Bundesgerichtshof Urteil, 18. Aug. 2011 - 3 StR 209/11

bei uns veröffentlicht am18.08.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 209/11
vom
18. August 2011
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. August
2011, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Pfister,
von Lienen,
Mayer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Menges
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des Beschuldigten,
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 17. Januar 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschuldigten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit sachlichrechtlichen Beanstandungen. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts verübte der Beschuldigte im Frühjahr 2009 sowie in der Zeit von November 2009 bis Januar 2010 eine Vielzahl von telefonischen, schriftlichen und verbalen Belästigungen und Bedrohungen mit dem Ziel, die Lebensqualität der Geschädigten R. und T. zu beeinträchtigen. Dies führte bei dem Geschädigten R. zu Angstzustän- den und Schlaflosigkeit sowie einer mehrwöchigen Arbeitsunfähigkeit (Taten zu II. 1 und II. 2 der Urteilsgründe). Darüber hinaus legte der Beschuldigte im Januar 2009 unter dem Heckfenster seines Autos einen Zettel mit auffälliger Aufschrift sowie den Kopf einer Schaufensterpuppe mit einem Filzhut aus, an dem sichtbar ein kleines Hakenkreuz befestigt war, und stellte das Fahrzeug auf öffentlichem Straßenland ab (II. 3 der Urteilsgründe). Im Februar 2009 steckte er Pappen in den Briefkasten der Diakonie-Sozialstation P. , auf denen er einen Pfarrer als Teufel bezeichnete. Mit ähnlichem Inhalt schrieb er zeitnah an die evangelische Kirchengemeinde in P. (II. 5 und 6 der Urteilsgründe ). Im Januar 2010 forderte der Beschuldigte am Nachtschalter einer Tankstelle "sein Geld" und drohte, er würde andernfalls mit dem Auto in die Tankstelle "rein fahren" und den Mitarbeiterinnen auf dem Nachhauseweg auflauern und herausfinden, wo diese wohnen. Durch die alarmierte Polizei konnte der Beschuldigte "beruhigt werden" und die Mitarbeiterinnen ungestört die Tankstelle verlassen. Eine von ihnen litt danach unter Angst, Alpträumen sowie Schlafstörungen und war über zehn Monate krankgeschrieben (II. 4 der Urteilsgründe

).


3
Das Landgericht hat sachverständig beraten angenommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund einer unbehandelten paranoiden Schizophrenie sowie einer Persönlichkeitsstörung mit insbesondere narzisstischen , paranoiden und dissozialen Anteilen bei den Taten jeweils aufgehoben war. Eine Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat es abgelehnt, weil es in den bisherigen Taten des Beschuldigten lediglich "zwar lästige, aber in den Bereich der einfachen Kriminalität gehörende Taten" gesehen, die zukünftige Begehung auch schwererer Taten allenfalls für möglich aber nicht für wahrscheinlich gehalten und deswegen eine Gefährlichkeit des Beschuldigten für die Allgemeinheit verneint hat.
4
2. Das Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
5
a) Wegen der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit und mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) können nur schwere Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in dem Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 17. August 1977 - 2 StR 300/77, BGHSt 27, 246, 248; Urteil vom 15. August 2007 - 2 StR 309/07, NStZ 2008, 210, 212). Auch muss aufgrund einer umfassenden Würdigung von Tat und Täter eine höhere oder doch bestimmte, jedenfalls über die bloße Möglichkeit hinausreichende Wahrscheinlichkeit zu bejahen sein, dass der Täter infolge seines Zustands weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 2004 - 1 StR 493/04, NStZRR 2005, 72, 73).
6
b) Von diesen Grundsätzen ist das Landgericht zwar ausgegangen, indes entbehrt seine Gefährlichkeitsprognose einer tragfähigen Grundlage, da es die Feststellungen zu den dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten teilweise rechtsfehlerhaft getroffen hat.
7
aa) Im Fall II. 4 der Urteilsgründe ist das Landgericht von einer mit natürlichem Vorsatz begangenen Bedrohung ausgegangen. Die dem Beschuldigten vorgeworfene versuchte räuberische Erpressung hat es nicht festzustellen vermocht , da ihm die Absicht rechtswidrige Bereicherung "nicht nachgewiesen werden konnte". Hierfür fehlt es an jeglicher Begründung. Einer solchen bedarf es indes nicht nur bei einem freisprechenden Urteil in einer Strafsache (vgl.
hierzu Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 267 Rn. 33 f. mwN), sondern auch dann, wenn der Tatrichter im Sicherungsverfahren (§ 414 StPO) die für die Unterbringung nach § 63 StGB notwendige rechtswidrige Tat nicht oder nicht in der in der Antragsschrift vorgeworfenen Ausgestaltung festzustellen vermag.
8
bb) Rechtsfehlerhaft ist auch die Begründung dafür, dass sich das Landgericht nicht von den Vorwürfen unter 4. und 5. der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft hat überzeugen können. Danach soll der Beschuldigte am 25. November 2009 nachmittags in seinem Wohnhaus in P. in der M. straße Nr. an der Fensterscheibe ein von innen beleuchtetes Hakenkreuz mit einer Größe von zehn mal zehn Zentimetern angebracht haben, das von Passanten gesehen werden konnte. Außerdem soll er am 11. Januar 2010 vor diesem Grundstück einen Werbeaufsteller aufgestellt haben, auf dem mehrere Ablichtungen von Personen mit Hakenkreuzarmbinden, Hakenkreuzfahnen sowie die Darstellung des "schlampigen" Hitlergrußes durch ein Kind angebracht waren. Das Landgericht hat sich auf die Feststellung beschränkt, der Beschuldigte habe zu diesen Zeitpunkten seinen Wohnsitz nicht mehr in P. sondern bereits in B. gehabt. Diese Begründung ist lückenhaft. Es hätte der Auseinandersetzung mit dem Umstand bedurft, dass der Beschuldigte in einer Mehrzahl von in der Stellungnahme des Generalbundesanwalts im Einzelnen aufgeführten Fällen zeitnah ebenfalls in oder um P. herum rechtswidrige Taten beging.
9
cc) Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einer anderen rechtlichen Einordnung von Fall II. 4 der Urteilsgründe sowie zur Überzeugung von der Täterschaft in den Fällen 4 und 5 der Antragsschrift gekommen wäre und auf dieser Grundlage die Gefährlichkeit des Beschuldigten anders eingeschätzt hätte.

10
3. Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, bei der rechtlichen Würdigung darzulegen, in welcher Handlung des Beschuldigten er welchen Straftatbestand verwirklicht sieht. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einer Fülle erheblicher und unerheblicher Tatsachen diejenigen herauszusuchen , in denen eine Straftat gesehen werden kann (BGH, Beschluss vom 14. Juni 2002 - 3 StR 132/02, NStZ-RR 2002, 262). Bei Fall II. 4 der Urteilsgründe kommt, sofern sich das Landgericht bei gleichen Feststellungen zum objektiven Sachverhalt erneut nicht vom Erpressungsvorsatz überzeugen kann, anstelle der Bedrohung eine versuchte Nötigung in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 2005 - 1 StR 455/05, NStZ 2006, 342).
Schäfer Pfister von Lienen Mayer Menges

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 18. Aug. 2011 - 3 StR 209/11

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 18. Aug. 2011 - 3 StR 209/11

Referenzen - Gesetze

Strafgesetzbuch - StGB | § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus


Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und

Strafgesetzbuch - StGB | § 62 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit


Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.

Strafprozeßordnung - StPO | § 414 Verfahren; Antragsschrift


(1) Für das Sicherungsverfahren gelten sinngemäß die Vorschriften über das Strafverfahren, soweit nichts anderes bestimmt ist. (2) Der Antrag steht der öffentlichen Klage gleich. An die Stelle der Anklageschrift tritt eine Antragsschrift, die den
Bundesgerichtshof Urteil, 18. Aug. 2011 - 3 StR 209/11 zitiert 4 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus


Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und

Strafgesetzbuch - StGB | § 62 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit


Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.

Strafprozeßordnung - StPO | § 414 Verfahren; Antragsschrift


(1) Für das Sicherungsverfahren gelten sinngemäß die Vorschriften über das Strafverfahren, soweit nichts anderes bestimmt ist. (2) Der Antrag steht der öffentlichen Klage gleich. An die Stelle der Anklageschrift tritt eine Antragsschrift, die den

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Referenzen

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 309/07
vom
15. August 2007
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 15. August
2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode,
Prof. Dr. Fischer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 2. Februar 2007 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat es im Sicherungsverfahren abgelehnt, die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.
2
Die Ablehnung der Unterbringungsanordnung hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Die Begründung der für den Beschuldigten günstigen Gefährlichkeitsprognose enthält einen Wertungsfehler und die Gesamtwürdigung der Vor- und Anlasstaten lässt einen wesentlichen Tatumstand außer Betracht.
3
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:
4
a) Der Beschuldigte neigt aufgrund seiner psychischen Erkrankung zur Distanzlosigkeit und überschreitet allgemein anerkannte soziale Grenzen. Es kommt immer wieder zu Belästigungen seines sozialen Umfelds, wofür der Be- schuldigte insbesondere unter türkisch-stämmigen Bewohnern weithin bekannt ist. Seine Umgebung weiß vielfach mit den krankheitsbedingten Besonderheiten des Beschuldigten und den sich hieraus ergebenden irrationalen Verhaltensmustern umzugehen. Aufgrund der Nichteinhaltung der ärztlich verordneten Medikation, teilweise verstärkt durch Alkoholgenuss, kam es von Herbst 2005 bis August 2006 zu folgenden Vorfällen: - In einem Waschsalon nahm der Beschuldigte fremde Wäsche aus einem Trockner mit und warf sie weg (Fall 1). - In 15 Fällen missachtete er das Hausverbot in einer Spielothek und in sechs Fällen in einem Einkaufscenter; dabei entleerte er in einem Fall einen Feuerlöscher in die Spielothek, in einem weiteren Fall wurde er von der Aufsicht zum Verlassen der Spielothek aufgefordert. Daraufhin erhob er die Faust und holte zu einem Faustschlag in Richtung der Aufsicht aus. Ein anwesender Zeuge konnte den Arm des Beschuldigten festhalten, so dass die Aufsicht nicht getroffen wurde (Fälle 2, 7-26). - In einer Gaststätte wollte sich der Beschuldigte 50 Euro leihen. Als der Gastwirt dies verweigerte, zog der Beschuldigte beim Hinausgehen aus Verärgerung den Türschlüssel ab und warf ihn auf die Straße. Der Gastwirt ging davon aus, der Beschuldigte habe den Schlüssel mitgenommen , verfolgte ihn mit einem Begleiter und forderte lautstark die Rückgabe seines Schlüssels. Der Beschuldigte beteuerte zutreffend, er habe den Schlüssel nicht. Auf die nachdrückliche Forderung, den Schlüssel herauszugeben, reagierte der Beschuldigte ebenfalls laut und verbal aggressiv. Er fühlte sich in die Enge getrieben, zog ein Messer heraus und rief in Richtung des Gastwirts auf Türkisch: "Lass mich in Ruhe, ich bringe dich um, ich habe deinen Schlüssel nicht gestohlen." Daraufhin ließ der Gastwirt von dem Beschuldigten ab und ließ die Polizei verständigen (Fall 3). - In einer Bäckerei begann der Beschuldigte, Kunden anzupöbeln. Als ihn die Verkäuferin aus dem Laden wies, beschimpfte er sie als "Arschloch" , "Schlampe", "Hure". Als die Verkäuferin ihm ausdrücklich Ladenverbot erteilte, setzte er seine Verbalattacken fort. Auf die erneute Mahnung, den Laden zu verlassen, rammte er sein Knie in Richtung des Unterleibs der Verkäuferin. Diese drehte sich jedoch von dem Beschuldigten weg, so dass er lediglich ihren Oberschenkel schmerzhaft traf. Weitere Verletzungen entstanden nicht (Fall 4). - In zwei Fällen setzte der Beschuldigte einen nicht begründeten Notruf ab und bestellte einen Krankenwagen zu seiner Wohnung (Fälle 5 und

6).

5
b) Nach der Beurteilung des sachverständig beratenen Landgerichts war der Beschuldigte bei Begehung der Taten wegen einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB unfähig, das Unerlaubte seiner Taten einzusehen. Seit seiner Einreise in die Bundesrepublik im Jahre 1992 bis zum Jahre 2006 wurde der Beschuldigte wegen seiner Erkrankung in 29 Fällen stationär in psychiatrischen Kliniken behandelt. Er leidet an einer seit 20 Jahren bestehenden und dokumentierten schizoaffektiven Störung, wobei es sich um eine episodische Störung handelt, bei der affektive und schizophrene Symptome gleichzeitig vorhanden sind. Im Vordergrund der Symptomatik stehen eine immer wieder auftretende Gereiztheit mit aggressivem Verhalten. Die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten war im Rahmen der bei ihm für die Tatzeiten festgestellten manischen Symptomatik vollständig aufgehoben.
6
c) Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht abgelehnt, weil die Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Taten nicht ergebe, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seien zwar weitere Taten zu erwarten, die in ihrer Qualität den festgestellten Anlasstaten entsprechen. In ihrer konkreten Begehungsform erreichten diese Taten jedoch nicht den Bereich der mittleren Kriminalität. Aus den Anlasstaten ergebe sich, dass von dem Beschuldigten lediglich Taten zu erwarten seien, die dem unteren Bereich der Kriminalität zuzuordnen seien. Das gelte nicht nur für die Fälle der Beleidigung, des Hausfriedensbruchs , der Sachbeschädigung und des Missbrauchs von Notrufen, sondern auch für die vom Landgericht näher erörterten Vorfälle 3, 4 und 26. Diese Vorfälle belegten zwar eine Gefahr, insbesondere für die körperliche Unversehrtheit der Geschädigten. Der Grad der Gefährdung stelle sich bei dem konkreten Tatmuster des Beschuldigten aber als nicht erheblich dar. Beraten durch den psychiatrischen Sachverständigen gehe die Kammer nicht davon aus, dass eine weitergehende Eskalation der Gewalt in diesen drei Fällen ernsthaft drohte oder in zukünftigen Fällen zu erwarten wäre. Das gelte auch für den Fall der Todesdrohung unter Vorhalt eines Messers im Fall 3. Insbesondere aus dem Nachtatverhalten ergebe sich, dass die Todesdrohung, die von den Tatopfern ohnehin nicht ernst genommen worden sei, aus der Sicht des Beschuldigten zu keinem Zeitpunkt in die Tat umgesetzt werden sollte. Der in die Enge getriebene Beschuldigte habe sich lediglich seinen Verfolgern kurzfristig entziehen wollen. Die Drohung sei daher als defensiver Akt nicht darauf angelegt gewesen, in eine Verletzungshandlung zu münden.
7
Die Strafkammer und auch der Sachverständige könnten zwar nicht ausschließen , dass künftig eine von den Beschuldigten herbeigeführte Situation soweit eskaliere, dass es zur Begehung auch schwererer Delikte komme. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfordere jedoch eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades und nicht nur die einfache Möglichkeit schwerer Taten. Auch unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Vorbelastungen sei eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Wahrscheinlichkeit schwerer Taten nicht festzustellen.
8
2. Das Landgericht hat das Gewicht der von dem Beschuldigten zu erwartenden neuen Taten fehlerhaft gewichtet.
9
Die Strafkammer geht zwar zunächst zutreffend davon aus, dass wegen der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit und mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) nur schwere Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen , eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigen (vgl. u. a. BVerfGE 70, 297, 312; BGHSt 27, 246; BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 8, 9, 11, 27; BGH StV 2006, 579; NStZ 1995, 228; NStZ-RR 2006, 203).
10
Die vom Landgericht vorgenommene Gesamtwürdigung, dass die festgestellten Anlasstaten des Beschuldigten in ihrer konkreten Begehungsform nicht in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, trifft jedoch nicht zu. Die festgestellten Anlass- und Vortaten gehen vielmehr in erheblichem Umfang deutlich über bloße Belästigungen der Allgemeinheit oder Bagatelltaten hinaus. Das gilt bei den festgestellten Anlasstaten jedenfalls für den Faustschlag gegen eine Spielhallenaufsicht, den bedrohenden Einsatz eines Messers gegen den Gastwirt und den Kniestoß in Richtung auf den Unterleib der Verkäuferin in einer Bäckerei. Soweit das Landgericht versucht, das Gewicht der Anlasstat im Fall 3 durch die Annahme zu relativieren, die Drohung mit dem Messer stelle sich nur als defensiver Akt dar, der keineswegs darauf angelegt gewesen sei, in eine Verletzungshandlung zu münden, fehlt es an einer tragfä- higen Beweisgrundlage. Nichts anderes gilt für die Vorfälle 4 und 26 vom 8. März und 13. August 2006. Hier bleibt offen, worauf das Landgericht seine Annahme stützt, dass diese Attacken nicht auf den Einsatz weiter gehender Gewalt angelegt gewesen seien.
11
Bei den Vortaten, derentwegen der Beschuldigte bestraft wurde, ist der Vorfall vom 27. September 2004 von Gewicht, bei dem der Beschuldigte eine Spielhallenaufsicht, die ein bestehendes Hausverbot durchsetzen wollte, mit beiden Händen am Hals packte und derart heftig würgte, dass ihr Atemnot, Schmerzen und zwei Tage anhaltende Schluckbeschwerden verursacht wurden. Nicht mehr zu den bloßen Belästigungen der Allgemeinheit gehört auch der Vorfall im Jahr 2003, bei dem der Beschuldigte einer Frau im Streit um geschenkte Ohrringe mehrere Faustschläge versetzte, die zu schmerzhaften Prellungen an Rücken und Hinterkopf sowie zu Schürfwunden am Arm führten. Wegen dieser Vorfälle wurden im Strafbefehlsverfahren zwar lediglich Geldstrafen von 120 bzw. 30 Tagessätzen verhängt. Die mäßige Höhe dieser Strafen beruht jedoch darauf, dass in beiden Fällen von einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten bei der Tatbegehung ausgegangen wurde, so dass hieraus nicht auf den Bagatellcharakter der zu Grunde liegenden Taten geschlossen werden kann.
12
In Übereinstimmung mit dem gehörten Sachverständigen geht das Landgericht davon aus, dass von dem Beschuldigten krankheitsbedingt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere Taten zu erwarten sind, die in ihrer Qualität den bereits festgestellten Taten entsprechen. Dies bedeutet aber, dass von dem Beschuldigten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von § 63 StGB zu erwarten sind.
13
Bedenken begegnet im Übrigen auch die prognostische Differenzierung, dass zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere Taten vom Gewicht der Anlasstaten zu erwarten seien, sich jedoch keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Wahrscheinlichkeit schwerer Taten feststellen lasse. Insoweit beruft sich das Landgericht zwar auf die Beurteilung des psychiatrischen Sachverständigen. Bei der Gesamtwürdigung der konkreten Tatumstände bei den Anlasstaten wird jedoch nicht berücksichtigt, dass es jeweils dem besonnenen Verhalten der Tatbetroffenen, denen die Verhaltensweisen des Beschuldigten vertraut waren, zu verdanken war, dass es nicht zu einer weiteren Eskalation des Tatgeschehens kam. Letztlich hing es deshalb nicht von dem Verhalten des Beschuldigten, sondern von dem der Betroffenen und damit vom Zufall ab, ob die Tatsituationen eskalierten. Zudem darf bei der Gefährlichkeitsprognose nicht außer Betracht bleiben, dass von den irrationalen Verhaltensmustern des Beschuldigten nicht notwendigerweise nur solche Personen betroffen sind, die zum näheren Umfeld der Mitbewohner des Beschuldigten gehören, bei denen er mit seinen irrationalen Verhaltensweisen bekannt ist. VRi'inBGH Dr. Rissing-van Saan Bode Fischer ist durch Urlaub an der Unterschrift gehindert. Bode Roggenbuck Appl

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 493/04
vom
24. November 2004
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. November 2004 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 19. Juli 2004 mit den Feststellungen aufgehoben ; jedoch bleiben die Feststellungen zum Geschehensablauf der rechtswidrigen Tat aufrechterhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Beschuldigten im Sicherungsverfahren nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Die Vollstreckung der Maßregel hat es zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Beschuldigte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat im Umfang der Beschlußformel Erfolg.

I.


Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Das Landgericht hat zur Anlaßtat festgestellt, der Beschuldigte habe zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zwischen dem 20. Mai 1997 und Mitte September 1997 im Schulgarten einer Volksschule zwei noch
nicht 14 Jahre alten Jungen eine pornographische Karte, auf der eine nackte Frau mit gespreizten Beinen abgebildet war, für den Fall angeboten, daß sie sich vor ihm entblößen würden. Die beiden Kinder hätten ihre Hose und Unterhose heruntergezogen, so daß der Beschuldigte für einige Sekunden ihr Geschlechtsteil habe sehen können. Im Anschluß daran habe der Beschuldigte seine Hose heruntergezogen und den Kindern sein Geschlechtsteil gezeigt. Er habe sie aufgefordert, seinen Penis anzufassen. Eines der beiden Kinder sei der Aufforderung gefolgt und habe den Penis des Beschuldigten kurz angefaßt, der dabei keine Erektion gehabt habe. Er habe daraufhin den Kindern die Pornokarte übergeben.
2. Der Beschuldigte habe für diese rechtswidrige Tat jedoch nicht bestraft werden können, weil er an einer seit 1997 chronifizierten paranoidhalluzinatorischen Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie leide. Die sachverständig beratene Strafkammer hat angenommen, die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten sei bei Begehung der Tat erheblich eingeschränkt gewesen; sie hat selbst die vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit nicht ausschließen können. Das Landgericht hat die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet, weil der Beschuldigte nicht krankheits- und behandlungseinsichtig sei und die erforderlichen Medikamente eigenmächtig absetze. Auch wenn sich aggressive Verhaltensweisen in der Vergangenheit weitgehend auf verbale Ausbrüche beschränkt hätten, zeigten diese Vorfälle das hohe Aggressionspotential des Beschuldigten. Ohne gezielte Behandlung seien mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten. Die Maßregel könne aber gemäß § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt werden, da der Zweck der Maßregel, die medikamentöse Behandlung des Beschuldigten zur Verhinderung weiterer erheblicher Straftaten sicherzustellen, auch durch eine Unterbringung nach § 1906 BGB gewährleistet werden könne.

II.


Die Gefährlichkeitsprognose ist nicht tragfähig begründet.
Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB ist eine den Betroffenen außerordentlich beschwerende Maßnahme. Nur Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen, rechtfertigen eine Unterbringung gemäß § 63 StGB (vgl. BVerfGE 70, 279, 312; BGHSt 27, 246, 248; BGH NJW 1989, 2959; st. Rspr.). Auch muß aufgrund einer umfassenden Würdigung von Tat und Täter eine höhere oder doch bestimmte, jedenfalls über die bloße Möglichkeit hinausreichende Wahrscheinlichkeit zu bejahen sein, daß der schuldunfähige Täter infolge seines Zustandes weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.
1. Die Erheblichkeit drohender Taten kann sich, ohne daß weitere Darlegungen erforderlich wären, aus dem Anlaßdelikt selbst ergeben, z. B. bei Verbrechenstatbeständen; auch bei Vergehen mag, ohne daß dies hier einer abschließenden Entscheidung bedürfte, eine solche Annahme vielfach naheliegen. Ergibt sich die Erheblichkeit der drohenden Taten nicht ohne weiteres aus dem Deliktscharakter als solchem, kommt es auf die zu befürchtende konkrete Ausgestaltung der Taten an, da das Gesetz keine Beschränkung auf bestimmte Tatbestände vorgenommen hat (vgl. Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 63 Rdn. 15).
Die Kammer hat ihre Gefährlichkeitsprognose - was hier geboten war - nicht auf die Anlaßtat gestützt, sondern sich im wesentlichen auf die "überzeugende Einschätzung der Sachverständigen K. von der Gefährlichkeit des Beschuldigten" berufen, der sie sich vollumfänglich angeschlossen hat. Die Sachverständige, die den Beschuldigten im Rahmen der Beobachtung nach § 81 StPO exploriert hat, stützt ihre Erkenntnisse auf die Krankenunterlagen sowie auf ihre Eindrücke während der Beobachtung des Beschuldigten. Eine
gutachterliche Äußerung dieser Sachverständigen zu der An laßtat ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.
Die Krankheit sei beim Beschuldigten im Jahre 1991 ausgebrochen; erstmals sei er 1993 aggressiv geworden. Während eines Aufenthalts im Bezirkskrankenhaus Landshut mußte er wegen fremdaggressiven Verhaltens auf eine andere Station verlegt werden. Im Zeitraum von Januar bis März 2002 habe der Beschuldigte stationär untergebracht werden müssen, weil er seine 72jährige Mutter die Treppe hinunter gestoßen habe, wodurch sich diese eine Schulterverletzung zugezogen habe. Im Mai 2002 sei er von Sanitätern zur stationären Behandlung gebracht worden, die bis August 2002 gedauert habe. Dabei habe er erneut aggressive Verhaltensweisen gezeigt, und er habe weibliches Personal mit anzüglichen Bemerkungen bedrängt.
2. Die Strafkammer hat die Anlaßtat aus dem Jahr 1997 als minder schweren Fall des sexuellen Mißbrauchs von Kindern nach § 176 Abs. 1 2. Halbsatz, Abs. 5 Nr. 3 StGB a. F. gewertet. Es ist nicht erörtert, ob zwischen der Anlaßtat und der von der Sachverständigen festgestellten Steigerung fremdaggressiven Verhaltens ein symptomatischer Zusammenhang besteht (vgl. BGH NStZ 1991, 528; 1985, 309; Stree in Schönke/Schröder aaO Rdn. 17 m. w. Nachw.). Auch das Verhalten des Beschuldigten gegenüber dem Pflegepersonal während seiner früheren Klinikaufenthalte reicht jedenfalls für sich nicht für die Erwartung aus, der Beschuldigte werde in Freiheit, also ohne die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit erhebliche, für die Allgemeinheit gefährliche Gewaltstraftaten begehen. Hinweise auf eine sich steigernde Aggressivität und eine Gefährlichkeit im Sinne von § 63 StGB könnten sich allerdings aus den Umständen ergeben, unter denen der Beschuldigte im Jahre 2002 seine 72jährige Mutter die Treppe hinuntergestoßen haben soll. Nähere Einzelheiten zu dem Vorfall teilen die Urteilsgründe nicht mit.
Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus war deshalb aufzuheben. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird Gelegenheit haben, die Gefährlichkeitsprognose unter besonderer Berücksichtigung gerade der aktuellen Vorfälle neu zu bewerten.
Nack Wahl Boetticher Schluckebier Graf

(1) Für das Sicherungsverfahren gelten sinngemäß die Vorschriften über das Strafverfahren, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(2) Der Antrag steht der öffentlichen Klage gleich. An die Stelle der Anklageschrift tritt eine Antragsschrift, die den Erfordernissen der Anklageschrift entsprechen muß. In der Antragsschrift ist die Maßregel der Besserung und Sicherung zu bezeichnen, deren Anordnung die Staatsanwaltschaft beantragt. Wird im Urteil eine Maßregel der Besserung und Sicherung nicht angeordnet, so ist auf Ablehnung des Antrages zu erkennen.

(3) Im Vorverfahren soll einem Sachverständigen Gelegenheit zur Vorbereitung des in der Hauptverhandlung zu erstattenden Gutachtens gegeben werden.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 132/02
vom
14. Juni 2002
in der Strafsache
gegen
wegen schweren Menschenhandels u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 14. Juni 2002 gemäß
§ 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aurich vom 30. Oktober 2001 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall C II. 23 der Urteilsgründe verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
b) der Schuldspruch dahin geändert, daß die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter Unterschlagung im Fall C II. 23 der Urteilsgründe entfällt.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


1. Die auf Antrag des Generalbundesanwalts erfolgte Teileinstellung des Verfahrens im Fall C II. 23 der Urteilsgründe läût die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter Unterschlagung und die dafür verhängte Freiheitsstrafe von acht Monaten entfallen. Angesichts der verbleibenden 22 Einzelstrafen kann der Senat indes ausschlieûen, daû die Strafkammer ohne Berücksichtigung der weggefallenen Einzelstrafe auf eine niedrigere als die - ohnehin maûvolle - Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten erkannt hätte.
2. Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Das Urteil gibt dem Senat jedoch Anlaû zu folgenden Hinweisen:

a) Die "groûzügige" Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB ist mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht vereinbar. Die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln begründet für sich allein noch keine erhebliche Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit. Derartige Folgen sind bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, etwa wenn langjähriger Betäubungsmittelgenuû zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat oder wenn der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, ferner unter Umständen dann, wenn das Delikt im Zustand eines akuten Rausches verübt wird (BGHR StGB § 21 BtMAuswirkungen 12 m. w. N.; BGH NStZ 2002, 31). Hierzu hat das Landgericht keine zureichenden Feststellungen getroffen. Psychodiagnostische Beweisanzeichen für Entzugserscheinungen oder Hinweise auf eine akute Intoxikation
bei Begehung der Straftaten sind für die abgeurteilten Fälle nicht dargelegt (vgl. UA S. 167).

b) Selbst wenn die Anwendung des § 21 StGB in den Einzelfällen gerechtfertigt gewesen wäre, hätte die Strafkammer die Vorschrift des § 21 StGB "mit der dort vorgegebenen Strafmilderungsmöglichkeit" (UA S. 166) nicht erneut bei der Bildung der Gesamtstrafe anwenden dürfen. Die Milderungsmöglichkeit nach § 21, § 49 Abs. 1 StGB führt lediglich dazu, daû der Strafrahmen für die betreffende Einzelstrafe ermäûigt wird. Dagegen bleibt der Rahmen des § 54 Abs. 1 und 2 StGB für die Bildung der Gesamtstrafe unverändert. Lediglich bei der zusammenfassenden Bewertung des gesamten Schuldumfanges aller Taten im Rahmen der Gesamtstrafenbildung (vgl. BGHSt 24, 268, 270) wird auch der Umstand einer verminderten Schuldfähigkeit Bedeutung erlangen.

c) Der durch die Besonderheiten des Falles nicht gebotene auûerordentliche Umfang der Entscheidungsgründe von 168 Seiten gibt Anlaû zu dem Hinweis , daû nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO die Urteilsgründe neben den für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, nur solche Feststellungen enthalten müssen, die zum Verständnis und zur Beurteilung der Tat notwendig sind. Überflüssige Ausführungen zum Randgeschehen machen die Darstellung unübersichtlich und können die Gefahr sachlichrechtlicher Mängel begründen. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts , sich aus einer Fülle erheblicher und unerheblicher Tatsachen diejenigen herauszusuchen, in denen eine Straftat gesehen werden kann. Mit der Beweiswürdigung soll der Tatrichter - unter Berücksichtigung der Einlassung des Angeklagten - lediglich belegen, warum er bestimmte bedeutsame tatsächliche Umstände so festgestellt hat. So ist es beispielsweise nicht erfor-
derlich, die der Feststellung von Betäubungsmittelgeschäften vorausgehenden Telefonüberwachungsmaûnahmen in allen Einzelheiten zu schildern und über mehrere Seiten den Inhalt der geführten Telefongespräche wörtlich wiederzugeben.
VRiBGH Prof. Dr. Tolksdorf ist infolge Urlaubs an der Unterschrift verhindert. Miebach Miebach Winkler Pfister Becker

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 455/05
vom
8. November 2005
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. November 2005 beschlossen
:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Augsburg vom 7. Juni 2005 wird mit der Maßgabe als unbegründet
verworfen, dass im Fall II. 2. der Urteilsgründe die Verurteilung
wegen tateinheitlicher Bedrohung entfällt.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen zu tragen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung, wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung sowie wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel führt zur Abänderung des Schuldspruchs im Fall II. 2. der Urteilsgründe in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Im Fall II. 2. der Urteilsgründe kann die tateinheitliche Verurteilung wegen Bedrohung nicht bestehen bleiben, weil § 241 StGB auch hinter einer nur versuchten Nötigung zurücktritt (BGHR StGB § 240 Abs. 3 Konkurrenzen 2; BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 364/03; vgl. auch Träger /Schluckebier in LK 11. Aufl. § 241 Rdn. 27 m.w.N.). Soweit das Landgericht
- durchaus erwägenswert - unter Berufung auf die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Tateinheit zwischen versuchter Tötung und vollendeter Körperverletzung (vgl. BGHSt 44, 196) Tateinheit zwischen versuchter Nötigung und vollendeter Bedrohung annimmt (so bereits BayObLG NJW 2003, 911, 912 unter Berufung auf Träger/Altvater in LK 11. Aufl. § 240 Rdn. 124), vermag der Senat dem letztlich nicht zu folgen. Anders als bei § 212 StGB und § 223 StGB, die mit dem menschlichen Leben und der körperlichen Unversehrtheit zwei verschiedene Rechtsgüter schützen, bezwecken § 240 StGB und § 241 StGB den gleichen aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Freiheitsschutz (vgl. BGHSt 37, 350, 353 - zu § 240 StGB -; Träger/Schluckebier aaO Rdn. 1 - zu § 241 StGB -). Dabei stellt § 240 StGB konkretes Erfolgsunrecht unter Strafe, während § 241 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt (vgl. Träger/Schluckebier aaO; Eser in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 241 Rdn. 2) im Vorfeld des Nötigungstatbestandes angesiedelt ist. Abstrakter Rechtsgüterschutz hat jedoch nach den allgemeinen Grundsätzen unter Konkurrenzgesichtspunkten hinter dem konkreten zurückzutreten. Dass dies jedenfalls im Verhältnis des § 240 StGB zu § 241 StGB auch dann gilt, wenn konkret nur das Versuchsstadium erreicht wurde, wird dadurch bestätigt, dass die Strafobergrenze der versuchten Nötigung von zwei Jahren und drei Monaten weit über der Strafobergrenze von einem Jahr bei der Bedrohung liegt. Bedrohungen mit einem Verbrechen, auf die § 241 StGB beschränkt ist, stellen auch kein im Verhältnis zu § 240 StGB eigenständiges Handlungsunrecht dar, vielmehr soll diese Beschränkung nur die Strafbarkeit im Bereich des abstrakten Rechtsgüterschutzes sinnvoll begrenzen (so zutreffend Jäger JR 2003, 478, 479).
Der Strafausspruch kann bestehen bleiben. Die Beschränkung des Schuldspruchs im Fall II. 2. lässt die maßvolle Einzelstrafe unberührt. Nack Kolz Hebenstreit Elf Graf