Bundesgerichtshof Urteil, 28. Sept. 2004 - 1 StR 317/04

bei uns veröffentlicht am28.09.2004

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 317/04
vom
28. September 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
28. September 2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt und
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Coburg vom 15. März 2004 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung , auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:


Die Angeklagte wurde wegen Mordes, begangen im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit, zu zwölf Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Mit ihrer Revision zum Nachteil der Angeklagten wendet sich die Staatsanwaltschaft allein gegen die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit. Das auch vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Folgendes ist festgestellt: Tatopfer ist der Ehemann der Angeklagten. Vorangegangen waren jahrelange Streitigkeiten um Geld. Die Angeklagte hatte sich - ursprünglich als Reaktion auf schlechte Behandlung durch ihren Ehemann - seit langem angewöhnt , deutlich mehr Geld auszugeben, als zur Verfügung stand. Trotz an sich gut auskömmlicher Verhältnisse (der letzte Monatsverdienst des Ehemannes betrug über 3.300 DM; die Familie wohnte mietfrei und hatte noch Mieteinnahmen ) führte dies zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten und damit verbundenen vielfältigen Komplikationen. Zuletzt war die Angeklagte dazu übergegangen, immer wieder heimlich die EC-Karte ihres Ehemanns an sich zu bringen und unberechtigt Geld von dessen Konto abzuheben. Häufigen heftigen Vorwürfen des Ehemanns setzte sie zwar nichts entgegen, sie war aber auch nicht bereit, "ihr gewohntes Geldausgabeverhalten zu ändern". Nachdem es wieder über mehrere Tage hin derartige Streitigkeiten gegeben hatte, beschloß die Angeklagte , wie sie dies auch schon früher erwogen hatte, ihren Ehemann zu töten, da sie ihn "nicht mehr ertragen konnte". Als er in der Mittagszeit des Tattages ahnungslos in einem Sessel saß, betrat sie das Zimmer und führte dabei einen im Haushalt vorhandenen gußeisernen Fleischklopfer mit sich, den sie entweder am Körper oder in einer Einkaufstasche verborgen hatte. Sie ging an ihrem Ehemann zunächst vorbei und schlug ihm dann von hinten den Fleischklopfer mindestens sechsmal wuchtig auf den Kopf, wodurch alsbald der Tod eintrat. Anschließend wickelte sie ihm ein Tischtuch um den Hinterkopf. Zur Tatzeit war sie allein mit dem Ehemann in der Wohnung. Der älteste Sohn war abwesend, die beiden jüngeren Söhne warteten vor dem Haus auf sie, um mit ihr zu einem für 14.00 Uhr vereinbarten Friseurtermin zu gehen.
Einer war schon aus der Wohnung vorausgegangen, der andere war zuvor unterwegs gewesen; diesen hatte sie aufgefordert, nicht mehr in die Wohnung zu kommen, sondern unten zu warten, als er nach seiner Rückkehr geklingelt hatte. Die Angeklagte nahm dann mit ihren Söhnen den Friseurtermin wahr und verhielt sich dabei unauffällig. Nach ihrer Rückkehr nach Hause spielte sie vor, unvermutet ihren Ehemann erschlagen vorzufinden. Es war ihr auch gelungen , den Fleischklopfer, der seither nicht wieder aufgetaucht ist, unbemerkt fortzuschaffen. 2. Zur Frage der Schuldfähigkeit der Angeklagten hat die Strafkammer einen Sachverständigen gehört, der - abstrakt - die für und gegen eine im Sinne des § 21 StGB bedeutsamen Affekt sprechenden Gesichtspunkte genannt hat. Bei diesen in den Urteilsgründen enthaltenen Aufzählungen handelt es sich um das Prüfschema nach Prof. Saß (sog. "Saß-Kriterien", im Wortlaut wiedergegeben z.B. bei Theune NStZ 1999, 273, 274 und bei Tondorf in Anwaltshandbuch Strafrecht Kap. D, Rz. 44), auf das die Rechtsprechung schon vielfach hingewiesen hat (vgl. z.B. BGH StV 1990, 439; BGHR StGB § 20 Affekt 3; BGH NStZ-RR 1997, 296 jew. m.w.Nachw.). Konkrete, auf die Angeklagte und die Tat bezogene Ausführungen des Sachverständigen ergeben die Urteilsgründe dagegen nicht. Die Strafkammer legt vielmehr im einzelnen dar, was nach ihrer Auffassung dafür und dagegen spricht, daß die Schuldfähigkeit der Angeklagten bei der Tat i.S.d. § 21 StGB beeinträchtigt war. Sie kommt letztlich zu dem Ergebnis, der Zweifelssatz ge-
biete die Annahme, daß affektbedingt bei der Tat eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit vorgelegen habe. 3. Im Grundsatz bestehen keine Bedenken, wenn - etwa mangels ungewöhnlicher Besonderheiten - der Richter im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung auch die Vorfrage nach medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen auf Grund eigenen Wissens beantwortet (BGH StV 1999, 309, 310; vgl. auch Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 244 Rdn. 74b m.w.Nachw.). Zumindest ungewöhnlich ist es dann jedoch, wenn der Richter zugleich sachverständiger Beratung hinsichtlich der an sich geläufigen Frage bedarf, welche Gesichtspunkte generell bei der Prüfung eines schuldmindernden Affekts Gewicht gewinnen können (vgl. zusammenfassend z.B. Streng in Münch/Komm StGB § 20 Rdn. 75 ff.; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 20 Rdn. 15 jew. m.w.Nachw.). Zumal, da die Strafkammer mitteilt, der Sachverständige habe die Angeklagte eingehend untersucht, erscheint in diesem Zusammenhang auch eine Darlegungslücke - hierauf hebt die Beschwerdeführerin ab - nicht ausgeschlossen (vgl. Boetticher in NJW-Sonderheft für G. Schäfer 2002, 8, 10 m.w.Nachw.). 4. Der Senat braucht alledem aber unter keinem Aspekt näher nachzugehen , da die Erwägungen der Strafkammer schon aus anderen Gründen rechtlicher Überprüfung nicht standhalten:
a) Im Ansatz zutreffend geht die Strafkammer davon aus, daß Anzeichen für einen Affekt auch das Fehlen einer "Sicherheitstendenz" - also im Kern eine Tatbegehung ohne Vorkehrungen gegen eine Entdeckung - beim Täter sein kann.
Die Strafkammer führt aus, dies liege hier vor, wie sich aus der Art der Tatbegehung - sechs wuchtige Schläge auf den Kopf - ergebe. Dies ist nicht näher begründet und so nicht nachvollziehbar. Jedenfalls fehlt die Erörterung sich aufdrängender Gesichtspunkte, die eine gegenteilige Bewertung nahelegen. Die Angeklagte hat ihren Ehemann von hinten mit dem Fleischklopfer erschlagen , den sie zuvor vor ihm verborgen hatte. Dabei nutzte sie aus, daß die beiden Söhne nicht in der Wohnung waren, wenn sie nicht sogar selbst dafür gesorgt hat. Nach der Tat ging sie mit den Söhnen zum Friseur, ohne daß dabei irgend etwas aufgefallen wäre, um bei der Heimkehr dann so zu tun, als ob sie vom Tode ihres Mannes völlig überrascht sei. All dies spricht im hohen Maße für eine "Sicherheitstendenz", und auch sonst für wohlüberlegtes und nicht für affektbedingtes Verhalten. Ohne Erörterung dieser Gesichtspunkte kann die gegenteilige Annahme nicht Grundlage der Bewertung der Schuldfähigkeit sein.
b) Schon dies führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Unabhängig davon bemerkt der Senat, daß die ergänzende Erwägung der Strafkammer, es spreche ebenfalls für einen Affekt, daß die Angeklagte nach der Tat der Leiche ein Tuch um den Kopf wickelte, da dies auf Entschuldigung nach Affektabbau hindeute, ohne nähere Begründung ebenfalls nicht tragfähig erscheint, auch wenn sich die Strafkammer, wie sie ausführt, in dieser Bewertung durch die - nicht näher dargelegten - Ausführungen eines als "kriminalistischen" Sachverständigen gehörten Kriminalhauptkommissars "gestützt" sieht. 5. Ebenso wie die Feststellungen zu den sogenannten Eingangsmerkmalen von §§ 20, 21 StGB halten auch die sonstigen Ausführungen der Strafkammer zur Schuldfähigkeit rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Die Frage, ob eine Beeinträchtigung im Sinne von § 21 StGB "erheblich" ist, ist eine Rechtsfrage. Eine Rechtsfrage kann aber nicht, wie es die Strafkammer getan hat, auf der Grundlage des Zweifelssatzes beantwortet werden (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH, Beschluß vom 3. August 2004 - 1 StR 293/04; BGHR StGB § 21 in dubio pro reo 1 m.w.N.). Bei der Beurteilung der Erheblichkeit fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese sind um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH NStZ 2004, 437 f. m.w.N.), bei vorsätzlichen Tötungsdelikten also besonders hoch (vgl. BGH, Beschluß vom 3. August 2004 - 1 StR 293/04). 6. Der Strafausspruch war nach alledem aufzuheben. Anhaltspunkte dafür , daß die Angeklagte bei der Tat schuldunfähig gewesen sein könnte, sind dagegen nicht ersichtlich. Daher erweist sich hier die sich aus der maßgeblichen Revisionsbegründung ergebende Beschränkung der Revision auf den Strafausspruch als wirksam. Nack Wahl Kolz Hebenstreit Elf

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 28. Sept. 2004 - 1 StR 317/04

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Referenzen - Gesetze

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der
Bundesgerichtshof Urteil, 28. Sept. 2004 - 1 StR 317/04 zitiert 4 §§.

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 293/04
vom
3. August 2004
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Mordes u. a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. August 2004 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 19. Februar 2004 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

1. Für den Angeklagten war es jahrelang „selbstverständlich“, seine Lebensgefährtin W. zu ohrfeigen. Als er drohte, sie umzubringen, und die gemeinsame Tochter mißhandelte, trennte sie sich von ihm. Als er sie nicht umstimmen konnte, gab sich der Angeklagte „vordergründig“ einsichtig, wollte sie aber töten, wenn er keine „weitere Chance“ erhielte. Am 12. Geburtstag der Tochter traf man sich in einem Lokal, wobei er verborgen eine Waffe mit sich führte. Es kam alsbald zum Streit, die Tochter ging. W. wiederholte, sie ziehe einen „Schlußstrich“. Jetzt wollte er „verwirklichen, was er sich ... vorgenommen hatte, nämlich W. zu töten“. Er sagte, sie könne gehen, bezahlte und verließ mit ihr das Lokal. Beim Ausgang „erbat er einen letzten Kuß“, was sie ablehnte. Darauf schoß er die überraschte W. nieder. Als sie auf dem Boden lag, schlug er mit der Waffe auf sie ein und setzte sie ihr dann an die Schläfe, um sein „Werk“ zu „vollenden“. Wegen eines Defekts löste sich jedoch kein Schuß mehr. Daran scheiterte auch sein Versuch, den herbeigeeilten Küchenhelfer K. niederzuschießen, um
fliehen zu können. W. ist seither im Wachkoma und vollständig gelähmt. 2. Deshalb wurde der Angeklagte wegen (heimtückisch begangenen) versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung z. N. W. und wegen versuchten Totschlags z. N. K. verurteilt. Nicht zuletzt wegen der schweren Folgen hat die Strafkammer die Strafe für den Mordversuch nicht gemäß §§ 23, 49 StGB gemildert, jedoch bei beiden Taten wegen erheblich verminderter Schuldfähigkeit gemäß §§ 21, 49 StGB. 3. Die Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO), wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat. 4. Der Senat sieht Anlaß zu folgenden Hinweisen:
a) Es hätte nahe gelegen zu prüfen, ob der Angeklagte im Sinne des § 211 StGB niedrige Beweggründe hatte, sowohl bei dem sorgfältig vorgeplanten Versuch, W. zu töten, weil sie ihn verlassen hat (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. § 211 Rdn. 28; Schneider in MüKom StGB § 211 Rdn. 91 jew. m. w. N.), als auch bei demVersuch, K. zur Ermöglichung der Flucht niederzuschießen (vgl. Jähnke aaO Rdn. 17, 25; Schneider aaO Rdn. 173 jew. m. w. N.).
b) Die Strafkammer führt aus, der Sachverständige hielte für „gut vorstellbar“ , daß der Angeklagte wegen der Zurückweisungen im Hinblick auf seine narzißtische und histrionische Persönlichkeit so sehr gekränkt war, daß dies in „Fremdaggression“ umschlug. Dabei müsse auch der verweigerte Kuß berücksichtigt werden. Zwar sei die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten von alledem nicht berührt, es sei aber nicht auszuschließen, daß seine Steuerungsfähigkeit erheblich im Sinne des § 21 StGB vermindert gewesen sei. Diese Aus-
führungen erscheinen der Strafkammer „vertretbar“, weshalb sie zu Gunsten des Angeklagten von einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit (§ 20 StGB) ausgeht. Hiergegen bestehen in mehrfacher Hinsicht rechtliche Bedenken: (1) Unbeschadet der Frage, ob hier für den Angeklagten mit der Ablehnung des Kusses zu rechnen war, wollte er ihn, als er sich endgültig zur Tötung entschlossen hatte. Schon deshalb liegt fern, daß sich hieraus für ihn günstige Folgen ergeben könnten. Demgegenüber hätte die Erörterung nahegelegen, ob diese „Bitte“ nicht ebenso wie seine Äußerungzu W. , sie könne gehen und d as gemeinsame Verlassen des Lokals sie nur in Sicherheit wiegen sollte. (2) Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sagt nichts darüber aus, ob sie im Sinne der §§ 20, 21 StGB „schwer“ ist. Hierfür ist maßgebend , ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (vgl. hierzu im einzelnen Senatsurteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03 = NStZ 2004, 437, 438; zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). Dafür sind hier keine Anhaltspunkte ersichtlich. Der zur Tatzeit 53 Jahre alte Angeklagte lebte in geordneten Verhältnissen und war nahezu durchgängig, teils als Karosseriebaumeister, teils in der Gastronomie, berufstätig. In den Tagen vor der Tat wirkte er „positiv verändert“ und „gestärkt“, nachdem er sich erfolgreich um eine neue Wohnung bemüht hatte. Auch seine Vorstrafen, jeweils zu Geldstrafe wegen eines Verkehrsunfalls, Verleumdung eines Rechts-
anwalts in einem Zivilprozeß und Betrugs z. N. des Arbeitsamts deuten nicht auf eine schwere Persönlichkeitsstörung hin. (3) Schuldfähigkeit bezieht sich auf den konkreten Rechtsverstoß (BGH Beschluß vom 27. Juni 2000 – 1 StR 242/00; Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 72), ist also für jede Tat gesondert zu prüfen. Selbst wenn man wegen der Enttäuschung des Angeklagten über W. von seiner erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit bei dem Versuch, sie zu töten, ausgeht, wäre zu erörtern gewesen, ob sich dies auch bei der anders motivierten Tat z. N. K. ausgewirkt hat. (4) Von alledem abgesehen ist die Frage, ob eine Beeinträchtigung im Sinne des § 21 StGB „erheblich“ ist, eine Rechtsfrage. Sie ist daher nicht dem Zweifelssatz zugänglich (vgl. BGHR StGB § 21 in dubio pro reo 1 m. w. N.). Sie ist vom Richter ohne Bindung von Äußerungen des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu entscheiden (st. Rspr., vgl. BGH aaO m. w. N.). Der Sachverständige hat den Richter nur zur Beurteilung der Vorfrage nach den medizinischpsychiatrischen Anknüpfungstatsachen zu beraten, sofern der Richter hierüber nicht auf Grund seines Allgemeinwissens selbst befinden kann (BGHSt 43, 66, 77; BGH StV 1999, 309, 310; jew. m. w. N.). Bei der Beurteilung der Erheblichkeit fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese sind um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehend Delikt ist (vgl. BGH aaO m. w. N.), bei (versuchten) vorsätzlichen Tötungsdelikten also hoch.
All dies gefährdet den Bestand des Urteils nicht. Weder die unterbliebene Prüfung niedriger Beweggründe noch die Annahme erheblich verminderter Schuld haben sich zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt. Wahl Boetticher Schluckebier Elf Hubert

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 293/04
vom
3. August 2004
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Mordes u. a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. August 2004 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 19. Februar 2004 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

1. Für den Angeklagten war es jahrelang „selbstverständlich“, seine Lebensgefährtin W. zu ohrfeigen. Als er drohte, sie umzubringen, und die gemeinsame Tochter mißhandelte, trennte sie sich von ihm. Als er sie nicht umstimmen konnte, gab sich der Angeklagte „vordergründig“ einsichtig, wollte sie aber töten, wenn er keine „weitere Chance“ erhielte. Am 12. Geburtstag der Tochter traf man sich in einem Lokal, wobei er verborgen eine Waffe mit sich führte. Es kam alsbald zum Streit, die Tochter ging. W. wiederholte, sie ziehe einen „Schlußstrich“. Jetzt wollte er „verwirklichen, was er sich ... vorgenommen hatte, nämlich W. zu töten“. Er sagte, sie könne gehen, bezahlte und verließ mit ihr das Lokal. Beim Ausgang „erbat er einen letzten Kuß“, was sie ablehnte. Darauf schoß er die überraschte W. nieder. Als sie auf dem Boden lag, schlug er mit der Waffe auf sie ein und setzte sie ihr dann an die Schläfe, um sein „Werk“ zu „vollenden“. Wegen eines Defekts löste sich jedoch kein Schuß mehr. Daran scheiterte auch sein Versuch, den herbeigeeilten Küchenhelfer K. niederzuschießen, um
fliehen zu können. W. ist seither im Wachkoma und vollständig gelähmt. 2. Deshalb wurde der Angeklagte wegen (heimtückisch begangenen) versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung z. N. W. und wegen versuchten Totschlags z. N. K. verurteilt. Nicht zuletzt wegen der schweren Folgen hat die Strafkammer die Strafe für den Mordversuch nicht gemäß §§ 23, 49 StGB gemildert, jedoch bei beiden Taten wegen erheblich verminderter Schuldfähigkeit gemäß §§ 21, 49 StGB. 3. Die Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO), wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat. 4. Der Senat sieht Anlaß zu folgenden Hinweisen:
a) Es hätte nahe gelegen zu prüfen, ob der Angeklagte im Sinne des § 211 StGB niedrige Beweggründe hatte, sowohl bei dem sorgfältig vorgeplanten Versuch, W. zu töten, weil sie ihn verlassen hat (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. § 211 Rdn. 28; Schneider in MüKom StGB § 211 Rdn. 91 jew. m. w. N.), als auch bei demVersuch, K. zur Ermöglichung der Flucht niederzuschießen (vgl. Jähnke aaO Rdn. 17, 25; Schneider aaO Rdn. 173 jew. m. w. N.).
b) Die Strafkammer führt aus, der Sachverständige hielte für „gut vorstellbar“ , daß der Angeklagte wegen der Zurückweisungen im Hinblick auf seine narzißtische und histrionische Persönlichkeit so sehr gekränkt war, daß dies in „Fremdaggression“ umschlug. Dabei müsse auch der verweigerte Kuß berücksichtigt werden. Zwar sei die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten von alledem nicht berührt, es sei aber nicht auszuschließen, daß seine Steuerungsfähigkeit erheblich im Sinne des § 21 StGB vermindert gewesen sei. Diese Aus-
führungen erscheinen der Strafkammer „vertretbar“, weshalb sie zu Gunsten des Angeklagten von einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit (§ 20 StGB) ausgeht. Hiergegen bestehen in mehrfacher Hinsicht rechtliche Bedenken: (1) Unbeschadet der Frage, ob hier für den Angeklagten mit der Ablehnung des Kusses zu rechnen war, wollte er ihn, als er sich endgültig zur Tötung entschlossen hatte. Schon deshalb liegt fern, daß sich hieraus für ihn günstige Folgen ergeben könnten. Demgegenüber hätte die Erörterung nahegelegen, ob diese „Bitte“ nicht ebenso wie seine Äußerungzu W. , sie könne gehen und d as gemeinsame Verlassen des Lokals sie nur in Sicherheit wiegen sollte. (2) Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sagt nichts darüber aus, ob sie im Sinne der §§ 20, 21 StGB „schwer“ ist. Hierfür ist maßgebend , ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (vgl. hierzu im einzelnen Senatsurteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03 = NStZ 2004, 437, 438; zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). Dafür sind hier keine Anhaltspunkte ersichtlich. Der zur Tatzeit 53 Jahre alte Angeklagte lebte in geordneten Verhältnissen und war nahezu durchgängig, teils als Karosseriebaumeister, teils in der Gastronomie, berufstätig. In den Tagen vor der Tat wirkte er „positiv verändert“ und „gestärkt“, nachdem er sich erfolgreich um eine neue Wohnung bemüht hatte. Auch seine Vorstrafen, jeweils zu Geldstrafe wegen eines Verkehrsunfalls, Verleumdung eines Rechts-
anwalts in einem Zivilprozeß und Betrugs z. N. des Arbeitsamts deuten nicht auf eine schwere Persönlichkeitsstörung hin. (3) Schuldfähigkeit bezieht sich auf den konkreten Rechtsverstoß (BGH Beschluß vom 27. Juni 2000 – 1 StR 242/00; Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 72), ist also für jede Tat gesondert zu prüfen. Selbst wenn man wegen der Enttäuschung des Angeklagten über W. von seiner erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit bei dem Versuch, sie zu töten, ausgeht, wäre zu erörtern gewesen, ob sich dies auch bei der anders motivierten Tat z. N. K. ausgewirkt hat. (4) Von alledem abgesehen ist die Frage, ob eine Beeinträchtigung im Sinne des § 21 StGB „erheblich“ ist, eine Rechtsfrage. Sie ist daher nicht dem Zweifelssatz zugänglich (vgl. BGHR StGB § 21 in dubio pro reo 1 m. w. N.). Sie ist vom Richter ohne Bindung von Äußerungen des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu entscheiden (st. Rspr., vgl. BGH aaO m. w. N.). Der Sachverständige hat den Richter nur zur Beurteilung der Vorfrage nach den medizinischpsychiatrischen Anknüpfungstatsachen zu beraten, sofern der Richter hierüber nicht auf Grund seines Allgemeinwissens selbst befinden kann (BGHSt 43, 66, 77; BGH StV 1999, 309, 310; jew. m. w. N.). Bei der Beurteilung der Erheblichkeit fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese sind um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehend Delikt ist (vgl. BGH aaO m. w. N.), bei (versuchten) vorsätzlichen Tötungsdelikten also hoch.
All dies gefährdet den Bestand des Urteils nicht. Weder die unterbliebene Prüfung niedriger Beweggründe noch die Annahme erheblich verminderter Schuld haben sich zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt. Wahl Boetticher Schluckebier Elf Hubert