Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 09. Jan. 2018 - L 15 BL 10/17

bei uns veröffentlicht am09.01.2018

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 9. März 2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Leistungsanspruch gegen den Beklagten hinsichtlich der Gewährung von Blindengeld im Sinne eines Nachteilsausgleichs für behinderte Menschen aufgrund erweiternder bzw. analoger Anwendung des Bayer. Blindengeldgesetzes (BayBlindG) i.V.m. verfassungsrechtlichen Bestimmungen und der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) hat.

Der 1946 geborene Kläger leidet vor allem an einer chronisch progredienten Multiplen Sklerose seit 1993/1994 sowie an einer hochgradigen Sehschwäche des linken Auges mit Fehlen des räumlichen Sehens und einer ausgeprägten Rot-Grün-Schwäche. Wie sich aus einem augenärztlichen Gutachten vom 04.07.1975 ergibt, handelt es sich hinsichtlich der Sehbeeinträchtigung um eine linksseitige hochgradige anlagebedingte Sehschwäche infolge einer einseitigen starken Weitsichtigkeit des Auges. Beim rechten Auge wurden hinsichtlich Visus und Gesichtsfeld keine Einschränkungen seiner Sehfunktion festgestellt.

Mit Bescheid vom 10.05.1999 stellte der Beklagte für den Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) von 100 wegen den Behinderungen organisches Nervenleiden und hochgradige Sehschwäche links mit Fehlen des räumlichen Sehens sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und aG fest.

Am 23.05.2015 stellte der Kläger Antrag auf einen finanziellen Zuschuss „in Höhe von 544 Euro als Nachteilsausgleich, wie er den Blinden auch zusteht“ beim Beklagten. Bei objektiver Betrachtung, so der Kläger, gehe es ihm mit seinen Behinderungen wesentlich schlechter als blinden Menschen. Diesen Antrag untermauerte er durch eine von ihm verfasste Gegenüberstellung der Nachteile von blinden Menschen und Rollstuhlfahrern.

Daraufhin teilte der Beklagte dem Kläger am 08.06.2015 schriftlich mit, dass das Leistungsspektrum des Schwerbehindertenrechts den vom Kläger angestrebten Nachteilsausgleich nicht vorsehe. Der Beklagte übersandte an den Kläger ein Informationsblatt mit Antrag auf Blindengeld.

Am 16.11.2015 erhob der Kläger über seinen Bevollmächtigten „gegen den nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung:versehenen Bescheid vom 08.06.2015“, mit dem der Beklagte den Antrag auf Zuerkennung eines finanziellen Nachteilsausgleichs analog zu den Leistungen des BayBlindG abgelehnt habe, Widerspruch. Die Benachteiligung des Klägers im Alltag sei keinesfalls geringer als die eines Blinden, in vielfacher Hinsicht sei er sogar noch weiter benachteiligt. So habe ein blinder Mensch keine Schwierigkeiten in seiner Mobilität als solcher; dieser könne Barrieren ohne Weiteres überwinden. Auch brauche ein Blinder keine speziellen Toiletten. Es sei kein Grund ersichtlich, den schwerbehinderten Kläger schlechter zu behandeln. Dies stelle vielmehr einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot von Art. 3 Grundgesetz (GG) bzw. Art. 118 Bayerische Verfassung (BV) dar. Dem Kläger seien mindestens dieselben finanziellen Ausgleiche zu gewähren wie einem Blinden. Alles andere wäre, so der Kläger, eine rechtswidrige und im Übrigen mit der UN-BRK unvereinbare Diskriminierung.

Ohne weitere Ermittlungen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.12.2015 den Widerspruch als unzulässig zurück. Ein zulässiges Widerspruchsziel sei offenbar nicht ersichtlich. Für Geldansprüche, gleich welcher Art, fände sich in den geltenden gesetzlichen Vorschriften des Schwerbehindertenrechts, nämlich dem SGB IX, keine Grundlage. Die Versorgungsbehörden würden, so die weitere Begründung, bei der Anwendung der einschlägigen Bestimmungen dieses Gesetzbuchs nur dann über Sozialleistungen entscheiden, wenn die danach zu treffenden Feststellungen als Sozialleistungen anzusehen wären, was das Bundessozialgericht (BSG) aber in mehreren Entscheidungen verneint habe. Aus denselben Gründen sei der Widerspruch auch unbegründet.

Am 15.01.2016 hat der Kläger hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben. Auch in der Klagebegründung hat er hervorgehoben, dass er dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen und daher in seinem Alltag in vielfacher Hinsicht eingeschränkt sei. Er stoße auf erhebliche Nachteile in seiner freien Entfaltbarkeit, so dass ihm ein umfassender Nachteilsausgleich zu gewähren sei.

Der Rechtsstreit ist beim SG zunächst als Verfahren zur Feststellung der Behinderung nach dem SGB IX geführt worden (S 7 SB 32/16). In der mündlichen Verhandlung vom 29.09.2016 hat die Klägerseite jedoch erklärt, dass der Anspruch auf eine Analogie zum BayBlindG gestützt werde. Daraufhin ist der Rechtsstreit als Verfahren nach dem Landesblindengeldgesetz fortgesetzt worden (S 2 BL 6/16).

Mit Schreiben vom 18.01.2017 sind die Beteiligten vom Gericht darauf hingewiesen worden, dass eine Entscheidung per Gerichtsbescheid beabsichtigt sei. Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

Mit Gerichtsbescheid vom 09.03.2017 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch keine Anspruchsgrundlage ersichtlich sei. Zu Recht habe der Beklagte mitgeteilt, dass nach dem SGB IX kein Sozialleistungsanspruch gegen den Beklagten bestehe.

Der Kläger habe nicht vorgetragen, blind zu sein. Er sei auch nicht blind. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des BayBlindG seien nicht erfüllt und würden gar nicht behauptet. Weitergehende Ermittlungen dahingehend seien daher nicht angezeigt gewesen.

Eine Leistungsgewährung aus einer Analogie des BayBlindG sei, so das SG, nicht möglich, da eine Regelungslücke nicht gesehen werde. Der Gesetzgeber habe ausdrücklich nur für Blinde einen Nachteilsausgleich normiert.

Weiter hat das SG hervorgehoben, dass auch ein Anspruch aus Art. 3 GG nicht bestehe. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Versagung von Blindengeld seien nicht ersichtlich. Dass Blinden ein finanzieller Nachteilsausgleich gewährt werde, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt seien, Menschen mit anderen Behinderungen jedoch nicht, sei Ausdruck der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, die mit berücksichtigungsfähigem Grund eine unterschiedliche Behandlung dieser Behinderungen zulasse. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dürfe der Gesetzgeber grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Von Verfassungs wegen gefordert sei daher nicht die bestmögliche und gerechteste Lösung. Angesichts der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sei auch nicht entscheidend, ob eine Regelung notwendig oder gar unabweisbar sei. Vielmehr komme dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu.

Auch aus der Verfassung des Freistaats Bayern (BV) ergebe sich gegenüber dem GG kein weitergehender Schutz.

Für die vom Kläger vorgetragene Verletzung von Art. 5 Abs. 1 UN-BRK sei, so das SG, ebenfalls kein Anhalt ersichtlich. Daraus lasse sich zudem kein Leistungsanspruch ohne gesetzliche (nationale) Grundlage generieren. Das SG hat hervorgehoben, dass aus der Konvention Rechtsansprüche nicht unmittelbar ableitbar seien. Etwas anderes folge ausnahmsweise aus Art. 30 Abs. 4 UN-BRK. Soweit ersichtlich würden aus der Konvention jedoch auch durch Auslegung keine leistungsbezogenen Erweiterungen folgen, zumindest was das deutsche Sozialrecht anbetreffe.

Am 06.04.2017 hat der Kläger gegen den Gerichtsbescheid Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) erhoben.

Zur Begründung der Berufung hat die Klägerseite darauf hingewiesen, dass das BayBlindG mit Art. 3 GG und Art. 118 BV nicht vereinbar sei und dass das SG den Rechtsstreit daher hätte aussetzen und die entsprechenden Normen im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle dem Bundesverfassungsgericht, respektive dem Bayer. Verfassungsgerichtshof (VfGH) zur Überprüfung hätte vorlegen müssen.

Durch das BayBlindG werde der Kläger als Mensch mit anderweitiger Behinderung gegenüber blinden Menschen benachteiligt. Entscheidend sei, ob es einen Differenzierungsgrund gebe, wobei weder das Gericht noch der Kläger verkennen würden, dass es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers sei, zu entscheiden, an welche Sachverhalte er dieselben Rechtsfolgen knüpfe. Die Auswahl müsse jedoch, so der Bevollmächtigte, sachlich vertretbar sein. Wenn Personengruppen und nicht nur Sachverhalte ungleich behandelt würden, sei ein strengeres Prüfungsmaß anzusetzen. An diesem Maßstab sowie an der Rechtsprechung des BVerfG gemessen sei die Unvereinbarkeit des BayBlindG mit Art. 3 GG evident. Differenziert werde innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderungen alleine danach, welche Behinderung vorliege. Dieser Differenzierungsgrund sei sachfremd und ohne inneren Zusammenhang zum einheitlichen Regelungsgegenstand des BayBlindG, nämlich der Gewährung einer Ausgleichszahlung für Mehraufwendungen aufgrund einer körperlichen Behinderung. Solche Mehraufwendungen hätten aber nicht nur blinde Menschen.

Des Weiteren verkenne das SG den sich aus Art. 3 GG und Art. 118 Abs. 1 BV ergebenden Leistungsanspruch. Zwar sei zutreffend, dass aus den genannten Vorschriften kein Anspruch auf die Zahlung dem Grund nach entstehe; solange der Staat für einen Bereich nichts regele, könne aus den Gleichheitsrechten auch kein originärer Leistungsanspruch erwachsen. Wenn der Gesetzgeber, so der Bevollmächtigte, jedoch hinsichtlich der Leistungsgewährung aktiv werde, sei er an die Gleichheitsrechte gebunden und die Nichtgewährung von Leistungen müsse je nach der Art der Differenzierung den jeweiligen Erfordernissen der genannten Grundrechtsvorschriften genügen. Wenn der Gesetzgeber dem einen eine Leistung gewähre, dürfe er diese einem anderen in vergleichbaren Sachverhalten nicht ohne sachlichen Grund vorenthalten.

Aus dieser offensichtlichen Unvereinbarkeit des BayBlindG mit den verfassungsrechtlichen Gleichheitsrechten ergebe sich damit die Notwendigkeit einer erweiternden Gesetzesauslegung, um das BayBlindG durch die analoge Anwendung auf andere Arten der Behinderung einer verfassungskonformen Anwendung zuführen zu können.

Demgegenüber hat der Beklagte im Schriftsatz vom 01.09.2017 hervorgehoben, dass ihm der Vollzug der Gesetze obliege und er somit von der Verfassungsmäßigkeit des vorliegenden Gesetzes auszugehen habe, sofern eine Verfassungswidrigkeit nicht offensichtlich sei. Weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur sei die Verfassungsmäßigkeit des BayBlindG in Frage gestellt worden. Sofern der Kläger das BayBlindG für verfassungswidrig halte, gebe die BV dem Bürger ein Instrument der Feststellung in die Hand, nämlich die Popularklage. Das SG Nürnberg habe den Rechtsstreit nicht dem VfGH vorlegen müssen, da dies vorausgesetzt hätte, dass auch das SG das Gesetz für verfassungswidrig gehalten hätte. Zudem sei die Argumentation des Klägers inkonsequent: Bei einer Verfassungswidrigkeit des BayBlindG entfalle nämlich eine Rechtsgrundlage für die Zahlung von Blindengeld an den im Gesetz beschriebenen Kreis der Berechtigten. Einen Leistungsanspruch auf eine Analogie mit einem nach eigener Argumentation nichtigen Gesetz stützen zu wollen, könne nicht nachvollzogen werden.

Nach einem gerichtlichen Hinweis vom 03.11.2017 haben die Beteiligten am 14.11.2017 und 19.12.2017 erklärt, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden zu sein.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des SG Nürnberg vom 09.03.2017 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 08.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 zu verurteilen, dem Kläger Blindengeld ab 01.05.2015 im Sinne eines Nachteilsausgleichs für behinderte Menschen (aufgrund erweiternder bzw. analoger Anwendung des BayBlindG) zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG. Hieran war er auch nicht im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention gehindert (vgl. z.B. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 153, Rdnr. 13a), weil das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat. Denn für den Kläger bestand im Berufungsverfahren die Möglichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung; er hat hierauf jedoch verzichtet.

Die zulässige Berufung ist in der Sache nicht begründet.

Wie das SG zu Recht entschieden hat, steht dem Kläger kein Anspruch auf die Gewährung der von ihm begehrten Leistungen im Sinne eines Nachteilsausgleichs entsprechend den Regelungen des BayBlindG zu.

Der Bescheid vom 08.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in dessen Rechten.

Streitgegenstand ist vorliegend der vom Kläger geltend gemachte Anspruch, der durch die genannten Verwaltungsentscheidungen abgelehnt worden ist. Wie auch die Beteiligten hat der Senat im Übrigen - u.a. im Sinne einer rechtsschutzfreundlichen Auslegung - keine Bedenken, das Schreiben vom 08.06.2015 als Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu qualifizieren. Abzustellen ist bei der Auslegung gem. §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) darauf, wie der Kläger die Willenserklärung des Beklagten unter Berücksichtigung der bekannten Begleitumstände vernünftigerweise verstehen durfte (vgl. z.B. das Urteil des BayLSG vom 15.11.2017 - L 19 R 287/14). Insbesondere weist das o.g. Schreiben auch den insoweit erforderlichen Regelungscharakter auf, da die Gewährung von Leistungen auf den ausdrücklichen Antrag vom 23.05.2015 hin abgelehnt worden ist, was gegen das Vorliegen einer bloßen Information spricht. Hiervon geht auch der Beklagte aus, da der Widerspruch gegen den Bescheid zwar als unzulässig zurückgewiesen wurde, dies jedoch - wie dargelegt - nicht mit der Begründung erfolgt ist, dass ein anfechtbarer Verwaltungsakt fehle, sondern dass die erstrebte Regelung, nämlich die Gewährung der begehrten Geldleistungen, offensichtlich nicht in Betracht komme.

Der Kläger kann vom Beklagten die Gewährung der begehrten Leistung nicht verlangen. Eine Anspruchsgrundlage besteht für ihn nicht.

1. Bei der vom Kläger begehrten Geldzahlung handelt es sich um die Gewährung einer Sozialleistung gemäß Art. 7 BayBlindG i.V.m. § 38 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Wie letztere Vorschrift zeigt, sind die Sozialleistungen mehr als eine reflexartige Begünstigung des Berechtigten (vgl. z.B. Waltermann, in: Von Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 7, Rdnr. 9, m.w.N.), Anspruch im Sinne von § 38 SGB I ist das subjektiv öffentliche Recht. Wegen des Gesetzesvorbehalts von § 31 SGB I (i.V.m. Art. 7 BayBlindG) ist jedoch auch für den geltend gemachten Leistungsanspruch des Klägers eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Nach § 31 SGB I dürfen Rechte in den Sozialleistungsbereichen des SGB (und gemäß Art. 7 BayBlindG im Bereich dieses Gesetzes) nur begründet, festgestellt etc. werden, soweit ein Gesetz dies vorschreibt oder zulässt. Von Bedeutung ist, dass also auch die begünstigende, leistungsgewährende Tätigkeit der Sozialleistungsträger dem ausdrücklichen Vorbehalt des Gesetzes unterstellt ist (Waltermann, a.a.O., Rdnr. 28). Eine solche gesetzliche Grundlage für die geltend gemachten Ansprüche des Klägers findet sich jedoch nicht.

2. Insbesondere enthalten die allgemeinen sozialrechtlichen Regelungen bezüglich behinderter Menschen keine entsprechenden Ansprüche, wie etwa das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz) vom 27. April 2002 (BGBl. I S. 1467, 1468) oder das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz) vom 29.12.2016 (BGBl. I S. 3234). Auch aus den Regelungen des SGB IX folgt kein Anspruch des Klägers auf einen allgemeinen Nachteilsausgleich im Hinblick auf die bei ihm bestehenden Behinderungen.

3. Der Kläger kann die begehrte Leistung nicht wegen vermindertem Sehvermögen aufgrund von Art. 1 ff. BayBlindG in der vorliegend maßgeblichen (vgl. Keller, a.a.O., § 54, Rdnr. 34, m.w.N.) Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG vom 07.11.2017 (GVBl. 2017, S. 506 ff.) beanspruchen.

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen,

  • 1.deren Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder

  • 2.bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.

Hochgradig sehbehindert ist gemäß Art. 1 Abs. 3 BayBlindG, wer nicht blind in diesem Sinne (Art. 1 Abs. 2 BayBlindG) ist und

1. wessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch beidäugig nicht mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder

2. wer so schwere Störungen des Sehvermögens hat, dass sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bedingen.

Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der DOG folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe VG, Teil A Nr. 6):

a. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

b. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

c. bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

d. bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

e. bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,

f. bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,

g. bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.

Der Kläger ist nicht hochgradig sehbehindert und erst recht nicht blind im Sinne von Art. 1 Abs. 2 und 3 BayBlindG. Wie das SG zu Recht darauf hingewiesen hat, trägt der Kläger auch gar nicht vor, diese tatbestandlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Blindheit oder hochgradige Sehbehinderung des Klägers ist zudem in keiner Weise ersichtlich. Mit Blick auf die vorliegenden Unterlagen ist vielmehr festzustellen, dass lediglich das linke Auge sehbehindert ist und dass eine zu Ansprüchen nach dem BayBlindG führende Sehminderung auf dem rechten Auge nicht vorliegt. Insbesondere hat der Senat davon auszugehen, dass die - nach den oben genannten Regelungen maßgeblichen - Visus- und Gesichtsfeldwerte unauffällig sind. Der Senat hält es ferner für ausgeschlossen, dass aufgrund des aufgehobenen räumlichen Sehens in Kombination mit der Rot-Grün-Sehschwäche einer der Fälle vorliegen könnte, dass ausnahmsweise außerhalb der normierten Fallgruppen der VG (Teil A Nr. 6 b) bzw. der DOG von Blindheit auszugehen wäre (vgl. z.B. die Urteile des Senats vom 31.01.2013 - L 15 BL 6/07 und vom 05.07.2016 - L 15 BL 17/12).

Aus diesem Grund waren weitere Ermittlungen nicht veranlasst. Vor allem ist der Senat nicht zu Ermittlungen „ins Blaue hinein“ verpflichtet (vgl. BSG, Beschluss vom 05.02.2009 - B 13 RS 85/08 B; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ders., a.a.O., § 103, Rdnr. 8a; Urteil des Senats vom 20.06.2016 - L 15 SB 116/15).

4. Ein Leistungsanspruch durch eine analoge Anwendung oder eine erweiternde Auslegung des BayBlindG scheidet vorliegend aus.

Wie bereits das SG zutreffend herausgestellt hat, ist eine „planwidrige“ Regelungslücke für eine analoge Anwendung der genannten Vorschriften nicht gegeben. Ein Anspruch des Klägers auf eine analoge Anwendung oder eine erweiternde Auslegung des BayBlindG (letztlich von Art. 1 Abs. 2 und 3) ergibt sich, anders als der Kläger meint, auch nicht aufgrund der UN-BRK oder von Verfassungsrecht. Weder das Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK noch Art. 3 GG, Art. 118, 118 a BV oder das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verhelfen dem Kläger zum Erfolg.

a. Es ist (mittlerweile) grundsätzlich anerkannt, dass das Diskriminierungsverbot von Art. 5 Abs. 2 UN-BRK unmittelbar anwendbar ist (Urteile des BSG vom 06.03.2012 - B 1 KR 10/11 - und vom 15.10.2014 - B 12 KR 17/12 R, m.w.N.; Aichele, DRiZ 10/2016, 342 <362>).

Hierzu hat das BSG (Urteil vom 06.03.2012, a.a.O.) Folgendes festgestellt:

„Nach dieser Regelung verbieten die Vertragsstaaten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen nach Art. 1 Abs. 2 UN-BRK Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Nach Art. 2 UN-BRK bedeutet ´Diskrimi-nierung aufgrund von Behinderung´ jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Im Sinne des Übereinkommens bedeutet gemäß Art. 2 UN-BRK „angemessene Vorkehrungen“ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten zu den im Einzelnen in Art. 4 Abs. 1 S. 2 UN-BRK genannten Maßnahmen.“

Vorliegend braucht nicht entschieden zu werden, ob aus Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 2 UN-BRK auch ein unmittelbar anwendbarer Anspruch auf angemessene Vorkehrungen folgt, ob die durch das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21.12.2008 (BGBl. II S. 1419) in innerstaatliches einfaches Bundesrecht transformierten völkerrechtlichen Regelungen der UN-BRK dem behinderten Menschen ein subjektiv-öffentliches Recht auf bestimmte Leistungen unabhängig von deren Ausgestaltung im sonstigen Bundesrecht einräumen (so wohl z.B. Oppermann, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 2 SGB IX, Rdnr. 30, m.w.N.; ablehnend - jedenfalls für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung - das Urteil des BSG vom 21.03.2013 - B 3 KR 3/123 R) oder ob nach Art. 5 Abs. 3 UN-BRK lediglich eine nicht im Verhältnis zu betroffenen Bürgern unmittelbar anwendbare Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung besteht, alle geeigneten Schritte zu unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. Denn eine Diskriminierung i.S. des Art. 5 UN-BRK liegt jedenfalls bzgl. des hier geltend gemachten Anspruchs auf einen Nachteilsausgleich für den Kläger nicht vor.

Ausgehend von oben dargestellten Grundsätzen entspricht das (unmittelbar anwendbare) Diskriminierungsverbot des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK für die Leistungsbestimmungen der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 06.03.2012, a.a.O.) und somit auch des Art. 118a BV. Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (Art. 118a BV) erschöpft sich nicht in der Anordnung, behinderte und nichtbehinderte Menschen rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird (BSG, a.a.O. mit Verweis auf BVerfGE 99, 341, 357; 96, 288, 303). Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die UN-BRK generell als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (a.a.O.)

b. Die Beschränkung der Blindengeldleistungen auf blinde (und hochgradig sehbehinderte) Menschen und der Ausschluss des Klägers von solchen Leistungen verstoßen weder gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungsnoch gegen das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot. Gleiches gilt für die Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die inhaltsgleiche Verbürgung (vgl. z.B. die Entscheidung des VfGH vom 19.07.2007 - Vf.6-V-06) des Art. 118 Abs. 1 Satz 1 BV.

Bei der Frage, welche Lebenssachverhalte der Gesetzgeber als gleich oder ungleich ansehen will, kommt diesem grundsätzlich ein weiter Spielraum zu. Er hat zu entscheiden, welche Sachverhaltselemente so wichtig sind, dass ihre Verschiedenheit eine Ungleichbehandlung rechtfertigt. Nach Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 118 BV ist es dem Gesetzgeber allerdings verwehrt, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, ohne dass zwischen beiden Gruppen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. z.B. Papier, in: Sozialrechtshandbuch, a.a.O., § 3 Rdnr. 92, m.w.N.). Im Verhältnis zum allgemeinen Willkürverbot folgt daraus bei personenbezogenen Differenzierungen, worauf der Kläger zu Recht verwiesen hat, eine stärkere Einschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und eine größere Kontrolldichte der Gerichtsbarkeit. Dabei sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (a.a.O.).

Diesen Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber aber nicht überschritten, wenn er die Gewährung von Blindengeld auf den Personenkreis (hochgradig sehbehinderter und) blinder Menschen beschränkt und für andere ebenfalls schwerbehinderte Menschen keinen solchen Nachteilsausgleich vorsieht. Es liegt nicht der Fall vor, dass dem Kläger als behindertem Menschen ein Nachteilsausgleich vorenthalten würde, obwohl seine Behinderung der eines blinden Menschen entspricht, auch wenn er ebenfalls massive Mehraufwendungen hat, worauf es im Hinblick auf die Zielsetzung des BayBlindG (Art. 1 Abs. 1) grundsätzlich ankommt. Denn der Senat hat keinen Zweifel daran, dass sich der Gesetzgeber bei der Aufstellung der Voraussetzungen für die Blindengeldleistungen innerhalb seines Gestaltungsspielraums bewegt hat, weil insoweit ein sachliches Differenzierungskriterium gegeben ist, für blinde (oder hochgradig sehbehinderte) Menschen besondere Leistungen vorzusehen.

Zu dem kommt, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG niemand allein daraus, dass einer Gruppe aus besonderem Anlass besondere Vergünstigungen zugestanden werden, für sich ein verfassungsrechtliches Gebot herleiten kann, genau dieselben Vorteile in Anspruch nehmen zu dürfen (Beschluss vom 27.09.1978 - 1 BvL 31/76).

Das BSG hat bereits entschieden, dass die Differenzierung zwischen Blinden und Personen mit anderen Behinderungen bzw. mit Verlust von Sinnesfunktionen (Hörsinn) nicht willkürlich ist (Urteil vom 23.06.1993 - 9/9 a RvS 1/91). Die Gleichsetzung aller Sinnesorgane kommt nach dieser Rechtsprechung rechtlich nicht in Betracht, weil sich insoweit die Gleichheit der Lebensverhältnisse gerade nicht von selbst versteht. Es gilt, das Ausmaß der Behinderung wägend und wertend zu umreißen. Aus diesem Grund lassen sich nach der Rechtsprechung des BSG nicht alle Vergünstigungen, die der Gesetzgeber Blinden einräumt, auf gehörlose Menschen übertragen (a.a.O.).

Auch der Senat hat keinen Zweifel daran, dass die spezifischen Beeinträchtigungen, denen sich blinde Menschen ausgesetzt sehen, nicht (ohne Weiteres) auf andere Behinderungen übertragbar sind. Dass der Verlust des Sehvermögens die Betroffenen besonders beeinträchtigt, dürfte unstrittig sein. Hierüber besteht gesellschaftlicher Konsens, wie auch in Rechtsprechung und Lehre die Verfassungsmäßigkeit des BayBlindG - jedenfalls soweit ersichtlich - nicht ernsthaft in Zweifel gezogen wird.

Der Unterstützungsbedarf blinder Menschen aufgrund ihrer spezifischen Beeinträchtigungen ist denn auch bereits früh erkannt bzw. postuliert worden. So wurde bereits 1908 (auf dem ersten „Blindentag“ in Hannover von Konrad Luthmer) die Einführung einer Blindenrente gefordert (vgl. die Darstellung bei Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S. 41 m.w.N.). Anerkannt ist, „dass eine befriedigende gesellschaftliche Eingliederung nur erreicht werden konnte, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile geschaffen wurde“ (a.a.O., S. 35). Seitdem kann als anerkannt gelten, dass blinden Menschen ein Ausgleich für die blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile zu gewähren ist, wozu vor allem die „besonderen Hemmnisse, sich mit der Umwelt vertraut zu machen, Kontakte zu gewinnen und zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen“ gehören (vgl. Scholler/Krause, zitiert nach Demmel, a.a.O., S. 503). Schon aus diesen besonderen Umständen der Blindheit folgt, dass eine Übertragung auf andere Behinderungen - wie oben dargelegt auch vom BSG abgelehnt - nicht möglich ist. Diese besondere Situation blinder Menschen ist denn auch Motiv des (bayerischen) Gesetzgebers für die Einführung bzw. Ausweitung des Blindengeldes. So geht dieser davon aus, dass - neben den gehörlosen - blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags bedürfen, wobei der dauerhafte Hilfebedarf zu einer erheblichen, vor allem auch finanziellen Belastung führt (Landtagsdrucksache 17/17055, Ziff. A). Durch eine finanzielle Ausgleichsleistung ist die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich förderbar. „Dies zeigen die positiven Erfahrungen, die mit dem Blindengeld für blinde… Menschen gemacht wurden“ (a.a.O.). Auch in der Literatur ist anerkannt, dass blinde „weit mehr als andere Menschen auf … Hilfe angewiesen sind (Hennies, zitiert nach Demmel, a.a.O., S. 38) und dass sie besondere Beeinträchtigungen „in unserer visualisierten Welt“ erfahren (Braun, MedSach 3/2016, 134 <135>, m.w.N.). Auch die Erklärungen der Bayer. Staatsregierung gehen davon aus, dass bzgl. blinder Menschen besonderer Handlungsbedarf besteht, weil „eine überwältigende Zahl von Sinneseindrücken“ über die Augen wahrgenommen wird und „in unserer zunehmend visualisierten Umwelt die Anforderungen an das Sehen immer größer werden“ (Pressemitteilung des Bayer. Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Integration vom 05.06.2013, PM 160.13).

Für die Annahme einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1, 3 GG bzw. Art. 118, 118 a BV und Art. 5 UN-BRK ergibt sich daher auch aus Sicht des Senats nichts (für das Verfassungsrecht ausdrücklich so auch Demmel, a.a.O., S. 501 ff.). Wie oben bereits darauf hingewiesen, wird dies von Literatur und Rechtsprechung auch nicht in Frage gestellt.

Im Übrigen zeigt auch der Blick auf die weiteren Regelungen des BayBlindG, dass der Gesetzgeber mit den Leistungen dieses Gesetzes nicht willkürlich gehandelt hat. Auch nicht-blinde behinderte Menschen erhalten Ausgleichsleistungen, nämlich nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI), ebenfalls ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen. Soweit solche Ansprüche nicht zustehen (z.B. mangels versicherungsrechtlicher Voraussetzungen) greifen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) ein. Somit steht auch für andere Gruppen ein vergleichbares System offen, das ihren Bedürfnissen entspricht. Soweit blinde Menschen, die wegen zusätzlichen Behinderungen (oder chronischen Erkrankungen) pflegebedürftig sind, ebenfalls Leistungen nach dem SGB XI erhalten, liegt wegen der im BayBlindG vorhandenen Anrechnungsklausel (Art. 4 BayBlindG) keine willkürliche Bevorzugung vor (entsprechend Demmel, a.a.O., S. 503). Auch im Hinblick auf die Strukturprinzipien der gewählten Absicherung liegt kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor. Zwar hat der Gesetzgeber die Leistungen für andere behinderte Gruppen in der Form der Sozialversicherung (SGB XI) geregelt, während es sich beim BayBlindG um Leistungen der sozialen Förderung (vgl. z.B. Demmel, a.a.O., S. 210) handelt. Es liegt jedoch im Ermessen des Gesetzgebers, nach sachlichen Gesichtspunkten zu bestimmen, wie die Kompensation sozialer Ungleichheiten erfolgt (Demmel, a.a.O., m.w.N.).

Etwas anderes ergibt sich im Übrigen auch nicht aus der Entscheidung des BSG vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R). Zwar hat das BSG keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür gesehen, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten solle, der nur blind sei, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliege, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden könne. Dieser Rechtsprechung lässt sich jedoch für die hier zu entscheidende Frage nichts entnehmen. Denn in dem dort entschiedenen Fall ist nur ein Vergleich innerhalb der verschiedenen Gruppen blinder Menschen erfolgt. Ein Vergleich blinder Menschen mit Menschen, die sonstige Behinderungen oder chronische Krankheiten zu bewältigen haben, ist gerade nicht erfolgt.

Anders als der Kläger meint, besteht also keine Unvereinbarkeit des BayBlindG mit den verfassungsrechtlichen Gleichheitsrechten und somit nicht die Notwendigkeit der erweiternden Auslegung von Art. 1 Abs. 2 BayBlindG. Darauf, dass der Kläger unbestritten mit massiven Beeinträchtigungen leben und fertig werden muss, kommt es letztlich also hier nicht an.

c. Auch eine Berufung auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) kann dem Kläger nicht zum Erfolg verhelfen. In Rechtsprechung und Lehre ist anerkannt, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zu „sozialer Aktivität“ und insbesondere dazu verpflichtet ist, sich um einen erträglichen Ausgleich der wiederstreitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen (Papier, in: Sozialrechtshandbuch, a.a.O., § 3, Rdnr. 8, m.w.N.). Diesem Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber ist jedoch ein großer Konkretisierungsbedarf eigen. „Dem Regelungs- und Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers korrespondiert daher grundsätzlich kein …verfolgbarer Anspruch einzelner. Solche Ansprüche an den sozial gestaltenden Gesetzgeber sind nur vorstellbar bei evidenter und willkürlicher Missachtung der sozialstaatlichen Zielsetzungen und Gestaltungsaufträge“ (a.a.O.). An einer solchen fehlt es vorliegend hinsichtlich der nicht blinden Menschen offensichtlich. Mit Blick auf die Zweckbestimmung des Blindengelds ist festzustellen, dass dieses „nicht im Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip steht, sondern diesem gerade entspricht“ (Demmel, a.a.O., S. 500).

Da aus Sicht des SG und des Senats an der Verfassungsmäßigkeit des BayBlindG keine Zweifel bestehen, kommt - anders als der Kläger meint - eine Vorlage an den VfGH gemäß Art. 92 BV, Art. 50 Verfassungsgerichtshofgesetz oder an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht in Betracht.

Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war im Übrigen die Frage, ob die öffentlich-rechtliche Blindengeldleistung nach dem BayBlindG im Hinblick auf ihren Ausnahmecharakter - diesen hat der Senat bereits im Urteil vom 17.07.2012 (L 15 BL 11/08) thematisiert und als Argument für die „zurückhaltende“ Auslegung im Sinne der früheren BSG-Rechtsprechung (z.B. Urteil vom 20.07.2005 - B 9a BL 1/05 R) in den Fällen zerebraler Schäden gewertet - politisch wünschenswert ist. Entsprechendes gilt für die Entscheidung des (bayerischen) Gesetzgebers, für Betroffene mit eingeschränkten bzw. aufgehobenen sonstigen Sinneswahrnehmungen oder für sonstige behinderte Menschen keine entsprechenden Leistungen im Rahmen des sozialen Förderungsrechts vorzusehen. Maßgeblich ist vorliegend ausschließlich die oben im Einzelnen dargelegte rechtliche Problematik. Soweit unbefriedigende Gegebenheiten gesehen würden, wäre es am Gesetzgeber, hier Abhilfe zu schaffen. Eine alternative Lösung zu schaffen, ist jedenfalls nicht Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt.

Die Berufung kann damit keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

Urteilsbesprechung zu Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 09. Jan. 2018 - L 15 BL 10/17

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 09. Jan. 2018 - L 15 BL 10/17 zitiert 19 §§.

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(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

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(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der

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Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

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Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

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(1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 124


(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. (3) Entscheidungen des Gerichts, d

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 31 Vorbehalt des Gesetzes


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Die Neugliederung in dem die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern umfassenden Gebiete kann abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 durch Vereinbarung der beteiligten Länder erfolgen. Kommt eine Vereinbarung nicht zusta

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 38 Rechtsanspruch


Auf Sozialleistungen besteht ein Anspruch, soweit nicht nach den besonderen Teilen dieses Gesetzbuchs die Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über die Leistung nach ihrem Ermessen zu handeln.

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(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Die Neugliederung in dem die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern umfassenden Gebiete kann abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 durch Vereinbarung der beteiligten Länder erfolgen. Kommt eine Vereinbarung nicht zustande, so wird die Neugliederung durch Bundesgesetz geregelt, das eine Volksbefragung vorsehen muß.

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(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird Ziff. 2 des Tenors des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Bayreuth vom 11.03.2014 aufgehoben.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

II. Die Berufung des Beigeladenen wird zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Verfahrens aus beiden Rechtszügen mit Ausnahme der nicht erstattungsfähigen Kosten des Beigeladenen im Klageverfahren trägt die Klägerin.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

V. Der Streitwert wird für das Klageverfahren und für das Berufungsverfahren jeweils auf 8.387,00 € festgesetzt.

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten eine Abzweigung von der Altersrente des Beigeladenen zugunsten der Klägerin.

Die 1944 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Türkei. Sie ist die Ehefrau des 1934 geborenen Beigeladenen, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist.

Der Beigeladene bezieht seit dem 01.10.1994 eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (Bescheid der Landesversicherungsanstalt Hessen vom 30.11.1994) und eine Werkspension in Höhe von monatlich 299,31 DM brutto der Fa. D.. Er kehrte am 17.02.1995 in seine Heimat zurück, so dass die Rente ab 01.03.1995 von der Beklagten als Auslandsrente geleistet wurde (Bescheid vom 08.03.1995).

Unter dem 06.09.2004 wandte sich der Sohn der Klägerin und des Beigeladenen, A., an die Beklagte. Seine Mutter hätte ihn beauftragt zu beantragen, dass die Hälfte der dem Beigeladenen gezahlten Rente an sie überwiesen werde. Seine Eltern seien seit 45 Jahren verheiratet und hätten zusammen sechs Kinder. Die Mutter habe mit den Kindern in der Türkei gelebt. Sein Vater habe in Deutschland gearbeitet und dort eine feste Freundin gehabt. Jetzt lebe sein Vater in der Türkei, aber über mehrere Monate im Jahr hinweg von seiner Mutter getrennt, weil er bei seiner Freundin (in der Türkei) wohne. In diesen Monaten stehe seine Mutter ohne Essen, Trinken und Geld da. Als Sohn unterstütze er sie zwar mit monatlichen Zahlungen, dies könne er sich aber nicht mehr leisten.

Nach Anhörung des Beigeladenen teilte dieser mit, dass er gemeinsam mit der Klägerin in einem Haushalt lebe und für ihren Lebensunterhalt zahle. Beigefügt war ein Schreiben des Bürgermeisters des Wohnortes vom 12.04.2004. Dieser bestätige, dass die Klägerin und der Beigeladene in der Stadt wohnhaft seien und der Beigeladene für die Lebenskosten der Klägerin aufkomme.

Unter dem 12.11.2004 führte die Bevollmächtigte der Klägerin ergänzend aus, dass die Klägerin sehr wohl bedürftig sei, da der Beigeladene ihr keine finanziellen Mittel überlasse. Lediglich Nahrungsmittel würden besorgt. Für persönliche, kulturelle Dinge bekomme die Klägerin kein Geld ausgehändigt. Der Sohn K. habe der Klägerin laufend Geld überwiesen, weil der Beigeladene für deren Unterhalt nicht aufkomme. Zum Hintergrund des Verhaltens des Beigeladenen sei anzumerken, dass dieser seit 1995 als Rentner in der Türkei lebe. Die Klägerin sei immer in der Türkei geblieben. Der Beigeladene habe in Deutschland eine Lebensgefährtin gehabt. Die Klägerin habe gehofft, dass mit Rückkehr in die Türkei dieses Verhältnis beendet sei. Allerdings verbringe die frühere Lebensgefährtin in den letzten Jahren für mehrere Monate ihren Urlaub in der Türkei. Während dieser Zeit lebe der Beigeladene bei der früheren Lebensgefährtin und die Klägerin müsse sehen, wo sie bleibe, weil in diesen Zeiten auch nicht immer Lebensmittel für die alltägliche Versorgung vorhanden seien.

Mit Bescheid vom 17.05.2005 und Widerspruchsbescheid vom 31.10.2005 stellte die Beklagte gegenüber dem Beigeladen fest, dass ab 01.07.2005 monatlich ein Betrag in Höhe des hälftigen Auszahlungsbetrages wegen Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht von der Altersrente abgezweigt werde. Der Magistrat der Stadt K. und der Gemeinderatsvorsitzende der Gemeinde B. hätten mit Bescheinigung vom 21.07.2005 bestätigt, dass der Beigeladene in den letzten Jahren monatelang nicht nach Hause gekommen sei, inoffiziell mit einer (anderen) Frau zusammen wohne, für den Unterhalt der Familie nicht sorge und für die Kosten seiner Ehefrau, wie z.B. für die Gesundheit, Kleidung, etc. nicht aufkomme. Der Beigeladene sei auch leistungsfähig. Der Unterhaltsbedarf eines in der Türkei lebenden Unterhaltspflichtigen werde mangels zuverlässiger Erkenntnisquellen auf die Hälfte des Existenzminimums nach der Düsseldorfer Tabelle geschätzt. Der abgetrennte Teil in Höhe von 371,60 € werde an die Klägerin überwiesen. Zuvor hatte die Beklagte mit Schreiben vom 12.05.2005 der Klägerin mitgeteilt, dass der aus der Rente des Beigeladenen abgetrennte Betrag an sie gezahlt werde. Ab dem 01.07.2005 würden monatlich 371,60 € gezahlt.

Die vom Beigeladenen zum Sozialgericht Bayreuth erhobene Klage gegen den Bescheid vom 17.05.2005 und Widerspruchsbescheid vom 31.10.2005 erledigte sich durch fiktive Zurücknahme der Klage (Mitteilung des Sozialgerichts vom 16.11.2010, S 16/3/11 R 710/05). Die Bevollmächtigte der Klägerin hatte einen Sozialbericht für das Familiengericht A-Stadt vom 28.10.2005 vorgelegt. Danach sorge der Beigeladene nicht für die Klägerin, obwohl diese aus sozial-ökonomischer Sicht vom Beigeladenen abhängig sei. Die Klägerin verbringe ihr Alter in Armut und Not.

Mit Bescheid vom 03.03.2006 stellte die Beklagte die Altersrente des Beigeladenen ab 07.10.2005 neu fest. Die Altersrente werde ab diesem Datum wieder nach Deutschland gezahlt, weil der Beigeladene am 07.10.2005 seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt habe. Von der Altersrente werde monatlich ein Betrag von 361,71 € an die Klägerin gezahlt. Zuvor hatte die AOK B-Stadt mit Schreiben vom 13.01.2006 eine an den Beigeladenen adressierte Mitgliedschaftsbescheinigung für die Zeit ab 07.10.2005 zugeleitet und eine Umzugsmeldung des Beigeladenen über dessen Einzug am 07.10.2005 in die bezeichnete Wohnung in B-Stadt beigefügt. Zugeleitet wurde ebenfalls eine Melderegisterauskunft der Stadt B-Stadt vom 07.02.2006, nach der bescheinigt werde, dass der Beigeladene an seiner Wohnanschrift in B-Stadt gemeldet sei. Ebenfalls unter dem 03.03.2006 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass der aus der Rente abgetrennte Betrag an sie gezahlt werde und zwar ab 01.04.2006 monatlich 361,97 €. Ab dem 01.07.2008 wurden 365,88 € abgezweigt (Bescheid vom 17.06.2008 und Mitteilung an die Klägerin vom 17.06.2008)

Mit Bescheid vom 03.12.2008 stellte die Beklagte die Rente zum 01.01.2009 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 732,98 € neu fest. Hiervon würden an die Klägerin 232,98 € abgezweigt. Entsprechend erging die Mitteilung vom 03.12.2008 an die Klägerin, dass ab 01.01.2009 monatlich 232,98 € gezahlt würden.

Die Beklagte stellte ab dem 01.04.2009 die Zahlung an die Klägerin ein (Schreiben vom 17.02.2009). Die Bevollmächtigte des Beigeladenen hatte (fernmündlich) die Beklagte um Prüfung des Abzweigungsbetrages gebeten, weil sich der Beigeladene seit dem 07.10.2005 nur noch in Deutschland aufhalte. Die Beklagte führte gegenüber der Bevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 19.02.2009 aus, der abgetrennte Betrag werde bis zur Klärung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Beigeladenen bei der Beklagten verwahrt.

Mit Bescheid vom 14.07.2009 stellte die Beklagte die Rente ab 01.09.2009 als Auslandsrente neu fest. Mit Bescheid vom 06.08.2009 wurden eine Auslandsrente ab 04.07.2006 und eine Nachzahlung für die Zeit ab 04.07.2006 festgestellt. Auszuzahlen seien ab 01.09.2009 monatlich 768,45 € und zugunsten der Klägerin 269,45 € einzubehalten. Unter dem 17.09.2009 erging die Mitteilung an die Klägerin, ab dem 01.11.2009 würden wieder monatlich 269,45 € gezahlt.

In dem beim Sozialgericht Bayreuth geführten Antragsverfahren (S 11/2 R 865/09 ER, zuvor Sozialgericht F-Stadt S 16 R 551/09 ER) erkannte die Beklagte mit Schreiben vom 22.09.2009 den geltend gemachten Anordnungsanspruch auf Abzweigung eines Betrages in Höhe von mindestens 232,98 € an. Die Beklagte gehe davon aus, dass sich der Beigeladene weiterhin gewöhnlich in der Türkei aufhalte und werde daher bezüglich der Abzweigung nach der bisherigen Verfahrensweise handeln und die einbehaltenen Beträge sowie ab 01.11.2009 einen Betrag von monatlich 269,45 € auszahlen. Die Bevollmächtigte des Beigeladenen hatte Kopien des Reisepasses des Beigeladenen übermittelt. Aus diesen war ersichtlich, dass dem Beigeladenen am 26.06.2006 eine bis zum 25.06.2007 befristete Aufenthaltserlaubnis, die bis zum 24.04.2009 und - ausweislich einer später angefertigten Kopie - weiter bis zum 21.04.2011 verlängert wurde; zuvor war ein Besuchsvisum erteilt worden. In der Zeit vom 04.07.2006 bis 09.10.2007, 01.04.2008 bis 16.09.2008 und seit dem 25.04.2009 hielt er sich nach den Ein- und Ausreisestempeln in der Türkei auf.

Weitere Bescheide ergingen am 05.11.2009 (769,45 € / 269,45 € ab 01.12.2009) und 02.12.2010 (766,95 / 266,95 € ab 01.01.2011).

Die ... Bonn teilte der Beklagten am 01.04.2010 mit, dass die Auslandskrankenversicherung des Beigeladenen storniert worden sei, da sich der Beigeladene nur besuchsweise in der Türkei aufhalte. Beigefügt war ein Fragebogen mit Antworten des Klägers vom 15.03.2010: Wohnhaft in Deutschland; Aufenthalt in der Türkei besuchsweise; Aufenthalt in Deutschland / Jahr 8 Monate und in der Türkei / Jahr ca. 4 - 5 Monate; Wohnung / Haushalt in Deutschland nicht aufgegeben.

Mit Bescheid vom 05.01.2011 wurde die Rente ab 01.02.2011 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 766,95 € neu festgestellt. Hiervon wurden an die Klägerin 291,99 € abgezweigt.

Unter dem 07.03.2011 und 06.05.2011 teilte der Beigeladene anlässlich der Änderung seiner Bankverbindung auf Nachfrage der Beklagten mit, dass er am 12.05.2006 auf Dauer nach Deutschland zurückgekehrt sei. Er halte sich in Deutschland / Jahr 8 Monate und in der Türkei / Jahr 4 Monate auf. Beigefügt war eine Melderegisterauskunft der Stadt B-Stadt vom 03.03.2010 zur Vorlage an die Krankenkasse, nach der bescheinigt werde, dass der Beigeladene an seiner Wohnanschrift in B-Stadt gemeldet sei. Ebenfalls übersandt wurde eine Melderegisterauskunft vom 06.05.2011, die als Einzugs- und Zuzugsdatum in die bezeichnete Wohnung in B-Stadt den 12.05.2006 bescheinigte. Ergänzend übersandte die Bevollmächtigte des Beigeladenen mit Schriftsatz vom 06.04.2011 Kopien des Reisepasses (Ein- und Ausreisestempel: Einreise Türkei 25.04.2009 Ausreise 14.09.2009, Einreise 06.04.2010 Ausreise 11.05.2010, Einreise 06.06.2010 Ausreise 21.09.2010).

Die Beklagte stellte die Rentenzahlungen an den Beigeladenen und die Zahlungen an die Klägerin zum 30.04.2011 ein. Für die Folgemonate wurden die Abzweigungsbeträge bei der Beklagten verwahrt.

Mit Bescheid vom 20.05.2011 stellte die Beklagte die Rente des Beigeladenen neu fest (abgeändert durch Bescheid vom 11.10.2011). Für die Zeit ab 01.05.2011 seien 766,95 € (750,66 €) und ab 01.07.2011 774,56 € (758,11 €) netto auszuzahlen. Des Weiteren teilte die Beklagte dem Beigeladenen mit Schreiben vom 24.05.2011 mit, dass sich für die Zeit ab 01.05.2011 kein abzweigbarer Betrag nach § 48 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) mehr ergebe, da er seinen Wohnsitz wieder in Deutschland habe. Die Rente werde ab diesem Zeitpunkt in voller Höhe gezahlt. Die zu Gunsten der Klägerin verwahrten Beträge würden an den Beigeladenen ausgezahlt.

Die Beklagte unterrichtete die Klägerin mit Schreiben vom 20.05.2011 (ohne Rechtsmittelbelehrung), der Beigeladene habe nach den ihr vorliegenden Ermittlungsergebnissen seinen Wohnsitz in Deutschland. Aus diesem Grund sei im Rahmen der Abzweigung nunmehr ein höherer Selbstbehalt als bisher zu berücksichtigen. Da der Selbstbehalt die Rente übersteige, ergebe sich kein abzweigbarer Betrag mehr. Die Vorschrift des § 48 SGB I diene auch nicht der dauerhaften Unterhaltssicherung, sondern solle kurzfristige Überbrückungen ermöglichen. Sofern Unterhalt verlangt werde, stehe hierfür der Zivilrechtsweg zur Verfügung.

Gegen das Schreiben vom 20.05.2011 legte die Bevollmächtigte der Klägerin am 26.05.2011 Widerspruch ein. Der Beigeladene beziehe neben der gesetzlichen Rente eine Betriebsrente in Höhe von 191,02 € (157,69 € netto) und lebe in einer Wohngemeinschaft, so dass die Abzweigung aus der gesetzlichen Rente in Höhe oberhalb des Sozialhilfebedarfes nach wie vor gerechtfertigt sei.

Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 31.10.2011). Unter Einbeziehung der Betriebsrente (157,69 € netto) betrage das monatliche Nettoeinkommen 908,35 € (bis 30.06.2011) bzw. 915,80 € (ab 01.07.2011). Für die Ermittlung des notwendigen Eigenbedarfs (Selbstbehaltes) sei grundsätzlich auf die in der Düsseldorfer Tabelle entwickelten Mindestsätze zurückzugreifen. Danach ergebe sich ein Selbstbehalt gegenüber dem getrennt lebenden Berechtigten von 1.000,00 €. Das Einkommen des Beigeladenen liege unter diesem Betrag mit der Folge der fehlenden Leistungsfähigkeit des Beigeladenen.

Am 25.10.2011 beantragte die Bevollmächtigte der Klägerin beim Sozialgericht Bayreuth, die Beklagte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, der Klägerin Leistungen aus Abzweigung der Altersrente des Beigeladenen in Höhe von mindestens 232,98 € monatlich zu gewähren. Dem Beigeladenen würde ein Betrag von 682,82 € und somit ein Betrag in Höhe des Grundbedarfes von 364,00 € zzgl. angemessener Unterkunftskosten von 310,50 € (Hanauer Mietspiegel) verbleiben, wobei aufgrund der Wohngemeinschaft mit der neuen Lebenspartnerin ein geringerer Bedarf bestehe. Die Klägerin habe kein Einkommen oder Vermögen. Seit der Einstellung der Leistungen zum 30.04.2011 werde sie von ihrem Sohn unterstützt, der sie im Rahmen seiner Möglichkeiten mit einem Betrag von monatlich 200,00 € versorge. Der Sohn sei aber nicht in der Lage, die Klägerin dauerhaft zu unterstützen. Sozialhilfeleistungen gebe es in der Türkei nicht.

Den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Antragsverfahren lehnte das Sozialgericht Bayreuth mit Beschluss vom 07.11.2011 ab. Ein Anspruch auf Abzweigung bestehe nicht. Zu beachten sei die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Nach der Düsseldorfer Tabelle Stand 01.01.2011 betrage der monatliche Selbstbehalt gegenüber dem getrennt lebenden oder geschiedenen Berechtigten 1.050,00 €. Das maßgebliche Einkommen des Beigeladenen liege deutlich unter diesem Betrag.

Dagegen hat die Bevollmächtigte der Klägerin am 09.12.2011 Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht erhoben (L 19 R 1098/11 B PKH). Hinsichtlich der Höhe des Abzweigungsbetrages habe die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Nach den anzuwendenden Unterhaltsgrundsätzen des OLG F-Stadt sei von einem Mindestselbstbehalt von 975,00 € auszugehen. Anzurechnen sei aber eine Haushaltsersparnis von mindestens 10 v.H., da der Beigeladene in Haushaltsgemeinschaft mit einer leistungsfähigen Partnerin lebe. Untergrenze des Selbstbehaltes sei der Sozialhilfesatz, so dass der Selbstbehalt des Beigeladenen 657,00 € betragen würde.

Mit Beschluss vom 23.07.2012 hat der Senat den Beschluss des Sozialgerichts aufgehoben und für das Antragsverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt. Es sei nicht ausgeschlossen, dass dem Antrag vom 25.10.2011, verstanden als Antrag auf gerichtliche Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches bis zur Klageerhebung (§ 86b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGGentsprechend), Aussicht auf Erfolg zukomme. Anders als bei einem Widerspruch gegen die Ablehnung einer beantragten Abzweigung komme dem vorliegenden Widerspruch aufschiebende Wirkung zu. Denn die aufschiebende Wirkung trete ein bei Rechtsbehelfen gegen belastende Verwaltungsakte oder gegen Verwaltungsakte, die eine bereits eingeräumte Rechtsposition entziehen.

In dem Antragsverfahren S 3 R 941/11 ER erkannte die Beklagte unter dem 19.11.2012 an, dass der Widerspruch vom 24.05.2011 aufschiebende Wirkung gehabt habe und der monatliche Abzweigungsbetrag von zuletzt 266,95 € für die Dauer des Widerspruchsverfahrens an die Klägerin auszuzahlen sei. Im Übrigen wies das Sozialgericht den Antrag vom 25.10.2012 mit Beschluss vom 12.03.2014 zurück, weil das Sozialgericht bereits mit Gerichtsbescheid vom 11.03.2014 die Klage gegen den Bescheid vom 20.05.2011 und Widerspruchsbescheid vom 31.10.2011 abgewiesen habe.

Zuvor hatte am 06.12.2011 die Bevollmächtigte der Klägerin Klage zum Sozialgericht Bayreuth erhoben; unter Aufhebung des Bescheides vom 20.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2011 seien der Klägerin mindestens 232,98 € aus der Altersrente des Beigeladenen abzuzweigen. Die Beklagte habe pflichtgemäßes Ermessen nicht ausgeübt. Hinsichtlich der Höhe des Abzweigungsbetrages räume das Bundessozialgericht dem Sozialleistungsträger einen Beurteilungsspielraum ein. Der Sozialleistungsträger dürfe sich zur Bestimmung des Eigenbedarfes des Unterhaltspflichtigen auf die Unterhaltstabellen beziehen, wobei es nicht notwendig sei, sich an die Zuständigkeitsgrenzen der Oberlandesgerichte zu halten. Nach den Unterhaltsgrundsätzen des OLG F-Stadt, Stand 01.01.2011, sei der Mindestselbstbehalt des nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen gegenüber dem getrennt lebenden Ehegatten auf 975,00 € begrenzt. Auch sei dort die Anpassung des Selbstbehaltes vorgesehen, falls der Unterhaltspflichtige mit einem leistungsfähigen Partner in Haushaltsgemeinschaft lebe. In der Regel sei hierfür eine Kürzung des Selbstbehaltes um 10 v.H. vorgesehen, die Unterhaltsgrenze sei der Sozialhilfesatz. Vorliegend lebe der unterhaltspflichtige Beigeladene mit einer Partnerin in einer eheähnlichen Gemeinschaft zusammen. Ausgehend von den Richtlinien müsste dem Beigeladenen ein Selbstbehalt von 975,00 € ./. 10 v.H. dieses Betrages, also ein Betrag von 877,50 € monatlich zur Verfügung bleiben. Tatsächlich verfüge er aber seit dem 01.07.2012 über monatlich insgesamt 940,10 € an Einkommen, da neben der Altersrente (774,66 €) auch der Nettobetrag der Betriebsrente (165,44 €) zu berücksichtigen sei (ab 01.07.2011 758,11 € zzgl. 157,69 €, also 915,80 €). Eine Abzweigung in Höhe von (jetzt) 150,00 € führe nicht zur Sozialhilfebedürftigkeit des Beigeladenen. Ausgehend von dem in den Jahren 2011 und 2012 geltenden Regelsatz von 345,00 € nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für eine Person zzgl. Kosten der Unterkunft, wie es die Leitlinie des OLG F-Stadt vorsehe, in Höhe von 430,00 € warme Miete, könne bei dem Beigeladenen ein Betrag von 150,00 € abgezweigt werden (Sozialhilfebedarf 345,00 € zzgl. 430,00 €, also 775,00 €, Einkommen des Beigeladenen 915,80 € bzw. 940,10 €). In Anbetracht dessen, dass die Klägerin über keinerlei Einkünfte verfüge und mit dem Beigeladenen sechs Kinder habe, stelle die Abzweigung in Höhe von 150,00 € keine besondere Härte dar. Auf den für das Familiengericht A-Stadt erstellten Sozialbericht vom 28.10.2005 werde hingewiesen.

Die Bevollmächtigte der Klägerin hat weiter den Beschluss des Amtsgerichts (Familiengericht) B-Stadt vom 06.06.2013 (Az. 63 F/13 UE) vorgelegt. Durch diesen Beschluss war der Antrag der Klägerin vom 31.12.2012 gegen den Beigeladenen auf Entrichtung von Unterhalt ab Mai 2011 bis Dezember 2012 und für die Zeit laufend ab Januar 2013 zurückgewiesen worden, weil der Beigeladene nicht leistungsfähig sei. Der Selbstbehalt betrage nach den Unterhaltsrichtlinien des OLG F-Stadt 975,00 €. Zwar komme eine Herabsetzung aufgrund des Zusammenlebens mit einer Lebensgefährtin in Betracht, die grundsätzlich mit 10 v.H. zu bewerten sei. Die Lebensgefährtin des Beigeladenen beziehe aber eine eigene Rente (vorgetragen wurde: netto 606,54 € bis zum 30.06.2012, ab 01.07.2012 618,76 €, Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Hessen ohne Datum - Rentenanpassung), die ebenfalls unter dem Selbstbehalt liege, so dass die für eine Anrechnung der Haushaltsersparnis vorausgesetzte Leistungsfähigkeit der Lebensgefährtin nicht gegeben sei. Die Beschwerde gegen den Beschluss vom 06.06.2013 wurde als unzulässig verworfen (Beschl. des OLG F-Stadt vom 10.12.2013 - Az. 4 UF 211/13).

Hierzu hat die Bevollmächtigte der Klägerin ausgeführt, dass diese zivilrechtliche Entscheidung mit der sozialrechtlichen Wirklichkeit nicht vereinbar sei, da hier die Grenze des zu verbleibenden Einkommens nicht der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt, sondern der Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit sei.

Mit Beschluss vom 16.09.2013 erfolgte die Beiladung sowie mit Beschluss vom 18.06.2013 die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Gunsten der Klägerin. Das Sozialgericht hat eine Melderegisterauskunft der Stadt B. vom 16.09.2013 eingeholt, nach der der Beigeladene am 12.05.2006 in die bezeichnete Wohnung in B-Stadt eingezogen sei.

Mit Gerichtsbescheid vom 11.03.2014 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide abgeändert, soweit die Abzweigung für den Monat Mai 2011 aufgehoben wurde. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Klägerin stehe kein Unterhaltsanspruch gegenüber dem Beigeladenen zu. Maßgeblich sei die Düsseldorfer Tabelle. Das Nettoeinkommen des Beigeladenen habe stets unter dem Selbstbehalt gelegen. Eine Minderung des Selbstbehalts aufgrund des Zusammenlebens mit einem anderen Partner habe das Amtsgericht B-Stadt abgelehnt. Das Sozialgericht dürfe eine familienrechtliche Entscheidung nicht unbesehen übernehmen. Es dürfe aber darauf hinweisen, dass Familiengericht und Sozialgericht zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangen. Die Anwendung der Leitlinien des OLG F-Stadt (Selbstbehalt 975,00 €) habe im vorliegenden Falle zu keinem anderen Ergebnis geführt. Durch den Zuzug des Beigeladenen in das Bundesgebiet habe sich der Selbstbehalt erhöht und der Unterhaltsanspruch der Klägerin sei entfallen. Gegenüber der Klägerin habe der Bewilligungsbescheid vom 17.09.2009 wegen Änderung der Verhältnisse nur mit Wirkung für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückgenommen werden können. Der Bescheid, der die Aufhebung ausgesprochen hat, sei in dem Schreiben vom 20.05.2011 enthalten gewesen. Dieses Schreiben sei zwar nicht als Bescheid bezeichnet worden, jedoch enthalte es alle Merkmale, die ein Verwaltungsakt benötige. Die Bevollmächtigte der Klägerin habe auch erkannt, dass ein Bescheid beabsichtigt gewesen sei und Widerspruch eingelegt. Allerdings bedeute „mit Wirkung für die Zukunft“, dass erst ab dem 01.06.2011 die Abzweigung geendet habe und für den Monat Mai 2011 noch der bisher abgezweigte Betrag der Klägerin zustehe.

Hiergegen hat die Bevollmächtigte der Klägerin am 28.03.2014 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Die Bezugnahme im erstinstanzlichen Urteil auf die Düsseldorfer Tabelle sei zum Nachteil der nachweislich mittellosen Klägerin erfolgt, da die konkrete Lebenssituation des Beigeladenen mit seiner Lebensgefährtin keine Berücksichtigung gefunden habe. Allein unter Berücksichtigung der Unterhaltsgrundsätze des OLG F-Stadt stünde der Klägerin eine Abzweigung in Höhe von ca. 60,00 € zu. Der Beigeladene bliebe mit einem Einkommen über dem Sozialhilfeniveau, die Klägerin hätte zumindest ein Taschengeld, keinesfalls den Lebensunterhalt gesichert. Soweit das F. (Familiengericht) B-Stadt es abgelehnt habe, die Haushaltsersparnis anzurechnen, habe es nicht berücksichtigt, dass die Lebensgefährtin des Beigeladenen selbst auch eine Betriebsrente beziehe und dass der Schutz der Ehe gem. Art. 6 Grundgesetz (GG) zu beachten sei.

Vorliegend sei davon auszugehen, dass es sich bei der Unterhaltsverpflichtung des Beigeladenen um eine gesteigerte Unterhaltsverpflichtung gem. § 1361 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) handelt. Hier gehe die sozialhilferechtliche Berechnung von der Überlegung aus, dass der Mindestbehalt des Unterhaltsverpflichteten so hoch anzusetzen sei, dass die Sozialhilfebedürftigkeit des Unterhaltsverpflichteten ausgeschlossen werde. Im Sozialrecht würden neben den Unterhaltsleitlinien der Oberlandesgerichte auch die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Heranziehung Unterhaltsverpflichteter verwendet, um ein gerechtes Ergebnis herzustellen. Auch wenn nach den Richtlinien des Deutschen Vereins dem Unterhaltsverpflichteten der zweifache Regelbedarf verbleiben solle, so sei dies mit den Bedarfsätzen aus 2011/ 2012 in Höhe von 345,00 € durchaus möglich, eine Abzweigung an die Klägerin vorzunehmen. Es sei dem Beigeladenen auch zumutbar, bei Leistung von Unterhalt aus seiner Rente ggfs. Wohngeld zu beantragen.

Selbst wenn der Beigeladene seinen ersten Wohnsitz in Deutschland genommen habe, verbringe er auch die Hälfte des Jahres in der Türkei, so dass auch aus diesem Grund eine Abzweigung keine unverhältnismäßige Entscheidung darstelle. Der Beigeladene habe im Grunde zwei Lebensmittelpunkte. Regelmäßig halte er sich von etwa Ende April/ Anfang Mai bis Ende September in der Türkei auf, die anderen Monate in Deutschland. Zum Beweis hierfür werde der Sohn A. als Zeuge angeboten. Zur Bestätigung werde auf eine schriftliche Erklärung des Sohnes B. vom 25.01.2016 Bezug genommen. Dort werde u.a. ausgeführt, dass der Beigeladene seinen jährlichen Urlaub von April/ Mai bis September/ Oktober (mindestens 5/ 6 Monate) in der Türkei verbringe.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 11.03.2014 und den Bescheid der Beklagten vom 20.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2011 aufzuheben sowie die Berufung des Beigeladenen gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 11.03.2014 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin und die Berufung des Beigeladenen gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 11.03.2014 zurückzuweisen.

Der Beigeladene beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 11.03.2014 abzuändern und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 20.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2011 in vollem Umfang abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 11.03.2014 zurückzuweisen.

Die Bevollmächtigte des Beigeladenen hat am 08.11.2017 Anschlussberufung erhoben. Das Sozialgericht habe nicht berücksichtigt, dass eine Unterhaltspflicht des Beigeladenen nicht bestehe. Dies habe das F. (Familiengericht) B-Stadt mit Beschluss vom 06.06.2013 rückwirkend für die Zeit ab Mai 2011 rechtskräftig entschieden. Schon deswegen wäre die Klage abzuweisen gewesen. Vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass Entscheidung des Amtsgerichtes und die parallele Wertung des Sozialgerichts materiell-rechtlich nicht zu beanstanden seien. Soweit das Sozialgericht den Aufhebungsbescheid hinsichtlich des Monats Mai 2011 aufgehoben habe, sei das nicht richtig. Auch ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, der zugleich eine Doppelwirkung habe, könne mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X zurückgenommen werden. Die Klägerin könne sich nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen berufen, da sie die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gekannt habe.

Zur Ergänzung wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten, auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, auf die Akten des Sozialgerichts Bayreuth S 16/11/3 R 710/05, S 2 R 865/09 ER und S 3 R 941/11 ER, auf die Akte des Bayer. Landessozialgerichts L 19 R 1098/11 B PKH und auf die Akte des Amtsgerichtes B-Stadt Az. 63 F 16/13 UE u. 4 UF 211/13 Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 11.03.2014 ist zulässig, aber unbegründet. Auch die Anschlussberufung des Beigeladenen ist unbegründet. Denn die Entscheidung des Sozialgerichts in der Hauptsache ist nicht zu beanstanden. Zu Recht hat es den angefochtenen Bescheid vom 20.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2011 abgeändert, soweit die Beklagte die Abzweigungsentscheidung bereits für den Monat Mai 2011 aufgehoben hat, und die Klage im Übrigen abgewiesen.

Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 20.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2011. Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass es sich bei dem Schreiben vom 20.05.2011 um einen Bescheid (Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X) handelt. Zwar war dieses Schreiben nicht mit einer Rechtsmittelbelehrungversehen. Bereits aus dem Wortlaut ist aber eindeutig der Wille der Beklagten zu entnehmen, hinsichtlich der der Klägerin zuvor eingeräumten Rechtsposition, die Empfangsberechtigung des aus der Altersrente des Beigeladenen abgezweigten Betrages, eine verbindliche Regelung zu treffen, nämlich diese Rechtsposition für die Zukunft aufzuheben. Auch ist die Einordnung als Verwaltungsakt zwischen den Beteiligten nicht strittig.

Richtige Klageart ist demnach die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin begehrt die Aufhebung der sie belastenden Entscheidung mit der Folge, dass ihr die zuvor zuerkannte Rechtsposition weiterhin zusteht.

Die Anfechtungsklage ist unbegründet, da die Beklagte befugt war, die der Klägerin zuvor mit Bescheid vom 12.05.2005 zuerkannte Berechtigung, aus der Altersrente des Beigeladenen einen abgezweigten Betrag zu erhalten, für die Zukunft aufzuheben. Auch wenn die Beklagte mit Bescheid vom 20.05.2011 den aufzuhebenden Bescheid vom 12.05.2005 nicht ausdrücklich benannt hat, wird der Regelungswille der Beklagten hinreichend deutlich, den dem Grunde nach zur Abzweigung führenden Bescheid vom 12.05.2005 aufzuheben. Dies ergibt sich aus der Begründung der Aufhebung, der Beigeladene habe seinen Wohnsitz in Deutschland und aus diesem Grunde sei im Rahmen der Abzweigung nunmehr ein höherer Selbstbehalt zu berücksichtigen. Damit verweist die Beklagte darauf, dass die Leistungsvoraussetzungen für die Abzweigungsentscheidung weggefallen sind und diese Entscheidung rechtswidrig geworden ist. Die Voraussetzungen der Abzweigung hatte die Beklagte bei Erlass des Bescheides vom 12.05.2005 geprüft und unter Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtung des Beigeladenen und dessen Wohnsitznahme in der Türkei die Leistungsfähigkeit des Beigeladenen sowie die Abzweigungsberechtigung der Klägerin festgestellt.

Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts bezieht sich die Aufhebung nicht auf den „Bescheid“ vom 17.09.2012. Zwar hat die Beklagte mit diesem „Bescheid“ verfügt, ab dem 01.11.2009 würden wieder monatlich 249,45 € an die Klägerin gezahlt. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X. Denn dieser „Bescheid“ vom 17.09.2012 ist nicht als sog. Zweitbescheid und damit als Verwaltungsakt gem. § 31 Satz 1 SGB X zu qualifizieren, der den (Erst-) Bescheid vom 12.05.2005 ersetzt hat. Zwar deutet das Anerkenntnis im Antragsverfahren S 11 R 865/09 ER eine Sachprüfung an. Auch wird ein Zweitbescheid regelmäßig angenommen, wenn die Behörde nach erfolgter Sachprüfung erneut die gleiche Sachentscheidung trifft. Dagegen wird von einer wiederholenden Verfügung als Realakt ausgegangen, wenn die Behörde ohne erneute Sachprüfung lediglich auf eine bereits getroffene Regelung verweist. Allerdings bestimmt sich die Einordnung als Zweitbescheid (Verwaltungsakt) oder als wiederholende Verfügung unabhängig von einer vorgenommenen Sachprüfung danach, ob die von der Behörde getroffene Maßnahme auf die Herbeiführung einer unmittelbaren Rechtsfolge gerichtet ist (§ 31 Satz 1 SGB X). Ein solcher Regelungswille der Beklagten ergibt sich gerade nicht aus dem „Bescheid“ vom 17.09.2012. Abzustellen ist bei der Auslegung auf §§ 133, 157 BGB, also darauf, wie die Klägerin die Willenserklärung der Beklagten vom 17.09.2012 unter Berücksichtigung der bekannten Begleitumstände vernünftigerweise verstehen durfte. Die Beklagte hat ausgeführt, es würden „wieder“ monatlich 269,45 € gezahlt. Zugleich hat die Beklagte zeitgleich im Antragsverfahren S 11 R 865/09 ER unter dem 22.09.2012 angegeben, sie gehe davon aus, der Beigeladene halte sich „weiterhin“ gewöhnlich in der Türkei auf, und sie werde bezüglich der Abzweigung „nach der bisherigen Verfahrensweise“ handeln. Dies konnte die Klägerin nur so verstehen, dass sich hinsichtlich der erstmaligen Abzweigungsentscheidung vom 12.05.2005 nichts geändert hat und sie weiter den Abzweigungsbetrag nach Maßgabe der Abzweigungsentscheidung vom 12.05.2005 erhält. Bringt die Behörde nur zum Ausdruck, dass sie an ihrer Entscheidung festhält, trifft sie keine (neue oder geänderte) Regelung (KassKomm/ Mutschler SGB X, 2017, § 31 Rn. 16). Im Ergebnis konnte die Klägerin nach den Ausführungen der Beklagten demnach davon ausgehen, dass die Beklagte trotz erneuter Sachprüfung keine erneute Sachentscheidung treffen wollte, sondern auf die bisherige Abzweigungsentscheidung Bezug genommen hat.

Der Bescheid vom 12.05.2005 durfte auch nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden. Die Regelung des § 48 Abs. 1Satz 1 SGB X findet Anwendung, wenn und soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Hinsichtlich der wesentlichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen ist maßgebliche Vergleichsgrundlage derjenige letzte Bescheid, in dem über die nunmehr geänderte Leistungsvoraussetzung entschieden worden ist (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 48 RdNr. 5). Vergleichsgrundlage ist demnach der Bescheid vom 12.05.2005. Denn mit diesem Bescheid wurde über die Voraussetzungen der Abzweigung zugunsten der Klägerin und zwar nach Prüfung der Leistungsfähigkeit des Beigeladenen bzw. dessen Unterhaltsverpflichtung entschieden. Der Regelungsgehalt der nachfolgenden Bescheide, etwa vom 03.03.2006 oder 21.05.2009, bezieht sich jeweils nicht auf eine erneute Regelung der Abzweigung dem Grunde nach. Insoweit liegt auch eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor, da der Beigeladene seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland genommen hat. Dies ergibt sich zunächst nicht aus der nach Erlass des Bescheides vom 12.05.2005 am 26.06.2006 erteilten und verlängerten Aufenthaltserlaubnis. Grundsätzlich hat ein Ausländer, der sich nur aufgrund einer befristeten Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufhalten darf, dort nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt (BSG Urteil vom 10. Senat - 10 RKg 18/85, zit. nach juris). Maßgebend sind - unabhängig von der melderechtlichen Wohnsitznahme - die tatsächlichen Umstände des Aufenthaltes. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo die Umstände erkennen lassen, dass er sich an dem Ort nicht nur vorübergehend aufhält (s. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I). Aus dem Reisepass (Ein- und Ausreisestempel) des Beigeladenen ist zu entnehmen, dass der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse des Beigeladenen zunächst in der Türkei anzunehmen war (Ein- und Ausreisestempel 04.07.2006 09.10.2007). Danach hat er sich in den Jahren 2008 (01.04.2008 bis 16.09.2008) und 2009 (25.04.2009 bis 14.09.2009) für weniger als sechs Monate in der Türkei aufgehalten. Dies zugrunde gelegt ist von einer Wohnsitznahme im Oktober 2007 (Ausreise aus der Türkei am 09.10.2007) und damit von einer Änderung gegenüber dem Bescheid vom 12.05.2005 in den tatsächlichen Verhältnissen, aber auch in Hinblick auf die Unterhaltsverpflichtung (Höhe des Selbstbehaltes bei der Berechnung der Leistungsfähigkeit) des Beigeladenen in den rechtlichen Verhältnissen auszugehen. Auch bei einer Wohnsitznahme in Deutschland am 07.10.2005 (Mitteilung der AOK B-Stadt vom 13.01.2006) oder 12.05.2006 (Angaben des Beigeladenen vom 07.03.2011 und 06.05.2011) liegt eine solche Änderung gegenüber dem Bescheid vom 12.05.2005 vor. Dass der Beigeladene sich darüber hinaus auch regelmäßig für längere Zeit in der Türkei aufgehalten hat, ergibt sich aus den Ein- und Ausreisestempeln. Es war daher nicht veranlasst, hierzu den Sohn des Beigeladenen und der Klägerin, K. zu hören. Es kann unterstellt werden, dass sich der Beigeladene - entsprechend der Ein- und Ausreisestempel für die Jahre 2008 und 2009 - für mehr als fünf Monate im Jahr in der Türkei aufgehalten hat. Der andere Sohn B. hat diese Aufenthalte als „jährlichen Urlaub“ bezeichnet.

Diese Änderung in den Verhältnissen ist auch wesentlich, da nunmehr die Voraussetzungen für eine Abzweigung aus der Altersrente des Beigeladenen zu Gunsten der Klägerin nicht mehr erfüllt sind. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I können laufende Geldleistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts zu dienen bestimmt sind, in angemessener Höhe an den Ehegatten oder die Kinder des Leistungsberechtigten ausgezahlt werden, wenn er ihnen gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Die Abzweigung setzt demnach das Bestehen einer Unterhaltsverpflichtung (hier nach § 1361 Abs. 1 BGB) und deren Verletzung voraus. Soweit es - wie hier - an einem Unterhaltstitel fehlt, hat der Leistungsträger nach den Maßstäben des Zivilrechts die Unterhaltsverpflichtung zu prüfen. Zu diesen Voraussetzungen zählt auch die Unterhaltsfähigkeit. Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außer Stande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren (§ 1603 Abs. 1 BGB).

Zur Bestimmung der Beträge, die dem in Anspruch genommenen Leistungsberechtigten zur Deckung seines angemessenen Unterhalts zu belassen sind, konnte die Beklagte die Werte und Leitlinien der Düsseldorfer Tabelle zugrunde legen. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nicht etwa auf die Sozialhilfebedürftigkeit im Sinne eines Mindestbehalts abzustellen, der dem Beigeladenen bei einer gesteigerten Unterhaltsverpflichtung zu verbleiben hat. Dies ergibt sich in diesem Sinne nur in den Fallgestaltungen des § 1603 Abs. 2 BGB, nach denen Eltern ihren minderjährigen Kindern gegenüber verpflichtet sind, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden, und der notwendige Selbstbehalt mit Beträgen zu bemessen ist, die dem sozialhilferechtlichen Bedarf entsprechen oder allenfalls geringfügig darüber hinausgehen (s. BGH Urteil vom 09.01.2008 - XII ZR 170/05, zit. nach juris). Die Beklagte hatte weder die konkrete Lebenssituation, also die individuellen Unterhaltsverhältnisse des Beigeladen, etwa den Sozialhilfegrundbedarf, die Unterkunftskosten z.B. nach dem Mietspiegel, noch den Ansatz einer etwaigen Haushaltsersparnis zu ermitteln. Denn die Düsseldorfer Tabelle wird - jedenfalls für die Praxis in den alten Bundesländern - als allgemein geeigneter Maßstab für die pauschalierende Berechnung des Selbstbehalts des Leistungsberechtigten akzeptiert; eine darüber hinausgehende Prüfung jedes Einzelfalls würde dem Charakter der Abzweigung als Soforthilfemaßnahme widersprechen (BSG Urteil vom 23.10.1985 - 7 RAr 32/84, BSG Urteil vom 13.05.1987 - 7 RAr 13/68, BSG Urteil vom 07.10.2004 - B 11 AL 13/04 R, BSG Urteil 08.07.2009 - B 11 AL 30/08 R, LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 23.02.2012 - L 9 AS 764/11, zit. jew. nach juris). Es ist gerade nicht Aufgabe des Leistungsträgers und der Sozialgerichte, im Rahmen der als Soforthilfe gedachten Abzweigung anstelle der Familiengerichte im Einzelfall den Unterhaltsanspruch bindend zu regeln (BSG Urteil vom 13.05.1987 a.a.O.).

Nach der Düsseldorfer Tabelle ergibt sich, dass der Beigeladene nicht leistungsfähig war, da sein Einkommen in Höhe von 915,80 € den Selbstbehalt (monatlichen Eigenbedarf) gegenüber dem getrennt lebenden Ehegatten in Höhe von 1.050,00 € nicht überstieg (Ziff. B IV. der ab dem 01.01.2011 gültigen Düsseldorfer Tabelle). Er bezog bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (Widerspruchsbescheid vom 31.10.2011) neben der gesetzlichen Altersrente in Höhe von monatlich netto 758,11 € eine Betriebsrente in Höhe von monatlich 157,69 € netto, also insgesamt monatlich netto 915,80 €.

Dies zu Grunde gelegt war die Beklagte nach § 48 Abs. 1Satz 1 SGB X befugt, mit Bescheid vom 20.05.2011 die Abzweigungsentscheidung für die Zukunft aufzuheben. Entgegen der Auffassung des Beigeladenen hat das Sozialgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass aufgrund der Aufhebung für die Zukunft erst ab dem 01.06.2011 die Abzweigung geendet hat und für den Monat Mai 2011 noch der bisher abgezweigte Betrag der Klägerin zustand. „Wirkung für die Zukunft“ bedeutet hier für die Zeit nach der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides (BSG Urteil vom 24.07.1997 - 11 RAr 99/96, zit. nach juris). Bei Rücknahme einer Leistungsbewilligung beginnt die Zukunftswirkung eines Bescheides aber nicht bereits mit dem Tag nach dem Zugang, sondern erst mit dem Beginn des nächsten Leistungszeitraums (BSG Urteil vom 21.10.1999 - B 11 AL 25/99 R, zit. nach juris).

Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Hinweis des Beigeladenen auf eine Rücknahmemöglichkeit für die Vergangenheit nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X. Die Anwendung des § 44 SGB X setzt die Rücknahme eines rechtswidrigen und nicht begünstigenden Verwaltungsakts voraus. Die Ausgangsentscheidung vom 12.05.2005 über die Abzweigung war dagegen rechtmäßig und für die Klägerin begünstigend. Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X oder § 49 SGB X sind offensichtlich nicht erfüllt.

Auch der Beschluss des Amtsgerichtes (Familiengericht) B-Stadt vom 06.06.2013 steht einer Fortgeltung der Abzweigungsentscheidung für den Mai 2011 nicht entgegen. Zwar hat das F. über die Unterhaltsverpflichtung des Beigeladenen rückwirkend ab Mai 2011 negativ entschieden. Es kann dahinstehen, ob einem abweisenden Beschluss überhaupt Gestaltungswirkung oder eine Tatbestandswirkung zukommt. Jedenfalls hat das F. (Familiengericht) B-Stadt mit Beschluss vom 06.06.2013 zeitlich nach dem Erlass des Widerspruchbescheides vom 31.10.2011 entschieden, so dass der Beschluss von der Beklagten nicht berücksichtigt werden konnte. Für die gerichtliche Überprüfung scheidet ebenfalls eine Bindungswirkung aus, da bei der vorliegenden Anfechtungsklage auch nur auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchbescheides vom 31.10.2011 abzustellen ist. Selbst wenn eine Bindungswirkung bestanden hätte, wäre diese nicht selbstvollziehend gewesen, sondern es hätte ebenfalls einer Aufhebungsentscheidung der Beklagten bedurft, die an den Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X („mit Wirkung für die Zukunft“) zu messen ist.

Die Beklagte konnte den Bescheid vom 12.05.2005 auch außerhalb einer zeitlichen Befristung aufheben. Zwar verweist § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X auf die Regelung des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Daher darf die Behörde einen begünstigenden Dauerverwaltungsakt nur innerhalb eines Jahres, nachdem sie Kenntnis der Tatsachen erlangt hat, die eine rückwirkende Aufhebung rechtfertigen, diesen nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X aufheben. Diese zeitliche Einschränkung der Aufhebbarkeit gilt ausschließlich für die - hier nicht gegebene - rückwirkende Aufhebung in den Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 - 4 SGB X.

Ermessen war von der Beklagten nicht auszuüben. Sind - wie hier - die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfüllt, so ist der Verwaltungsakt zwingend mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Dagegen soll nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X der Verwaltungsakt rückwirkend vom Zeitpunkt der Verhältnisse aufgehoben werden. „Soll“ bedeutet, dass in atypischen Fällen der Verwaltungsakt allein für die Zukunft aufgehoben werden kann. Nur in diesen Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist der Behörde ein Ermessen eingeräumt, auch dann noch für die Vergangenheit aufzuheben.

Nach alldem sind der angefochtene Bescheid vom 20.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2011 sowie der Gerichtsbescheid vom 11.03.2014, soweit das Sozialgericht in der Hauptsache entschieden hat, nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Derjenige, der die Abzweigung begehrt, gehört nicht zum kostenprivilegierten Personenkreis des § 183 SGG (BSG Urteil vom 17.03.2009 - B 14 AS 34/07 R - zit. nach juris). Insbesondere ist er kein Leistungsempfänger iSd § 183 Satz 1 SGG. Denn mit der Abzweigung wird kein eigenständiger, von dem bewilligten Leistungsanspruch zu unterscheidender Sozialleistungsanspruch geschaffen (vgl. BSG Urteil vom 17.03.2009 a.a.O.).

Der Senat konnte die Kostenentscheidung des Sozialgerichts ändern und den Streitwert auch für das Klageverfahren festlegen; das Verbot der reformatio in peius gilt insoweit nicht (BSG Urteil vom 05.10.2006 - B 10 LW 5/05 R, zit. nach juris). Die Klägerin trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens (§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 154 Abs. 1 und 2, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Das Obsiegen war jeweils nur geringfügig. Der Beigeladene trägt keine Kosten (§ 197a Abs. 2 Satz 2 SGG). Aufgrund der Antragstellung des Beigeladenen im Berufungsverfahren erfolgt die Kostenentscheidung zugunsten des Beigeladenen nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 52 Abs. 1 und 3, § 42 Abs. 1 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen ist der dreifache Jahresbetrag der wiederkehrenden Leistungen maßgebend, wenn nicht der Gesamtbetrag der geforderten Leistungen geringer ist. Insoweit ist ausgehend vom Klagebegehren, weiterhin monatlich einen Betrag von 232,98 € zu erhalten, für beide Instanzen jeweils ein Streitwert in Höhe von 8.387,00 € festzusetzen.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

Auf Sozialleistungen besteht ein Anspruch, soweit nicht nach den besonderen Teilen dieses Gesetzbuchs die Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über die Leistung nach ihrem Ermessen zu handeln.

Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs dürfen nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt.

Tenor

I.

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 28. November 2012 wird zurückgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.

Der Kläger ist 2004 geboren. Mit Bescheid vom 08.07.2009 wurden vom Beklagten ein GdB von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „aG“, „B“, „H“ und „RF“ festgestellt.

Am 06.03.2009 stellte der Kläger, vertreten durch seine Eltern, Antrag auf Blindengeld beim Beklagten. Im Verwaltungsverfahren wertete der Beklagte die vorgelegten Unterlagen aus, wie den Bescheid der M. Pflegekasse vom 13.06.2008 bezüglich der Feststellung der Pflegestufe III und eine Reihe von medizinischen Berichten.

* Im Bericht der Klinik für Neuropädiatrie und neurologische Rehabilitation, Epilepsiezentrum für Kinder und Jugendliche, Behandlungszentrum V., vom 25.08.2008 wurde darauf hingewiesen, dass die Grunderkrankung des Klägers nicht geklärt sei, es wurden vorsichtige Modifikationen der derzeitigen antiepileptischen Therapie empfohlen. Der Kläger wurde dort wegen fortschreitender geistiger Entwicklungsretadierung mit sprachlichem Schwerpunkt, fortschreitender Ataxie, Hypotonie und orofacialer Hypotonie sowie symptomatischer Epilepsie behandelt. Im Bericht wurde eine augenärztliche Untersuchung vom 08.07.2008 erwähnt, die ergeben hatte, dass eine Fixation beidseits nur auf große Objekte und Licht möglich sei; die Motilität sei frei, es seien kein Drift der Augen gesehen worden und auch kein Nystagmus, „keine Blickparese nach unten, weiterhin Visusminderung beidseits.“ Im Bericht wurden weiter objektive Refraktionswerte angegeben und die Empfehlung, zu versuchen, eine Brille zu tragen, ausgesprochen. * In der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde des UKR vom 21.08.2008 wurde der Verdacht auf Visusminderung im Rahmen eines Symptomkomplexes bisher unklarer Äthiologie als Diagnose festgestellt. Im Rahmen der Befunderhebung wurde festgestellt, dass keine Fixation aufgenommen worden sei, der Kläger habe jedoch zum Teil nach Gegenständen gegriffen. * Im Bericht der F-Klinik (Kinder- und Jugendmedizin) vom 08.04.2009 wurden die Diagnosen lokalisationsbezogene fokale partielle symptomatische Epilepsie und epileptische Syndrome mit komplexen fokalen Anfällen, schwere psychomotorische Retadierung bei unklarer Grunderkrankung und langzeitige Abhängigkeit vom Rollstuhl und Stuhlinkontinenz gestellt. Die Krampfanfälle seien eher unverändert geblieben, „jedoch gebesserte Motorik und Verhalten“, so dass nach früheren Rückschritten jetzt wieder eine Verbesserung eingetreten sei. Im Rahmen des Aufnahmebefundes wurde u. a. festhalten, dass mit dem Kläger wenig Kontaktaufnahme möglich sei.

Sodann fertigte die Augenärztin L. am 26.05.2009 im Auftrag des Beklagten ein Gutachten an. Die Ärztin stellte fest, dass beim Kläger eine Epilepsie und eine Entwicklungsstörung vorliegen würden. Nach Angaben der Mutter sei der Kläger als gesundes Kind geboren worden und habe auch erste Worte sprechen können, als die Anfälle begonnen hätten und damit ein Rückschritt im Entwicklungsstand des Klägers eingesetzt habe. Im Rahmen der Befunderhebung schilderte die Ärztin, dass der Kläger keinerlei Folgebewegungen (mit den Augen) gemacht habe, es sei zu keinem Zeitpunkt der Versuch einer Fixationsaufnahme erfolgt. Es lasse sich keine Reaktion erkennen auf Abdunkeln und plötzliches Erleuchten des Raumes, helles Licht im dunklen Raum, auf bewegte Personen, auf bewegte bunte oder schwarze Gegenstände oder auf schnelle angreifende Handbewegungen auf das Gesicht zu. Ausschließlich das bei der direkten und indirekten Fundusuntersuchung extrem helle Licht löse Abwehr in Form von Kneifen aus, sei aber auch hier nicht stark ausgeprägt. Soweit feststellbar, scheine das Abwehrverhalten bei Blendung des linken Auges etwas stärker als rechts, hier drehe der Kläger den Kopf etwas zur Seite. Als Diagnose stellte die Augenärztin eine generalisierte Störung der Hirnfunktion mit Störung aller Sinnesmodalitäten. Es lasse sich keine stärkere Beeinträchtigung des visuellen Systems im Vergleich zu den anderen Sinnesqualitäten feststellen. Damit sei Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht nachgewiesen. Vielmehr sei neben dem gleichermaßen ausgeprägten Fehlen adäquater Reaktionen auf visuelle, akustische oder taktile Reize auch ein Fehlen einiger Reflexe feststellbar sowie eine anormale Pupillen- und Bulbusmotilität, was auf eine Hirnstammbeteiligung schließen lasse.

Nach einer versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 24.06.2009 den Blindengeldantrag ab. Nach dem o.g. augenärztlichen Gutachten und dem Bericht der F-Klinik liege beim Kläger eine schwere psychomotorische Retardierung bei unklarer Grunderkrankung vor, wobei sich eine generalisierte Störung der Hirnfunktion mit Störung aller Sinnesmodalitäten gezeigt habe. Das visuelle System sei im Vergleich zu den anderen Sinnesqualitäten nicht stärker beeinträchtigt. Morphologisch fänden sich an den Augen keine Befunde, die Blindheit beweisen oder nahelegen würden. Blindheit im Sinne des BayBlindG sei daher nicht nachgewiesen.

Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch seine Eltern, am 11.07.2009 Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren wurden eine Reihe von weiteren ärztlichen Berichten ausgewertet. Im Arztbrief des Behandlungszentrums V. vom 25.04.2008 wurde u. a. der Normalbefund einer MRT vom August 2006 und eines cCT vom November 2007 festgehalten. Im craniellen MRT von Februar und April 2008 fanden sich im Wesentlichen unauffällige Befunde, lediglich die Weite der Liquorräume war betont. Im Rahmen der Messung visuell evozierter Potentiale (VEP) wurde auf eine schlechte Morphologie und schlechte Reproduzierbarkeit hingewiesen sowie auf verzögerte Reizleitungen. Es habe sich der Hinweis auf eine beidseitige Funktionsstörung der Sehbahn, links mehr als rechts, ergeben. Eine augenärztliche Untersuchung, so der Bericht, habe zunächst einen unauffälligen Befund ergeben. Für eine Woche habe der Kläger fast ausschließlich nach oben geblickt und die Augen nur selten in die Mittellinie bringen können.

In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10.09.2009 wurde von der Ärztin Dr. P. festgestellt, dass (faktische) Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht nachgewiesen sei. Eine spezifische Sehstörung liege nicht vor. Der morphologische Befund an den Augen sei weitgehend unauffällig gewesen; Fixationsaufnahmen oder Folgebewegungen hätten nicht ausgelöst werden können etc. Das Kind reagiere jedoch ebenso wenig auf andere Reize. U. a. hat die Ärztin darauf hingewiesen, dass sich in der Bildgebung (MRT) weder umschriebene Veränderungen ischämischer, raumfordernder oder entzündlicher Natur gefunden hätten noch Allgemeinveränderungen der Hirnrinde (lediglich Weite der Liquorräume betont). Eine umschriebene oder abgrenzbare Schädigung im Bereich von Sehbahn bzw. Sehrinde sei somit nicht belegt.

Daraufhin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2009 den Widerspruch als unbegründet zurück. Beim Kläger, so die Begründung, liege eine generalisierte, fortschreitende psychomotorische Retardierung, verbunden mit einem hirnorganischen Anfallsleiden, vor. Ob neben der zerebralen Schädigung auch Blindheit oder eine andere Blindheit gleichzuachtende Sehstörung vorliege, habe nicht festgestellt werden können. Mitwirkungsabhängige Untersuchungen des Visus und des Gesichtsfeldes seien aufgrund des Gesundheitszustands des Klägers bei der augenärztlichen Untersuchung am 26.05.2009 nicht durchführbar gewesen. Morphologisch habe sich an den Augen kein Befund gefunden, der Blindheit beweisen oder nahelegen könne, so dass sich der objektive Nachweis von Blindheit im Sinne des Gesetzes nicht erbringen lasse. Nachdem beim Kläger klinisch nicht nur eine Störung des Sehens, sondern generell ein schwerer Entwicklungsrückstand vorliege, sei zu prüfen, ob faktische Blindheit als Folge einer Hirnschädigung in Kombination mit einer Schädigung der Augen bestehe. Beim Kläger sei die Wahrnehmung aber nicht nur im visuell/optischen Bereich herabgesetzt, das fehlende Sehvermögen sei vielmehr eingebettet in eine umfassende Wahrnehmungsstörung und könne nicht von der schwerstgradigen seelischgeistigen und körperlichen Behinderung abgegrenzt werden.

Hiergegen hat der Kläger, vertreten durch seine Eltern, am 12.10.2009 Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Zur Begründung hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass nach der gegebenen Tatsachenlage eine der Blindheit gleich zu achtende Sehstörung gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG zum Antragszeitpunkt aufgrund der schwerwiegenden zerebralen Schädigungen vorgelegen habe und dass die auf anderen Feldern der Sinneswahrnehmung verbliebenen Fähigkeiten nicht so weit herabgesetzt seien, dass der Leistungsunterschied zur fehlenden visuellen Modalität unbeachtlich wäre. Er hat u. a. hervorgehoben, dass der Kläger keinerlei Folgebewegungen gemacht habe und dass zu keinem Zeitpunkt der Versuch einer Fixationsaufnahme erfolgt sei. Somit müsse davon ausgegangen werden, dass die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit so stark herabgesetzt sei, dass nicht einmal eine Lichtscheinwahrnehmung vorhanden sei. Die Feststellung, dass die übrigen Sinneswahrnehmungen ebenso stark reduziert seien, sei unzutreffend.

Mit Schreiben vom 26.05.2011 hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass nach den Gesamtumständen beim Kläger Blindheit im Sinne des Gesetzes vorliege; er hat ein augenärztliches Attest von Frau Dr. C. vom 12.04.2011 vorgelegt. Die Augenärztin hat in dem Attest ebenfalls berichtet, dass keine Fixation aufgenommen werde und der Kläger keinerlei Reaktion auf Lichtreize gezeigt habe. Morphologisch sei, soweit beurteilbar, ein regelrechter Befund gegeben.

Im Folgenden hat das SG zahlreiche medizinische Unterlagen eingeholt bzw. ausgewertet. In einem Attest des Kinderarztes Dr. L. vom 20.07.2011 ist bestätigt worden, dass es sich um eine bisher unklare Grunderkrankung handele. Im Entlassungsbericht des Klinikums C. vom 27.12.2006 ist im Rahmen der Anamneseerhebung festgehalten worden, dass der Kläger im September in Erlangen gewesen sei, wo seine Brille korrigiert worden sei; seitdem hätte sich eine deutliche Besserung in der Motorik ergeben. Im Bericht des Sozialpädiatrischen Zentrums C. vom 04.08.2006 sind als Diagnosen u. a. Hyperopie, Schielfehlsichtigkeit, Brillenversorgung, Abkleben gestellt worden. Seit einem Jahr sei der Kläger wegen Schielens mit einer Brille versorgt. In der zusammenfassenden Beurteilung ist u. a. hervorgehoben worden, dass die „deutliche visuelle Beeinträchtigung“ die Entwicklung des Klägers sicher verlangsamt bzw. eingeschränkt habe. Im Bericht vom 02.09.2008 ist der Verdacht auf eine zentrale Hör- und Sehminderung geäußert worden. Der Kläger reagiere im Rahmen der dortigen Untersuchung nur sicher auf intensive Farben; Blickkontakt sei dem Kläger immer nur kurz möglich. Ein Verfolgen sei ihm nur ansatzweise möglich. Im Bericht vom 11.11.2008 sind als Diagnose u. a. allgemeine einschließlich kognitive Entwicklungsstörung mit Hinweis auf einen neurodegenerativen Verlauf sowie Verdacht auf epileptische Encephalopathie mit beginnender Hirnatrophie festgehalten worden. Der Kläger zeige im Verlauf Entwicklungsrückschritte. Im Befundbericht der Augenärztin Dr. C. vom 20.09.2011 sind Strabismus convergens, Hyperopie, Astigmatismus und Verdacht auf kortikale Blindheit festgestellt worden. Seit Juli 2007 sei eine Verschlechterung des Allgemeinzustands eingetreten; damals sei noch eingeschränkte Kooperation möglich gewesen, derzeit erfolge keinerlei Reaktion.

Sodann hat das Gericht Prof. Dr. G. mit der Erstellung eines ophthalmologischen Sachverständigengutachtens beauftragt (§ 106 Sozialgerichtsgesetz - SGG). In seinem Gutachten vom 11.07.2012 hat Prof. Dr. G. geschildert, dass der Kläger während der gesamten Untersuchung im Rollstuhl gesessen sei und keinerlei Blickkontakt aufgenommen habe. Während der Untersuchung sei die Angabe der Eltern bestätigt worden, dass der Kläger auf Geräusche reagiere. Sobald der Kläger am Kopf berührt werde, z. B. im Rahmen einer Untersuchung, werde der Kopf gezielt nach unten im Sinne einer Abwehrreaktion geneigt. Die Stimme der Eltern und insbesondere der durch Streicheln entstehende Körperkontakt wirkten beruhigend auf den Kläger.

Der Gutachter hat für beide Augen folgenden Befund erhoben: „Die Lider sind in Form, Stellung und Beweglichkeit regelrecht. Die Bindehaut ist reizfrei. Die Hornhaut ist glatt, klar, spiegelnd. Die Vorderkammer ist mittelschief, optisch leer. Die Regenbogenhaut ist reizfrei, regelrecht gefügt. Die Pupille ist rund, mittelweit, nur angedeutete und unvollständige Reaktion auf kräftigen Lichtreiz, bei indirektem Lichtreiz (durch Beleuchtung des linken Auges) ebenfalls angedeutete konsensuelle Reaktion. Die Linse ist am Ort, klar, keine Verdichtung oder Trübung.“

Den Augenhintergrund hat der Gutachter wie folgt beurteilt: Der Sehnervenkopf sei regelrecht gefärbt mit kleiner zentraler Aushöhlung, im Netzhautniveau scharf begrenzt. Die Stelle des schärfsten Sehens zeige einen regelrechten Reflex. Die Gefäße seien in Verlauf und Kaliber regelrecht. Die Netzhaut liege, soweit einsehbar, überall an.

Eine Sehschärfeprüfung hat der Sachverständige nicht durchführen können. Weder im hellen noch im abgedunkelten Raum sei eine eindeutige Reaktion auf Licht erfolgt. Auch starkes Beleuchten mit der Bonnoskoplampe direkt auf das Auge, selbst bei schneller Annäherung der Lichtquelle, löse keinerlei Reaktion aus. Phasenweise scheine ein Lidschluss auslösbar. Fixationsaufnahme, Blickkontakt oder Auslösen von Folgebewegungen seien nicht möglich gewesen. Soweit beurteilbar, bestehe bei der Augenbeweglichkeit keine grobe Einschränkung. Die Pupillen seien beide mittelweit und reagierten nur angedeutet auf direkte Beleuchtung. Eine Gesichtsfeldprüfung hat der Sachverständige nicht durchgeführt.

Im Rahmen der Beurteilung hat Prof. Dr. G. festgestellt, dass der Kläger das Augenlicht somit nicht vollständig verloren habe. Die Reaktion des Klägers auf visuelle Reize hänge nicht ausschließlich vom Befund des Sehnervs, der Sehbahn und dem dargebotenen visuellen Reiz ab, sondern von höheren Zentren, die das, was der Kläger mit den Augen aufnehme, weiter verarbeiteten. Diese Zentren seien ohne Zweifel durch seine Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen. Summa summarum würde man, so der Sachverständige, eine hochgradige Beeinträchtigung des Sehvermögens vermuten. Der Gutachter hat aber nicht feststellen können, ob das Sehvermögen des Klägers einem Visus von 1/50 oder weniger entspricht. Eine visuelle Agnosie in ihrer typischen Form oder eine andere gnostische Störung in isolierter Form lägen nicht vor. Vielmehr scheine die Wahrnehmung auf allen Gebieten herabgesetzt bzw. massiv beeinträchtigt zu sein, wobei das visuelle System stärker betroffen sei als beispielsweise das taktile oder akustische, ohne dass dies in Zahlen ausgedrückt werden könne.

Auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts hat der Sachverständige weiter festgestellt, dass zur Beantwortung der Beweisfragen ausschließlich die klinische Untersuchung eingesetzt worden sei. Messmethoden wie ein VECP seien beim Kläger nicht anwendbar. Die klinische Untersuchung könne dahingehend verifiziert werden, dass sie von anderen Untersuchern wiederholt werde. Er, der Gutachter, persönlich gewichte die Sehstörung, die beim Kläger vorliege, als so komplex und ausgeprägt, dass er sie mit einer faktischen Erblindung vergleichen würde.

Mit Schriftsatz vom 30.07.2012 hat der Bevollmächtigte seine Einschätzung wiedergegeben, dass beim Kläger offenkundig ein Grenzfall vorliege, bei dem sich selbst die Experten äußerst schwer täten, zu einem gesicherten wissenschaftlichen Ergebnis zu kommen. Aufgrund der gutachterlichen Einschätzung teile die Klägerseite die mittlerweile geäußerte Auffassung des SG nicht, wonach der Vollbeweis der Erblindung nicht zu führen sei. Er, der Bevollmächtigte, komme zu dem Ergebnis, dass für die Experten mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer faktischen Erblindung auszugehen sei. Auch wenn dies wörtlich nicht so formuliert werde, müsse dieses Ergebnis im Wege der Auslegung der gutachterlichen Ausführungen angenommen werden.

Mit Gerichtsbescheid vom 28.11.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach Überzeugung des Gerichts der Blindheitsnachweis nach Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen nicht geführt werden könne. Eine hinreichende Beeinträchtigung der Sehschärfe sei nach dem Gutachten von Prof. Dr. G. im Hinblick auf die Feststellung von Restfunktionen des Sehvermögens nicht gegeben. Nicht zu folgen vermöge das SG der Äußerung des Gutachters, dass die Sehstörung einer faktischen Erblindung entspreche. Eine spezifische Sehstörung sei vorliegend nicht gegeben, ein Ermessen dem SG nicht eröffnet.

Hiergegen hat der Bevollmächtigte des Klägers am 27.12.2012 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) erhoben. Zur Begründung der Berufung hat der Bevollmächtigte im Wesentlichen darauf verwiesen, dass sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. G. nach klägerischer Auffassung Blindheit im Sinne des BayBlindG ergebe. Es handle sich um eine „andere Störung des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG, so dass diese Beeinträchtigung einer Sehschärfe gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 BayBlindG von 1/50 gleichzuachten sei. So sei das Gutachten von Prof. Dr. G. zu verstehen. Eine faktische Blindheit werde dort bejaht, dies werde durch die Verwendung des Wortes „würde“ nicht in Zweifel gezogen. Weiter hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass eine der Blindheit gleichzusetzende Sehbeeinträchtigung nicht nur in den vom SG aufgeführten Fällen, sondern auch dann vorliege, wenn diese Kriterien nicht nachweisbar seien. In jedem Einzelfall sei zu prüfen, ob die Sehstörung nach ihrem Schweregrad als gleichschwere Beeinträchtigung zu bewerten sei. Bei der Blindheitsbeurteilung dürften nämlich nicht nur Sehschärfe und Gesichtsfeld herangezogen werden, sondern es müssten alle Störungen des Sehvermögens Berücksichtigung finden. Weiter hat der Bevollmächtigte auf das Urteil des BSG vom 20.07.2005 (Az.: B 9a BL 1/05 R) hingewiesen.

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 25.04.2013 ist vom Beklagten vor allem darauf hingewiesen worden, dass in der Funktionsfähigkeit der verschiedenen Sinnesmodalitäten keine deutlichen Unterschiede bestehen würden. Weitere Untersuchungen, so die Ärztin Dr. P., seien im Hinblick auf die bisherigen aussagekräftigen Unterlagen nicht erforderlich und würden wohl auch keine neuen Erkenntnisse ergeben. (Faktische) Blindheit sei weiterhin nicht nachgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 09.04.2014 hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass die Feststellung von Frau Dr. L. in krassem Widerspruch zu den Feststellungen von Prof. Dr. G. stehe; die Augenärztin habe zu dem Kläger keinen Zugang gefunden. Die gutachterliche Stellungnahme der Ärztin könne aufgrund der mangelhaft durchgeführten Untersuchung im Prozess nicht verwendet werden. Seit Sommer 2013 gehe es dem Kläger wieder zunehmend besser; so könne er mit einer geringfügigen Unterstützung jetzt wieder sitzen und versuche wieder, sich lautierend mitzuteilen. U. a. ist zudem darauf hingewiesen worden, dass eine Lehrkraft des Klägers bestätigen könne, dass bei diesem eine Wahrnehmungsfähigkeit deutlich vorhanden sei.

Im Folgenden ist das Berufungsverfahren wegen des Parallelverfahrens des Senats Aktenzeichen L 15 BL 5/11 und des sich beim Bundessozialgericht (BSG) anschließenden Revisionsverfahrens (Az.: B 9 BL 1/14 R) nicht weitergeführt worden. Auf gerichtliche Aufforderung hin hat sich der Beklagte dann mit Schriftsatz vom 29.02.2016 zum Verfahren mit Blick auf das zwischenzeitlich ergangene Revisionsurteil des BSG vom 11.08.2015 (Az.: B 9 BL 1/14 R) wie folgt geäußert: Entsprechend den Unterlagen des Behandlungszentrums V. und der Kinderklinik des Klinikums C. aus 2008 leide der heute elfjährige Kläger an einem Symptomenkomplex bisher unklarer Äthiologie mit fortschreitender geistiger Entwicklungsretardierung. Schwerpunkte seien sprachliche, fortschreitende Ataxie und Hypotonie sowie symptomatische Epilepsie. Alle Untersuchungen - einschließlich Stoffwechseldiagnostik und Bildgebung des Schädels - würden, so Dr. P., unauffällige Befunde zeigen. Bei dieser Befundlage könne nach Auffassung des Beklagten eine Sehstörung, die einer Erblindung gleichgesetzt werden könnte, nicht nachgewiesen werden. Die seit etwa dem zweiten Lebensjahr einsetzende Entwicklungsverzögerung mit Verschlechterung sowohl der motorischen als auch der kognitiven Funktionen habe in erster Linie das Sprachvermögen, den Gleichgewichtssinn und den Musekltonus betroffen, die Verarbeitung externer, vor allem taktiler, akustischer und visueller Reize sei erst im fortgeschrittenen Stadium bei Schädigung der höheren Hirnfunktionen zunehmend beeinträchtigt. Um das Ausmaß einer Sehbehinderung bestimmen zu können, müssten das Sehvermögen und die visuelle Wahrnehmung untersuchbar sein, was voraussetze, dass eine reproduzierbare Kommunikation möglich sei, z. B. in Form einer Ja-Nein-Kommunikation. Wenn jemand aufgrund schwerer Bewusstseinsstörungen nicht untersuchbar sei, könne die Frage, ob Blindheit vorliege, nicht beantwortet werden. Die Differenzierung zwischen Erkennen und Benennen sei im Urteil des BSG vom 11.08.2015 (a. a. O.) für obsolet erklärt worden. Für die Feststellung von Blindheit würden dagegen unverändert die Vorgaben der VG gelten, wonach der morphologische Befund die Sehstörung erklären oder zumindest in vernünftiger Weise sehr wahrscheinlich machen müsse. Zudem müsse eine Erkrankung vorliegen, die Blindheit verursachen könne. Beide Kriterien seien im Fall des Klägers nicht gegeben. Das BSG habe weiter den Grundsatz der objektiven Beweislast und das Fehlen von Beweiserleichterungen beim Blindheitsnachweis bekräftigt. Zusammenfassend sei festzustellen, dass vorliegend keine Blindheit gegeben sei.

Am 14.04.2016 hat der Bevollmächtigte erklärt, dass die Berufung nicht zurückgenommen werde. Alle entsprechenden Stellungnahmen (insbesondere der Ärztin L. sowie die versorgungsärztlichen Stellungnahmen) würden das Vorliegen einer Blindheit mit Verweis auf die nicht vorhandene besondere Betroffenheit des Sehsinns negieren. Gleichzeitig würden aber als Grundlage dieser Stellungnahmen Untersuchungsergebnisse herangezogen, die lediglich basale Reaktionen im Bereich des Sehens beschreiben würden. Zudem hat der Bevollmächtigte erneut auf die Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. G. verwiesen. Blindheit sei damit spätestens ab dem Zeitpunkt der Gutachtenserstellung durch den genannten Sachverständigen nachgewiesen.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 28.11.2012 sowie den Bescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab März 2009 Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten sowie der Gerichtsakten des Berufungs- und des erstinstanzlichen Verfahrens, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i. V. m. §§ 143, 151 SGG), jedoch nicht begründet. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das SG zu Recht verneint. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG v. 24.07.2013 (GVBl. S. 464) erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des BSG, an die sich der Senat gebunden fühlt, die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (Urteil vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R).

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.

Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 1/50 (0,02) oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VG, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung):

aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,

ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,

gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Zwar steht die Tatsache, dass bei ihm zerebrale Schäden vorliegen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Auch steht dem nicht im Wege, dass eine spezifische Störung des Sehvermögens im Hinblick auf andere Sinnesmodalitäten fraglich ist. Doch sind die vorstehend genannten Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen.

1. Beim Kläger liegt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (Entscheidungen vom 31.01.1995, Az.: 1 RS 1/93, 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R, 20.07.2005, Az.: B 9a BL 1/05 R, und 11.08.2015, Az.: B 9 BL 1/14 R) stehen auch zerebrale Schäden, die - für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans - zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Diese Festlegung wird in der Literatur begrüßt (vgl. Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2015, S. 81, 82), wenngleich auch - zu Recht - auf sich hierdurch ergebende gravierende Schwierigkeiten in der Praxis bzgl. des Blindheitsnachweises aufmerksam gemacht wird (a. a. O.).

2. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens besteht beim Kläger eine hochgradige Einschränkung aller Sinnesfunktionen (vgl. das o.g. Gutachten von Prof. Dr. G.). Unklar bleibt, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten. Hierauf kommt es jedoch nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil vom 11.08.2015 (a. a. O.) hieran nicht mehr festgehalten. Zur Aufgabe dieser Rechtsprechung hat sich das BSG aufgrund von Erkenntnisschwierigkeiten sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst gesehen (vgl. näher a. a. O.). Ebenfalls aufgegeben in der genannten Entscheidung hat das BSG die in der früheren Rechtsprechung getroffene Unterscheidung zwischen dem „Erkennen“ und dem „Benennen“ als so verstandene Teilaspekte bzw. Teilphasen des Sehvorgangs, da die Differenzierung gerade bei zerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen, d. h. die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“.

Der Senat fühlt sich an diese (neue) Rechtsprechung des BSG gebunden.

Die bestehende Unsicherheit hinsichtlich des Vorliegens einer spezifischen Sehstörung hindert vorliegend die Annahme eines Blindengeldanspruchs also nicht.

3. Beim Kläger ist Blindheit jedoch nicht nachgewiesen.

Es liegt weder Lichtlosigkeit gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG vor noch sind die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 und 2 BayBlindG erfüllt. Es ist nicht zur Gewissheit des Senats dargelegt, dass der Kläger das Augenlicht vollständig verloren hätte oder dass die Sehschärfe des Klägers entsprechend der gesetzlichen Vorgabe auf 1/50 (0,02) oder weniger herabgesunken wäre (Nr. 1 der genannten Vorschrift). Gleiches gilt für eine der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachtende Sehstörung (Nr. 2).

Wie der Senat wiederholt (vgl. z. B. Urteil vom 20.01.2015, Az.: L 15 BL 16/12) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d. h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92).

Wie der Beklagte zutreffend annimmt, hat sich durch die neue Rechtsprechung des BSG (a. a. O.) an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert. Nach der Rechtsprechung des Senats kam es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht (mehr) an, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden (Urteil vom 27.11.2013, Az.: L 15 BL 4/11). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden (vgl. Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, S. 134, 135: keine allgemeine „Entwarnung“).

a) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann der Kläger den Nachweis nicht führen, dass sein Sehvermögen unterhalb der gesetzlichen Blindheitsschwelle liegt. Dies ergibt sich bereits ohne Weiteres aus dem - mit Ausnahme der vom Sachverständigen getroffenen „persönlichen Einschätzung“ plausiblen - Gutachten vom Prof. Dr. G. vom 11.07.2012. Der Senat macht sich die getroffenen sachverständigen Feststellungen (mit der genannten Ausnahme) zu eigen. Entsprechend den nachvollziehbaren Darlegungen von Prof. Dr. G. hat der Kläger das Augenlicht nicht vollständig verloren, was sich bereits aus Untersuchungen mit dem Bonnoskop ergeben hat. Nach den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen kann nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob die Beeinträchtigungen des Klägers so groß sind, dass sie selektiv das Sehvermögen so weit herabsetzen, dass dieses einem Visus von 1/50 oder weniger entspricht. Wie Prof. Dr. G. im Einzelnen dargelegt hat, ist die Angabe einer Sehschärfe des Klägers - auch eines Näherungswertes - und somit eine Einschätzung des Sehvermögens nicht sicher möglich. Die eingeschränkte Pupillenmotorik des Klägers legt eine hochgradige Sehbeeinträchtigung nahe; allerdings ist entsprechend den Feststellungen des Gutachters der Sehnerv auf beiden Augen vital und zeigt keinerlei Zeichen einer Atrophie. Eine direkte Läsion des Sehnervs oder eine solche der hinteren Sehbahn als alleinige Ursache für eine Visusherabsetzung ist sehr unwahrscheinlich, weil eine Läsion dort, wie Prof. Dr. G. plausibel dargestellt hat, durch eine sogenannte transsynaptische Degeneration zu einer Aufhellung des Sehnervs führen würde, die beim Kläger aber nicht zu erkennen ist. Wegen der aufgehobenen bzw. stark beeinträchtigten Kooperationsbereitschaft des Klägers ist eine Klärung des Sehvermögens durch den Einsatz von Messverfahren nicht möglich. Somit beruht die Einschätzung des Sehvermögens ausschließlich auf Reaktionen des Klägers auf angegebene Optotypen oder Lichtreize. Dies ist jedoch nicht ausreichend, um mit Sicherheit sagen zu können, ob das Sehvermögen 1/50 oder weniger oder vielleicht auch ein 1/20 oder weniger beträgt, wie der Sachverständige ausdrücklich klargestellt hat. Somit kann der Blindheitsnachweis nicht geführt werden, da eine Quantifizierung und Qualifizierung des Sehvermögens an den allgemeinen Beeinträchtigungen des Klägers und auch an den weiteren vorliegenden medizinischen Besonderheiten scheitert.

Hinzu kommt, dass, wie aufgrund des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme feststeht, kein objektiver Strukturbefund gegeben ist, der die massive Sehstörung bzw. eine mögliche Blindheit des Klägers erklären könnte. Wie der Beklagte zudem zutreffend darauf hingewiesen hat, gilt Entsprechendes auch für eine plausible Grunderkrankung, die zu einer Aufhebung des Sehvermögens führen würde.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Kläger gezeigten Sehleistungen. Der Klägerseite ist durchaus zuzugestehen, dass vorliegend lediglich Untersuchungsergebnisse gegeben sind, die im Wesentlichen nur basale Reaktionen im Bereich des Sehens beschreiben. Der Rückschluss der Klägerseite hieraus, der Kläger könne auch nur noch diese basalen Reaktionen zeigen, weil er zu weiteren visuellen Leistungen nicht (mehr) in der Lage sei, ist jedoch unzulässig. Denn, worauf auch der Beklagte zu Recht hingewiesen hat, „eine fehlende oder nicht adäquate Reaktion auf optische Reize“ kann „nur dann als Beleg für Blindheit gewertet werden, wenn bei erhaltener - teilweiser - Untersuchbarkeit eine zuverlässige reproduzierbare Kommunikation mit dem sehbehinderten Menschen möglich ist“ (vgl. Braun, a. a. O., S. 134). Für den Senat bleibt letztlich nicht aufklärbar, auf welchen Ursachen die sehr eingeschränkten Reaktionen im Bereich des Sehens beruhen; auf den fehlenden morphologischen Befund ist bereits hingewiesen worden.

Der Blindheitsnachweis ist im Übrigen auch keineswegs durch die abschließende Äußerung des Sachverständigen in seinem Gutachten geführt, er persönlich gewichte die Sehstörung des Klägers als so komplex und ausgeprägt, dass er sie mit einer faktischen Erblindung vergleichen würde. Diese „persönliche Einschätzung“, die bereits per se unzulässig ist, beruht nämlich auf der falschen, ausdrücklich geäußerten Annahme, die Frage nach einer Erblindung sei eine „reine Ermessensfrage“. Auch wenn dies sicherlich nicht im juristischen Sinn gemeint gewesen sein dürfte, so geht sie doch von der falschen Grundannahme aus, dass das Herabsinken des Sehvermögens unter die gesetzlich normierte Blindheitsschwelle des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG auch anhand sonstiger, nicht genau definierter Kriterien bestimmt bzw. angenommen werden könne. Dies ist unzutreffend.

Zwar hat der Senat in seinem Urteil vom 31.01.2013 (Az.: L 15 BL 6/07) im Einzelnen dargelegt, dass in besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder die Annahme von Blindheit auch außerhalb der normierten Fallgruppen der VG (bzw. der Richtlinien der DOG) nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Damit bedarf es in speziellen, seltenen Ausnahmefällen durchaus einer gewissen Wertung des medizinischen Sachverständigen, ob trotz der noch besseren Sehschärfe- und Gesichtsfeldwerte wegen zusätzlicher Einschränkungen der Sehleistung - also wegen der (nahezu) zwingenden Vergleichbarkeit des gemäß den gesetzlichen Vorgaben weitgehend eingeschränkten Visus/Gesichtsfelds einerseits mit der Situation von geringeren Einschränkungen (die jedoch immer noch erheblich sind) zuzüglich weiterer massiver Einschränkungen andererseits - der Fall des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Ziff. 2 BayBlindG gegeben ist.

Ein solcher Fall liegt hier aber gerade nicht vor. Denn die Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit ausnahmsweise außerhalb der normierten Fallgruppen der VG bzw. DOG sind vorliegend nicht gegeben. Sie bestehen nämlich vor allem darin, dass die (Nicht-)Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 1 und 2 BayBlindG geklärt ist, dass also feststeht, ob das Sehvermögen unter die normierten Werte herabgesunken ist bzw. welche Werte im Einzelnen erreicht werden. So liegt es vorliegend jedoch gerade nicht, da, wie oben im Näheren dargelegt, nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, welches Sehvermögen der Kläger überhaupt hat. Es genügt jedoch nicht, dass nur feststeht, dass der Kläger ein sehr schlechtes Sehvermögen hat. Dies würde den vom bayerischen Gesetzgeber gemachten und von den VG bzw. den sachverständigen Festlegungen der DOG konkretisierten Vorgaben (s.o.) widersprechen. Der Gesetzgeber hat gerade keine hochgradige Sehbehinderung mit Werten unterhalb der hier maßgeblichen Grenze ausreichen lassen (kein Blindengeld für „beinahe blinde Menschen“). Die Wertung des Sachverständigen betrifft vorliegend also gar nicht die zusätzliche Berücksichtigung spezieller, weiterer Sehbeeinträchtigungen, sondern die Visus- und Gesichtsfeldwerte selbst. Dies ist nach der o.g. Rechtsprechung des Senats aber nicht zulässig.

Im Übrigen widerspricht die persönliche Gewichtung von Prof. Dr. G. - unabhängig von den eben aufgezeigten Aspekten bezüglich der Senatsrechtsprechung vom 31.01.2013 (a. a. O.) - seiner eigenen unmissverständlichen Feststellung, dass das Ausmaß der Sehbeeinträchtigung des Klägers eben nicht genau festgestellt werden kann.

b. Auch eine visuelle Verarbeitungsstörung ist nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.08.2015, a. a. O.) ist jedenfalls in den Fällen zerebraler Schäden ferner auch zu prüfen, ob die Fähigkeit zur „Verarbeitung im Bewusstsein“ des sehbehinderten Menschen beeinträchtigt bzw. aufgehoben ist. Ein solcher Nachweis kann vorliegend ebenfalls nicht geführt werden. Auch insoweit fehlt das morphologische Korrelat. Zudem ergibt auch das klinische Bild des Klägers vorliegend keine Belege und vor allem keinen sicheren Nachweis dafür, dass das Vermögen des nicht bewusstlosen Klägers, visuelle Reize zu verarbeiten, aufgehoben wäre. Insbesondere kann nicht sicher geklärt werden, weshalb der Kläger nur auf Lichtreize (schwach) reagiert. Neben einer visuellen Verarbeitungsstörung können auch sonstige Ursachen hierfür maßgeblich sein. Für den Senat liegen insoweit eine mangelnde Kooperationsbereitschaft (Motivationsstörung), worauf der Sachverständige hingewiesen hat, bzw. Defizite in den kognitiven Bereichen der Aufmerksamkeit (Wachsamkeit und Konzentration) und Gedächtnis als Ursachen sehr nahe (vgl. Braun/Zihl, a. a. O.).

Somit sind keine sicheren Anhaltspunkte für eine Verarbeitungsstörung gegeben, was im Hinblick auf die (weitgehend) unklare Grundproblematik der schweren Gesundheitsstörungen des Klägers nicht überrascht.

Aus Sicht des Senats ist es zwar nicht auszuschließen, dass der Kläger die Blindheitsschwelle des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG unterschritten hat. Dafür fehlt es aber jedenfalls am notwendigen Beweis. Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt - wie oben bereits erwähnt - der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z. B. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., SGG, 11. Aufl., § 103, Rdnr. 19a, mit Nachweisen der höchstrichterlichen Rspr.). Der Kläger muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen tragen, dass eine (große) Ungewissheit bezüglich der für ihn - rechtlich, d. h. für den geltend gemachten Anspruch - günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen der Voraussetzungen der Blindheit gemäß Art. 1 Abs. 2 BayBlindG trägt der sehbehinderte Mensch die objektive Beweislast. Beweiserleichterungen gelten vorliegend nicht (vgl. Urteil des BSG vom 11.08.2015, a. a. O.; ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. auch Braun, a. a. O.).

Der Senat hat alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Gesichtspunkte, die zu weiteren Ermittlungen hätten veranlassen müssen, sind nicht erkennbar. Auch die Klägerseite hat die Auffassung vertreten, dass offenkundig keine weiteren Aufklärungsmöglichkeiten bestehen (Schriftsatz vom 20.07.2012).

Diesem vorliegend gefundenen Ergebnis steht auch nicht die frühere Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 27.11.1997, Az.: L 15 BL 10/96) entgegen. Damals hat der Senat einem Kleinkind, bei dem naturgemäß eine genaue Untersuchung nicht möglich war und das später eine Sehschärfe von 0,3 erreicht hat, Blindengeld zugesprochen. Er hat in der Begründung ausgeführt, dass die fehlenden Möglichkeiten apparativer Untersuchung einen gerichtlichen Sachverständigen nicht daran hindern können, seine ärztliche Erfahrung in die Beurteilung einzubringen und in Verbindung mit den vorliegenden Befunden daraus zu schließen, dass die Anspruchsvoraussetzungen für einen gewissen Zeitraum gegeben sind. Daraus ist abgeleitet worden, dass die Funktionsbestimmung gerade im Kindes- und Kleinkindalter unsicher sein könne und dass am besten entsprechende Nachuntersuchungen erfolgen sollten (z. B. Rohrschneider, Augenärztliche Begutachtung im sozialen Entschädigungs- und Schwerbehindertenrecht und bei Blindheit, in: MedSach, 1/2012, S. 9). Bereits hieraus wird aber deutlich, dass die Sachlagen nicht vergleichbar sind. Zwar ist auch vorliegend eine genauere Untersuchung nicht möglich. Der Senat hat jedoch in der damaligen Entscheidung auf eine rückschauende Beurteilung und die später gewonnenen Erkenntnisse, d. h. die später erhobenen genaueren Befunde abgestellt. Solche liegen im streitgegenständlichen Fall aber gerade nicht vor.

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. September 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über das Ende der Krankenversicherungspflicht des Klägers als Student.

2

Der 1963 geborene Kläger befindet sich seit März 1996 in fachärztlich-psychotherapeutischer Behandlung. Im Mai 2006 wurden bei ihm ein Asperger-Syndrom und eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Bereits im März 1983 hatte er ein Hochschulstudium aufgenommen, welches er auf ärztlichen Rat hin im Alter von 33 Jahren zum Wintersemester 1996/1997 abbrach, um ein Studium der Rechtswissenschaften zu beginnen. Nachdem die beklagte Krankenkasse den Kläger aufgrund seiner Erkrankung seit 1983 durchgehend als pflichtversicherten Studenten geführt hatte, stellte sie mit Bescheid vom 9.6.2009 das Ende der Versicherungspflicht zum 30.9.2009 fest.

3

Das SG hat die nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 31.8.2009) erhobene Klage abgewiesen: Ein Fortbestand der Versicherungspflicht als Student über die gesetzliche Höchstgrenze von 14 Fachsemestern bzw der Vollendung des 30. Lebensjahres hinaus setze für den nicht zeitgerechten Studienabschluss ursächliche Hinderungsgründe voraus. Träten Hinderungsgründe erst zu einem Zeitpunkt nach Erreichen dieser Höchstgrenze auf, sei die notwendige Ursächlichkeit denknotwendig ausgeschlossen. Deshalb könne der Kläger trotz seiner Erkrankungen bzw Behinderungen allenfalls bis zur Vollendung seines 41. Lebensjahres als Student versicherungspflichtig sein. Als Hinderungszeit komme wegen des Kausalitätserfordernisses nämlich maximal ein Zwölf-Jahres-Zeitraum - entsprechend der typischen Zeit zwischen Abitur und Vollendung des 30. Lebensjahres - in Betracht. Dieses Ergebnis verstoße weder gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes zugunsten behinderter Menschen noch gegen die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), da es der Gesetzgeber behinderten Studenten ermöglicht habe, die in § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V genannten Grenzen deutlich zu überschreiten und die vom Kläger angestrebte, über einen bloßen Nachteilsausgleich hinausgehende Kompensation nach der UN-BRK nicht geboten sei(Urteil vom 26.1.2010).

4

Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und ergänzend zur Begründung des SG ua ausgeführt, dass § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V auch ohne ausdrückliche Nennung eine Grenze für die Verlängerung der Höchstdauer der Versicherungspflicht als Student immanent sei(Urteil vom 29.9.2011). Die vom SG angewandten Grundsätze fußten auf der Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 8).

5

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V, § 45 Abs 2 S 1 SGB X, Art 25 UN-BRK sowie mehrerer Artikel des GG. Nach dem Wortlaut des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V, der Rechtsprechung des BSG und verschiedener Instanzgerichte der Sozialgerichtsbarkeit sowie der herrschenden Meinung im Schrifttum sei die Versicherungspflicht als Student entgegen der Ansicht der Beklagten und der Vorinstanzen nicht generell auf das 41. Lebensjahr begrenzt. Der abweichenden Ansicht von Peters (Kasseler Komm, § 5 SGB V, Stand Einzelkommentierung Juli 2010, RdNr 101, Stand Einzelkommentierung aktuell Mai 2014, RdNr 105) könne nicht gefolgt werden. Nach der abschließenden und lückenlosen gesetzlichen Regelung richte sich die Dauer der Versicherungspflicht als Student vielmehr ausschließlich nach den Umständen des Einzelfalls. § 45 Abs 2 S 1 SGB X sei hier unzutreffend unbeachtet geblieben, weil er sein Studium nur im Vertrauen darauf weitergeführt habe, von Studiengebühren befreit und als Student krankenversicherungspflichtig zu sein. Art 25 UN-BRK könne deshalb verletzt sein, weil eine Gesundheitsversorgung außerhalb der streitigen Versicherungspflicht für ihn nicht im Sinne der Konvention "erschwinglich" sei; wegen ausstehender Beiträge zur - ihm stattdessen seit 1.10.2009 aufgebürdeten - freiwilligen Krankenversicherung werde bei ihm bereits zwangsvollstreckt. Art 3 Abs 3 S 2 GG sei verletzt, weil die Beendigung der Versicherungspflicht als Student ihn gegenüber Nichtbehinderten und Behinderten ungerechtfertigt benachteilige, deren Versicherungspflicht nicht in Zweifel gezogen werde. Darüber hinaus lägen Verstöße gegen das Willkürverbot (Art 3 Abs 1 GG) und den Grundsatz "nulla poena sine culpa" (Art 1 Abs 1 iVm Art 2 Abs 1 GG) wegen ihm (dem Kläger) persönlich zugerechneter Folgen von ärztlichen Behandlungsfehlern vor. Zudem werde seine "Teilhabe gemäß Art 12 Abs 1 GG" verletzt, weil in seinem Fall ein Studium für den Eintritt in den Arbeitsmarkt alternativlos sein dürfte. Die Beendigung der Versicherungspflicht missachte auch Art 1 Abs 1 GG wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde durch die nicht ermöglichte Teilhabe am Arbeitsleben. Schließlich sei der diskriminierungsfreie Zugang auch eines über Vierzigjährigen zu den Hochschulen durch Art 13 Abs 2 Buchst c des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WiSoKuPakt) grundsätzlich gewährleistet.

6

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. September 2011 und des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Januar 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2009 aufzuheben und festzustellen, dass er über den 30. September 2009 hinaus als Student versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten ist.

7

Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

8

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet.

10

Das LSG hat zu Recht das die Klage abweisende erstinstanzliche Urteil bestätigt, weil der streitige Bescheid der Beklagten vom 9.6.2009 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2009) nicht rechtswidrig ist, soweit darin das Ende der Versicherungspflicht des Klägers als Student zum 30.9.2009 festgestellt wird; über diesen Streitgegenstand hat der Senat allein zu befinden. Versicherungspflicht als Student bestand jedenfalls nicht über diesen Zeitpunkt hinaus, weshalb sowohl Anfechtungs- als auch Feststellungsantrag des Klägers unbegründet sind. Ein Überschreiten der Altersgrenze der Versicherungspflicht als Student (= Vollendung des 30. Lebensjahres) kann nur durch solche Hinderungsgründe im Sinne von § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V gerechtfertigt sein, die bereits vor Erreichen dieser Grenze vorlagen(hierzu 1.). Das Ende der Versicherungspflicht durfte die Beklagte ohne Verstoß gegen § 45 Abs 2 S 1 SGB X im angefochtenen Bescheid feststellen(hierzu 2.). Ein Anspruch des Klägers auf Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als Student besteht weder nach Art 25 UN-BRK noch nach Art 13 WiSoKuPakt (hierzu 3.). Die Auslegung des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V durch den Senat verstößt weder gegen spezielle Diskriminierungsverbote zugunsten von Menschen mit Behinderungen in internationalen Verträgen oder im Grundgesetz(hierzu 4.) noch gegen andere Vorschriften des Grundgesetzes (hierzu 5.).

11

1. Die Versicherungspflicht des Klägers als Student bestand nicht über den 30.9.2009 hinaus.

12

Nach § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 1 SGB V(idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vom 20.12.1991, BGBl I 2325) sind - unter im vorliegenden Fall nicht relevanten weiteren Voraussetzungen - in der GKV versicherungspflichtig Studenten, die an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind, "bis zum Abschluss des 14. Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres"; Studenten nach Abschluss des 14. Fachsemesters oder nach Vollendung des 30. Lebensjahres sind nach Halbs 2 der Bestimmung "nur versicherungspflichtig, wenn die Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe, insbesondere der Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des Zweiten Bildungswegs, die Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigen".

13

Der Senat braucht vorliegend nicht zu entscheiden, ob an seiner früher geäußerten Auffassung festzuhalten ist, trotz des eine "Überschreitung" verlangenden Wortlauts des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V, könne Versicherungspflicht als Student unter Umständen auch bei Aufnahme eines Studiums erst nach Vollendung des 30. Lebensjahres vorliegen (BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 8 S 30 ff; kritisch zB Klose in Jahn, SGB V, Stand Einzelkommentierung 30.6.2011, § 5 RdNr 135). Jedenfalls war die Versicherungspflicht des Klägers als Student hier mit Ablauf des 30.9.2009 beendet; das hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid im Ergebnis zutreffend festgestellt. Das Bestehen der Versicherungspflicht des Klägers als Student bis zum 30.9.2009 und die diese Versicherungspflicht ggf feststellenden früheren Verwaltungsakte der Beklagten sind nicht Gegenstand des Rechtsstreits.

14

Mit Blick auf die in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 1 SGB V genannte Altersgrenze (= Vollendung des 30. Lebensjahres) konnte Versicherungspflicht des Klägers als Student und eine Mitgliedschaft bei der Beklagten nach Ablauf eines Monats nach Ende des Sommersemesters 1993 (vgl § 190 Abs 9 SGB V, für die Zeit ab 19.5.1995 idF des 3. SGB V-ÄndG vom 10.5.1995, BGBl I 678) wegen Vollendung des 30. Lebensjahres im Juli 1993 nur noch unter den Voraussetzungen des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V fortbestehen. Diese Voraussetzungen lagen nach dem 30.9.2009 nicht mehr vor, denn ein Überschreiten der Altersgrenze des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 1 SGB V kann nur durch solche Hinderungsgründe im Sinne von § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V gerechtfertigt sein, dievor Erreichen dieser Grenze vorgelegen haben. Daraus folgt eine "absolute" Altersgrenze, über die hinaus auch bei fortlaufend vorliegenden Hinderungsgründen die Versicherungspflicht als Student nicht mehr fortbestehen kann. Dies ergibt eine Auslegung der Norm nach dem Wortlaut (hierzu a) und nach dem sich aus der Gesetzeshistorie und der Begründung des Gesetzentwurfs erschließenden Regelungszweck (hierzu b), ohne dass es einer vom Kläger - unter Berufung auf ein vermeintliches "Grundsatzurteil" des SG Hildesheim vom 14.11.1990 (S 2 Kr 62/90 - Breithaupt 1991, 290 f) - als rechtswidrig gerügten (lückenfüllenden) Analogie bedarf. Ebenso wenig bedarf es eines Rückgriffs auf die vom Kläger als ermächtigungslos kritisierten Ausführungen im "Gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Kranken- und Pflegeversicherung der Studenten, Praktikanten ohne Arbeitsentgelt, der zur Berufsausbildung Beschäftigten ohne Arbeitsentgelt und der Auszubildenden des Zweiten Bildungswegs" (Überarbeitete Fassung vom 21.3.2006, Die Beiträge 2006, 669 ff, 746 ff), die als Verwaltungsbinnenrecht ohnehin keine Bindungswirkung für die Gerichte entfalten. Abweichend von der Auffassung der Vorinstanzen und der Beklagten wird diese Höchstgrenze allerdings nicht erst durch die Vollendung des 41. Lebensjahres, sondern bereits durch die Vollendung des 37. Lebensjahres markiert (hierzu c).

15

a) § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V erlaubt kein unbefristetes Hinausschieben des Endes der Versicherungspflicht als Student, soweit und solange (überhaupt) nur Hinderungsgründe vor und/oder während des Studiums vorgelegen haben bzw weiter vorliegen. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm, wonach die dort genannten Sachverhalte "die Überschreitung der Altersgrenze rechtfertigen" müssen. Dem hat der Senat schon in der Vergangenheit entnommen, dass erst nach Vollendung des 30. Lebensjahres vorliegende Hinderungsgründe die Überschreitung der Altersgrenze nicht mehr gerechtfertigt haben können (BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 8 S 30 ff; dem folgend zB Klose in Jahn, SGB V, Stand Einzelkommentierung 30.6.2011, § 5 RdNr 147 aE; Felix in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 5 RdNr 68; Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, Werkstand 02/2013, K § 5 RdNr 389; vgl auch Peters in Kasseler Komm, Stand Einzelkommentierung Mai 2014, § 5 SGB V RdNr 105). Hieran ist entgegen der Ansicht des Klägers festzuhalten.

16

Hätte der Gesetzgeber im Sinne des Klägers die Versicherungspflicht auch nach Überschreiten des 30. Lebensjahres allein in Abhängigkeit vom Vorliegen von Hinderungsgründen als solchem (bzw in der Diktion des Klägers auch Verzögerungsgründen) quasi "unbefristet" bis zum jeweiligen Studienabschluss fortbestehen lassen wollen, so hätte eine an den Studienabschluss anknüpfende Gesetzesformulierung nahegelegen, wonach beispielsweise Versicherungspflicht auch nach Vollendung des 30. Lebensjahres solange besteht, wie ein Studium aufgrund bestimmter Hinderungsgründe nicht abgeschlossen werden kann. Eine Regelung diesen Inhalts enthält das Gesetz jedoch nicht.

17

Nicht zu folgen ist auch dem Argument des Klägers, die Verwendung der Zeitform Präsens für das Verb "rechtfertigen" in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V zwinge zu der Annahme, auchnach Vollendung des 30. Lebensjahres eingetretene Hinderungs- bzw "Verzögerungsgründe" führten zu einer weiteren Verlängerung der Versicherungspflicht. Insoweit verkennt er, dass auch bereits abgeschlossene Sachverhalte eine gegenwärtige Überschreitung der Alters- oder Fachsemestergrenze (befristet) noch rechtfertigen können.

18

Ebenso wenig kann der Ansicht des Klägers beigetreten werden, das Gesetz regele abschließend, dass sich Grenzen der Versicherungspflicht als Student ausschließlich aus den Umständen des Einzelfalls ergäben. Im Gegenteil folgt bereits aus der vorstehend dargestellten Wortlautauslegung, dass § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V eine Höchstgrenze immanent ist, indem er auf das Vorhandensein von Hinderungsgründen abstellt, die zu einer die Versicherungspflicht verlängernden Verzögerung im Studienablauf führten. Dass eine solche Höchstgrenze dort nicht explizit ausgesprochen wird, ist ohne Belang. Denn als Hinderungsgründe kommen ohnehin nur Sachverhalte aus der Zeit zwischen dem regelmäßigen Erwerb einer (Fach-)Hochschulzugangsberechtigung durch den Betroffenen im Alter von etwa 17 bis 19 Jahren einerseits und der Vollendung des 30. Lebensjahres andererseits in Betracht. Diese Hinderungsgründe können nur vor der Aufnahme des Studiums sowie im Studienablauf in der Zeit bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eingetretene Verzögerungen sein; nur solche Hinderungsgründe können überhaupt das Überschreiten dieser Grenze rechtfertigen. Für Verzögerungen im erst dann folgenden weiteren Studienverlauf, die bewirken, dass der Studienabschluss nicht innerhalb der nach dem Studienstand zum Zeitpunkt der Vollendung des 30. Lebensjahres typischerweise noch notwendigen Semesterzahl erreicht werden kann, sind die in der Zeit vor Vollendung des 30. Lebensjahres bestehenden Hinderungsgründe nicht mehr ursächlich.

19

b) Die Existenz einer absoluten Obergrenze der Versicherungspflicht als Student, wie sie sich bereits nach dem Wortlaut des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V ergibt, entspricht auch dem sich aus der Gesetzeshistorie und der Begründung des Gesetzentwurfs erschließenden Regelungszweck der Norm. Der Senat hat schon in seinem Leiturteil vom 30.9.1992 (BSGE 71, 150 = SozR 3-2500 § 5 Nr 4; zur Auslegung des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V im allgemeinen vgl auch die weiteren Urteile vom 30.9.1992 - BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 5 bis 8) unter Hinweis auf die Entwicklung der Versicherung von Studenten in der GKV und die Begründung zum Entwurf des GRG (Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen , BR-Drucks 200/88 = BT-Drucks 11/2237, jeweils S 159 zu § 5) dargelegt, dass es der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des GRG im Jahre 1988 für erforderlich gehalten hat, die beitragsgünstige Versicherung von Studenten zu begrenzen. Dabei hat der Gedanke der Missbrauchsabwehr zwar den Anstoß für die Begrenzung der kostengünstigen Versicherungspflicht als Student gegeben. Diese Begrenzung ist aber nicht auf die Abwehr einer missbräuchlichen Begründung der Versicherung beschränkt, sondern durch die Einführung allgemeiner Schranken in Bezug auf die Höchstdauer der Fachstudienzeit und das Alter des Studenten vorgenommen worden. Zugleich ist die gesetzliche Neuregelung im Zusammenhang mit anderen Maßnahmen zu sehen, mit denen die GKV wieder mehr auf ihren Kern als Beschäftigtenversicherung zurückgeführt worden ist (vgl im Einzelnen BSGE 71, 150, 152 f = SozR 3-2500 § 5 Nr 4 S 13 f).

20

Die Neugestaltung des Versicherungspflichttatbestandes für Studenten im Zuge der Schaffung des GRG diente folglich gerade dazu, die zuvor unabhängig vom Alter bestehende Versicherungspflicht eingeschriebener Studenten der staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen nach § 165 Abs 1 Nr 5 RVO(eingeführt durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten vom 24.6.1975, BGBl I 1536) hinsichtlich der Studiendauer und des Alters zu begrenzen. Die beitragsgünstige Versicherung als Student sollte damit ab 1.1.1989 nicht mehr allen Studenten offenstehen. Statt dessen wurde diese Versicherungspflicht nur noch für einen Zeitraum beibehalten, in dem ein Studium regelmäßig durchgeführt werden kann und typischerweise entweder erfolgreich abgeschlossen oder endgültig aufgegeben wird, nämlich innerhalb von 14 Fachsemestern, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres (vgl bereits BSGE 71, 150 f = SozR 3-2500 § 5 Nr 4 S 11 f). Zwar hat der Gesetzgeber in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V Ausnahmen von dieser Beschränkung vorgesehen, jedoch soll diese Ausnahmeregelung nach der ausdrücklichen Formulierung in der Gesetzesbegründung "eng" ausgelegt werden(Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen , aaO). Dem widerspräche eine - nach Ansicht des Klägers und des von ihm in Bezug genommenen Urteils des SG Hildesheim vom 14.11.1990 (S 2 Kr 62/90 - Breithaupt 1991, 290 f) vermeintlich bestehende - "unbefristete" Verlängerungsmöglichkeit der Versicherungspflicht aufgrund der Ausnahmeregelung ebenso, wie dem an gleicher Stelle dokumentierten Willen, mit der Neuregelung der Versicherungspflicht als Student auch der Tendenz entgegenzuwirken, das Hochschulstudium zu verlängern. Zugleich wäre eine solche Interpretation des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V unvereinbar mit der aufgezeigten Absicht des Gesetzgebers, die GKV auch durch die zeitliche Beschränkung dieses Versicherungspflichttatbestandes wieder mehr auf ihren Kern der Beschäftigtenversicherung zurückzuführen.

21

c) Abweichend von der Ansicht der Vorinstanzen und der Beklagten wird die absolute Altersgrenze für die Versicherungspflicht als Student allerdings nicht erst durch die Vollendung des 41., sondern bereits durch die Vollendung des 37. Lebensjahres markiert. Denn die Altersgrenze des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 1 SGB V ist nicht einfach pauschal um die Dauer von Zeiten hinauszuschieben, in denen während des Zeitraums zwischen dem Alter des regelmäßigen Erwerbs einer (Fach-)Hochschulzugangsberechtigung mit etwa 17 bis 19 Jahren und der Vollendung des 30. Lebensjahres Hinderungsgründe vorgelegen haben, im Extremfall also um 11 bis 13 Jahre, folglich bis zur Vollendung des 41. oder gar 43. Lebensjahres. Ein solches, die Kausalität des Hinderungsgrundes für die Überschreitung der Altersgrenze ungeprüft unterstellendes Verständnis hat der Senat in seiner Rechtsprechung bereits früher abgelehnt (BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 6 S 23). Berücksichtigung finden können vielmehr nur solche Zeiten vor Vollendung des 30. Lebensjahres, in denen Gründe vorlagen, welche (entweder einzeln oder kumulativ) Studenten objektiv daran hinderten, eine Hochschulzugangsberechtigung zum üblichen Zeitpunkt zu erwerben, unmittelbar nach dem Erwerb der Zugangsberechtigung ein Studium aufzunehmen und/oder dieses planvoll und geordnet - also ohne aus den in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V genannten Gründen unvermeidbare Verzögerungen - abzuschließen. Dabei ist für jeden dieser Gründe gesondert zu prüfen, ob und für welche Zeitdauer sie tatsächlich ursächlich für das Überschreiten der Altershöchstgrenze waren (zu Berufsausbildung und mehrjähriger Berufstätigkeit nach einmaliger Nichtzulassung zu einem Studium vgl BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 6).

22

Vor diesem Hintergrund kann eine Versicherungspflicht als Student über die Vollendung des 30. Lebensjahres hinaus wegen der Beschränkung der Ausnahmeregelung des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V auf die Rechtfertigung des Überschreitens des 30. Lebensjahres und des daraus abzuleitenden Ausschlusses der Berücksichtigung von Hinderungs- bzw Verzögerungsgründen nach dessen Vollendung höchstens für diejenige Zeitdauer fortbestehen, die das Gesetz allgemein auch vor Erreichen dieser Altersgrenze als für den Fortbestand des kostengünstigen Krankenversicherungsschutzes unschädlich akzeptiert. Dies ist aber nicht generell ein Studium über elf oder zwölf Jahre bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres, vielmehr markiert die Vollendung des 30. Lebensjahres nur eine zeitliche Obergrenze: In der Ausgangsnorm des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 1 SGB V heißt es nämlich"längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres". Vorausgesetzt wird in der Norm dabei (ebenfalls ungeschrieben) zum einen, dass die Versicherungspflicht als Student maximal überhaupt nur bis zu einem (vorherigen) Studienabschluss bestehen kann. Für dessen Erreichen wird selbst in der Zeit vor Vollendung des 30. Lebensjahres lediglich ein Zeitraum von 14 Fachsemestern, also regelmäßig von sieben Jahren, als ausreichend erachtet und Versicherungspflicht ist grundsätzlich nur für eben diese Dauer vorgesehen.

23

Diese gesetzliche Ausgestaltung des "Regelfalls" muss auch Richtschnur für die Bestimmung des höchstmöglichen zeitlichen Umfangs der Versicherungspflicht für Zeiten nach dem vollendeten 30. Lebensjahr sein: Zuvor aufgetretene und anerkannte Gründe, die ursächlich dafür waren, dass ein Studium bis zum Erreichen der Altersgrenze nicht abgeschlossen werden konnte, können dagegen nicht mehr ursächlich dafür sein, dass ein Studium nicht innerhalb von sieben weiteren Jahren nach Vollendung des 30. Lebensjahres beendet werden kann. Solche Verzögerungen nach dem 30. Lebensjahr können nur auf Gründen beruhen, die nach dem 30. Lebensjahr (ggf weiter) vorliegen bzw neu hinzutreten. Für die "Überschreitung" der Altershöchstgrenze als solche können diese Gründe daher nicht mehr ursächlich gewesen sein. Allein auf die Ursächlichkeit der Überschreitung der Altersgrenze als solche stellt der Verlängerungstatbestand des § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V nach Wortlaut und Regelungszweck aber ab.

24

Die Versicherungspflicht als Student und die darauf beruhende Mitgliedschaft in der GKV endet daher selbst in Extremfällen wie dem vorliegenden, in dem das LSG bei dem Kläger für die gesamte Zeit vom Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung spätestens mit 19 Jahren bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres Hinderungsgründe angenommen hat, spätestens mit Ablauf eines Monats nach Ende des Semesters (vgl § 190 Abs 9 SGB V), in dem der Betroffene das 37. Lebensjahr vollendet. Ob eine solche Beschränkung auch bei atypischen Studiengängen gilt, die ihrer Art nach nicht planmäßig innerhalb von 14 Fachsemestern abgeschlossen werden können, kann vorliegend dahinstehen. Im Falle des Klägers endete die Versicherungspflicht als Student nach den dargestellten Erwägungen - das Ende des Sommersemesters am 30.9.2000 unterstellt - spätestens am 31.10.2000, also weit vor dem streitigen von der Beklagten festgestellten Beendigungszeitpunkt des 30.9.2009.

25

2. Der vom Kläger gegen die Beendigung seines Krankenversicherungsschutzes als Student am 30.9.2009 ins Feld geführte Verstoß gegen § 45 Abs 2 S 1 SGB X liegt nicht vor. Dies gilt schon deshalb, weil durch den - wie oben dargestellt - vorliegend allein angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 9.6.2009 gar kein den Kläger zuvor begünstigender Verwaltungsakt ausdrücklich oder inzident zurückgenommen wurde. Insbesondere kann diesem Bescheid nicht entnommen werden, dass die Beklagte überhaupt schon irgendwann einmal zuvor durch einen Verwaltungsakt die Versicherungspflicht des Klägers über den 30.9.2009 hinaus festgestellt hätte. Dass ein solcher Verwaltungsakt anderweitig ergangen war, hat das LSG nicht festgestellt, ohne dass der Kläger diesbezüglich in seinem Revisionsvorbringen Verfahrensrügen erhoben hat. Für einen derartigen Sachverhalt bestehen auch sonst keine Anhaltspunkte.

26

3. Ein Anspruch des Klägers auf eine kostengünstige Pflichtversicherung in der GKV als Student über den 30.9.2009 hinaus kann unbeschadet dessen nicht aus überstaatlichem Recht hergeleitet werden, weder aus Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK noch aus Art 13 Abs 2 Buchst c WiSoKuPakt.

27

Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK (vom 13.12.2006, Ratifizierungsgesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419, in Kraft seit 26.3.2009 lt Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812) gilt in der deutschen Rechtsordnung im Range eines einfachen Bundesgesetzes (vgl zu Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 18 ff mwN). Sie verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderung eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung zu stellen, wie anderen Menschen. Der Wortlaut der verbindlichen (vgl Art 50 Abs 1 UN-BRK) englischen Fassung "provide" (bzw "fournissent" in der französischen Fassung) verlangt lediglich ein "zur Verfügung stellen" bzw "anbieten". Die Norm gibt damit ihrem Regelungsinhalt nach keinen unmittelbaren Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung; sie bedarf insoweit vielmehr erst einer Ausführungsgesetzgebung und ist in dieser Hinsicht non-self-executing (vgl zu Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK bereits BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 23 ff mwN).

28

Ebenso gibt auch Art 13 Abs 2 Buchst c WiSoKuPakt (vom 19.12.1966, Ratifizierungsgesetz vom 23.11.1973, BGBl II 1569, in Kraft seit 3.1.1976 lt Bekanntmachung vom 9.3.1976, BGBl II 428) dem einzelnen Betroffenen keinen unmittelbaren Anspruch auf Hochschulunterricht; Fragen der Gesundheitsversorgung sind schon überhaupt nicht Gegenstand dieser Norm. Vielmehr erkennen die Vertragsstaaten darin an, dass im Hinblick auf die volle Verwirklichung des Rechts auf Bildung der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss. Dadurch eröffnet Art 13 WiSoKuPakt keine unmittelbaren individuellen Ansprüche, sondern verpflichtet die Vertragsstaaten nur, Schritte zur Verwirklichung des Art 13 WiSoKuPakt vorzunehmen ("obligation to take steps", vgl United Nations, Economic and Social Council, Committee on Economic, Social and Cultural Rights, Implementation of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment No 13, vom 8.12.1999, E/C.12/1999/10, Ziff 43). Mithin bedarf es auch zur Umsetzung dieser Norm einer Ausführungsgesetzgebung; auch sie ist non-self-executing.

29

4. Neben einer aus vermeintlich höherrangigem überstaatlichem Recht nicht herleitbaren Anspruchsberechtigung werden auch spezielle Diskriminierungsverbote zugunsten von Menschen mit Behinderung durch die aufgezeigte Auslegung des Ausnahmetatbestandes in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V nicht verletzt. Dies gilt sowohl in Hinblick auf Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK und Art 5 Abs 2 UN-BRK, als auch auf Art 3 Abs 3 S 2 GG.

30

Ob Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK, auf den sich der Kläger beruft, ein unmittelbar anwendbares spezielles Diskriminierungsverbot enthält (so BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 16 f), braucht der Senat nicht zu entscheiden. Weder ein solches spezielles Diskriminierungsverbot noch das allgemeinere Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK oder Art 3 Abs 3 S 2 GG verhelfen dem Begehren des Klägers zum Erfolg. Ein solches Diskriminierungsverbot wäre - wie dasjenige des Art 5 Abs 2 UN-BRK - allerdings unmittelbar anwendbar (zu letzterem vgl BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54; BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 29; Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 48; Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 246, 250). Nach Art 5 Abs 2 UN-BRK verbieten die Vertragsstaaten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen. Davon umfasst sind alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Im Sinne des Übereinkommens bedeutet "angemessene Vorkehrungen", dass notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen vorgenommen werden, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können (Art 2 UN-BRK). Es braucht hier nicht entschieden zu werden, ob aus Art 5 Abs 2 iVm Art 2 UN-BRK auch ein unmittelbar anwendbarer Anspruch auf angemessene Vorkehrungen folgt, oder ob nach Art 5 Abs 3 UN-BRK lediglich eine nicht im Verhältnis zu betroffenen Bürgern unmittelbar anwendbare Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung besteht, alle geeigneten Schritte zu unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. Auch der weitergehenden Verpflichtung wäre vorliegend durch die Regelung in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V jedenfalls Genüge getan.

31

Ausgehend von den dargestellten Grundsätzen entspricht das unmittelbar anwendbare Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK - wie auch ein mögliches spezielles Diskriminierungsverbot nach Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK - für den Zugang zur Pflichtversicherung in der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art 3 Abs 3 S 2 GG (vgl für das Leistungsrecht der GKV BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 29; BSG SozR 4-2500 § 140f Nr 1). Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 S 2 GG erschöpft sich jedoch nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser Ausschluss nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird (vgl BVerfGE 99, 341, 357; 96, 288, 303; BVerfGK 7, 269, 273; BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 31). Obwohl sie nur im Rang eines Bundesgesetzes steht, kann die UN-BRK dennoch als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte - speziell auch für das Verständnis des Art 3 Abs 3 S 2 GG (so im Ergebnis BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54) - herangezogen werden (vgl BVerfGE 128, 282, 306 = NJW 2011, 2113, RdNr 52; BVerfGE 111, 307, 317; BSG, aaO).

32

Die gesetzliche Beschränkung der Versicherungspflicht als Student nach § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 1 SGB V auf das 14. Fachsemester, längstens auf die Vollendung des 30. Lebensjahres verstößt weder gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungs- noch gegen das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot. Die Beschränkung knüpft nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen (vgl BVerfGE 96, 288, 301) und konventionsrechtlichen Sinne (vgl die Definition in Art 2 UN-BRK) an, sondern für Menschen mit und ohne Behinderung einheitlich an die Zahl der Fachsemester bzw das vollendete 30. Lebensjahr. Soweit sich hieraus eine indirekte Ungleichbehandlung (vgl hierzu zB Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl 2012, Art 3 RdNr 145 mwN) von Menschen mit Behinderung ergeben kann, weil diese aufgrund ihrer Behinderung möglicherweise wesentlich häufiger als andere Menschen daran gehindert sind, ein Studium bis zum regelmäßigen Ende der Versicherungspflicht als Student abzuschließen, wird dieser Nachteil hier gerade durch die Ausnahmevorschrift in § 5 Abs 1 Nr 9 Halbs 2 SGB V kompensiert. Diese Vorschrift soll es nämlich gezielt auch Menschen mit Behinderung (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum GRG, BR-Drucks 200/88 = BT-Drucks 11/2237, jeweils S 159 zu § 5)ermöglichen, für die ua durch die Behinderung gerechtfertigte Zeit über die Grenzen des Halbs 1 hinaus weiterhin in die Versicherungspflicht einbezogen zu sein. Damit wird zugleich dem Förderungsgebot des Art 3 Abs 3 S 2 GG und der nach Art 5 Abs 2 iVm Art 2 bzw Art 5 Abs 3 UN-BRK bestehenden Verpflichtung zu "angemessenen Vorkehrungen" zur Gewährleistung des Genusses von Menschenrechten und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderung entsprochen.

33

Darüber hinaus können - entgegen der Ansicht des Klägers - auch Menschen mit Behinderung keine Versicherungspflicht als Student ohne jede Zeitgrenze verlangen. Vielmehr ist die aus dem Wortlaut des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V abzuleitende absolute Grenze durch die bereits oben unter 1. b) dargelegten weiteren Ziele des Gesetzgebers (= Verkürzung von Studienzeiten, Rückführung der GKV auf ihren Kern) gerechtfertigt. Zugleich steht - wie dargestellt - auch das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot bezüglich der Verpflichtung zu "angemessenen Vorkehrungen" unter dem Vorbehalt einer unverhältnismäßigen oder unbilligen Belastung des Systems. Als eine solche unangemessene Belastung kann es aber entsprechend der nicht zu beanstandenden Einschätzung des Gesetzgebers angesehen werden, wenn Versicherte der GKV unbefristet und dadurch weit über den normalerweise dem Studium gewidmeten Lebensabschnitt hinaus den vollen Leistungsumfang der GKV zu einem sehr günstigen Beitrag in Anspruch nehmen könnten. Zugleich ist die Begrenzung des weiteren Verbleibs in der Versicherungspflicht als Student auf höchstens 14 Semester nach Vollendung des 30. Lebensjahres auch unter Typisierungsgesichtspunkten hinzunehmen. Der Gesetzgeber durfte berechtigterweise erwarten, dass der Großteil der Studierenden, bei denen vor Vollendung des 30. Lebensjahres Hinderungsgründe auftraten, innerhalb dieser Frist ihr Studium würde abschließen können. Eine über den üblicherweise dem Studium gewidmeten Lebensabschnitt hinausgehende, umfassende Versicherungspflicht für alle Studierenden war - gerade auch wegen der hiermit verbundenen Missbrauchsgefahr - seit Schaffung des GRG ausdrücklich nicht mehr gewollt.

34

5. Auch die weiteren vom Kläger gerügten vermeintlichen Verstöße gegen das GG liegen nicht vor.

35

a) Eine Verletzung von Art 3 Abs 1 GG "als Verstoß gegen das Willkürverbot" durch eine Auslegung des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V im Sinne des Vorhandenseins einer absoluten Altersgrenze ist nicht ersichtlich. Willkürlich ist ein Richterspruch nach der Rechtsprechung des BVerfG nämlich nur dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. (Vermeintlich) fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl BVerfGE 87, 273, 278 f; 89, 1, 13; 96, 189, 203; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 7.5.2014 - 1 BvR 3571/13, 1 BvR 3572/13 - NZS 2014, 661, 662). Dass die vom Kläger kritisierte Auslegung des § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V bereits dem Wortlaut der Norm entspricht und durch andere anerkannte Methoden der Gesetzesauslegung bestätigt wird, ist oben unter 1. ausführlich dargelegt worden.

36

b) Soweit der Kläger sich in seinem Grundrecht auf freie Berufswahl (Art 12 Abs 1 S 1 GG) verletzt fühlt, ist darauf hinzuweisen, dass der Senat bereits früher entschieden hat, dass eine solche Verletzung durch § 5 Abs 1 Nr 9 SGB V nicht in Betracht kommt(BSG SozR 3-2500 § 5 Nr 5 S 19): Die krankenversicherungsrechtliche Regelung über die Begrenzung der Versicherungspflicht als Student hat keinen die Berufswahl unmittelbar regelnden Charakter. Im Recht der GKV, insbesondere in der ursprünglich vorbehaltlos eingeführten Versichersicherungspflicht für Studenten, konkretisiert sich nicht das Recht auf freie Berufswahl mit der Folge, dass der Gesetzgeber diese einmal eingeführte beitragsgünstige Regelung uneingeschränkt hätte aufrechterhalten müssen (vgl ähnlich zur Leistungseinschränkung bei Unterhalts- und Übergangsgeld BVerfGE 76, 220, 247 = SozR 4100 § 242b Nr 3).

37

c) Auch eine vermeintliche Verletzung der Menschenwürde (Art 1 Abs 1 GG) des Klägers wegen der Verweigerung von Teilhabe am Arbeitsleben kann nicht bejaht werden. Zwar verbinden sich nach der Rechtsprechung des BSG die soziale Grundrechtsgewährleistung aus Art 1 und Art 2 GG und die Berufsfreiheit dahin, dass Art 12 Abs 1 GG die inhaltlich maßgebenden Direktiven für die Auslegung der eingeräumten Leistungsrechte zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben zu entnehmen sind (BSGE 66, 275, 281 f = SozR 3-4100 § 56 Nr 1). Insoweit finden diese Rechte eine Konkretisierung in § 33 SGB IX, auf den sich auch der Kläger in diesem Zusammenhang bezieht. Gegenstand dieser Teilhaberechte ist aber nicht die Versicherungspflicht als Student in der GKV als solche; vielmehr sind die Kosten des Krankenversicherungsschutzes während eines im Sinne des Teilhaberechts erforderlichen Studiums eine Frage des Förderungsumfangs in diesem Rechtsgebiet.

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d) Schließlich liegt gleichfalls die vom Kläger gerügte Verletzung von Art 1 Abs 1 und Art 2 Abs 1 GG durch eine gegen den Grundsatz "nulla poena sine culpa" vermeintlich stattfindende Zurechnung von Folgen von Behandlungsfehlern nicht vor. Der Kläger verkennt, dass das Ende der Versicherungspflicht in der GKV als Student kein Verschulden voraussetzt und erst nach Vollendung des 30. Lebensjahres vorliegende Hinderungsgründe gänzlich unabhängig von der Frage eines - in welcher Hinsicht auch immer zu konkretisierenden - "Verschuldens" des Studenten generell nicht mehr zu einem Aufschub des Endes der Versicherungspflicht führen.

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6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt.

(2) Ist in einem Rechtsstreite zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechtes Bestandteil des Bundesrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Artikel 25), so hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen.

(3) Will das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes oder des Verfassungsgerichtes eines anderen Landes abweichen, so hat das Verfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.