Bundesgerichtshof Beschluss, 16. März 2010 - 4 StR 82/10

bei uns veröffentlicht am16.03.2010

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 82/10
vom
16. März 2010
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 16. März 2010 gemäß § 349 Abs. 4
StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 14. September 2009 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und die Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung ausgesetzt; außerdem hat es eine Maßregelanordnung nach §§ 69, 69 a StGB getroffen. Mit seiner gegen dieses Urteil eingelegten Revision beanstandet der Beschuldigte das Verfahren und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es einer Erörterung der Verfahrensrüge nicht bedarf.
2
1. Zu den Anlasstaten hat das Landgericht im Wesentlichen Folgendes festgestellt:
3
In den frühen Morgenstunden des 2. Februar 2008 entwendete der Beschuldigte im Verkaufsraum einer Tankstelle 10 Packungen Zigaretten vor den Augen der Kassiererin und legte sie auf den Beifahrersitz seines Autos. Um sich den Besitz der Beute zu erhalten, fuhr der Beschuldigte sehr schnell an, so dass die Kassiererin, die ihm nachgeeilt und die Zigaretten bereits ergriffen hatte , vom Holm des Fahrzeugs getroffen wurde, wodurch sie Prellungen erlitt (Fall II. 1).
4
Unmittelbar danach fuhr der Beschuldigten zu einer anderen Tankstelle und kaufte dort unter Vorlage seiner Kreditkarte Zigaretten. Ein zufällig anwesender Polizeibeamter bemerkte, dass der Beschuldigte die Kreditkarte im Verkaufsraum zurückgelassen hatte und wollte sie dem bereits wieder im Fahrzeug sitzenden Beschuldigten übergeben. Noch bevor er ihn ansprechen konnte, fuhr der Beschuldigte mit Vollgas ruckartig an, wobei der Außenspiegel des PKW die Lederjacke des Polizeibeamten streifte. Der Beamte setzte daraufhin den Streifenwagen , in dem eine weitere Beamtin saß, vor den PKW des Beschuldigten, um ihn an der Weiterfahrt zu hindern. Der Beschuldigte fuhr nunmehr in "gleichmäßigem gemäßigtem Tempo gezielt auf den Streifenwagen zu" [UA 5] und rammte diesen an der hinteren rechten Beifahrertür, um sich einen Fluchtweg zu eröffnen. Unmittelbar danach wurde er festgenommen (Fall II. 2).
5
Als ihm wenig später in der Gewahrsamszelle vor dem Weitertransport Handschellen angelegt werden sollten, wehrte er sich dagegen und schlug dem diensthabenden Polizeibeamten unvermittelt ins Gesicht, wodurch dieser eine blutende Verletzung erlitt (Fall II. 3).
6
Bei Begehung dieser Taten war die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten auf Grund einer akuten Episode einer paranoiden Schizophrenie aufgehoben.
7
2. Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
8
Nach ständiger Rechtsprechung setzt eine solche Anordnung neben der positiven Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begründet, auch die Feststellung voraus, dass der Täter in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begangen hat, die auf den die Annahme der §§ 20, 21 StGB rechtfertigenden dauerhaften Defekt zurückzuführen ist (vgl. nur BGHSt 34, 22, 27).
9
Soweit das Landgericht im Fall II. 1 einen räuberischen Diebstahl in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und im Fall II. 3 eine vorsätzliche Körperverletzung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte angenommen hat, ist dies aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Dagegen belegen die Urteilsfeststellungen nicht, dass der Beschuldigte in den Fällen II. 1 und 2 jeweils einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB), im Fall II. 2 tateinheitlich damit auch eine Sachbeschädigung begangen hat.
10
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats erfasst § 315 b StGB ein vorschriftswidriges Verkehrsverhalten eines Fahrzeugführers nur dann, wenn dieser das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt, er mithin in der Absicht handelt, den Verkehrsvorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr zu "pervertieren" und dabei mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz handelt (vgl. BGHSt 41, 231, 234; 48, 233, 236 f. m.w.N.). Den Urteilsfeststellungen ist nicht zu entnehmen, dass der Beschuldigte in dieser Absicht handelte.
11
b) Im Fall II. 2 ist der Beschuldigte zwar absichtlich mit seinem Fahrzeug gegen den Streifenwagen, der ihm den Weg versperrte, gefahren. Angesichts der vom Beschuldigten eingehaltenen mäßigen Geschwindigkeit ist der Schluss des Landgerichts, der Beschuldigte habe dadurch "Leib oder Leben der Polizeibeamten gefährdet" (UA 8), aber nicht nachvollziehbar.
12
Ebenso wenig belegen die bisherigen Feststellungen die konkrete Gefährdung einer Sache von bedeutendem Wert. Hierfür reicht es nicht aus, dass eine Sache von bedeutendem Wert, wie hier der Streifenwagen, nur in wirtschaftlich unbedeutendem Maße gefährdet wird; vielmehr muss der konkret drohende Schaden bedeutenden Umfangs sein (vgl. BGH, Beschluss vom 27. September 2007 - 4 StR 1/07 = NStZ-RR 2008, 83 m.w.N.; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. § 315 b Rdn. 18 m.w.N.; zur Wertgrenze vgl. BGHSt 48, 119, 121; Fischer aaO § 315 Rdn. 16 a; Barnickel in MünchKomm StGB § 315 Rdn. 69).
13
Die tateinheitliche Verurteilung wegen Sachbeschädigung hat ebenfalls keinen Bestand, weil das Urteil nicht mitteilt, ob und gegebenenfalls in welcher Weise der Streifenwagen durch das Anfahren beschädigt worden ist.
14
3. Auch hinsichtlich der Maßregelanordnung nach §§ 69, 69 a StGB bedarf die Sache damit neuer Entscheidung.
Tepperwien Solin-Stojanović Ernemann
Franke Mutzbauer

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 16. März 2010 - 4 StR 82/10

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 16. März 2010 - 4 StR 82/10

Anwälte

1 relevante Anwälte

1 Anwälte, die Artikel geschrieben haben, die diesen Urteil erwähnen

Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner


Wirtschaftsrecht / Existenzgründung / Insolvenzrecht / Gesellschaftsrecht / Strafrecht
EnglischDeutsch

Referenzen - Gesetze

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der
Bundesgerichtshof Beschluss, 16. März 2010 - 4 StR 82/10 zitiert 6 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

Strafgesetzbuch - StGB | § 315 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr


(1) Wer die Sicherheit des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schiffs- oder Luftverkehrs dadurch beeinträchtigt, daß er 1. Anlagen oder Beförderungsmittel zerstört, beschädigt oder beseitigt,2. Hindernisse bereitet,3. falsche Zeichen oder Signale gibt oder

Referenzen - Urteile

Bundesgerichtshof Beschluss, 16. März 2010 - 4 StR 82/10 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).

Bundesgerichtshof Beschluss, 16. März 2010 - 4 StR 82/10 zitiert 1 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2007 - 4 StR 1/07

bei uns veröffentlicht am 27.09.2007

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 1/07 vom 27. September 2007 in der Strafsache gegen 1. 2. wegen zu 1.: gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr u.a. zu 2.: Betruges Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbund
2 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Beschluss, 16. März 2010 - 4 StR 82/10.

Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Nov. 2011 - 4 StR 522/11

bei uns veröffentlicht am 22.11.2011

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 522/11 vom 22. November 2011 in der Strafsache gegen wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr u.a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach

Bundesgerichtshof Urteil, 27. Jan. 2011 - 4 StR 502/10

bei uns veröffentlicht am 27.01.2011

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES Urteil 4 StR 502/10 vom 27. Januar 2011 in der Strafsache gegen 1. 2. wegen Körperverletzung mit Todesfolge u.a. zu Ziff. 1 wegen Beihilfe zur Körperverletzung mit Todesfolge u.a. zu Ziff. 2 Der 4. Strafsen

Referenzen

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 1/07
vom
27. September 2007
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen zu 1.: gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr u.a.
zu 2.: Betruges
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und der Beschwerdeführer am 27. September 2007 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten Olaf E. wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 9. August 2006, soweit es ihn betrifft, aufgehoben,
a) soweit er in den Fällen II. B 5 und 19 der Urteilsgründe verurteilt worden ist mit den Feststellungen,
b) soweit der Angeklagte in den Fällen II. B 2, 3, 7 bis 10, 12, 14 bis 18, 20 und 21 der Urteilsgründe wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verurteilt worden ist mit den zur Gefährdung anderer Personen, zum Wert der durch die jeweiligen Verkehrsunfälle gefährdeten fremden Sachen und den insoweit zur inneren Tatseite getroffenen Feststellungen ; die übrigen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen und zur absichtlichen Herbeiführung der Verkehrsunfälle durch den Angeklagten bleiben jedoch aufrechterhalten;
c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen. 2. Auf die Revision der Angeklagten Manuela Carmen E. wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es sie betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit sie im Fall II. B 5 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 4. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in 20 Fällen und wegen Betruges in 21 Fällen, wobei es in vier Fällen beim Versuch blieb, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt und gegen ihn eine Maßregel nach §§ 69, 69 a StGB festgesetzt. Die Angeklagte hat es wegen Betruges in 21 Fällen, wobei es in vier Fällen beim Versuch blieb, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Angeklagten rügen mit ihren Revisionen die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Die Rechtsmittel der Angeklagten haben in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.


2
1. Soweit das Landgericht im Fall II. B 5 der Urteilsgründe den Angeklagten wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und beide Angeklagte wegen eines mittäterschaftlich begangenen Betruges zum Nachteil der Haftpflichtversicherung des Unfallgegners verurteilt hat, haben die Rechtsmittel der Angeklagten mit einer zulässig erhobenen, auf die Verletzung des § 261 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg.
3
Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass der Angeklagte den Unfall mit dem von ihm geführten Pkw, dessen Halterin die Angeklagte gewesen ist, absichtlich herbeigeführt hat, indem er das Fahrzeug ohne verkehrsbedingten Grund plötzlich bis zum Stillstand abgebremst hat, auf die Bekundungen des in der Hauptverhandlung als Zeugen vernommenen Unfallgegners und einer Zeugin , die den Unfall als Fußgängerin beobachtet hat, gestützt.
4
Die Angeklagten rügen zu Recht, das Landgericht habe entgegen § 261 StPO die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt, weil es unterlassen habe, die in der Hauptverhandlung verlesene Schadensanzeige des Unfallgegners vom 1. Dezember 2000 und die von diesem gefertigte Unfallskizze, die in Augenschein genommen wurde, in seine Beweiswürdigung einzubeziehen. In seiner Schadensanzeige hatte der Unfallgegner angegeben, ein Bus habe durch Blinkzeichen angezeigt, den Haltestellenbereich verlassen zu wollen, worauf die drei vor ihm fahrenden Pkw abrupt abgebremst worden seien, so dass er nicht rechtzeitig habe halten können und auf den vor ihm befindlichen Pkw aufgefahren sei. Diese mit der von dem Zeugen gefertigten Unfallskizze in Einklang stehende Schilderung des Unfallhergangs lässt sich mit den Bekundungen des Zeugen in der Hauptverhandlung nicht vereinbaren. Das Landgericht hätte sich deshalb in den Urteilsgründen mit diesem Widerspruch auseinandersetzen müssen (vgl. BGH StV 1993, 115; BGH, Urteil vom 15. September 2005 - 4 StR 107/05).
5
2. Soweit der Angeklagte im Fall II. B 19 der Urteilsgründe wegen Betruges verurteilt worden ist, hat sein Rechtsmittel ebenfalls mit einer auf die Verletzung des § 261 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg.
6
Nach den Feststellungen brachte die Zeugin F., die mit ihrem Pkw aus einer untergeordneten Straße kommend nach rechts in die Hauptstraße abbiegen wollte, den Pkw vor der Kreuzung an der Sichtlinie zum Halten. Der Angeklagte , der sich mit seinem Fahrrad der Kreuzung auf dem Bürgersteig – aus der Sicht der Zeugin – von links näherte, erkannte, dass die Zeugin mit ihrem Pkw so weit vorgefahren war, dass sie den Bürgersteig nicht mehr im Blick hatte. Als die Zeugin anfuhr, steuerte er sein Rad vor den Pkw der Zeugin und kam, wie von ihm beabsichtigt, zu Fall. Die Haftpflichtversicherung der Zeugin zahlte als Schadensersatz und Schmerzensgeld insgesamt 902,20 Euro an den Angeklagten, weil sie aufgrund der Unfallschilderung in dem Schreiben des vom Angeklagten beauftragten Rechtsanwalts davon ausging, die Zeugin sei mit ihrem Pkw plötzlich und unvermittelt angefahren, als der Angeklagte den Einmündungsbereich bereits nahezu vollständig überquert gehabt habe. Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass der Angeklagte den Unfall absichtlich herbeigeführt hat, auf die Bekundungen der Zeugin F. in der Hauptverhandlung gestützt. Aus der Sicht der Zeugin sei die Vorfahrtsstraße in beide Richtungen gerade und gut einsehbar gewesen. Da die Zeugin sich sicher gewesen sei, keinen Radfahrer auf der Fahrbahn gesehen zu haben, müsse sich der Angeklagte , wie die Zeugin „bereits vermutet“ habe, außerhalb ihres Sichtfeldes befunden haben und sich mithin über den Bürgersteig angenähert haben.
7
Die Revision des Angeklagten rügt zu Recht, dass das Landgericht sich entgegen § 261 StPO nicht mit der in der Hauptverhandlung am 18. Januar 2006 verlesenen, von der Zeugin und vom Angeklagten unterschriebenen Unfallanzeige vom 16. November 2002 und mit der in Augenschein genommenen Unfallskizze auseinandergesetzt hat. Dies war deshalb geboten, weil sich sowohl aus der von der Zeugin für die Schadensanzeige bei der Haftpflichtversicherung gefertigten Skizze als auch aus der Beschreibung der Unfallsituation in der Unfallanzeige ergibt, dass der Angeklagte sich der Kreuzung auf dem für Radfahrer freigegebenen Gehweg nicht – wie aufgrund der Bekundungen der Zeugin festgestellt – von links, sondern von rechts näherte. Nach der von der Zeugin gefertigten Skizze war die Sicht nach rechts aus dem auf die Kreuzung zufahrenden Pkw aber durch eine Hecke am Rand des Geh- und Radweges eingeschränkt.
8
3. Die aufgezeigten Verfahrensfehler führen zur Aufhebung der Verurteilungen in den Fällen II. B 5 und 19 der Urteilsgründe. Das Landgericht hat die Verurteilung in diesen Fällen entscheidend auf die Bekundungen der Unfallgegner gestützt, von deren Glaubhaftigkeit es sich insbesondere auch im Hinblick darauf überzeugt hat, dass sie „auch nicht im Widerspruch zu früheren Angaben und Vernehmungen“ standen (UA 107). Es ist deshalb nicht auszuschließen , dass das Landgericht, hätte es die Beweisergebnisse umfassend gewürdigt , zu anderen, für die Angeklagten günstigeren Feststellungen gelangt wäre. Dass sich die Verfahrensfehler auch auf die der Verurteilung der Angeklagten in den übrigen Fällen zu Grunde liegende Beweiswürdigung ausgewirkt haben können, schließt der Senat aus. Soweit das Landgericht seine Überzeugung, dass der Angeklagte die Unfälle absichtlich herbeigeführt hat, unter anderem auf die Vielzahl der Unfälle, an denen der Angeklagte beteiligt war, die Vergleichbarkeit der jeweiligen Verkehrslage an den Unfallorten und die stets glei- che Abwicklung der Schadensfälle gestützt hat, steht dem nicht entgegen, dass der Angeklagte in den Fällen II. B 5 und 19 der Urteilsgründe die Unfälle möglicherweise nicht provoziert hat. Denn der Unfallhergang in diesen Fällen unterscheidet sich deutlich von dem Unfallgeschehen in den übrigen Fällen, die zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen, die für eine Unfallprovokation durch den mit den Verhältnissen an den Unfallorten vertrauten Angeklagten sprechen.

II.


9
Soweit es die Angeklagte betrifft, hat die sachlich-rechtliche Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu deren Nachteil ergeben. Die Revision des Angeklagten hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg, soweit er in den Fällen II. B 2, 3, 7 bis 10, 12, 14 bis 18, 20 und 21 jeweils wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verurteilt worden ist.
10
1. Zwar hat der Angeklagte nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den Verkehrsunfall jeweils absichtlich herbeigeführt (§ 315 b Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1 a StGB) und mithin die Sicherheit des Straßenverkehrs dadurch beeinträchtigt, dass er einen "ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff" im Sinne des § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB vorgenommen hat (vgl. BGHSt 48, 233). Der Straftatbestand des § 315 b Abs. 1 StGB setzt darüber hinaus aber voraus, dass durch den tatbestandsmäßigen Eingriff Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet werden. Dass in den genannten Fällen Leib oder Leben eines anderen Menschen gefährdet worden sind, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Auch die Gefährdung einer fremden Sache von bedeutendem Wert ist in den genannten Fällen nicht belegt. Dass eine Sache von bedeutendem Wert nur in (wirtschaftlich) unbedeutendem Maße gefährdet wird, reicht hierfür nicht aus; vielmehr muss der konkret drohende Schaden bedeutenden Umfanges sein (vgl. BGH NJW 1990, 194, 195; Tröndle/Fischer StGB 54. Aufl. § 315 Rdn. 16 m.w.N.). Für die Berechnung des Gefährdungsschadens kommt es auf die am Marktwert zu messende Wertminderung an (vgl. BGH NStZ 1999, 350, 351; Barnickel in MünchKomm StGB § 315 Rdn. 71). Die Wertgrenze für die Annahme der Gefährdung einer Sache von bedeutendem Wert im Sinne des § 315 b Abs. 1 StGB lag zu dem für die Wertbestimmung maßgeblichen Gefährdungszeitpunkt (vgl. Barnickel in MünchKomm StGB aaO Rdn. 69 m.N.) bei mindestens 1.500 DM bzw. 750 Euro (BGHSt 48, 14, 23; vgl. Barnickel aaO). Dass in den oben genannten Fällen ein Schaden (zumindest) in dieser Höhe drohte, ist durch die bisherigen Feststellungen nicht belegt:
11
Soweit im Fall II. B 20 der Urteilsgründe der eingetretene Fremdsachschaden mit 375 Euro beziffert wird, liegt es nach den bisherigen Feststellungen eher fern, dass ein darüber hinausgehender Schaden drohte. In den übrigen Fällen hat die Strafkammer die Höhe des entstandenen Sachschadens nicht genannt. Weder das Schadensbild in den Fällen II. B 8 der Urteilsgründe (Kratzer an der vorderen Stoßstange rechts), II. B 9 ("zwei Punkte" am Fahrzeug des Unfallgegners), II. B 10 (Beschädigung der Stoßstange vorne rechts) und II. B 17 (eine etwa einen Zentimeter tiefe Einbeulung des vorderen Kennzeichens ) noch die Feststellungen zum Unfallhergang in diesen und den übrigen Fällen belegen eine zweifelsfrei die Wertgrenze überschreitende konkrete Gefährdung der an dem Unfall beteiligten Fremdfahrzeuge.
12
2. Die danach gebotene Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in den genannten Fällen lässt jedoch die Verurteilung der Angeklagten in diesen Fällen wegen eines mittäterschaftlich zum Nachteil der Haftpflichtversicherungen der jeweiligen Unfall- gegner begangenen Betruges unberührt. Sie zieht nur die Aufhebung der zur Gefährdung von Leib und Leben anderer Personen, zur Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert und der insoweit zur inneren Tatseite getroffenen Feststellungen nach sich. Im Übrigen halten die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, zur absichtlichen Herbeiführung der Verkehrsunfälle und zum Schädigungsvorsatz des Angeklagten rechtlicher Nachprüfung stand und können deshalb bestehen bleiben.
Tepperwien Kuckein Athing
Solin-Stojanović Ernemann

(1) Wer die Sicherheit des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schiffs- oder Luftverkehrs dadurch beeinträchtigt, daß er

1.
Anlagen oder Beförderungsmittel zerstört, beschädigt oder beseitigt,
2.
Hindernisse bereitet,
3.
falsche Zeichen oder Signale gibt oder
4.
einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff vornimmt,
und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
in der Absicht handelt,
a)
einen Unglücksfall herbeizuführen oder
b)
eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, oder
2.
durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen oder eine Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen verursacht.

(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(5) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(6) Wer in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.