Bundesgerichtshof Beschluss, 04. Dez. 2012 - 4 StR 405/12

bei uns veröffentlicht am04.12.2012

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 405/12
vom
4. Dezember 2012
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schwerer Brandstiftung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 4. Dezember 2012
gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 13. Juli 2012 wird als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Brandstiftung und versuchten Betrugs unter Einbeziehung einer anderweit verhängten Freiheitsstrafe von zwei Monaten zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
2
Der Ausführung bedarf nur Folgendes:
3
1. Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2012 mitgeteilt, dass bei dem Angeklagten am 1. Oktober 2012 ein Tumor im Schädelbereich diagnostiziert worden sei; nach Auskunft des leitenden Stationsarztes des Justizvollzugskrankenhauses sei dieser Tumor über Jahre hinaus gewachsen mit der Folge, dass der Angeklagte „während der mündlichen Verhandlungen" verhandlungsunfähig gewesen sei. Es werde die Einholung eines ärztlichen Gutachtens beantragt.
4
2. Der Senat hat keinen Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des – verteidigten (dazu BVerfG NStZ 1995, 391, 392) – Angeklagten und sieht auch keinen Anlass, im Freibeweisverfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Januar 1996 – 4 StR 741/95, BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 16) ein Sachverständigengutachten einzuholen.
5
a) Für die Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne genügt es grundsätzlich, dass der Angeklagte die Fähigkeit hat, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen (BGH, Beschlüsse vom 8. Februar 1995 – 5 StR 434/94, BGHSt 41, 16, 18, und vom 20. April 2004 – 1 StR 14/04, bei Becker NStZ-RR 2005, 261; HK-Julius, StPO, 5. Aufl., § 205 Rn. 4).
6
Ausweislich des Protokolls über die Hauptverhandlung zeigte sich der Angeklagte jederzeit in der Lage, sich sachgerecht zu verteidigen; er äußerte sich umfänglich zu den Tatvorwürfen. Weder aus den Urteilsgründen noch aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergibt sich irgendein Hinweis darauf, dass Bedenken hinsichtlich der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten bestanden haben oder hätten bestehen müssen. Er hat aktiv an der Verhandlung mitgewirkt , indem er ausführliche Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen und zur Sache gemacht hat:
7
Der Angeklagte hatte, nachdem er im Ermittlungsverfahren noch jegliche Beteiligung an dem Brand abgestritten hatte, in der Hauptverhandlung bei seiner Vernehmung zur Sache eine substantiierte Einlassung vorgebracht, mit der er belegen wollte, das Feuer fahrlässig verursacht zu haben. Dabei „offenbarte der Angeklagte ein beeindruckendes Detailwissen bezüglich derjenigen Umstände , die ihm erwähnenswert schienen.“ Nachfragen des Gerichts hatte er allerdings unter pauschalem Hinweis auf fehlende Erinnerung abgewehrt. Zwei Verhandlungstage später schob er eine sich in seine bisherige Sachdarstellung einfügende Ergänzung nach, um eine fahrlässige Brandlegung weiter zu untermauern , nachdem der Sachverständige erklärte hatte, dass der zunächst geschilderte Ablauf aus seiner Sicht kaum denkbar wäre. Nachfragen wehrte er wiederum unter Hinweis auf fehlende Erinnerung ab. Auf Seite 16 der Urteilsgründe listet die Strafkammer drei weitere Vorfälle auf, bei denen der Angeklagte sein ursprüngliches Einlassungsverhalten dem weiteren Gang der Hauptverhandlung – in aus seiner Sicht situationsadäquater Weise – angepasst hat. Auch in seinem letzten Wort hat er sich verständig zu den Anträgen der Staatsanwaltschaft geäußert.
8
Wenn während der Verhandlung, die zudem zeitweise in Anwesenheit eines psychiatrischen Sachverständigen stattgefunden hat, das Landgericht keine Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hatte und solche auch von dem Sachverständigen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 1987 – 5 StR 555/87, BGHR StPO vor § 1/Prozesshandlung, Verhandlungsfähigkeit
1) oder dem Verteidiger nicht geäußert wurden, kann die Verhandlungsfähigkeit grundsätzlich auch vom Revisionsgericht bejaht werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Januar 1999 – 1 StR 669/98, bei Kusch NStZ-RR 2000, 38 [unbemerkter „Unterzuckerungsschock“], vom19. Januar 1999 – 4 StR 693/98, NStZ 1999, 258, 259, vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99, NStZ 1999, 526, 527, vom 19. September 2000 – 4 StR 337/00, bei Becker NStZ-RR 2001, 264, und vom 5. Januar 2005 – 4 StR 520/04, NStZ-RR 2005, 149, 150).
9
b) Auch die – anders zu beurteilende – Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten für das Revisionsverfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 1995 – 5 StR 434/94, BGHSt 41, 16; Urteil vom 21. Februar 2002 – 1 StR 538/01, BGHR StPO vor § 1/Verfahrenshindernis, Verhandlungsfähigkeit 5; Beschluss vom 23. Februar 2006 – 4 StR 513/05) ist gegeben. Der Angeklagte hatte die Fähigkeit, über die Einlegung des Rechtsmittels der Revision verantwortlich zu entscheiden; irgendwelche Anhaltspunkte, die eine für die Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit relevante Änderung in der Woche nach Verkündung des Urteils in seiner Anwesenheit belegen könnten, sind nicht ersichtlich und werden auch von dem Verteidiger nicht vorgetragen. Zudem ist nicht zweifelhaft, dass der Angeklagte während der Dauer des Revisionsverfahrens wenigstens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinem Verteidiger über die Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage war.
10
c) Unter den gegebenen Umständen ist der Senat davon überzeugt, dass er die für die Beurteilung notwendigen Tatsachenfeststellungen auf einer hinreichend zuverlässigen Grundlage treffen kann, ohne in dem hier gegebenen Einzelfall ein Sachverständigengutachten über die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten einholen zu müssen (vgl. BVerfG NStZ 1995, 391, 393). Auch der Verteidiger hat in seinem Schriftsatz vom 4. Oktober 2012 keinerlei Anhaltspunkte benannt, die konkret auf eine Verhandlungsunfähigkeit während der erstinstanzlichen Hauptverhandlung oder in dem danach anhängig gewordenen Revisionsverfahren hindeuten würden (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2005 – 2 StR 98/05, NStZ-RR 2006, 42; HK-Julius, aaO).
Mutzbauer Cierniak RiBGH Dr. Franke ist infolge Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert. Mutzbauer
Bender Quentin

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 04. Dez. 2012 - 4 StR 405/12

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 04. Dez. 2012 - 4 StR 405/12

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 302 Zurücknahme und Verzicht


(1) Die Zurücknahme eines Rechtsmittels sowie der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels können auch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist ein Verzicht ausges
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Die Zurücknahme eines Rechtsmittels sowie der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels können auch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist ein Verzicht ausgeschlossen. Ein von der Staatsanwaltschaft zugunsten des Beschuldigten eingelegtes Rechtsmittel kann ohne dessen Zustimmung nicht zurückgenommen werden.

(2) Der Verteidiger bedarf zur Zurücknahme einer ausdrücklichen Ermächtigung.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 14/04
vom
20. April 2004
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. April 2004 gemäß § 349
Abs. 1 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Rottweil vom 20. November 2003 wird als unzulässig verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Angeklagte hat mit Schreiben vom 25. November 2003 - eingegangen beim Landgericht am 28. November 2003 - gebeten, ihm "das Recht zu geben, um Einspruch einzulegen". Er habe angenommen, eine Woche Zeit zu haben, um "Widerspruch" einzulegen. Seine Emotionen seien ihm "über den Kopf gestiegen", so daß er nicht alles verstanden habe. Dieses Schreiben ist als Einlegung der Revision auszulegen. Das Rechtsmittel ist unzulässig. Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt:
"Die Revision ist unzulässig, weil Rechtsanwalt M. als Verteidiger des Angeklagten sowie der Angeklagte selbst ausweislich des beweiskräftigen Protokolls der Hauptverhandlung (§ 274 StPO) im Anschluss an die Verkündung des Urteils auf Rechtsmittel verzichtet haben (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO; Bl. 512 d.A.). Umstände, die Zweifel an der Wirksamkeit des Verzichts begründen könnten, bestehen nicht. Der Angeklagte macht mit seinem Vorbringen, ihm seien die Emotionen über den Kopf gestiegen, so dass er nicht alles verstanden habe (Bl. 541 d.A.), geltend, zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung verhandlungsunfähig gewesen zu sein. Verhandlungsfähigkeit ist die Fähigkeit, in oder außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger Weise zu führen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (Pfeiffer in KK 5. Aufl. Einl. Rdn. 26 m.w.N.). Sie wird in der Regel nur durch schwere körperliche oder seelische Mängel ausgeschlossen; auf die Geschäftsfähigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts kommt es nicht an (BGH NStZ 1983, 280; BGH bei Kusch NStZ 1997, 378; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 3, 16). Ob Verhandlungsunfähigkeit in diesem Sinne vorliegt, ist im Wege des Freibeweises zu prüfen ; der Grundsatz 'in dubio pro reo' gilt hier nicht (BGH a.a.O.). Ein solcher Ausnahmefall liegt schon nach dem Vorbringen des Angeklagten nicht vor, weil allein die Tatsache, dass er zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung emotional aufgewühlt war, nicht in Frage stellt, dass er sich der Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung bewusst war. Auch aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergibt sich kein Hinweis darauf, dass Bedenken gegen die Verhandlungsfähigkeit des
Angeklagten bestanden haben. Er hat während der eintägigen Verhandlung aktiv an der Verhandlung teilgenommen und Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen gemacht (Bl. 505 d.A.). Nach der Erklärung des Vorsitzenden, dass die Kammer für den Fall eines Geständnisses auf keine höhere Gesamtstrafe als zwei Jahre und drei Monate erkennen werde, hat der Verteidiger nach einer Besprechung mit dem Angeklagten erklärt, dass dieser mit der Vorgehensweise einverstanden sei und eine Erklärung für ihn abgegeben (Bl. 506 d.A.). Den Rechtsmittelverzicht hat der Angeklagte nach Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung erklärt. Die Erklärung wurde vorgelesen und genehmigt (Bl. 512 d.A.). Wenn das Landgericht danach keinen Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hatte und solche auch von der Verteidigung nicht geltend gemacht worden sind, so kann diese grundsätzlich auch vom Revisionsgericht ohne Bedenken bejaht werden (vgl. BGH NStZ 1984, 181; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 16). Ein Rechtsmittelverzicht ist grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2002, 114 m.w.N.). Infolge des wirksamen Verzichts ist das Urteil des Landgerichts Rottweil vom 20. November 2003 in Rechtskraft erwachsen. Die dagegen eingelegte Revision ist somit nach § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen."
Dem tritt der Senat bei. Boetticher Schluckebier Kolz Elf Graf

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 337/00
vom
19. September 2000
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 19. September
2000 gemäß § 349 Abs. 1 StPO einstimmig beschlossen:
Die Revision des Beschuldigten gegen das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 16. Dezember 1999 wird als unzulässig verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:


Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision des Beschuldigten ist unzulässig.
Der Beschuldigte hat im Anschluß an die Urteilsverkündung und nach einer Rechtsmittelbelehrung - ebenso wie sein Verteidiger und die Vertreterin der Staatsanwaltschaft - auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil verzichtet. Die Erklärung ist ihm, wie sich aus der Sitzungsniederschrift ergibt , vorgelesen und von ihm genehmigt worden. Damit ist sie bewiesen (§ 274 StPO).
Der Verzicht auf Rechtsmittel kann nicht widerrufen, wegen Irrtums angefochten oder sonst zurückgenommen werden (Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 302 Rdn. 21 m.w.N.); er setzt allerdings Verhandlungsfähigkeit des Erklärenden voraus (BGH NStZ 1999, 526, 527). Ob er verhandlungsfähig
war, ist vom Revisionsgericht im Freibeweisverfahren zu klären (BGH NStZ 1999, 258). Die Verhandlungsfähigkeit ist hier indes zu bejahen:
Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß dem Beschuldigten im Hinblick auf seinen geistigen Zustand die genügende Einsichtsfähigkeit für seine Prozeßhandlung und deren Tragweite gefehlt hätte. Zwar hat das Tatgericht bei dem Beschuldigten eine krankhafte seelische Störung in Form eines paranoiden Wahns festgestellt und die Voraussetzungen des § 20 StGB für die Tatzeit bejaht. Dadurch wird jedoch die nach anderen Grundsätzen zu beurteilende prozessuale Fähigkeit, sich sachgerecht zu verteidigen und Verfahrenshandlungen in ihrer Wirkung und Bedeutung zu erfassen, nicht infrage gestellt. Weder aus den Urteilsgründen noch aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergibt sich irgendein Hinweis darauf, daß Bedenken an der Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten bestanden haben. Er hat aktiv an der Verhandlung mitgewirkt und Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen und zur Sache gemacht. Wenn während der Verhandlung, die in Anwesenheit zweier psychiatrischer Sachverständiger stattgefunden hat, das Landgericht keine Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten hatte und auch solche von dem Verteidiger nicht geäußert wurden, kann die Verhandlungsfähigkeit grundsätzlich auch vom Revisionsgericht bejaht werden (BGH NStZ 1999, 526, 527).
Die trotz wirksamen Rechtsmittelverzichts eingelegte Revision ist unzulässig und muß verworfen werden.
Meyer-Goßner Maatz Kuckein Athing Ernemann

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 538/01
vom
21. Februar 2002
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung am
19. Februar 2002 in der Sitzung vom 21. Februar 2002, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Nack,
Dr. Wahl,
Schluckebier,
Dr. Kolz,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 30. Mai 2001 wird verworfen. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat den nunmehr 90 Jahre alten Angeklagten wegen Mordes und wegen versuchten Mordes – die Taten verübte er 1943 und 1944 als etwa 30jähriger Aufseher des Gestapo-Gefängnisses bei Theresienstadt – unter Freispruch im übrigen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

I.

Der Angeklagte war von 1940 bis 1945 Aufseher in dem in der Nähe von Leitmeritz befindlichen Gestapo-Gefängnis “Kleine Festung” bei Theresienstadt (damaliges Protektorat Böhmen und Mähren). In diesem Zeitraum waren dort über 30.000 Häftlinge – Menschen jüdischer Abstammung, Angehörige von Widerstandsgruppen und Kriegsgefangene – unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht, von denen nachweislich 2.500, wahrscheinlich aber we-
sentlich mehr, ums Leben kamen. Insbesondere gegen Kriegsende entwickelte sich das Gestapo-Gefängnis zu einem Vernichtungslager. 1. Unter dem Lagerkommandanten J. mißhandelte der überwiegende Teil der Aufseher aus Rassenhaß die Häftlinge; die Tötung der Häftlinge “gehörte zum Alltag der Kleinen Festung”; erwähnt seien nur drei vom Landgericht festgestellte Vorfälle: Im Jahre 1943 wurde in einer “jüdischen Zelle” ein provisorischer Galgen aufgebaut. Mehrere Häftlinge mußten sich unter dem Galgen mit einer Schlinge um den Hals auf eine Bank stellen, unter ihnen ein Häftling namens A. . Dessen Sohn wurde sodann befohlen, die Bank wegzustoßen und so seinen Vater zu erhängen. Nachdem der Sohn sich weigerte, mußte er sich selbst mit der Schlinge um den Hals auf die Bank stellen. Die Aufseher zwangen den Vater, die Bank wegzustoßen, so daß sein Sohn erhängt wurde. Im März 1945 wurden zwei Häftlinge, deren Flucht gescheitert war, über mehrere Tage grausam gefoltert. Aufseher banden sie auf leiterähnliche Gestelle und zerschlugen ihnen mit Stöcken die Gliedmaßen. Die um den Gnadentod flehenden Häftlinge blieben mehrere Tage auf den Gestellen hängen. Die Aufseher befahlen sodann anderen Häftlingen, die Mißhandelten zu steinigen. Um die Qualen zu verlängern, sollten mit den Steinen zunächst nur die Beine zertrümmert werden. Schließlich “erbarmte” sich ein Häftling und zertrümmerte mit einem Stein die Schädel der Opfer. An einem kalten Januartag im Jahre 1945 befahl der Lagerkommandant J. zwei jüdischen Häftlingen, sich im Hof nackt auszuziehen. Ein dritter Häftling mußte die beiden nackten Häftlinge unter dem Gejohle der herbeigerufenen Aufseher ± unter denen sich auch der Angeklagte befand ± mit einem
Schlauch so lange mit Wasser bespritzen, bis die um ihr Leben flehenden Opfer schlieûlich zusammenbrachen und an Unterkühlung starben. Insoweit wurde der Angeklagte, dem der Befehl zur Tötung der Häftlinge angelastet worden war, freigesprochen. Das Landgericht konnte ihm weder eine Täterschaft durch aktives Tun oder durch Unterlassen noch eine Beihilfe nachweisen. 2. Der Angeklagte ± er war zur Tatzeit Wachhabender, dem die Wachstube unterstand ± hatte die Ideologie des Rassenhasses verinnerlicht und lieû sich hiervon im Umgang mit den Häftlingen leiten. Er galt unter den Aufsehern als einer der gefürchtetsten und grausamsten, gerierte sich als Herrscher über Leben und Tod und nahm nichtige Anlässe zum Vorwand für Quälereien und Tötungen. Zwei Vorfälle sind Gegenstand seiner Verurteilung.
a) Im September 1943 waren jüdische Häftlinge als Erntearbeiter auf dem Feld zur Blumenkohlernte eingesetzt. Der Angeklagte ± der die Aufsicht führte ± bemerkte, wie ein namentlich nicht bekannter Häftling einen Blumenkohlkopf unter seinem Hemd versteckte. Er schlug mit einem Stock auf den Kopf des Häftlings ein und schoû mindestens zweimal mit (bedingtem) Tötungsvorsatz aus kurzer Entfernung auf den Brust- und Bauchbereich des Gefangenen. Er lieû den Häftling, im Bewuûtsein, ihn getötet zu haben, liegen und entfernte sich. Das weitere Schicksal des Häftlings, dem niemand half, ist nicht bekannt. Diese Tat hat das Landgericht als versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen bewertet und eine Freiheitsstrafe von elf Jahren verhängt.
b) Im September 1944 meldete sich der jüdische Ingenieur H. vom Arbeitseinsatz im sog. ªUrnenkommandoº ± dieses muûte Asche von im Krematorium Bohuvice verbrannten Leichen von Häftlingen in die Eger kippen ± versehentlich nicht bei der Wachstube zurück. Der Angeklagte veranlaûte , daû der Häftling vor die Wachstube gebracht wurde. Er lieû sich einen
Schlagstock aus Haselnuûholz bringen und schlug mehrmals mit voller Wucht auf den Kopf und die Schultern des Häftlings, der reaktionslos kopfüber nach vorne stürzte. Dann trat er mit (bedingtem) Tötungsvorsatz mit seinen Stiefeln dem Gefangenen mehrmals wuchtig gegen dessen Kopf, Hals und Brustkorb. Er befahl anderen Häftlingen, den Miûhandelten in die ªTotenkammerº zu bringen , wo dieser verstarb. Diese Tat hat das Landgericht als Mord aus niedrigen Beweggründen bewertet und eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt.

II.

Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg; der Erörterung bedarf nur folgendes: 1. Die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten in der Tatsacheninstanz hat das von drei Sachverständigen beratene Landgericht im Wege des Freibeweises festgestellt: Der geistige Zustand des Angeklagten ist altersgemäû; eine psychische Störung liegt nicht vor. Allerdings leidet er an körperlichen Gebrechen. Er hat Durchblutungsstörungen, ein Prostatakarzinom, dessen Behandlung eine Osteoporose hervorgerufen hat, und muû infolge von Schluckstörungen pürierte Kost und Flüssignahrung zu sich nehmen. Diesem Zustand hat das Landgericht ± ärztlicher Empfehlung folgend ± dadurch Rechnung getragen , daû die Hauptverhandlung auf zwei Stunden pro Tag mit einer längeren Pause beschränkt wurde. Die ± gleichfalls freibeweisliche ± Überprüfung durch den Senat ergibt, daû der Angeklagte in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht verhandlungsfähig war. Da das Landgericht die Verhandlungsfähigkeit sorgfältig geprüft , daran keinen Zweifel hatte, und da hierbei keine Rechtsfehler erkennbar sind, kann auch das Revisionsgericht ohne Bedenken von der Verhandlungs-
fähigkeit ausgehen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Verhandlungsfähigkeit 1; BGH, Urteil vom 22. Oktober 1992 ± 1 StR 575/92; BGH, Beschlüsse vom 9. November 1993 ± 1 StR 697/93 ±, vom 17. Januar 1995 ± 1 StR 804/94 ± und vom 22. November 2000 ± 1 StR 375/00 ±). Auch die ± anders zu beurteilende ± Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten für das Revisionsverfahren (vgl. BGHSt 41, 16) ist gegeben. Der Angeklagte hatte, aus denselben Umständen, die seine Verhandlungsfähigkeit vor dem Landgericht begründeten, die Fähigkeit, über die Einlegung des Rechtsmittels der Revision verantwortlich zu entscheiden. Zudem ist nicht zweifelhaft, daû der Angeklagte während der Dauer des Revisionsverfahrens wenigstens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinem Verteidiger über die Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage war. Das entnimmt der Senat den vom Landgericht getroffenen Feststellungen und zudem der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der JVA München-Stadelheim vom 2. Januar 2002, die unter anderem durch den Anstaltsarzt Dr. F. , der das Landgericht bei der Frage der Verhandlungsfähigkeit in der Tatsacheninstanz beraten hat, verfaût wurde. Danach hat sich der Zustand des Angeklagten seit seiner Inhaftierung nicht verschlechtert. 2. Die Rüge, das Landgericht habe das Protokoll der kommissarischen Vernehmung des Zeugen L. vor dem österreichischen Bezirksgericht Josefstadt ± an dieser Vernehmung durfte der Verteidiger Dr. W. nicht teilnehmen ± zu Unrecht verwertet, ist schon nicht zulässig erhoben. So wird insbesondere nicht mitgeteilt, ob der Verteidiger der Verwertung (rechtzeitig) widersprochen hat (BGHR StPO § 168c Anwesenheitsrecht 1; BGH, Beschluû vom 20. November 2001 ± 1 StR 470/01). Die Rüge ist jedenfalls unbegründet, da das Landgericht sich ausschlieûlich auf die Bekundungen dieses Zeugen in der
Hauptverhandlung gestützt hat. Zwar wurde dem Zeugen auch das Protokoll seiner kommissarischen Vernehmung vorgehalten, weil er dort mehrere in der Hauptverhandlung bekundete Einzelheiten nicht erwähnt hatte. Für diese Aussageerweiterung in der Hauptverhandlung hat das Landgericht aber eine plausible Erklärung gefunden und sich deshalb allein auf die Aussage in der Hauptverhandlung gestützt. Damit beruht das Urteil nicht auf der kommissarischen Vernehmung. 3. Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Prüfung stand. Das gilt auch für die Überzeugung des Landgerichts von der Zuverlässigkeit der Angaben der Belastungszeugen. Zu beiden Taten hat das Landgericht jeweils einen Augenzeugen der Tat gehört und bei beiden Zeugen sowohl einen Irrtum als auch eine bewuûte Falschaussage rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Zudem wurden deren Angaben durch weitere Beweismittel zumindest mittelbar bestätigt.
a) Die erste Tat hat der damals etwa 17jährige Zeuge K. ± er war damals Gast der Familie, die das Feld bewirtschaftete ± bekundet. Er war von seinem Freund und anderen Dorfbewohnern auf den als besonders brutal bekannten Angeklagten aufmerksam gemacht worden. Auf einer kleinen Anhöhe stehend, hat er aus einer Entfernung von 35 bis 45 Metern plötzlich Geschrei wahrgenommen, dabei die Tat des Angeklagten gesehen, und gehört, wie der Angeklagte ªjüdische Schweine, Schweine, Sauhaufenº brüllte. Er hat den Angeklagten in der Hauptverhandlung wiedererkannt. Dieser Vorfall hatte sich auch im Gestapo-Gefängnis herumgesprochen und der ehemalige Häftling M. hat bekundet, daû davon die Rede war, der Angeklagte habe einen Häftling wegen eines ªblöden Blumenkohlsº erschossen.

b) Die zweite Tat hat der damals etwa 23jährige Häftling M. bekundet , der über ein nahezu fotografisches Gedächtnis verfügt und deshalb präzise Angaben bis hin zu kleinsten Details machen konnte. Dem Zeugen war befohlen worden, auf dem Hof vor der Wachstube ªStrafe zu stehenº, indem er mit ausgestreckten Armen mit dem Gesicht zur Wand Ziegelsteine halten muûte. Dabei konnte er aus einer Entfernung von 15 Metern die Tat beobachten und exakt wiedergeben. Der Zeuge schilderte zudem ein Gespräch zwischen dem Hofkommandanten und den Mitgliedern des ªUrnenkommandosº vom folgenden Tag, aus dem sich der Name des Getöteten ergibt (ªH. hin, H. her, ihr seit jetzt zu fünftº.) Ferner erfuhr der Zeuge nach Kriegsende von einem Mithäftling, dieser habe gesehen, wie der Leichnam des Opfers des Angeklagten in der Leichenverbrennungshalle verbrannt worden sei. 4. Auch die Strafzumessung ist rechtsfehlerfrei. Die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe für den vollendeten Mord war rechtlich geboten. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die als eigenständiger Strafmilderungsgrund zu einer exakt zu bestimmenden Herabsetzung der Strafe führen muû, liegt nicht vor. Auch die lange Verfahrensdauer , der auûergewöhnlich lange Abstand zwischen Tat und Urteil von 56 Jahren und sonstige Milderungsgründe können nicht zu einer auûergewöhnlichen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB führen.
a) Soweit es den Zeitaspekt betrifft, ist zu differenzieren zwischen Verfahrensverlängerungen , die durch rechtsstaatswidrige Verzögerungen der Justizorgane verursacht worden sind, der Gesamtdauer des Verfahrens und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13; BVerfG ± Kammer ±, Beschluû vom 5. Juni 2000 ± 2 BvR 814/00;).
Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes garantiert dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Dieses Prozeûgrundrecht fordert eine angemessene Beschleunigung des Verfahrens (BVerfG ± Kammer ± NJW 1995, 1277; NStZ 1997, 591). Auch Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK garantiert das Recht des Angeklagten auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist. Die ªangemessene Fristº beginnt, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird, und endet mit dem rechtskräftigen Abschluû des Verfahrens. Für die Angemessenheit ist dabei auf die gesamte Dauer von Beginn bis zum Ende der Frist abzustellen und es sind Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen neben dem eigenen Verhalten des Beschuldigten sowie das Ausmaû der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen des Beschuldigten zu berücksichtigen (BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 9 unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1992, 2472; vgl. auch BGH StV 1994, 652; StV 1992, 452). Schon im Hinblick auf das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK normierte Beschleunigungsgebot und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aber auch im Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung müssen aus einem durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Konventionsverstoû Folgen gezogen werden; dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 1, 7; BGH wistra 1992, 66). Diese Folgen bestehen darin, daû die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich
festzustellen und das Maû dieses eigenständigen Strafmilderungsgrundes rechnerisch exakt zu bestimmen ist (BVerfG ± Kammer ± NJW 1995, 1277; NStZ 1997, 591). Unabhängig von dem Strafmilderungsgrund eines Konventionsverstoûes durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kommt auch einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zu, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Dieser Strafmilderungsgrund kann auch dann gegeben sein, wenn die auûergewöhnlich lange Verfahrensdauer sachliche Gründe hatte und von den Strafverfolgungsorganen nicht zu vertreten ist (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13). Schlieûlich ist auch eine lange Zeitspanne zwischen Begehung der Tat und ihrer Aburteilung neben der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der langen Verfahrensdauer ein wesentlicher Strafmilderungsgrund, ohne daû es dabei auf die Dauer des Strafverfahrens ankommt (BGH StV 1992, 452; StV 1994, 652; StV 1998, 377; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6, 13; BGH, Beschlüsse vom 3. März 1993 ± 5 StR 67/93; vom 15. September 1993 ± 5 StR 523/93; und vom 6. November 2001 ± 4 StR 461/01). Die Strafe ist selbst dann zu mildern, wenn die Tat aus tatsächlichen Gründen lange Jahre unbekannt geblieben ist (BGH NStZ 1998, 133). Danach gilt hier: aa) Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung liegt nicht vor. Die Staatsanwaltschaft Dortmund ± Zentralstelle in Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen ± ermittelte schon seit 1970 gegen den Angeklagten wegen der in Theresienstadt verübten Ver-
brechen. Zwar waren die hier abgeurteilten Taten noch nicht bekannt, sie standen jedoch im Zusammenhang mit der Aufsehertätigkeit des Angeklagten und gehörten somit zum selben Ermittlungskomplex. Schon der Umstand, daû zwischen 1979 und April 1999 die Ermittlungen fünfmal eingestellt und ± ersichtlich wegen jeweils neu bekannt gewordener Tatsachen ± wieder aufgenommen worden sind, verdeutlicht, daû die Ermittlungsbehörden bemüht waren, den Sachverhalt mit dem gebotenen Nachdruck aufzuklären. Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die hier abgeurteilten Taten wurden erstmals durch die Aussage des Zeugen K. vor der Staatsanwaltschaft in Prag am 8. Oktober 1999 bekannt. Drei Monate später, am 4. Januar 2000, leitete die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren ein. Nicht ganz ein weiteres Jahr darauf, am 12. Dezember 2000, erhob sie Anklage und schon am 30. Januar 2001 eröffnete das Landgericht das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann drei Monate später, am 23. April 2001, und am 30. Mai 2001 erging das Urteil. Bei diesem Sachverhalt scheidet eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht nur aus; das Verfahren wurde ± im Gegenteil ± seit Bekanntwerden der Taten vielmehr zügig betrieben. bb) Allerdings liegt ± beginnend ab 1970 ± eine überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer des Gesamtkomplexes vor, auch wenn diese sachliche Gründe hatte. Zu den mit diesem Verfahrenskomplex verbundenen Belastungen ± insbesondere den mehrfachen Einstellungen und Wiederaufnahmen der Ermittlungen ± kommen Strafverfahren durch ausländische Behörden hinzu. Der Angeklagte wurde 1948 vom auûerordentlichen Volksgericht in Litomerice in Abwesenheit zum Tode verurteilt; dieses Urteil wurde erst 1969 vom Kreisgericht in Usti Nad Labem in einem Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Graz wurde 1963 wegen un-
bekannten Aufenthalts eingestellt. Diese Umstände hätten sich bei einer zeitigen Freiheitsstrafe mildernd auswirken müssen. cc) Bei einer zeitigen Freiheitsstrafe wäre die lange Zeitspanne zwischen Tat und Aburteilung von fast 60 Jahren gleichfalls ein bestimmender Strafmilderungsgrund gewesen.
b) Die lange Verfahrensdauer, die lange Zeitspanne zwischen Tat und Aburteilung und die Milderungsgründe aufgrund der Lebensumstände des Angeklagten (Gesundheitszustand, Alter und bisherige Straffreiheit) können bei Taten der vorliegenden Art jedoch nicht dazu führen, auûergewöhnliche Umstände anzunehmen, die das Ausmaû der Täterschuld so erheblich mindern, daû anstelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB treten müûte. aa) Das Bundesverfassungsgericht hat am 21. Juni 1977 (BVerfGE 45, 187) entschieden, daû die absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offenbleibt, bei der Subsumtion konkreter Fälle unter die abstrakte Norm zu einer Strafe zu kommen, die mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäûigkeit vereinbar ist. Den konkreten Fall ± ein Polizeibeamter , der mit Rauschgift handelte, hatte den ihn erpressenden Abnehmer heimtückisch und um eine andere Straftat zu verdecken erschossen ± bewertete das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht als so auûergewöhnlich , daû die verwirkte lebenslange Freiheitsstrafe unverhältnismäûig gewesen wäre. Die Entscheidung betraf ªinsbesondereº die Mordmerkmale ªheimtükkischº und ªum eine andere Straftat zu verdeckenº. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesgerichtshof die Aufgabe übertragen, eine Lösung zu finden , die diesen Vorgaben gerecht wird.
bb) Mit Beschluû vom 19. Mai 1981 hat der Groûe Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs (BGHSt 30, 105) mit Hilfe des Kriteriums der ªauûergewöhnlichen Umstände, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als unverhältnismäûig erscheintº, eine Ergänzung der Rechtsfolgenseite des Mordparagraphen vorgenommen. In Heimtückefällen ± dieses Mordmerkmal war Gegenstand des Vorlageverfahrens ± tritt auf der Rechtsfolgenseite des Mordes an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn auûergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaû der Täterschuld erheblich mindern. Im konkret entschiedenen Fall hatte der Angeklagte, dessen Ehefrau von seinem Onkel vergewaltigt worden war, den Onkel, der sich auch noch der Tat berühmt hatte, heimtückisch erschossen. Zu der Frage, in welchen Fällen solche auûergewöhnlichen Umstände anzunehmen sind, hat der Groûe Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs ausgeführt: ªEine abschlieûende Definition oder Aufzählung der in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB führenden auûergewöhnlichen Umstände ist nicht möglich. Durch eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation motivierte, in groûer Verzweiflung begangene, aus tiefem Mitleid oder aus ‚gerechtem Zorn’ auf Grund einer schweren Provokation verübte Taten können solche Umstände aufweisen, ebenso Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund haben.º cc) In solchen Fallgestaltungen hat der Bundesgerichtshof dann in der Folgezeit eine Strafrahmenverschiebung gebilligt bzw. als rechtlich geboten angenommen (NStZ 1990, 490: Heimtückemord durch die Ehefrau, die vom
Ehemann schwer miûhandelt worden war, und die sich in einer ausweglos erscheinenden Situation befand; NStZ 1995, 231: Heimtückemord am gewalttätigen und körperlich überlegenen Erpresser). Hingegen hat der Bundesgerichtshof bei einem Habgiermord (BGHSt 42, 301: ein Arzt hatte eine vermögende Rentnerin getötet) eine Strafrahmenverschiebung abgelehnt: ªIn den Fällen des Mordes wegen Tötung aus Habgier kann die lebenslange Freiheitsstrafe nicht wegen auûergewöhnlicher Umstände im Sinne von BGHSt 30, 105 durch eine zeitige Freiheitsstrafe nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ersetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich bei den Mordmerkmalen der Heimtücke und der Verdeckung einer Straftat eine Kollision mit dem Verhältnismäûigkeitsgrundsatz für möglich gehalten ...º. In einem Fall, bei dem ein Grenzsoldat der DDR einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland, der vom Westen aus die Grenze überschritten hatte, erschoû, hat der Bundesgerichtshof (NStZ-RR 2001, 296) das Mordmerkmal der Heimtücke verneint und auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils selbst auf Totschlag erkannt. Ob die 25 Jahre zurückliegende Tat durch auûergewöhnliche Umstände geprägt war, die eine Strafrahmenverschiebung geboten hätten, bedurfte deshalb ± so der Bundesgerichtshof ± keiner Entscheidung. Beim Heimtücke-Mord am Bülow-Platz im Jahre 1931 (BGHSt 41, 72, 93: Freiheitsstrafe von sechs Jahren) hat der Bundesgerichtshof die Strafmaûrevision der Staatsanwaltschaft verworfen. Er hat dabei offen gelassen, ob an der seitherigen Rechtsprechung, die für die Strafrahmenverschiebung ausschlieûlich auf tatbezogene Umstände abgestellt hat, auch für Ausnahmefälle festzuhalten sei, in denen ± wie im entschiedenen Fall ± zwischen Tat und Urteil mehr als 60 Jahre liegen. Da zweifelhaft war, ob der Angeklagte für eine
erneute Verhandlung vor dem Landgericht verhandlungsfähig sein würde, hätte eine Zurückverweisung der Sache mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Einstellung des Verfahrens geführt. Bei einer solchen Sachlage habe die Rechtskraft Vorrang.
c) Hier kann offen bleiben, ob bei dem täterbezogenen Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe überhaupt eine Strafrahmenverschiebung in Betracht kommen kann. aa) Der Zeitaspekt der langen Verfahrensdauer und der lange zurückliegenden Tatzeit ist in Fällen der vorliegenden Art kein auûergewöhnlicher Umstand , auf Grund dessen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe unverhältnismäûig wäre. Derartige Taten sind durch schwierige Ermittlungen gekennzeichnet, die zu einer langen Verfahrensdauer führen können. Gerade deshalb können die Taten oft erst nach vielen Jahren aufgeklärt werden. Auch aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber zunächst die Verjährungsfristen für die Verfolgung solcher Taten mehrfach verlängert (Berechnungsgesetz vom 14. April 1965 ± BGBl. I S. 315; 9. StrÄndG vom 4. August 1969 ± BGBl. I S. 1065) und schlieûlich die Verjährung von Taten der vorliegenden Art gänzlich beseitigt (16. StrÄndG vom 16. Juli 1979 ± BGBl. I S. 1046). Dem ist zu entnehmen, daû der Gesetzgeber in Kenntnis dieser Umstände ± und auch der typischen Lebensumstände der voraussehbar hochbetagten Angeklagten ± nicht nur eine unverjährbare Verfolgbarkeit , sondern auch keine Milderung der absolut angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord gewollt hat. Dieser gesetzgeberische Wille zeigt sich besonders deutlich daran, daû das 16. StrÄndG zwei Jahre nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977 (BVerfGE 49,
187) beschlossen wurde, ohne daû der Gesetzgeber einen Anlaû sah, die absolute Strafdrohung für Mord zu ändern. bb) Zudem verbietet sich eine Vergleichbarkeit des vorliegenden Falles mit den Fallgestaltungen, bei denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen erheblich geminderter Schuld ± von Verfassungs wegen ± unverhältnismäûig wäre. Schäfer Nack Wahl Schluckebier Kolz

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 513/05
vom
23. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und der Beschwerdeführer am 23. Februar 2006 gemäß §§ 206 a,
349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Angeklagte Halil Ibrahim A. im Fall II.15 der Gründe des Urteils des Landgerichts Darmstadt vom 15. April 2005 wegen Betruges verurteilt worden ist; insoweit hat die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen.
2. Auf die Revision des Angeklagten Halil Ibrahim A. wird der Schuldspruch des vorbezeichneten Urteils dahin geändert, dass dieser Angeklagte des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in zehn Fällen, des Betruges in vierzehn Fällen und des versuchten Betruges in drei Fällen schuldig ist.
3. Die Revision des Angeklagten Faik A. und die weiter gehende Revision des Angeklagten Halil Ibrahim A. werden verworfen.
4. Der Angeklagte Faik A. hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Der Angeklagte Halil Ibrahim A. trägt die übrigen Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten Halil Ibrahim A. wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in zehn Fällen, Betruges in fünfzehn Fällen und versuchten Betruges in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Den Angeklagten Faik A. hat es des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in neun Fällen, Betruges in fünfzehn Fällen und versuchten Betruges in zwei Fällen für schuldig befunden und gegen ihn eine Gesamtfreiheitsstrafe von gleichfalls drei Jahren verhängt. Gegen dieses Urteil wenden sich die Angeklagten mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen.
2
Die Revisionen sind trotz des von beiden Angeklagten erklärten Rechtsmittelverzichts zulässig, da die nach einer Urteilsabsprache erforderliche qualifizierte Rechtsmittelbelehrung unterblieben ist (vgl. BGH NStZ 2005, 389, zum Abdruck in BGHSt 50, 40 bestimmt); die Rechtsmittel erweisen sich indes – die Revision des Angeklagten Faik A. insgesamt, die des Angeklagten Halil Ibrahim A. im Wesentlichen – als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
3
1. Ein von beiden Beschwerdeführern nachträglich geltend gemachtes Verfahrenshindernis fehlender Verhandlungsfähigkeit besteht nicht.
4
a) Soweit der Angeklagte Faik A. seine Verhandlungsfähigkeit bereits für die Zeit während der insgesamt 34tägigen Hauptverhandlung in Frage stellt, ist zwar belegt, dass sich der Angeklagte am 15. März 2005 – zwischen dem 31. und dem 32. Verhandlungstag – in stationäre psychiatrische Behandlung begeben hat und deshalb an dem für den 16. März 2005 anberaumten Fortsetzungstermin nicht erschienen ist. Die Strafkammer hat deshalb – was die Revision nicht mitteilt – an diesem Tag das Verfahren gegen den Angeklagten abgetrennt (Prot. Bd. II Bl. 279 ff.), es dann jedoch bereits am nächsten (vorletzten ) Hauptverhandlungstermin am 6. April 2005, zu dem auch der Angeklagte erneut erschienen war, wieder zum Ursprungsverfahren hinzuverbunden. Zuvor war der Angeklagte psychiatrisch untersucht worden und hatte der an diesem Verhandlungstag gehörte Sachverständige dessen Verhandlungsfähigkeit bestätigt (Prot. Bd. II Bl. 290 ff.). Einwände dagegen wurden weder von dem Angeklagten noch von seinem Verteidiger erhoben. Der Angeklagte hat sodann an der weiteren Hauptverhandlung bis zu deren Ende teilgenommen und sich ausweislich des Protokolls auch durch persönliche Erklärungen beteiligt. Unter diesen Umständen kann, da das Landgericht die Verhandlungsfähigkeit sorgfältig geprüft und sich von deren Gegebensein ohne erkennbaren Rechtsfehler überzeugt hat, auch der Senat von ihrem Vorliegen ausgehen (vgl. BGHR StPO vor § 1/Verfahrenshindernis Verhandlungsfähigkeit 5 m.w.N.).
5
b) Nichts anderes gilt im Ergebnis, soweit beide Beschwerdeführer erstmals nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist ihre Verhandlungsfähigkeit im Revisionsverfahren unter Hinweis auf nachträglich zutage getretene psychische Auffälligkeiten in Frage gestellt haben. Auch unter Zugrundelegung des Vorbringens der Verteidigung liegen die engen Voraussetzungen, unter denen nach der Rechtsprechung ausnahmsweise eine Einstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit im Revisionsverfahren in Betracht zu ziehen sein kann, offensichtlich nicht vor. Der Senat ist vielmehr überzeugt, dass die Beschwerdeführer die Fähigkeit hatten, über die Einlegung ihrer Revisionen verantwortlich zu entscheiden , und sie auch zu einer Grundübereinkunft mit ihren Verteidigern über die Fortführung ihrer Rechtsmittel in der Lage waren, was für die Annahme der Verhandlungsfähigkeit in diesem Verfahrensabschnitt genügt (vgl. BVerfG – Kammer – NStZ 1995, 391; BGHSt 41, 16, 19; BGH, Beschluss vom 18. August 2004 - 3 StR 177/04). Gegenteiliges ist ihrem Vorbringen nicht zu entnehmen und auch sonst nicht ersichtlich. Unter diesen Umständen bestand für die beantragte freibeweisliche Einholung eines Sachverständigengutachtens durch den Senat kein Anlass.
6
2. Die Revision des Angeklagten Halil Ibrahim A. hat nur insoweit Erfolg, als das Verfahren gegen ihn im Fall II. 15 der Urteilsgründe (Unfall vom 26. September 1997) wegen des Verfahrenshindernisses fehlender Anklage einzustellen ist. Die zugelassene Anklage richtet sich in diesem Fall (Fälle 28 der Anklage; SA Bd. III Bl. 444) ausschließlich gegen den Mitangeklagten Faik A. . Auch die Gründe des angefochtenen Urteils weisen insoweit keine Beteiligung des Angeklagten Halil Ibrahim A. aus (UA 38/39).
7
3. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben, wie der Generalbundesanwalt in seinen Antragsschriften vom 1. Dezember 2005 zutreffend ausgeführt hat. Soweit der Angeklagte Faik A. mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 27. Januar 2006 auch Ausführungen zum Verfahren gemacht hat, ist dies Vorbringen infolge Ablaufs der Revisionsbegründungsfrist (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO) verspätet und deshalb unbeachtlich.
8
4. Die Teileinstellung des Verfahrens gegen den Angeklagten Halil Ibrahim A. hat die Änderung des ihn betreffenden Schuldspruchs zur Folge und führt zum Wegfall der von der Einstellung betroffenen Einzelfreiheitsstrafe von elf Monaten. Gleichwohl hat die festgesetzte Gesamtstrafe Bestand. Angesichts der Vielzahl und des Gewichts der verbleibenden Taten sowie der Höhe der dafür ausgeworfenen Einzelfreiheitsstrafen kann der Senat ausschließen, dass der Tatrichter ohne die Einbeziehung dieser Einzelstrafe zu einer milderen Gesamtstrafe gelangt wäre.
9
5. Dem Antrag des Generalbundesanwalts, das Verfahren gegen den Angeklagten Faik A. im Fall 9 b) der Anklage (SA Bd. III Bl. 430) gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen, vermag der Senat nicht zu folgen. Richtig ist zwar, dass insoweit die Anklage nicht erledigt ist. Da sich das angefochtene Urteil zu diesem Anklagesachverhalt aber nicht verhält, ist es dem Revisionsgericht verwehrt, hierüber eine – wie auch immer geartete – Entscheidung, und zwar auch eine solche nach §§ 154, 154 a StPO, zu treffen (BGHR StPO § 352 Abs.1 Prüfungsumfang 4; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 352 Rdn. 2 m.w.N.). Dies ist Aufgabe des Landgerichts, bei dem die Sache insoweit noch anhängig ist.
Tepperwien Maatz Athing Solin-Stojanović Ernemann

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 98/05
vom
19. Oktober 2005
in der Strafsache
gegen
wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19. Oktober
2005, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Prof. Dr. Fischer,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Trier vom 27. Oktober 2004 wird verworfen. Die Angeklagte hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen "Verletzung der Fürsorgepflicht in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in fünf Fällen" zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision der Angeklagten, mit der sie ein Verfahrenshindernis geltend macht sowie die Verletzung formellen und materiellen Rechtes rügt. Die Revision hat keinen Erfolg. I. Ein Verfahrenshindernis liegt nicht vor. Soweit die Revision "allergrößte Zweifel" an der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten hegt, fehlt es hierfür an einem hinreichenden Tatsachenvortrag. Wenn das Landgericht in der Hauptverhandlung ersichtlich keinen Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten hatte und solche von der Verteidigung auch nicht geltend gemacht worden sind, so kann diese grundsätzlich auch vom Revisionsgericht ohne Bedenken bejaht werden (vgl. u.a. BGH,
Beschl. vom 20. April 2004 - 1 StR 14/04; BGH, Beschl. vom 10. Mai 2001 - 1 StR 120/01; BGH, Beschl. vom 27. April 2001 - 3 StR 502/99; BGH NStZ 1984, 181 jeweils m.w.N.). II. Die Verfahrensrügen sind, soweit sie nicht schon unzulässig sind, weil sie nicht in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Form oder verspätet (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO) erhoben wurden, unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Insbesondere drängte sich die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Beurteilung der Schuldfähigkeit der Angeklagten zur Tatzeit nicht auf. III. Die Sachrüge bleibt ebenfalls erfolglos. 1. Die Beurteilung der Konkurrenzen durch den Tatrichter, der möglicherweise der fehlerhaften Auffassung ist, die Verletzung der Fürsorgepflicht verbinde die mehrfachen Misshandlungen von Schutzbefohlenen zu einer Tat, ist rechtlich bedenklich, zumal das Landgericht in drei "Fällen" die Qualifikation des § 225 Abs. 3 Nr. 2 StGB für gegeben erachtet. Bedenken bestehen insbesondere auch deshalb, weil teilweise zwischen den Einzelhandlungen deutliche zeitliche Zäsuren (z.B. fünfwöchiger Krankenhausaufenthalt des Kindes) bestanden und weil es teilweise ganz erhebliche Körperverletzungen waren, die auch unter Berücksichtigung, dass das Tatbestandsmerkmal "Quälen" typischerweise mehrere Handlungen voraussetzt (vgl. BGHSt 41, 113 f.), nicht ohne weiteres die Annahme nur einer Tat rechtfertigen. Die Frage kann hier aber offen bleiben, weil der Senat mit Sicherheit ausschließen kann, dass die Angeklagte durch diesen Schuldspruch beschwert ist. Eine Änderun g des Konkurrenzverhältnisses lässt in aller Regel - so auch hier - den Unrechts- und Schuldgehalt unberührt (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschl. vom 1. März 2004 - 2 BvR 2251/03 m.w.N.).
2. Die Verneinung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB durch den Tatrichter weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf. Die Strafkammer ist - sachverständig durch den Facharzt für Psychiatrie Prof. Dr. G. beraten - zu dem Ergebnis gelangt, dass kein Eingangsmerkmal des § 20 StGB gegeben ist. Sie hat hierbei insbesondere geprüft, ob das "auffallend feindselige Verhalten" gegenüber dem Kleinkind, das dann im Alter von weniger als zwei Jahren gestorben ist, zu einer anderen Beurteilung der Schuldfähigkeit der Angeklagten führt. Im Einklang mit dem Sachverständigen hat die Strafkammer dies verneint und zur Begründung hierfür angeführt: "Auch nach ihren Ausführungen in der Hauptverhandlung und dem durch die Zeugen beschriebenen Verhalten ist sie durchaus in der Lage, die entwicklungstypischen Bedürfnisse und Wünsche eines Kindes zu erfassen; dies ergibt sich im Übrigen bereits aus der Behandlung des älteren SohnesT. und der beiden jüngeren Kinder, die auch jetzt noch in der Familie der Angeklagten leben" (UA S. 28). Dass die Angeklagte die Umstände erkannte und ihr Verhalten steuern konnte, folgt auch daraus, dass sie ständig von anderen Personen auf die Missstände hingewiesen wurde, ihre Misshandlungen vertuschte und Tätigkeiten anderer, die dem Kind helfen wollten, mit Nachdruck verhinderte. Deshalb reichen die Erwägungen des Tatrichters hier zur Überprüfung des Urteils auf Rechtsfehler aus. Weitere Darlegungen drängten sich nicht auf.
3. Auch im Übrigen weist das Urteil im Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf. Durch die in Anbetracht der vorgenommenen erheblichen Misshandlungen des Kleinkindes milde Strafe ist die Angeklagte jedenfalls nicht beschwert. Bode Rothfuß Fischer Roggenbuck Appl