen.“

Anhang II der Richtlinie sah vor:

„Dem Versicherungsnehmer sind die nachfolgenden Informationen entweder vor Abschluss des Vertrages oder während der Laufzeit des Vertrages mitzuteilen. Die Informationen sind eindeutig und detailliert schriftlich in einer Amtssprache des [betreffenden] Mitgliedstaats … abzufassen.

A. Vor Abschluss des Vertrages mitzuteilende Informationen

a.13 Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts;
…“

Richtlinie 85/577/EWG

Gemäß dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen sind „Verträge, die außerhalb der Geschäftsräume eines Gewerbetreibenden abgeschlossen werden, … dadurch gekennzeichnet, dass … der Verbraucher auf die Vertragsverhandlungen nicht vorbereitet ist [und] häufig keine Möglichkeit [hat], Qualität und Preis des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen“.

Im fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es: „Um dem Verbraucher die Möglichkeit zu geben, die Verpflichtungen aus dem Vertrag noch einmal zu überdenken, sollte ihm das Recht eingeräumt werden, … vom Vertrag zurückzutreten“.

Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Der Verbraucher besitzt das Recht, von der eingegangenen Verpflichtung zurückzutreten, indem er dies innerhalb von mindestens sieben Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem ihm die in Artikel 4 genannte Belehrung erteilt wurde, entsprechend dem Verfahren und unter Beachtung der Bedingungen, die im einzelstaatlichen Recht festgelegt sind, anzeigt. Die Frist gilt als gewahrt, wenn die Anzeige vor Fristablauf abgesandt wird.“

Deutsches Recht

Der zum 1. Januar 2008 außer Kraft getretene § 5a des Versicherungsvertragsgesetzes sah in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung vor:

„ Hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer bei Antragstellung die Versicherungsbedingungen nicht übergeben oder eine Verbraucherinformation nach [den geltenden Vorschriften] unterlassen, so gilt der Vertrag auf der Grundlage des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformation als abgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer nicht innerhalb von vierzehn Tagen nach Überlassung der Unterlagen in Textform widerspricht. …

Der Lauf der Frist beginnt erst, wenn dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Unterlagen nach Absatz 1 vollständig vorliegen und der Versicherungsnehmer bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich, in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden ist. … Abweichend von Satz 1 erlischt das Recht zum Widerspruch jedoch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.
…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

Der Vorlageentscheidung zufolge beantragte Herr Endress bei der Allianz den Abschluss eines Rentenversicherungsvertrags mit Vertragsbeginn zum 1. Dezember 1998. Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation erhielt er erst mit dem Versicherungsschein. Im Zuge dieses Vertragsschlusses belehrte die Allianz Herrn Endress nicht hinreichend über die ihm nach § 5a VVG zustehenden Rechte.

Nach dem Rentenversicherungsvertrag hatte Herr Endress ab Dezember 1998 über einen Zeitraum von fünf Jahren jährlich eine Versicherungsprämie zu zahlen. Als Gegenleistung hatte die Allianz ihm ab dem 1. Dezember 2011 eine Rente zu zahlen. Am 1. Juni 2007 teilte Herr Endress der Allianz die Kündigung des Vertrags zum 1. September 2007 mit. Im September 2007 kehrte die Allianz ihm den Rückkaufswert des Rentenversicherungsvertrags aus, der unter dem Gesamtbetrag der Versicherungsprämien zuzüglich Zinsen lag.

Mit Schreiben vom 31. März 2008 übte Herr Endress sein Widerspruchsrecht nach § 5a VVG aus. Er forderte die Allianz auf, ihm sämtliche Prämien nebst Zinsen unter Abzug des bereits ausgekehrten Rückkaufswerts zurückzuzahlen.

Die Klage von Herrn Endress gegen die Allianz auf Zahlung dieses zusätzlichen Betrags wurde vom erstinstanzlichen Gericht abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung wurde ebenfalls zurückgewiesen.

Daraufhin legte Herr Endress beim Bundesgerichtshof Revision ein. Für den Bundesgerichtshof hat die Revision nur Erfolg, wenn Herr Endress ungeachtet der Bestimmung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG noch zu einem Widerspruch berechtigt war, nachdem mehr als ein Jahr seit Zahlung der ersten Versicherungsprämie verstrichen war. Insofern komme es darauf an, ob Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung dahin auszulegen ist, dass er einer zeitlichen Beschränkung des Widerspruchsrechts entgegensteht.

Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung unter Berücksichtigung des Art. 31 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung dahin auszulegen, dass er einer Regelung – wie § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung – entgegensteht, nach der ein Rücktritts- oder Widerspruchsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, selbst wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt oder Widerspruch belehrt worden ist?

Zur Vorlagefrage

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV, der auf einer klaren Trennung der Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern. Ebenso ist die Auslegung des nationalen Rechts ausschließlich Sache des vorlegenden Gerichts.

Daraus folgt für die vorliegende Rechtssache, dass der Gerichtshof ungeachtet der von der Allianz in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung insoweit geäußerten Zweifel davon auszugehen hat, dass Herr Endress, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, über sein Rücktrittsrecht nicht oder zumindest nicht ausreichend belehrt worden ist. Auch hat der Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Rechtssache nicht darüber zu entscheiden, ob die nationale Regelung des § 5a VVG über die Modalitäten des Abschlusses eines Versicherungsvertrags nach dem sogenannten Policenmodell insgesamt den Anforderungen der Zweiten und Dritten Richtlinie Lebensversicherung entsprach.

Der Gegenstand der vorliegenden Rechtssache beschränkt sich daher auf die Frage, ob die in Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung vorgesehene Ausübung des Rücktrittsrechts durch eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche auf den Zeitraum eines Jahres nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie begrenzt sein konnte, selbst wenn der Versicherungsnehmer nicht über dieses Recht zum Rücktritt belehrt worden war.

Insoweit ist zu beachten, dass die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung zwar nicht den Fall regelten, dass der Versicherungsnehmer nicht über sein Rücktrittsrecht belehrt wurde, und damit auch nicht die Folgen, die das Unterbleiben der Belehrung für dieses Recht haben konnte, nach Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 3 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung aber vorgesehen war, dass „die [für den Rücktritt] erforderlichen Voraussetzungen … gemäß dem auf den Versicherungsvertrag … anwendbaren [nationalen] Recht geregelt [wurden]“.

Die Mitgliedstaaten konnten daher zwar im Einzelnen die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts regeln, und diese Modalitäten durften naturgemäß Einschränkungen dieses Rechts zur Folge haben. Nach ständiger Rechtsprechung mussten die Mitgliedstaaten beim Erlass dieser Vorschriften jedoch dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Zweiten und Dritten Richtlinie Lebensversicherung unter Berücksichtigung des mit diesen verfolgten Zwecks gewährleistet ist.

Bezüglich des Zwecks dieser Richtlinien hieß es im 23. Erwägungsgrund der Dritten Richtlinie Lebensversicherung, dass im „Rahmen eines einheitlichen Versicherungsmarkts … dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen wird“ und dass er, „[u]m diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, … im Besitz der notwendigen Informationen sein [muss], um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen“. Weiter hieß es dort, dass diese Information, „[d]a die Dauer der Verpflichtungen sehr lang sein kann, … für den Verbraucher noch wichtiger“ ist.

In Hinblick auf diesen im 23. Erwägungsgrund der Dritten Richtlinie Lebensversicherung angeführten Informationszweck sah Art. 31 Abs. 1 dieser Richtlinie in Verbindung mit deren Anhang II Nr. a.13 vor, dass dem Versicherungsnehmer „mindestens“ die „Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts“ mitgeteilt werden mussten, und zwar „[v]or Abschluss des Vertrages“. Sowohl aus der Struktur als auch aus dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen der Dritten Richtlinie Lebensversicherung ging demnach eindeutig hervor, dass mit ihr sichergestellt werden sollte, dass der Versicherungsnehmer insbesondere über sein Rücktrittsrecht genau belehrt wird.

Es ist daher festzustellen, dass eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wonach das Recht des Versicherungsnehmers, von dem Vertrag zurückzutreten, zu einem Zeitpunkt erlischt, zu dem er über dieses Recht nicht belehrt war, der Verwirklichung eines grundlegenden Ziels der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung und damit deren praktischer Wirksamkeit zuwiderläuft.

Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das u. a. von der Allianz vorgetragene Argument entkräftet, wonach der Grundsatz der Rechtssicherheit eine Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche gebieten könne. Der Gerichtshof hat nämlich insoweit bereits entschieden, dass ein Verbraucher das Widerrufsrecht nicht ausüben könne, wenn es ihm nicht bekannt sei, und dass daher aus Gründen der Rechtssicherheit eine Beschränkung des Zeitraums, in dem das Widerrufsrecht nach der Richtlinie 85/577 ausgeübt werden könne, nicht gerechtfertigt sein könne, weil dies eine Einschränkung der Rechte impliziere, die dem Verbraucher ausdrücklich verliehen worden seien, um ihn vor den Gefahren zu schützen, die sich daraus ergeben, dass Kreditinstitute bewusst Verträge außerhalb ihrer Geschäftsräume abschlössen.

Zwar betrifft das Urteil Heininger insbesondere die Bestimmungen der Richtlinie 85/577 zum Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, und es bestehen, wie die Generalanwältin in Nr. 43 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, erhebliche Unterschiede zwischen dieser Richtlinie und der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung. Die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils dargestellten Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil Heininger lassen sich jedoch auf die im Ausgangsverfahren fragliche Bestimmung übertragen. Die Gefahren, die zum einen für den Verbraucher mit dem Abschluss eines Vertrags außerhalb der Geschäftsräume seines Vertragspartners und zum anderen für den Versicherungsnehmer mit dem Abschluss eines Versicherungsvertrags bei Fehlen einer den Anforderungen des Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung in Verbindung mit deren Anhang II entsprechenden Belehrung verbunden sind, sind nämlich vergleichbar.

So heißt es im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 85/577, dass der Verbraucher „häufig keine Möglichkeit [hat], Qualität und Preis des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen“, und im fünften Erwägungsgrund, dass dem Verbraucher, um ihm „die Möglichkeit zu geben, die Verpflichtungen aus dem Vertrag noch einmal zu überdenken, … das Recht eingeräumt werden [sollte], … vom Vertrag zurückzutreten“. Zum anderen befindet sich der Versicherungsnehmer, da Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können, dem Versicherer gegenüber in einer schwachen Position, die derjenigen eines Verbrauchers beim Abschluss eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags entspricht.

Demnach kann sich der Versicherer, wie die Generalanwältin in den Nrn. 46 und 47 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht mit Erfolg auf Gründe der Rechtssicherheit berufen, um einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung von in einer Liste festgelegten Informationen, zu denen insbesondere die Informationen über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, gehören, nicht nachgekommen ist.

Diese Erwägungen können auch nicht durch den u. a. von der Allianz geltend gemachten Umstand in Frage gestellt werden, dass das in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 85/577 vorgesehene Widerrufsrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch dann erlöschen kann, wenn der Verbraucher fehlerhaft über die Modalitäten der Ausübung dieses Rechts belehrt wurde. Dieses Urteil betrifft nämlich die Frage, ob mit dieser Richtlinie eine nationale Bestimmung vereinbar ist, die ein solches Erlöschen einen Monat nach vollständiger Erfüllung der sich aus einem Vertrag ergebenden Pflichten durch die Vertragspartner vorsieht. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um eine derartige Bestimmung, da der nationale Gesetzgeber für Lebensversicherungsverträge keine solche erlassen hat.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung in Verbindung mit Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist.

Zu den zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils

In ihren Erklärungen hat die Allianz beantragt, die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu begrenzen, falls der Gerichtshof feststellen sollte, dass die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen.

Die Allianz begründet den Antrag damit, dass das Urteil über 108 Mio. Versicherungsverträge betreffen könne, die zwischen 1995 und 2007 geschlossen worden seien, und dass aufgrund dieser Verträge Prämien in Höhe von über 400 Mrd. Euro gezahlt worden seien. Die Allianz selbst habe in diesem Zeitraum etwa 9 Mio. Verträge dieses Typs mit einem Beitragsvolumen von etwa 62 Mrd. Euro abgeschlossen.

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts darauf beschränkt, die Bedeutung und Tragweite dieser Vorschrift, so wie sie seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden gewesen wäre, zu erläutern und zu verdeutlichen.

Zweitens ist eine Begrenzung der zeitlichen Wirkungen eines Urteils nach ständiger Rechtsprechung eine außergewöhnliche Maßnahme, die voraussetzt, dass eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen besteht, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhängen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen wurden; dabei müssen die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit dem Unionsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst worden sein, weil eine erhebliche objektive Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Bestimmungen des Unionsrechts bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission beigetragen hatte.

Zu den Gesichtspunkten, die im vorliegenden Fall eine Begrenzung der zeitlichen Wirkungen des Urteils des Gerichtshofs rechtfertigen könnten, ist jedoch festzustellen, dass die Allianz, die insoweit keine Beweise vorgelegt hat, sich darauf beschränkt hat, auf eine sehr hohe Zahl von Versicherungsverträgen zu verweisen, die nach dem Policenmodell geschlossen worden sein sollen und aufgrund deren insgesamt ein sehr hoher Betrag gezahlt worden sein soll. Die Allianz hat aber keine Angaben zu der in der vorliegenden Rechtssache allein maßgeblichen Zahl von Versicherungsverträgen gemacht, bei denen der Versicherungsnehmer nicht über sein Rücktrittsrecht belehrt wurde, und sie hat auch nicht das wirtschaftliche Risiko beziffert, das für sie damit verbunden ist, dass die betroffenen Versicherungsnehmer von diesen Verträgen zurücktreten können. Unter diesen Umständen ist nicht erwiesen, dass die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen besteht.

Im Übrigen ist zur Voraussetzung des Bestehens einer „erheblichen objektiven Unsicherheit“ hinsichtlich der Tragweite der unionsrechtlichen Bestimmungen festzustellen, dass die Bestimmungen der Dritten Richtlinie Lebensversicherung, wie sich aus den Randnrn. 22 bis 31 des vorliegenden Urteils ergibt, keinen Zweifel am wesentlichen Ziel dieser Richtlinie ließen, das darin bestand, es dem Versicherungsnehmer zu ermöglichen, von einem Lebensversicherungsvertrag zurückzutreten, wenn er – in Kenntnis aller Umstände – der Ansicht ist, dass der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht am besten entspricht.

Eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die die Ausübung des dem Versicherungsnehmer zustehenden Rücktrittsrechts auf ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie beschränkte, wenn der Versicherungsnehmer nicht gemäß Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung belehrt worden war, verstieß eindeutig gegen dieses Ziel. Daher bestand auch keine „erhebliche objektive Unsicherheit“ hinsichtlich der Tragweite der betreffenden unionsrechtlichen Bestimmungen.

Infolgedessen sind die Wirkungen des vorliegenden Urteils nicht in zeitlicher Hinsicht zu begrenzen.

Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof für Recht erkannt:

Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist.

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