- 3.1.1. Rechtshandlung

erstmalig veröffentlicht: 11.03.2011, letzte Fassung: 11.03.2011
beiRechtsanwalt Dirk Streifler - Partner


3.1.1.1. Grundlegendes


Der Begriff "Rechtshandlung" wird weit ausgelegt. Darunter ist jedes vom Willen getragene Tun oder Unterlassen des Schuldners oder eines Dritten (soweit nicht die InsO etwas anderes vorsieht), das Rechtswirkungen auslösen kann, zu verstehen.

Beispiele für aktives Tun: Verpflichtungs- und Verfügungsverträge, Willenserklärungen, einseitige Rechtsgeschäfte wie Kündigungen oder Verzichtserklärungen, rechtsgeschäftsähnliche Handlungen wie Mahnungen oder Fristsetzungen, Realakte wie die Verarbeitung i.S.d. §§ 946, 950 BGB, Prozesshandlungen, Lastschriftzahlungen, wegen § 141 InsO auch Vollstreckungshandlungen sowie die Vollziehung eines Arrests und/oder einer einstweiligen Verfügung

Beispiele für Unterlassen: Verstreichenlassen einer Verjährungsfrist, Nichtbestreiten im Prozess, versäumtes Einlegen eines Rechtsbehelfs


3.1.1.2. Problemfeld: Zahlung durch den Schuldner nach begonnener Zwangsvollstreckung


KG, 16.10.2009, 14 U 18/09
Nach Auffassung des Kammergerichts kann eine Rechtshandlung i.S.d. §§ 129 ff. InsO nicht allein darin gesehen werden, dass der Insolvenzschuldner in eine Durchsuchung einwilligt und nicht auf einer richterlichen Anordnung nach §§ 758, 758a ZPO besteht.

BGH, 10.02.2005, IX ZR 211/02:
Es liegt keine Rechtshandlung liegt vor, wenn der Insolvenzschuldner nur noch die Wahl zwischen sofortiger Erfüllung der Forderung oder Duldung der Vollstreckung hat, wenn selbstbestimmtes Handeln de facto ausgeschaltet ist.

BGH, Urteil vom 06.10.2009, IX ZR 191/05:

Dagegen stellt die Übergabe eines Schecks des Insolvenzschuldners an einen Vollziehungsbeamten (z.B. Gerichtsvollzieher) eine Rechtshandlung des Insolvenzschuldners dar. Denn wenn
der Insolvenzschuldner der anwesenden Vollziehungsperson zur Vermeidung eines - mangels pfändbarer Gegenstände voraussichtlich erfolglosen - Pfändungsversuchs einen Scheck über den geforderten Betrag übergibt, besteht zumindest theoretisch die Möglichkeit zu einem anderweitigen Verhalten.

OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 29.08.2005, 16 U 11/05,
OLG Karlsruhe, Urteil vom 24.06.2008, 8 U 186/07:

Zwar vertraten sowohl das OLG Frankfurt a.M. als auch das OLG Karlsruhe die Auffassung, wonach eine während der Zwangsvollstreckung getätigte Zahlung keine Rechtshandlung des Schuldners darstelle - unabhängig davon, ob der Gerichtsvollzieher vor Ort gewesen sei oder nicht, ob der Schuldner aufgrund einer mit dem Gerichtsvollzieher getroffenen Ratenvereinbarung und in welcher Weise - in bar, per Überweisung oder Scheck - gezahlt habe.

BGH, Urteil vom 10.12.2009, IX ZR 128/08 (Revision zum o.g. Urteil des OLG Karlsruhe)
:
Der BGH bewertet aber die verfahrensrechtliche Abgrenzung der Oberlandesgerichte nicht mit dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO vereinbar:

Im Lichte seiner vorangegangenen Rechtsprechung betont er, dass eine Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO in Abgrenzung zu unanfechtbaren einseitigen Gläubigerhandlungen nur in Betracht komme, wenn ein willensgesteuertes Handeln des Schuldners zur Befriedigung beigetragen habe. Denn nur wer darüber entscheiden könne, ob er die angeforderte Leistung erbringe oder verweigere, nehme selbst eine Rechtshandlung im Sinne des § 129 InsO vor. Dabei sei dem Schuldner die Möglichkeit zu eigenem willensgesteuerten Handeln nicht allein dadurch genommen, dass die Einzelzwangsvollstreckung bereits begonnen habe.

Zum einen unterscheide sich die Situation, dass eine einzelne Zwangsvollstreckungsmaßnahme erfolglos geblieben sei und deshalb demnächst weitere Maßnahmen drohten, nicht wesentlich von derjenigen, in welcher der Beginn der Zwangsvollstreckung noch bevorstehe. Nach wie vor könne der Schuldner frei entscheiden, ob er Vermögenswerte, die das Vollstreckungsorgan bislang nicht aufgefunden hätten oder die er noch von dritter Seite bekommen könnte, zur Befriedigung des Vollstreckungsgläubigers einsetze oder statt dessen die Fortsetzung des Zwangsvollstreckungsverfahrens hinnehme und die Konsequenz ziehe, selbst Insolvenzantrag zu stellen.

Zum anderen beruhe die gegenteilige Auffassung des OLG Karlsruhe auf der unzutreffenden Prämisse, dass in der Einzelzwangsvollstreckung ratenweise Leistungen des Vollstreckungsschuldners auf einen einheitlichen hoheitlichen Zugriff zurückgeführt würden. Bleibe ein Pfändungsversuch ganz oder teilweise fruchtlos, setze sich dieser am Beginn des Verfahrens stehende hoheitliche Zugriff nicht fort, wenn der Schuldner einige Zeit später doch Leistungen an den Gerichtsvollzieher erbringe. Die Entscheidungsfreiheit sei nicht dadurch aufgehoben, dass der Schuldner bei fortgesetzter Fruchtlosigkeit die eidesstattliche Versicherung abgeben müsse. Die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung stelle seine Dispositionsfreiheit über etwaige verbliebene Vermögenswerte nicht in Frage.

Auch die vom OLG Karlsruhe angestellten praktischen Erwägungen gäben keine Veranlassung, die am Regelungszweck ausgerichtete Auslegung des § 133 InsO im Falle von Ratenzahlungen nach § 806b ZPO aufzugeben.

Zum einen erschwere der bargeldlose Zahlungsverkehr, dessen sich Schuldner häufig auch im Rahmen des § 806b ZPO zur Erfüllung von Ratenzahlungsvereinbarungen bedienten, nicht die Abgrenzung zwischen anfechtbaren eigenverantwortlichen Leistungen des Schuldners und unanfechtbaren einseitigen Vollstreckungshandlungen. Denn die Abgrenzung sei bei einer bargeldlosen Zahlung einfacher als bei Hingabe von Bargeld an den Gerichtsvollzieher, da Überweisungen, Lastschriften und Scheckbegebungen zwingend erforderten, dass der Schuldner noch freien Zugriff auf sein Girokonto habe. Sei das Konto wegen Überziehung gesperrt oder unterliege es einer Pfändung, werde der vom Schuldner veranlasste Zahlungsvorgang erfolglos bleiben. Akzeptiere die Bank die Kontobelastung, beruhe die Zahlung auf der eigenverantwortlichen Verfügung des Schuldners über sein Konto und sei daher anfechtbar.

Zum anderen trage der bargeldlose Zahlungsverkehr nicht zur Beeinträchtigung der Rechtssicherheit des Vollstreckungsgläubigers bei, weil dieser etwaige zusätzlich eröffnete Anfechtungsrisiken vermeiden könne. Der Vollstreckungsgläubiger könne die Anfechtung vermeiden, indem er - ebenso wie er gemäß §§ 808 ff. ZPO anfechtungsfrei auf körperliche Sachen und Bargeld des Schuldners zugreifen könne - gemäß §§ 828 ff. ZPO auf dessen Kontoguthaben zugreife und den Auszahlungsanspruch des Schuldners pfänden und sich zur Einziehung überweisen lasse. Bareinzahlungen des Schuldners bei einer Bank mit anschließender Überweisung des eingezahlten Betrages auf das Dienstkonto des Gerichtsvollziehers qualifiziert der BGH als willensgetragene Leistungen des Schuldners wie Ratenzahlungen, die er in bar am Dienstsitz des Gerichtsvollziehers erbringe. Mithin seien sie der Vorsatzanfechtung zugänglich.


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Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

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