Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Apr. 2010 - 4 StR 64/10

bei uns veröffentlicht am21.04.2010

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 64/10
vom
21. April 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Brandstiftung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 21. April 2010 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 22. Oktober 2009, soweit es ihn betrifft, im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen, einschließlich derjenigen zu den Trinkmengen, aufgehoben. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt; im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
Die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit des Angeklagten durch das Landgericht begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
3
1. Das Landgericht hat seiner Bewertung die durch die Aussagen von zwei Zeugen [UA 13] bestätigte Trinkmengenangabe des Angeklagten in der Hauptverhandlung zu Grunde gelegt, wonach dieser bei einer Feier am 22. April 2009 in der Zeit von etwa 19.45 Uhr bis kurz vor Mitternacht elf 0,5 l Flaschen Bier getrunken hat. Sachverständig beraten hat das Landgericht angenommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Taten, die sich am 23. April 2009 kurz nach Mitternacht bzw. gegen 1.00 Uhr ereigneten, durch den Alkoholkonsum nicht erheblich vermindert gewesen sei. Dies hat es daraus geschlossen, dass die bei der Feier anwesenden Zeugen bei dem Angeklagten , nachdem sich dieser im Verlauf des Abends einmal übergeben hatte, keine körperlichen Auffälligkeiten mehr festgestellt haben. Nach deren Angaben habe der Angeklagte "weder gelallt noch geschwankt noch Sinnloses geredet". Außerdem sei der Angeklagte nach Mitternacht in der Lage gewesen, selbständig mit seinem Fahrrad zu fahren [UA 33].
4
2. Damit hat das Landgericht die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Es hat versäumt, auf der Grundlage der getroffenen Feststellung zu der Trinkmenge eine Tatzeit-Blutalkoholkonzentration zu errechnen, die bei der Beurteilung der möglichen erheblichen Verminderung des Steuerungsvermögens zur Tatzeit in die erforderliche Gesamtwürdigung einzubeziehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. November 2005 - 5 StR 358/05). Denn für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch auf die psychodiagnostischen Kriterien an (vgl. BGHSt 43, 66). Dabei steht das Fehlen von Ausfallerscheinungen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen; gerade bei alkoholgewöhnten Tätern können äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinander fallen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07 m.w.N.; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. § 20 Rdn. 23 a). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Feststellung, der Angeklagte habe gegen Ende der Feier keine Ausfallerscheinungen gezeigt, auf den Angaben von Zeugen beruht, die ebenfalls erheblich dem Alkohol zugesprochen haben.
5
3. Der Strafausspruch kann aus diesem Grunde keinen Bestand haben. Der Schuldspruch wird von dem Rechtsfehler nicht berührt. Es ist auszuschließen , dass der neue Tatrichter zu Feststellungen gelangt, die zur Anwendung von § 20 StGB führen.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Apr. 2010 - 4 StR 64/10

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Strafrecht: Hoher Trinkmengen an Alkohol begründen keine uneingeschränkte Schuldfähigkeit

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Erfolgreiche Revision gegen Verurteilung wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung - BGH vom 21.04.2010 - Az: 4 StR 64/10 - Anwalt für Strafrecht - BSP Bierbach, Streifler & Partner PartGmbB
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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der
Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Apr. 2010 - 4 StR 64/10 zitiert 5 §§.

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Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

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Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

5 StR 358/05

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 29. November 2005
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. November 2005

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 26. April 2005 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) im Strafausspruch, soweit der Angeklagte wegen Vergewaltigung verurteilt wurde,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung (Einzelstrafe : drei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe) und sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen (viermal ein Jahr und einmal ein Jahr und sechs Monate Freiheitsstrafe) unter Freisprechung im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Während die Schuldsprüche und die für die Fälle des sexuellen Missbrauchs festgesetzten Einzelstrafen sachlichrechtlicher Nachprüfung standhalten, begegnet die für die Vergewaltigung (Fall II 2 der Urteilsgründe) ausgesprochene Strafe durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat insoweit die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
1. Nach den Feststellungen trank der Angeklagte im Laufe des 2. Januar 2005 (Zeitpunkt der Tat: 3. Januar 2005 zwischen 2.00 und 3.00 Uhr morgens) eine Flasche Wodka. Am Abend und in der Nacht zum 3. Januar nahm der Angeklagte bis 1.30 Uhr Longdrinks zu sich. Die genaue Menge der konsumierten Getränke konnte das Gericht nicht feststellen, obwohl die Zeugin M , die mitgetrunken hatte, bekundet hat, dass der Angeklagte „nicht mehr als sonst“ getrunken habe. Ob und gegebenenfalls welche Angaben zur Trinkmenge der Angeklagte oder das Tatopfer gemacht haben, teilt das Urteil nicht mit. Im Wesentlichen aufgrund der weiteren Aussage der genannten Zeugin, wonach der Angeklagte keine Ausfallerscheinungen gezeigt habe, ist die sachverständig beratene Strafkammer zu der Auffassung gelangt , dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit weder ausgeschlossen noch erheblich vermindert gewesen sei. Auch wenn der Angeklagte an diesem Abend beträchtlich alkoholisiert gewesen sein sollte, könnten wegen seiner Alkoholtoleranz und im Hinblick auf die Bekundungen der Zeugin die Voraussetzungen des § 21 StGB ausgeschlossen werden.
Demgegenüber hat das Landgericht in einem der Fälle des sexuellen Missbrauchs, bei dem der Angeklagte ebenfalls alkoholisiert war, die Voraussetzungen des § 21 StGB angenommen, obwohl auch in diesem Fall weder das Opfer noch später die Entnahmeärztin nennenswerte alkoholbedingte Ausfallerscheinungen bemerkt haben (Fall II 3 der Urteilsgründe). Im Unterschied zu Fall II 2 konnte hier aber die Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit mit etwa 3 ‰ errechnet werden. Die Strafkammer führt in diesem Zusammenhang aus, dass allein wegen der Höhe der ermittelten Blutalkoholkon- zentration in diesem Fall eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht ausgeschlossen werden könne.
2. Die unterschiedliche Behandlung lässt besorgen, dass der Tatrichter nicht bedacht hat, dass auch in Fällen, in denen keine Blutprobe entnommen worden ist, dem Gericht die Aufgabe obliegt, sich aufgrund aller Erkenntnismöglichkeiten im Rahmen freier Beweiswürdigung eine Überzeugung von der vom Angeklagten vor der Tat genossenen Alkoholmenge zu verschaffen. Auf dieser Grundlage ist eine Tatzeit-Blutalkoholkonzentration zu errechnen, die bei der Beurteilung des möglichen Wegfalls des Einsichtsoder Steuerungsvermögens zur Tatzeit in die erforderliche Gesamtwürdigung einzubeziehen ist (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 22, 23; BGH StV 1993, 519). Denn für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch auf die psychodiagnostischen Kriterien an (vgl. BGHSt 43, 66), wobei das Fehlen von Ausfallerscheinungen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegensteht (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 20 Rdn. 24 m.w.N.). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Feststellung, der Angeklagte habe keine Ausfallerscheinungen gezeigt, allein auf den wenig aussagekräftigen Angaben einer zur fraglichen Zeit selbst angetrunkenen Zeugin beruht, wonach der Angeklagte „nicht hackedickevoll“ gewesen sei und noch klar habe reden können.
Der Strafausspruch kann aus diesen Gründen keinen Bestand haben. Der Schuldspruch wird von dem Rechtsfehler nicht berührt. Es ist auszuschließen , dass der neue Tatrichter zu Feststellungen gelangt, die zur Anwendung von § 20 StGB führen. Der Wegfall der Einsatzstrafe zieht die Auf- hebung der Gesamtstrafe nach sich. Bei Bildung einer neuen Gesamtstrafe wird zu Gunsten des Angeklagten mehr als bisher zu bedenken sein, dass vier der fünf Missbrauchstaten mehr als zwölf Jahre zurückliegen und die fünfte Tat die Erheblichkeitsschwelle des § 184 f Nr. 1 StGB nur knapp überschreitet.
Basdorf Häger Gerhardt Brause Schaal

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 187/07
vom
12. Juni 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 12. Juni 2007 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 7. Dezember 2006 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen, einschließlich derjenigen zu den Trinkmengen, aufgehoben. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Nach den Feststellungen tötete der Angeklagte, der alkoholabhängig ist und zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration von 2,87 ‰ aufwies, seine Lebensgefährtin durch mindestens zehn gegen den Kopf gerichtete Schläge mit einem Baseballschläger. Die Schläge waren so heftig, dass Teile der Schädeldecke vom Kopf gelöst wurden und der Schläger schließlich zerbrach. Vor der Tat war der Angeklagte nie durch Tätlichkeiten oder aggressives Verhalten aufgefallen , sondern führte trotz vergleichsweise hoher Intelligenz ein eher passives und beruflich perspektivloses Leben. In der Beziehung zwischen dem Angeklagten und seiner Lebensgefährtin war es mehrfach zu zeitweiligen Trennungen gekommen. Der Tat vorangegangen war ein erneuter heftiger Streit, in dessen Verlauf das spätere Opfer dem Angeklagten erklärte, er habe am folgenden Tag die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Nach der Tat verschloss der Angeklagte die Türen zum Tatzimmer und zum Kinderzimmer, zog sich um und fuhr mit dem Kraftfahrzeug der Geschädigten nach Polen.
3
Der Angeklagte hat sich dahin eingelassen, er könne sich an das eigentliche Tatgeschehen "ganz überwiegend nicht erinnern", ebenso wenig an das unmittelbare Nachtatgeschehen. Seine Erinnerung setze erst wieder ein, als er die deutsch-polnische Grenze passiert habe.
4
Das sachverständig beratene Landgericht hat im Anschluss an den Sachverständigen eine Aufhebung oder erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ausgeschlossen. Eine solche habe weder auf Grund der akuten Alkoholintoxikation allein noch im Zusammenspiel mit einer möglicherweise affektiv hoch aufgeladenen Streitsituation vorgelegen. Auch das Maß der aufgewendeten Gewalt spreche hier nicht für das Vorliegen eines Affekts als Ausdruck einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, da der Tatablauf Hinweise auf stimmige Handlungsschritte enthalte. Im Nachtatverhalten lägen ebenfalls Umstände vor, die gegen eine vorangegangene Affekttat sprächen.
5
2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB verneint hat, halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
6
a) Soweit das Landgericht - dem Sachverständigen folgend - meint, die festgestellte hohe Alkoholisierung des Angeklagten könne deswegen für sich allein eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht begründen, weil der Angeklagte eine hohe Alkoholtoleranz entwickelt habe und nach der Tat ohne Schwierigkeiten nach Polen gefahren sei, hat es nicht bedacht, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit bei hoher Alkoholgewöhnung durchaus weit auseinander fallen können (BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 10, 18). Gerade bei Alkoholikern zeigt sich oft eine durch "Übung" erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten (vgl. Tröndle/Fischer StGB 54. Aufl. § 20 Rdn. 23). Dem Verhalten nach der Tat kommt in diesem Zusammenhang nur eine geringe Aussagekraft zu, weil, was das Landgericht nicht erkennbar bedacht hat, bei dem Angeklagten durch die Tat eine wesentliche Ernüchterung eingetreten sein kann. Zudem ergibt sich aus dem Urteil nicht, dass der Angeklagte unmittelbar nach der Tat die Fahrt nach Polen angetreten hat.
7
b) Die Ablehnung eines Affekts begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8
Die Ausführungen der Strafkammer sind schon im Ansatz nicht frei von Widersprüchen. Einerseits meint sie in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen , die völlig fehlende Gewalt in der Beziehung im Vorfeld würde grundsätzlich für die Annahme einer plötzlichen affektiven "Zerreißung der Sinnzusammenhänge" und damit, befördert durch die Alkoholintoxikation, für die Annahme einer tiefgreifenden Bewusststeinsstörung zum Tatzeitpunkt sprechen. Andererseits soll gerade gegen eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung sprechen, dass aggressive Durchsetzungsstrategien für den Angeklagten nicht typisch seien.
9
Vor allem aber hat die Strafkammer den Tatablauf nicht hinreichend in ihre Erwägungen zum Affekt einbezogen. Zwar hat sie gesehen, dass das außergewöhnlich hohe Maß der aufgewendeten Gewalt ein Umstand ist, der für das Vorliegen eines Affekts als Ausdruck einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung sprechen könne. Letztlich hat sie aber eine Affekttat vor allem deswegen verneint , weil der Angeklagte das Tatwerkzeug erst aus einem anderen Raum geholt und weil er damit überwiegend zielgerichtet auf den Kopf des Opfers geschlagen habe. Beide Argumente tragen das Ergebnis nicht. Bei dem Herbeiholen des Tatwerkzeugs handelt es sich um eine einfache Tätigkeit, die vom Angeklagten keine intensiven Entscheidungs- und Steuerungselemente erfordert und deswegen nicht gegen einen Affekt spricht (BGHR StGB § 21 Bewusstseinsstörung 1). Ebenso wenig spricht ein gezieltes Zuschlagen gegen einen Affekt, denn auch ein Täter, der in einem hochgradigen affektiven Ausnahmezustand handelt, kann gemessen an der Verfolgung seines deliktischen Ziels durchaus folgerichtig und zielgerichtet handeln und insbesondere in der Lage sein, sein Opfer mit allen Schlägen am Kopf zu treffen (vgl. BGHR StGB § 20 Bewusststeinsstörung 6; § 21 Affekt 10).
10
3. Die aufgezeigten Mängel führen zur Aufhebung des Strafausspruchs, da der Senat nicht auszuschließen vermag, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Bewertung des psychischen Zustands des Angeklagten zur Tatzeit zur Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gekommen wäre, von der Milderungsmöglichkeit nach §§ 21, 49 StGB Gebrauch gemacht und auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. Eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten kann der Senat dagegen auf Grund der getroffenen Feststellungen zum Tatund Nachtatgeschehen ausschließen. Der Senat hebt auch die Feststellungen zu den Trinkmengen auf, um dem neuen Tatrichter eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB zu ermöglichen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass Trinkmengenangaben des Angeklagten bei Errechnung der Blutalkoholkonzentration nicht ungeprüft zu Grunde gelegt werden müssen.
11
Die neu entscheidende Strafkammer wird ferner den Anrechnungsmaßstab für die vom Angeklagten in Polen erlittene Freiheitsentziehung in der Urteilsformel festzusetzen haben (vgl. Tröndle/Fischer aaO § 51 Rdn. 18, 19).
Tepperwien Kuckein Athing
Solin-Stojanović Ernemann

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.