Bundesgerichtshof Urteil, 14. Juli 2011 - 4 StR 16/11

bei uns veröffentlicht am14.07.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 16/11
vom
14. Juli 2011
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 14. Juli 2011,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Cierniak,
Bender,
Dr. Quentin
als beisitzende Richter,
Staatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 27. Oktober 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zur Verhandlung und erneuten Entscheidung , auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Der Verurteilte, um dessen nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung es im vorliegenden Verfahren geht, war vom Landgericht mit Urteil vom 28. Juli 1993 wegen Gefangenenmeuterei unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Bezirksgerichts Neubrandenburg vom 24. Februar 1992 und unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden. Gegenstand der einbezogenen Entscheidung ist eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung (ein Jahr Freiheitsstrafe) und Mordes (14 Jahre Freiheitsstrafe). Sämtliche Straftaten beging der Verurteilte im Beitrittsgebiet. Das Strafende war auf den 18. Februar 2011 notiert.
2
Bereits vor Erreichen des Strafendes hatte die Staatsanwaltschaft mit Antragsschrift vom 1. Juli 2010, bei Gericht eingegangen am 6. Juli 2010, beantragt , gemäß § 66b Abs. 1 StGB a.F. nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Hiervon informierte das Landgericht den Verurteilten. Durch eine als "Beschluss" bezeichnete Entschei- dung vom 27. Oktober 2010 hat das Landgericht diesen Antrag ohne Hauptverhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass zwar die „Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 in Verbindung mit § 66 StGB … zu beja- hen" seien, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, 2495) und dem Beschluss des erkennenden Senats vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09, NStZ 2010, 567, 568) aber eine Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten nach § 66b StGB nicht verhängt werden könne, da im Zeitpunkt der Tatbegehung die Straftat nicht mit Sicherungsverwahrung bedroht gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die ihr am 2. November 2010 zugestellte Entscheidung am 4. November 2010 "sofortige Beschwerde" eingelegt. Mit einem am 2. Dezember 2010 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz gleichen Datums hat sie dieses Rechtsmittel sodann als Revision bezeichnet und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg.

I.


3
Mit Beschluss vom 3. Februar 2011 hatte der Senat die Entscheidung über das Rechtsmittel im Blick auf das vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 9. November 2010 (5 StR 394/10 u.a., NJW 2011, 240; zum Abdruck in BGHSt bestimmt) eingeleitete Anfrageverfahren zurückgestellt. Die Sache ist nunmehr entscheidungsreif, nachdem der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in den den Anfrageverfahren zugrunde liegenden Strafsachen mit Beschluss vom 23. Mai 2011 zur Sache entschieden hat, ohne zuvor den Großen Senat für Strafsachen anzurufen.

II.


4
Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet zu Recht, dass das Landgericht über ihren Antrag ohne die nach § 275a Abs. 2 und 3 StPO erforderliche Hauptverhandlung entschieden hat.
5
1. Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist das Rechtsmittel der Revision statthaft (§ 333 StPO).
6
Zwar hat das Landgericht seine Entscheidung als "Beschluss" bezeichnet. Dies führt aber nicht dazu, dass eine Beschwerde nach §§ 304 ff. StPO das statthafte Rechtsmittel wäre. Auf die Bezeichnung der Entscheidung kommt es nicht an. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeutung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirklich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur auf Grund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung in einem solchen Fall entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 186; Beschluss vom 17. Februar 2010 - 2 StR 524/09, BGHSt 55, 62, 63 f.; vgl. weiter BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 1955 - 5 StR 363/55, BGHSt 8, 383, 384, und vom 30. Oktober 1973 - 5 StR 496/73, BGHSt 25, 242, 243, zu "Urteilen", die verfahrensrechtlich Beschlüsse waren). Nach § 275a Abs. 2 StPO ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf Grund einer Hauptverhandlung zu ent- scheiden. Diese Entscheidung ergeht durch Urteil (§ 275a Abs. 2 i.V.m. § 260 Abs. 1 StPO). Dieses ist grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung zu verkünden (§ 169 GVG). Ein schriftliches Verfahren ist für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei der vom Gesetzgeber gewählten Hauptverhandlungslösung nicht vorgesehen; insbesondere kommt eine analoge Anwendung der Regelungen über das Zwischenverfahren nicht in Betracht (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 - 1 StR 441/05, NStZ-RR 2006, 74).
7
Dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel zunächst irrtümlich als "sofortige Beschwerde" bezeichnet hat, ist nach § 300 StPO ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (MeyerGoßner , StPO, 54. Aufl., § 300 Rn. 2). Im Übrigen hat sie selbst das Rechtsmittel noch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist als "Revision" bezeichnet.
8
2. Die Verfahrensrüge ist zulässig und begründet. Entgegen der Vorschrift des § 275a Abs. 2 StPO hat das Landgericht ohne Hauptverhandlung entschieden.
9
Die Entscheidung beruht auf dieser Gesetzesverletzung. Das kann der Senat bereits deswegen nicht ausschließen, weil die Strafkammer bei der Entscheidung neben dem Vorsitzenden mit zwei Berufsrichtern, aber nicht mit Schöffen besetzt war. In ordnungsgemäßer Besetzung für eine Hauptverhandlung wäre das Ergebnis möglicherweise ein anderes gewesen.
10
Die vom 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 6. Dezember 2005 (aaO S. 75) aufgeworfene Frage, ob das Beruhen zu verneinen ist, wenn zwingend vorgeschriebene formale – also ohne jede wertende Würdigung feststellbare – Voraussetzungen für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung fehlen, bedarf auch hier keiner Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.; dort Rn. 164) die vom Landgericht zu Grunde gelegte und auch vom Senat in seinem Beschluss vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09, NStZ 2010, 567) vertretene Auffassung, § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK stehe einer rückwirkenden Anwendung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung entgegen, verworfen. Die vollständige Verbüßung der Strafe und die Haftentlassung des Verurteilten stehen der Fortsetzung des Verfahrens nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 – 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 181 f.). Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist rechtzeitig gestellt (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 – 2 StR 272/05, BGHSt 50, 284, 290; Beschluss vom 26. Mai 2010 – 2 StR 263/10, BGHR StPO § 275a Antrag 2). Die Erfüllung der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 oder 2 StGB a.F. kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen jedenfalls nicht verneint werden; insoweit verweist der Senat auf die Darlegungen des Generalbundesanwalts in seiner Terminzuschrift und die darin wiedergegebenen Ausführungen des Generalstaatsanwalts in Rostock.

III.


11
Das Landgericht wird nunmehr in der gebotenen Form und nach Einholung der Gutachten von zwei Sachverständigen nach Maßgabe des § 275a Abs. 4 Satz 2 und 3 StPO über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu befinden haben. Dabei ist der Antrag unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen (BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 – 1 StR 441/05, NStZ-RR 2006, 74, 75). § 66b StGB ist in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung an- zuwenden (§ 2 Abs. 6 StGB; Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB; Art. 316e Abs. 2 EGStGB gilt nur für die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung, BTDrucks. 17/3403 S. 50 und Kinzig NJW 2011, 177, 180). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Jedoch hat es in Ziff. III. des Urteilstenors eine Weitergeltungsanordnung getroffen; diese hat Gesetzeskraft (BGBl. I S. 1003, 1004 f.). Danach ist § 66b Abs. 2 StGB a.F., der in den sog. Altfällen Rückwirkung entfaltet (BVerfG aaO Rn. 148, 149), bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur noch nach den engen Maßgaben in Ziff. III. 2. Buchst. a des Tenors anzuwenden. Im Gegensatz dazu hatte das Bundesverfassungsgericht nach der Fassung der Weitergeltungsanordnung (Ziff. III. 1. in Verbindung mit Ziff. II. 1. Buchst. b des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011) die weitere Anwendung des § 66b Abs. 1 StGB a.F. nach Maßgabe der Gründe seines Urteils angeordnet und diese damit an sich nur von einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung (Rn. 172) abhängig gemacht (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Mai 2011 – 4 StR 650/10). Jedoch hat es mit Senatsbeschluss vom 8. Juni 2011 (2 BvR 2846/09) klargestellt, dass die im Urteil vom 4. Mai 2011 festgesetzten höheren Verhältnismäßigkeitsanforderungen an die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in allen Fällen mit Rückwirkung – und damit auch in dem hier zu entscheidenden – gelten. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird daher in materieller Hinsicht zu prüfen haben, ob eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes vom 22. Dezember 2010 zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG; BGBl. I. 2300) leidet.
Ernemann Roggenbuck Cierniak
Bender Quentin

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1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 577/09
vom
12. Mai 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Mai 2010 gemäß §§ 349
Abs. 4, 126 Abs. 3 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 17. Juli 2009 aufgehoben.
2. Der Antrag auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird zurückgewiesen.
3. Die Entscheidung über die Entschädigung des Betroffenen wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
4. Der Unterbringungsbefehl des Landgerichts Saarbrücken vom 15. Juni 2007 wird aufgehoben. Der Betroffene ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen.
5. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Rechtsmittelkosten und die notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:


1
Das Landgericht Saarbrücken hat mit Urteil vom 17. Juli 2009 gegen den Betroffenen (erneut) die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwah- rung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB angeordnet. Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt er die Verletzung formellen und materiellen Rechts; das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in vollem Umfang Erfolg.

I.


2
Der wiederholt, unter anderem wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung vorbestrafte Betroffene war durch Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. September 1989 wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Zugleich hatte das Landgericht seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Der Verurteilte hatte nach Ansicht der damals erkennenden Strafkammer in einem Rausch jedenfalls die Tatbestände der Körperverletzung und des versuchten Totschlags durch Unterlassen verwirklicht. Die Anordnung der Maßregel hatte das Landgericht damit begründet, dass der Verurteilte auf Grund einer Persönlichkeitsstörung zur Begehung schwerster , sexuell motivierter Straftaten neige.
3
Durch Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Februar 1991 wurde in einem Sicherungsverfahren erneut die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Gegenstand dieses Verfahrens war eine gefährliche Körperverletzung, die der Verurteilte am 23. Februar 1990 während einer Flucht aus dem Maßregelvollzug begangen hatte.
4
Der Verurteilte befand sich anschließend nahezu ununterbrochen im Maßregelvollzug. Mit Beschluss vom 28. November 2005 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Saarbrücken gemäß § 67 d Abs. 6 Satz 1 StGB beide Unterbringungsanordnungen für erledigt, da ein Zustand im Sinne des § 20 StGB nicht (mehr) gegeben sei; gleichwohl sei der Verurteilte weiterhin als gefährlich für die Allgemeinheit einzustufen. Seit dem 23. Dezember 2005 befand sich der Verurteilte sodann in Strafhaft. Er verbüßte bis zum 22. Juni 2007 die Restfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. September 1989. Seitdem ist er einstweilen untergebracht (§ 275 a Abs. 5 StPO).
5
Mit Urteil vom 4. April 2007 hatte das Landgericht Saarbrücken auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 14. November 2006 im Hinblick auf die Verurteilung durch das Landgericht Saarbrücken vom 28. September 1989 gegen den Betroffenen gemäß § 66 b Abs. 3 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dieses Urteil hatte der Senat durch Beschluss vom 10. Februar 2009 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverwiesen. Aufhebungsgrund war, dass der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 7. Oktober 2008 - GSSt 1/08 - (BGHSt 52, 379) entschieden hatte, dass § 66 b Abs. 3 StGB nicht auf Fälle anwendbar ist, in denen der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist.
6
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht erneut die nachträgliche Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung angeordnet und nunmehr die Anordnung der Unterbringung auf das Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Februar 1991 gestützt, in der gegen den Betroffenen - weil schuldlos handelnd - nur auf die Unterbringung nach § 63 StGB erkannt worden war.

II.


7
Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand. Zwar hat das Landgericht die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 3 StGB rechtsfehlerfrei bejaht, jedoch ist diese Bestimmung gemäß § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK nicht auf Taten anwendbar, die vor ihrem Inkrafttreten begangen worden sind.
8
1. a) Nach dem Urteil der Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Fünfte Sektion) in der Rechtsache M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04) vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25; auszugsweise auch abgedruckt in NStZ 2010, 263; vgl. hierzu auch Kinzig NStZ 2010, 233) ist die Sicherungsverwahrung - ungeachtet ihrer Bezeichnung im deutschen Recht als „Maßregel der Besserung und Sicherung“ - im Sinne der MRK als Strafe zu qualifizieren, für die das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 MRK gilt (Rdnrn. 124 - 133). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies unter anderem damit begründet, dass die Sicherungsverwahrung wie eine Freiheitsstrafe mit Freiheitsentziehung verbunden sei und es in der Bundesrepublik Deutschland keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem der Sicherungsverwahrung gebe (Rdnrn. 127 bis 130). Er hat daher in jenem Fall die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz an den dortigen Beschwerdeführer verurteilt, da die Anwendung des § 67 d StGB in der Fassung vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160), in welchem die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung für Erstverwahrte von zehn Jahren in § 67 d Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. abgeschafft worden war, auf Altfälle gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK verstoße (Rdnrn. 135 ff.). Diese Entscheidung ist endgültig, nachdem der Antrag der Bundesregierung auf Verweisung der Rechtsache an die Große Kammer am 10. Mai 2010 abgelehnt worden ist (Artt. 43 Abs. 2, 44 Abs. 2 Buchst. c MRK).
9
b) Nach Maßgabe dieses Urteils verstößt im vorliegenden Fall die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK, da das Tatzeitrecht für die Anlasstat nicht die Anordnung von Sicherungsverwahrung androhte.
10
Der Betroffene hat die Tat, die der Verurteilung durch das Landgericht Trier vom 28. Februar 1991 zugrunde liegt, am 23. Februar 1990 begangen. Nach der rechtlichen Würdigung des Landgerichts handelte er bei ihrer Begehung nicht ausschließbar im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB). Danach kam bereits aus diesem Grund eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht in Betracht. Denn § 66 Abs. 1 StGB, sowohl in der zum Tatzeitpunkt gültigen Fassung vom 10. März 1987 (BGBl. I 945) als auch in allen späteren Fassungen, setzte und setzt als Anlasstat die Begehung einer vorsätzlichen, d.h. schuldhaft begangenen, Tat voraus, für die zudem auf eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren erkannt worden sein muss.
11
Im Übrigen wären aber auch bei schuldhafter Tatbegehung die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht erfüllt gewesen, weil der Betroffene vor der (neuen) Tat nicht im Sinne dieser Bestimmung bereits zweimal wegen vorsätzlicher Straftaten jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Zwar war er - neben der Verurteilung durch das Landgericht Saarbrücken vom 28. September 1989 - weiterhin durch Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 9. Mai 1980 wegen einer am 30. Juli 1979 begangenen gefährlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Diese Tat wäre indes nach § 66 Abs. 3 Satz 3 und 4 StGB a.F. (= § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB in der jetzt geltenden Fassung ) nicht berücksichtigungsfähig gewesen, da der Betroffene nach Verbüßung der damals erkannten Freiheitsstrafe für einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren nicht wieder straffällig geworden war.
12
Erstmals § 66 b Abs. 3 StGB, auf den das Landgericht die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung des Betroffenen gestützt hat, ermöglichte hier die Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung. Diese Bestimmung ist jedoch erst nach Begehung der Anlasstat durch Gesetz vom 23. Juli 2004 (BGBl. I 1838) eingeführt worden und am 29. Juli 2004 in Kraft getreten. Ihrer Anwendung auf Altfälle steht nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 daher Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK entgegen.
13
c) Dass gegen den Betroffenen - anders als in dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Fall - bereits mit der Anlassverurteilung auf eine von vorneherein zeitlich nicht befristete Maßregel (vgl. § 67 d Abs. 1 Satz 1 StGB in der auch zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung) erkannt worden war, führt zu keiner anderen rechtlichen Bewertung (anders OLG Saarbrücken , Beschluss vom 7. April 2010 - 1 Ws 73/10). Insoweit ist zu berücksichtigen , dass schon vor Einführung des § 67 d Abs. 6 Satz 1 StGB nach der Rechtsprechung der Vollstreckungsgerichte die Erledigung der Maßregel bei Wegfall einer ihrer Voraussetzungen auch dann zu beschließen war, wenn die Gefährlichkeit des Untergebrachten fortbestand (vgl. OLG Hamm NStZ 1982, 300; OLG Karlsruhe MDR 1983, 151; OLG Frankfurt NStZ 1993, 252 sowie hierzu auch BVerfG NStZ 1995, 174, 175). Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber in § 67 d Abs. 6 StGB lediglich festschreiben wollen (vgl. BT-Drucks. 15/2887 S. 13 f.). Nach dem zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Recht hätte somit die angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt werden und der Betroffene in Freiheit entlassen werden müssen, ohne dass an ihre Stelle die Sicherungsverwahrung treten konnte.
14
d) Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind - ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung (vgl. Art. 46 Abs. 1 MRK sowie hierzu Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. MRK Verfahren Rdnr. 76) - bei der Auslegung innerdeutschen Rechts zu berücksichtigen. Die Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB ist daher mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 dahin auszulegen, dass § 66 b Abs. 3 StGB nicht rückwirkend auf vor seinem Inkrafttreten begangene Taten angewendet werden darf.
15
Zwar handelt es sich bei der Sicherungsverwahrung nach innerdeutschem Recht um eine Maßregel der Besserung und Sicherung, für die nach § 2 Abs. 6 StGB grundsätzlich das Recht zum Zeitpunkt der Entscheidung gilt. § 2 Abs. 6 StGB schreibt die Maßgeblichkeit des zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Rechts jedoch nur vor, „wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“. Eine derartige andere Bestimmung stellt hier Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte dar.
16
Bei der MRK handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der durch den Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert worden ist. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht die MRK im Range einfachen Bundesrechts. Deutsche Gerichte haben daher die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 316 ff.; BVerfG EuGRZ 2010, 145, 147; Gollwitzer aaO Einführung Rdnrn. 39, 43 jeweils m.w.N.). Dabei sind auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt. Das nationale Recht ist wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes unabhängig vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit den Bestimmungen der MRK auszulegen (BVerfGE 111, 307, 324; Gollwitzer aaO).
17
Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist bei konventionsgemäßer Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB die Regelung des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK als (einfach -) gesetzliche Ausnahmeregelung zu bewerten, die für die Anordnung der Sicherungsverwahrung die Maßgeblichkeit des Tatzeitrechts vorsieht. Nach dem zur Tatzeit geltenden Recht war jedoch - wie bereits ausgeführt - die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Betroffenen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt möglich.
18
2. Der hier vorgenommenen Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB steht nicht die Bindungswirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004 (BVerfGE 109, 133) zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Wegfalls der Höchstdauer der erstmaligen Sicherungsverwahrung entgegen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in jener Entscheidung ausgesprochen, dass die Sicherungsverwahrung keine Strafe darstellt und eine nachträgliche Änderung ihrer Höchstdauer nicht gegen das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstößt (BVerfGE 109, 133, 167 ff.). Bei der Frage, ob entsprechend dem Gesetzesvorbehalt in § 2 Abs. 6 StGB eine Maßregel der Besserung und Sicherung von der Maßgeblichkeit des Rechts des Zeitpunkts der Entscheidung auszunehmen ist, handelt es sich indes um eine solche einfachen Rechts. Dem Gesetzgeber steht es im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens frei, für einzelne Maßregeln der Besserung und Sicherung in Abweichung von dem Grundsatz des § 2 Abs. 6 StGB die Geltung des Tatzeitrechts anzuordnen; er hat hiervon in der Vergangenheit wiederholt Gebrauch gemacht (vgl. die Nachweise bei Fischer StGB 57. Aufl. § 2 Rdnr. 15 und speziell Art. 93 des 1. StrRG). Ebenso kann dies Folge der gebotenen Berücksichtigung einer ebenfalls im Range einfachen Bundesrechts stehenden Bestimmung der MRK sein. Der Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, dass nach deutschem Verfassungsrecht die Sicherungsverwahrung nicht dem Rückwirkungsverbot unterfällt, wird dadurch nicht in Frage gestellt. Einfaches Recht hat zwar die Vorgaben des Grundgesetzes zu wahren, es kann aber im Einzelfall über die dort festgelegten Mindestanforderungen hinausgehen.
19
3. Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs steht der getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Die Frage, ob § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK einer Anwendung des § 66 b Abs. 3 StGB auf Altfälle entgegensteht, ist - soweit ersichtlich - vom Bundesgerichtshof noch nicht entschieden worden. Der 1. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 595/09 [zu § 66 b Abs. 2 StGB] mögliche Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 auf den zu entscheidenden Fall offen gelassen und dies mit der fehlenden Endgültigkeit der Entscheidung begründet. Soweit der 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 9. März 2010 - 1 StR 554/09 die Auffassung vertreten hat, dass die Ausführungen in der - damals ebenfalls noch nicht endgültigen - Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG auf einen Altfall nicht entgegenstehen, hat er dies mit hier nicht einschlägigen Besonderheiten des Jugendstrafrechts begründet. Im Übrigen ist, nachdem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am 10. Mai 2010 gemäß Art. 43 Abs. 2, Art. 44 Abs. 2 Buchst. c MRK endgültig gewor- den ist, eine neue Rechtslage gegeben, die eine etwaige Bindung an frühere entgegenstehende Rechtsprechung entfallen lassen würde (vgl. hierzu Hannich in KK 6. Aufl. § 132 GVG Rdnr. 8).
20
4. Die Maßregelanordnung war daher aufzuheben; gleichzeitig war in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO der Antrag der Staatsanwaltschaft zurückzuweisen und der Betroffene sofort auf freien Fuß zu setzen.
21
Die Entscheidung über die Entschädigung des Betroffenen wegen der seit Ende der Strafhaft erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt wegen der größeren Sachnähe dem Landgericht vorbehalten.
RiBGH Athing ist im Ernemann Solin-Stojanović Ruhestand und daher an der Unterschrift gehindert Ernemann Cierniak Franke

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
MRK Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Art. 7 Abs. 1 Satz 2
1. Ergibt sich für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
aus der Europäischen Konvention
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in
der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte eine die Rückwirkung generell hindernde
andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB?
(Anfrage nach § 132 GVG)
2. Im Fall zulässiger rückwirkender Anwendung ist § 67d
Abs. 3 Satz 1 StGB einschränkend dahin auszulegen,
dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären ist, sofern
nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewaltund
Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der
Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten
ist.
BGH, Beschluss vom 9. November 2010 – 5 StR 394/10
–5StR440/10
–5StR474/10
LG Stuttgart, Celle, Koblenz –
5 StR 440/10
5 StR 474/10

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 9. November 2010
in den Maßregelvollstreckungssachen
gegen
1.
- 5 StR 394/10 -
2.
- 5 StR 440/10 -
3.
- 5 StR 474/10 -
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. November 2010

beschlossen:
1. Die Vorlegungsverfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
2. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden: Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergibt sich für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine die Rückwirkung generell hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB.
Der Senat fragt beim 4. Strafsenat an, ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird, bei den anderen Strafsenaten, ob dieser Rechtsauffassung zugestimmt wird.
3. Bis zur Erledigung des Verfahrens nach § 132 GVG werden die Akten an die vorlegenden Oberlandesgerichte zur Fortführung der nach § 67e Abs. 1 Satz 1, § 67d Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 StGB gebotenen Überprüfungen zurückgegeben.
G r ü n d e
1
Die verbundenen Vorlegungsverfahren (§ 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG) betreffen die Frage der Fortgeltung der bis 30. Januar 1998 gültigen Höchstdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren (§ 67d Abs. 1 Satz 1 StGB a.F.) in „Altfällen“. Der Senat hat darüber zu entscheiden , ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (M. gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 19359/04, EuGRZ 2010, 25) die deutschen Gerichte dazu zwingt, in Fällen , in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen Taten angeordnet wurde, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I 160) begangen worden waren, die Maßregel nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären.
2
Die vorlegenden Oberlandesgerichte Stuttgart, Celle und Koblenz möchten – wie bereits in vorangegangenen Entscheidungen (OLG Stuttgart Justiz 2010, 346; OLG Celle NStZ-RR 2010, 322; OLG Koblenz JR 2010, 306; vgl. auch OLG Nürnberg NStZ 2010, 574) – jeweils in Fällen über zehn Jahre hinaus vollstreckter Sicherungsverwahrung sofortige Beschwerden von Untergebrachten gegen Fortdauerbeschlüsse der zuständigen Landgerichte verwerfen. Sie vertreten die Auffassung, dass auch unter Zugrundelegung der Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Erledigterklärung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in Altfällen nach Vollzug von zehn Jahren trotz fortbestehender Gefährlichkeit des Verurteilten nicht geboten sei. Vielmehr richte sich die Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung allein nach der gegenwärtigen Regelung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB. An der beabsichtigten Entscheidung sehen sie sich jedoch durch Beschlüsse anderer Oberlandesgerichte (OLG Frankfurt NStZ 2010, 573; NStZ-RR 2010, 321; OLG Hamm StRR 2010, 352; OLG Karlsruhe Justiz 2010, 350; NStZ-RR 2010, 322; SchlHolstOLG SchlHA 2010, 296) gehindert. Sie haben deshalb die jeweilige Sache zur Entscheidung der Rechtsfrage gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt.
3
Dem Senat liegen zwölf weitere gleichgelagerte Vorlegungsverfahren vor. Er möchte in den drei zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren – im Ergebnis in Übereinstimmung mit den Anträgen des Generalbundesanwalts – grundsätzlich im Sinne der vorlegenden Oberlandesgerichte entscheiden. Er sieht sich daran jedoch durch bindende Rechtsprechung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs gehindert; darüber hinaus sieht der Senat in der aufgeworfenen Frage eine solche von grundsätzlicher Bedeutung (§ 132 Abs. 4 GVG).

I.


4
1. Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. August 2010 (Vorlegungsverfahren 5 StR 394/10):
5
Durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 27. September 1985 (Anlassurteil ) wurde der wiederholt, unter anderem wegen schwerster Sexualdelikte vorbestrafte D. wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, verbunden mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung. Nach vollständiger Verbüßung der Strafe wird die Sicherungsverwahrung – nunmehr bereits über 21 Jahre – vollzogen. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 19. März 2010 hat das Landgericht Heilbronn letztmals die Fortdauer der Sicherungsverwahrung angeordnet.
6
Sachverständig beraten ist das Oberlandesgericht zu der Überzeugung gelangt, dass der mittlerweile 63 Jahre alte Verurteilte auch weiterhin wegen eines Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, gefährlich sei. Er sei eine histrionisch-dissoziale Persönlichkeit, die einen Mangel an Empa- thie, deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit, Missachtung sozialer Normen, eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Handeln sowie oberflächliche Affektivität, Egozentrik und manipulatives Verhalten zur Befriedigung eigener Bedürfnisse aufweise. Seine Persönlichkeitsstruktur sei durch ein jedes normale Maß übersteigendes Geltungs- und Durchsetzungsbedürfnis sowie das Bedürfnis gekennzeichnet, Überlegenheit zu demonstrieren. Das bisherige strafbare Vorleben des Verurteilten beruhe auf dieser Persönlichkeitsstruktur. Im Vordergrund der Taten habe die Demonstration von Macht gestanden, die den eigentlichen sexuellen Antrieb überwogen habe. Dem liegen folgende tatsächliche Befunde zugrunde:
7
Nachdem der Verurteilte bereits 1971 wegen versuchter Notzucht verurteilt worden war, verübte er vor Begehung der Anlasstat in der Zeit von 1973 bis 1978 – zweimal während laufender Strafaussetzungen, einmal nur zwei Monate nach längerer Untersuchungshaft – insgesamt vier schwere Sexualstraftaten. Alle zeichneten sich durch brutales, auf bedingungslose Durchsetzung des eigenen Willens gerichtetes Vorgehen und durch menschenverachtende Behandlung der Opfer aus. Seine zwischen 13 und 17 Jahre alten Opfer vergewaltigte er mehrfach, auf verschiedene Weise und unter entwürdigenden Begleitumständen. In Fällen der Mittäterschaft war er der Wortführer, der Reihenfolge, Zeit und Art des erzwungenen Geschlechtsverkehrs anordnete. In nahezu allen Fällen versetzte er die Opfer durch Würgen oder Zupacken am Hals, verbunden mit entsprechenden Drohungen, in Todesangst.
8
Während des Vollzugs der Sicherungsverwahrung verübte er mehrere zum Teil bewaffnete Angriffe auf Vollzugsbedienstete. Weiterhin sind zahlreiche ernstzunehmende Bedrohungen von Vollzugs- und Justizpersonal aktenkundig , die mit Hinweisen auf Anschriften, auch der Ehepartner, oder mit vorgeblichem Wissen um den Aufenthalt der Kinder der bedrohten Personen verknüpft waren. Letztmalig drohte er am 6. Juni 2010 damit, seine Zelle – wie bereits zuvor geschehen – in Brand zu stecken, und bezeichnete sich selbst als „tickende Atombombe“.
9
Der Verurteilte lehnt nahezu jede therapeutische Behandlung ab. Er unterhält keine Außenkontakte und hat Lockerungsmaßnahmen (begleitete Wanderungen oder Stadtausführungen) ebenso verweigert wie Beratungsgespräche mit der Bewährungshilfe und die Teilnahme an einem sozialen Training. Auf die Bereitschaft der Sozialbetreuung Heilbronn, ihm im Fall der Entlassung eine Unterkunft mit Hilfe bei der Bewältigung des täglichen Lebens zur Verfügung zu stellen, hat er ablehnend reagiert.
10
2. Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 9. September 2010 (Vorlegungsverfahren 5 StR 440/10):
11
Durch Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. Juli 1991 (Anlassurteil ) wurde K. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung, in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt, verbunden mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 28. Mai 2010 hat das Landgericht Lüneburg erstmals die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus angeordnet.
12
Seine Überzeugung, dass der Verurteilte einen Hang zur Begehung einschlägiger schwerer Straftaten aufweise, begründet das Oberlandesgericht mit folgenden Umständen:
13
Anfang 1967 kam es zur ersten Sexualstraftat des Verurteilten, bei der er versucht hatte, zwei 15 Jahre alte Jungen anal zu vergewaltigen, nachdem er sie zuvor bedroht und gefesselt hatte. Im Juli 1968 zwang er zwei 13-jährige Jungen, sein Glied bis zum Samenerguss zu reiben, während er an den Geschlechtsteilen der Opfer manipulierte. Nur etwa einen Monat später ver- senkte er einen 17-jährigen Jugendlichen, den er aufgrund eines zuvor im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung erlittenen Sturzes für tot hielt, in einem Teich. Etwa ein Jahr nach Verbüßung der deswegen verhängten Jugendstrafe zwang er einen 13 Jahre alten Jungen zum Oral- und Analverkehr. Nur wenige Tage nach Entlassung aus der gegen ihn verhängten Strafhaft zwang er einen Arbeitskollegen unter Vorhalt eines Messers zum Oralverkehr. Der Anlassverurteilung liegen zugrunde die Vornahme des Oralverkehrs sowie der Versuch des Analverkehrs an einem elfjährigen Jungen , der mehrfache unter Vorhalt eines Messers und unter Fesselung erzwungene Anal- und Oralverkehr an zwei 13-jährigen Jungen sowie der ebenfalls unter Vorhalt eines Messers und unter Fesselung erzwungene Oral- und Analverkehr an einem weiteren elfjährigen Jungen, der überdies durch eine Schnittverletzung am Hals lebensgefährlich verletzt wurde.
14
Diese Straftaten sind nach Auffassung des Oberlandesgerichts Ausdruck der letztmalig im Mai 2010 sachverständig bestätigten schweren Persönlichkeitsstörung mit sadistisch ausgerichteter Sexualdeviation des mittlerweile 61 Jahre alten Verurteilten. Bisherige therapeutische Interventionsversuche verliefen ergebnislos. Die Teilnahme an gruppentherapeutischen Sitzungen brach der Verurteilte ab, weil er den Kontakt zu den anderen Teilnehmern nicht habe ertragen können. Seither zeigte er keine Bereitschaft zu Therapiemaßnahmen. Auch ein Aufenthalt in der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Hannover wurde im Jahr 2008 wegen mangelnder Aufgeschlossenheit in der Therapie abgebrochen.
15
3. Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. September 2010 (Vorlegungsverfahren 5 StR 474/10):
16
F. beging in den Jahren 1976, 1977 und 1983 insgesamt sechs schwere, sämtlich gegen Frauen gerichtete Gewaltverbrechen, darunter Sexualverbrechen:
17
1977 wurde er wegen schweren Raubes in Tateinheit mit räuberischem Angriff auf Kraftfahrer in zwei Fällen und wegen Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er hatte in einer Nacht in kurzem zeitlichem Abstand zwei Prostituierte in sein Fahrzeug gelockt und auf einem Autobahnparkplatz unter Vorhalt eines Dolches ausgeraubt, eine der Frauen ferner unter Drohung mit einer Schusswaffe zum Geschlechtsverkehr gezwungen.
18
Anfang Dezember 1977 setzte er das Haus einer Arbeitskollegin in Brand, die einen Annäherungsversuch abgewiesen hatte, wobei sich sieben Menschen in dem Haus aufhielten. Wegen schwerer Brandstiftung wurde er zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.
19
Durch das Landgericht Zweibrücken wurde er am 5. Juni 1984 (Anlassurteil ) wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung in zwei Fällen, davon in einem Fall in weiterer Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt, verbunden mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung. Unter ständiger Bedrohung mit einem Messer hatte er eine junge Mutter in deren Wohnung mehrmals zum Geschlechtsverkehr gezwungen, mit dem Messer an deren Geschlechtsteil manipuliert, sie gezwungen, den Oralverkehr bei ihm auszuüben , vor ihm die Notdurft zu verrichten und ihn manuell zu befriedigen, wobei er ihr das Ejakulat ins Gesicht spritzte. Nachdem er die Frau gefesselt und geknebelt hatte, versuchte er, den Analverkehr durchzuführen. Unter der Drohung, ihren vier Monate alten Säugling umzubringen, falls sich die Geschädigte an die Polizei wende, ließ er schließlich von ihr ab. Einen Tag später verschaffte er sich erneut Zutritt zu ihrer Wohnung und zwang sie abermals unter Vorhalt eines Messers mehrfach zum Geschlechtsverkehr. Er nötigte die völlig verstörte und erschöpfte Frau, zwölf Tabletten eines starken Beruhigungsmittels mit Bier einzunehmen. Die Geschädigte geriet hierdurch in einen Dämmerzustand und wurde nachts darauf in hilfloser Lage in ihrer Wohnung aufgefunden. Am Folgetag verschaffte sich der Verurteilte Zutritt zur Wohnung der 20-jährigen Nachbarin seiner Eltern und stach mit einem Schraubenzieher auf sie ein. Er würgte die junge Frau und stieß ihr zwei Finger in die Augen. Dann zwang er sie zum Oralverkehr und Beischlaf, während er erneut auf sie einstach und ihr drohte, den Schraubenzieher in ihre Scheide zu stoßen. Die Geschädigte erlitt zahlreiche schwere Verletzungen und war massiv traumatisiert.
20
Seit 20 Jahren wird die Sicherungsverwahrung vollzogen. Im Mai 2009 erlitt der Verurteilte einen akuten Vorderwandinfarkt; er leidet an einer Knieund Hüftarthrose, aufgrund derer er Gehstützen benutzt. Zuletzt hat das Landgericht Koblenz mit dem angefochtenen Beschluss vom 18. Februar 2010 den weiteren Vollzug der Maßregel angeordnet.
21
Das Oberlandesgericht nimmt nach eingehender Prüfung einen fortbestehenden Hang des Verurteilten zur Begehung einschlägiger schwerer Straftaten an. Nach näherer Aufklärung des physischen Gesundheitszustands des jetzt 58 Jahre alten Verurteilten gelangt es zu der Überzeugung, dass er trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen zu massivem fremdaggressivem Verhalten, auch zur Begehung von Sexualstraftaten, körperlich in der Lage ist, und zeigt plausible mögliche Verbrechensszenarien auf.
22
Sachverständig beraten kommt es zu dem Ergebnis, dass dem strafbaren Verhalten des Verurteilten eine kombinierte Persönlichkeitsstörung zugrunde liegt, die eine geringe Frustrationstoleranz und eine gesteigerte Impulsivität bedingt und im Vollzug keine Abmilderung erfahren hat. Der Verurteilte hat sich bisher jeglichem therapeutischen Zugang verschlossen. Begonnene Therapien hat er entweder von sich aus eingestellt oder sie mussten abgebrochen werden, da er sich nicht öffnete. Derzeit lehnt er jedes Therapieangebot ab; er sieht keinen Therapiebedarf. Zu den Anlasstaten zeigt er oberflächliche Verleugnungs- und Verdrängungstendenzen. Hinsichtlich seines Sexualverhaltens gibt er an, etwa einmal wöchentlich bis zum Samenerguss zu onanieren; er wolle nach wie vor den Geschlechtsverkehr mit einer erwachsenen Frau ausführen, was er sich in seiner Phantasie auch vorstelle. Falls seine Erektion nicht ausreiche, werde er Viagra nehmen. Die Gefahr erneuter schwerster Sexualstraftaten hält das Oberlandesgericht für außerordentlich hoch. Selbst ein Tötungsdelikt liege – da der Verurteilte bei der letzten Anlasstat Tötungsphantasien ausgelebt habe – im Bereich des Wahrscheinlichen.

II.


23
Die Rechtsansicht der vorlegenden Oberlandesgerichte, dass sich trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus in Altfällen allein nach der gegenwärtigen Regelung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB richte, ist unvereinbar mit der bindenden Rechtsprechung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09 (NStZ 2010, 567).
24
1. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I 160) hat der Gesetzgeber die durch das 2. Strafrechtsreformgesetz vom 4. Juli 1969 (BGBl I 717) eingeführte strikte Höchstdauer der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren (§ 67d Abs. 1 Satz 1 StGB a.F.) aufgehoben und die unbefristete Vollstreckung der Maßregel ermöglicht, jedoch nur unter den in § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB genannten engeren Voraussetzungen.
25
Zum zeitlichen Geltungsbereich dieser Vorschrift bestimmt die allgemeine Regelung des § 2 Abs. 6 StGB, dass für Maßregeln der Besserung und Sicherung das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht anzuwenden ist, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB ist daher grundsätzlich auch auf Altfälle anwendbar (BVerfGE 109, 133, 182).
26
2. Für den Anwendungsbereich der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB sieht der 4. Strafsenat (aaO) in Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine anderweitige gesetzliche Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB (ebenso Grabenwarter JZ 2010, 857; Gaede HRRS 2010, 329, 332 ff.), welche eine Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB auf Altfälle ausschließe.
27
a) Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25) ist die Sicherungsverwahrung – ungeachtet ihrer Einordnung im deutschen Recht als Maßregel der Besserung und Sicherung – im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention als Strafe zu qualifizieren, für die das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK gilt (Rdn. 124 bis 133). Der Gerichtshof hat dies unter anderem damit begründet, dass die Sicherungsverwahrung wie eine Freiheitsstrafe mit Freiheitsentziehung verbunden sei und es in Deutschland keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem der Sicherungsverwahrung gebe (aaO Rdn. 127 bis 130).
28
b) Der 4. Strafsenat legt zugrunde, dass die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung (vgl. Art. 46 Abs. 1 MRK sowie hierzu Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. MRK Verfahren Rdn. 76) – bei der Auslegung innerdeutschen Rechts zu berücksichtigen sind. Dies führe zum Ausschluss rückwirkender Anwendung. Zwar handele es sich bei der Sicherungsverwahrung nach innerdeutschem Recht um eine Maßregel der Besserung und Sicherung, für die nach § 2 Abs. 6 StGB grundsätzlich das Recht zum Zeitpunkt der Entscheidung gelte. § 2 Abs. 6 StGB schreibe die Maßgeblichkeit des geltenden Rechts jedoch nur dann vor, „wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt“ sei. Eine derartige andere Bestimmung stelle Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dar (BGH aaO S. 568).
29
3. Trifft die Auffassung des 4. Strafsenats zu, so ist die Vorlegungsfrage zwingend dahingehend zu beantworten, dass Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK eine Anwendung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB auf die hier zu beurteilenden Altfälle ausschließt. Nach dem zum jeweiligen Tatzeitpunkt geltenden Recht war die Dauer des Vollzugs der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt ; alle Verurteilten wären somit – ungeachtet fortdauernder Gefährlichkeit – nach Fristablauf freizulassen. Die Frage des Rückwirkungsverbots kann im Rahmen des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB nicht anders beantwortet werden als im Rahmen des für die Entscheidung des 4. Strafsenats maßgebenden § 66b Abs. 3 StGB (vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010, 322).

III.


30
Der Senat ist indessen – in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts – der Meinung, dass einer Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB in diesem Sinne zwingende Rechtsgründe entgegenstehen.
31
1. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wurde als völkerrechtlicher Vertrag durch den Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung kommt den Regelungen der Konvention der Rang einfachen Bundesrechts zu. Die Konvention ist bei der Interpretation des nationalen Rechts im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 317). Dabei sind auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, weil sie den aktuellen Entwicklungsstand der Konvention widerspiegeln (BVerfGE aaO S. 319).
32
Zeigt eine Entscheidung des Gerichtshofs, wie vorliegend, über den entschiedenen Einzelfall hinaus strukturelle Mängel des nationalen Rechts auf, so gebietet die Verpflichtung innerstaatlicher Beachtung der Konvention – ungeachtet der beschränkten Bindungswirkung nach Art. 46 Abs. 1 MRK – eine konventionskonforme Ausgestaltung des nationalen Rechts (Gollwitzer aaO Rdn. 77b). Auch in Ermangelung einer § 31 Abs. 1 BVerfGG entsprechenden Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind, gehört zur Bindung an Gesetz und Recht, dass Gewährleistungen der Konvention in ihrer Ausformung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen sind (BVerfGE aaO S. 323). Aus dem Stellenwert der Europäischen Menschenrechtskonvention als lediglich einfaches Bundesrecht folgt indes, dass die Verpflichtung deutscher Gerichte zu vorrangiger konventionskonformer Auslegung auf Fälle vorhandener Auslegungs- und Abwägungsspielräume beschränkt ist (BVerfGE aaO S. 329). Die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte dort, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers deutlich erkennbar wird (BGH NStZ 2010, 565, 566, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; Giegerich in Grote/Marauhn [Hrsg.], EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz 2006 Kap. 2 Rdn. 20; Radtke NStZ 2010, 537, 542 ff.). Die Europäische Menschenrechtskonvention eröffnet den Gerichten keine Verwerfungskompetenz für eindeutig entgegenstehende Gesetze. Anders als bei deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz (Art. 100 Abs. 1 GG) besteht hier auch keine Vorlegungsmöglichkeit. In diesen Fällen ist allein der Gesetzgeber aufgerufen, eine Verletzung der Konvention infolge Anwendung eindeutiger gesetzlicher Regelungen durch deren Abänderung zu beseitigen.
33
2. Nach diesen Grundsätzen kann das aus Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK resultierende Rückwirkungsverbot nicht als abweichende gesetzliche Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB angesehen werden. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Gesetzgeber nicht von völkerrechtlichen Verpflichtungen abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will (BVerfGE 74, 358, 370). Der Gesetzgeber hat jedoch unmissverständlich das Gebot zum Ausdruck gebracht, die betroffenen weiter- hin gefährlichen Verurteilten nicht in die Freiheit zu entlassen. Eine Interpretation des § 2 Abs. 6 StGB in dem Sinne, dass für die Sicherungsverwahrung eine rückwirkende Anwendung nicht möglich ist, würde den in den genannten Bestimmungen enthaltenen, vom eindeutigen Willen des Gesetzgebers getragenen Normbefehl teilweise oder ganz aushöhlen (vgl. auch Radtke aaO) und liefe auf ein den Strafgerichten bei der Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zustehendes Normverwerfungsrecht hinaus.
34
a) Dass der Gesetzgeber die aus der Konvention resultierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen, namentlich den Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK, nicht als Ausnahmevorschrift im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB verstanden, sondern als Prüfungsmaßstab zur Frage der Übereinstimmung der Norm mit der Konvention herangezogen hat, ist den Gesetzesmaterialien zu entnehmen. Bei den Beratungen zum 2. Strafrechtsreformgesetz hat er sich ausdrücklich mit dem Verhältnis der beiden Regelungen befasst. Bereits seinerzeit erhobene Bedenken, dass die grundsätzliche Ausnahme der Maßregeln vom Rückwirkungsverbot gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK verstoße, hat er als „unbegründet“ zurückgewiesen (BT-Drucks. IV/650, S. 108). Besondere Vorschriften für die zeitliche Geltung von Maßregeln würden namentlich für die Zeit des Inkrafttretens des neuen Strafrechts erforderlich werden; im Einführungsgesetz werde daher im Einzelnen zu regeln sein, ob und in welchem Umfange Neuerungen im Maßregelrecht des Entwurfs zurückwirkten (BT-Drucks. IV/650 aaO). Durch die Wendung „wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“ solle darauf hingewiesen werden, dass bei der Rechtsanwendung auf die Möglichkeit besonderer Regelungen zu achten sei (BTDrucks. IV/650 aaO). Dem entspricht die im strafrechtlichen Schrifttum vertretene Meinung, dass § 2 Abs. 6 StGB für eine Ausnahme von der Regel der Anwendung des zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Rechts ausdrückliche Normierungen des Gesetzgebers verlangt (vgl. Schmitz in MünchKommStGB § 2 Rdn. 51).
35
b) Im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB hat der Gesetzgeber keine besondere gesetzliche Anordnung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB für Altfälle getroffen. Im Gegenteil bestimmte Art. 1a Abs. 3 EGStGB in der Fassung vom 31. Januar 1998 ausdrücklich die rückwirkende Anwendung auf Fälle, in denen die Anlasstat vor Inkrafttreten der Gesetzesnovelle begangen worden war. Aus der Streichung der Vorschrift mit Wirkung zum 29. Juli 2004 (BGBl I 1838) kann keine abweichende gesetzgeberische Wertung abgeleitet werden. Sie erfolgte nur deswegen, weil Art. 1a Abs. 3 EGStGB vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01 (BVerfGE 109, 133) – und 10. Februar 2004 – 2 BvR 834/02 u.a. (BVerfGE 109, 190) – verzichtbar erschien (BT-Drucks. 15/2887).
36
c) Ebenso zweifelsfrei ist der gesetzgeberische Wille für eine Rückwirkung im Bereich der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB. Die Norm wurde mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 109, 190), das auch spätere entsprechende Anwendungen in all ihren Varianten unbeanstandet gelassen hat (BVerfG – Kammer – NStZ 2007, 87; NJW 2009, 980; NStZ 2010, 265), gerade auch für solche Fälle geschaffen, in denen bei Tatbegehung noch keine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung vorgesehen war, weitgehend auch für Fälle, in denen die nachträgliche Anordnung an formelle Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung anknüpfte, die bei Tatbegehung noch nicht galten. Der Bundesgerichtshof hat – ersichtlich im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers – unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine insoweit rückwirkende Anwendung des § 66b StGB wiederholt gebilligt (vgl. nur BGHSt 52, 205, 209 ff. m.w.N.).
37
d) In diesem Zusammenhang wäre es im Übrigen kein gangbarer Weg, über § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK eine Rückwirkung nur bei den Regelungen zu verhindern, denen, weil auch „Neufälle“ umfassend , bei Ausschluss rückwirkender Anwendung noch ein sinnvoller An- wendungsbereich verbliebe. Diese Interpretation würde zu dem sinnwidrigen Ergebnis führen, dass lediglich die „reine Altfallregelung“ des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB Bestand haben müsste (vgl. BGH NStZ 2010, 565, 566), obgleich sie dem Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK insgesamt und damit am deutlichsten widerstreitet.
38
3. Aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a MRK, auf dessen Verletzung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (aaO) den Konventionsverstoß bei rückwirkender Anwendung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB gleichfalls stützt, da ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers und seinem fortdauernden Freiheitsentzug fehle (Rdn. 92 bis 101), folgt nichts anderes. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 MRK überhaupt eine – in § 2 Abs. 6 StGB vorausge -setzte – zeitliche Begrenzung für die Anordnung strafrechtlicher Rechtsfolgen ableiten lässt. Jedenfalls stünde einer Berücksichtigung im Rahmen des § 2 Abs. 6 StGB – ebenso wie bei Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK – die dargelegte eindeutige Gesetzeslage entgegen. Angesichts dessen fehlt auch für eine im Schrifttum vorgeschlagene (vgl. Grabenwarter aaO S. 867 f.) Anwendung von § 67d Abs. 4 StGB jede Grundlage.
39
4. Der Senat beabsichtigt daher tragend zu entscheiden, dass sich aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine die Rückwirkung hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB ergibt.

IV.


40
Mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB im Falle rückwirkender Anwendung allerdings einschränkend auszulegen.
41
1. Bei der Entscheidung nach § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB und ihren Folgeentscheidungen erfordert das Verhältnismäßigkeitsprinzip (§ 62 StGB), die Schutzinteressen der Allgemeinheit und den Freiheitsanspruch des Untergebrachten im Einzelfall abzuwägen. Das Gericht hat in die erforderliche Gesamtwürdigung die vom Täter ausgehenden Gefahren sowie die Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs einzustellen und ins Verhältnis zu setzen (vgl. BVerfGE 109, 133, 159). Nach den dargestellten Grundsätzen sind in diese Gesamtwürdigung auch die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Ausformung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzubeziehen. Die vom Gerichtshof geforderte konventionsgemäße Gewichtung hat einzufließen (Gollwitzer aaO Rdn. 77a), um eine konventionsfreundliche Anwendung der in Frage stehenden Norm zu gewährleisten. Die Ausführungen des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit mit Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK und namentlich auch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 MRK streiten daher im Rahmen der Gesamtwürdigung unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes und des Freiheitsrechts in gewichtigem Maße zugunsten des Verurteilten.
42
2. Hieraus folgt, dass bei konventionsfreundlicher Gesamtwürdigung von einem grundsätzlichen Überwiegen dieser Rechtspositionen des Verurteilten auszugehen ist. Im Lichte der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bedarf es einer noch weiter eingeschränkten Auslegung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB, als sie bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 109, 133) verlangt hat. Danach ist in Altfällen die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären, sofern nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist.
43
In den Vorlegungssachen der Oberlandesgerichte Stuttgart und Koblenz ergeben sich aus dem Vollzugsverhalten der Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für nach einer Entlassung unmittelbar drohende entsprechende schwerste Straftaten, durch die die Opfer physisch oder psychisch massiv geschädigt werden.
44
Ansonsten kann die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung nur dann angeordnet werden, wenn der Verurteilte – etwa mit hoher Rückfallgeschwindigkeit , während gewährter Lockerungen oder bereits im Vollzug geplant – mehrere Vortaten im genannten Sinn begangen hat und sich im Rahmen des Vollzugs der Sicherungsverwahrung keine positiven Anhaltspunkte ergeben haben, die eine Reduzierung der im Vorleben des Verurteilten dokumentierten massiven Gefährlichkeit nahelegen. Zu dieser Fallgruppe kann die Vorlegungssache des Oberlandesgerichts Celle gerechnet werden, hier allerdings vorbehaltlich kontraindizierender Erkenntnisse über das aktuelle physische Gewaltpotential des Verurteilten.
45
Nur unter diesen sehr eng zu handhabenden Voraussetzungen erscheint es vertretbar, dass als Eingriff in das Freiheitsrecht des Verurteilten unter Berücksichtigung seines auf höchster Stufe schutzwürdigen Vertrauens in die Unabänderbarkeit der zur Tatzeit bestimmten Rechtsfolge – auch in ihrer Dauer – einerseits und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits eine Entscheidung zu seinen Lasten getroffen werden darf (vgl. BGH NStZ 2010, 565, 567). Während der Senat im Rahmen des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB eine ähnlich, entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Stuttgart jedoch nicht auf die Gefahr schwerster Kapitalverbrechen beschränkte , restriktive Anordnungspraxis bei Ausübung des dort bestehenden Ermessens verlangt hat, ist bei § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB die aus Verhältnismäßigkeitsgründen unerlässliche äußerst eingeschränkte Interpretation des unbestimmten Rechtsbegriffs der Gefahr mit ähnlichem Ergebnis geboten.
46
3. Durch eine derartige erheblich einschränkende Auslegung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB wird den konventionsrechtlichen Bedenken des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 MRK in weitem Umfang Rechnung getragen. Die rückwirkende Anwendung wird auf Fälle begrenzt, in denen das tangierte Freiheitsrecht des betroffenen Verurteilten mit im Bereich der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannten wichtigen Rechten Dritter kollidiert. Hinzu kommt, dass die weiter anzuordnende Freiheitsbeschränkung wegen gerichtlich sorgfältig neu zu prüfender konkreter schwerer Gefährdung künftiger Tatopfer erfolgt, die zudem häufig, wie gerade auch aus den dem Senat vorgelegten Fällen deutlich wird, in einer – unabhängig von der Beurteilung der eigentlichen Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB – gravierenden Persönlichkeitsstörung des deshalb zu schwersten Straftaten neigenden verurteilten Hangtäters wurzelt. Damit sprechen auch die in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c und lit. e MRK enthaltenen Grundgedanken für eine Zulässigkeit fortdauernden Freiheitsentzugs in den betroffenen Extremfällen.
47
4. Bei derart erhöhter Gefahrenprognose, ohne deren Vorliegen die Vollstreckung der Maßregel für erledigt zu erklären ist, wird – anders als es der Generalbundesanwalt vertritt (insoweit unklar Radtke NStZ 2010, 537, 544 f.) – eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung nach § 67d Abs. 2 StGB nur selten in Betracht kommen. Sie ist indes – anders als der systematische Zusammenhang von § 67d Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 StGB auf den ersten Blick nahelegt – nicht etwa prinzipiell ausgeschlossen. Vielmehr wird die Aussetzung in § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO sogar vorausgesetzt. Sie wird in Erwägung zu ziehen sein, wenn eine hochgradige Gefahr im dargelegten Sinne zwar prognostiziert wird, diese aber durch den Widerrufsdruck und mit einer Aussetzung zur Bewährung zu verbindende Weisungen so weit reduziert werden kann, dass angenommen werden kann, der Verurteilte könne von der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen abgehalten werden (in diesem Sinne Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 67d Rdn. 74). In solchen Konstellationen stellt die Aussetzung zur Bewährung anstelle einer sonst zwingend fortdauernden Vollstreckung die „konventionsfreundlichste“ Maßnahme dar.
48
5. Ob der weitere Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach den dargelegten Kriterien noch gerechtfertigt ist, hat das zuständige Gericht von Amts wegen aufgrund einer aktuellen Gefährlichkeitsprognose zu prüfen, auch wenn zwei Jahre seit der letzten Prüfung noch nicht vergangen sind. Die Entscheidung des Gerichtshofs ist eine Tatsache, die eine erneute Prüfung einer Erledigterklärung der Sicherungsverwahrung nach § 67e Abs. 1 StGB oder einer Aussetzung ihrer Vollstreckung unerlässlich macht (vgl. Grabenwarter JZ 2010, 857, 865; Radtke NStZ 2010, 537, 544).

V.


49
Nach den vom Senat entwickelten Maßstäben erscheint in den aufgezeigten Fällen im Blick auf die getroffenen Feststellungen und Wertungen der Oberlandesgerichte die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung naheliegend, weswegen in den vorliegenden Fällen auch das Ergebnis der unter II. 2. dargestellten Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs widerstreitet.
50
1. Der Senat fragt daher beim 4. Strafsenat an, ob die entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben wird.
51
a) Die Anfrage wird nicht dadurch gehindert, dass sich die Entscheidung des 4. Strafsenats auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB bezieht. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betrifft unmittelbar den hier relevanten § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB. Der 4. Strafsenat hat indessen die in der Entscheidung des Gerichtshofs aufgezeigten Grundsätze auf den Fall der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung übertragen. Dies entspricht der Auffassung des anfragenden Senats, wonach eine unterschiedliche Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB in Fällen nachträglicher Sicherungsverwahrung nicht in Betracht kommt (BGH NStZ 2010, 565, 566 m.w.N.; vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010,

322).


52
b) Aus der dem Senat gemäß § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG in Verbindung mit dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs in der seit 20. Juli 2010 gültigen Fassung zugewiesenen Spezialzuständigkeit zur Entscheidung von Vorlegungssachen über die Erledigung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ergibt sich kein das Anfrageverfahren ausschließender Umstand. Eine Abweichung von der Rechtsprechung anderer Senate ohne Vorlegung ist nur dann möglich, wenn ein Senat nach der Geschäftsverteilung für ein bestimmtes Rechtsgebiet (nunmehr) allein und ausschließlich zuständig ist und die Rechtsfrage nur diese Spezialmaterie betrifft (Hannich in KK 6. Aufl. § 132 GVG Rdn. 6). Die Frage der Auslegung von § 2 Abs. 6 StGB im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erstreckt sich indessen – wie dargelegt – auf die dem Senat nicht in ausschließlicher Zuständigkeit zugewiesenen Fälle der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB. Es ist undenkbar , aus der Entscheidung des Gerichtshofs eine unmittelbar umsetzbare Einschränkung der Rückwirkung in Fällen des § 66b StGB herzuleiten, ohne sie zugleich auf die von der Entscheidung unmittelbar betroffene Regelung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB zu übertragen.
53
2. Der Senat fragt bei den anderen Strafsenaten an, ob der dargelegten Rechtsauffassung zugestimmt wird.
54
a) Die Frage der Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB ist eine solche von grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist auch über die vorliegenden Fälle hinaus bedeutsam, weil einschlägige Fallgestaltungen in der Praxis der Strafkammern (nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung) und der Strafvollstreckungskammern (Entscheidung nach § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB und Folgeentscheidungen) häufig zu erwarten und von großem Gewicht für die Betroffenen sind. Bei einer die Rückwirkung hindernden Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB wäre zudem in Fällen nachträglich angeordneter wie rückwirkend verlängerter und derzeit vollzogener Unterbringung in der Sicherungsverwahrung – unbeschadet anhängiger Verfassungsbeschwerden – die Maß- regel unverzüglich für erledigt zu erklären (vgl. Veh in MünchKomm-StGB § 67d Rdn. 35). Auch deshalb ist die Frage grundsätzlich klärungsbedürftig.
55
b) Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung führt der Senat daher das Anfrageverfahren auch bei den anderen Senaten durch (vgl. zur Zulässigkeit einer solchen Anfrage Hannich aaO § 132 GVG Rdn. 16; Kissel /Mayer, GVG 6. Aufl. § 132 Rdn. 38; vgl. auch BGHSt 16, 351, 353).

VI.


56
Der Senat weist auf Folgendes hin:
57
Seine Auslegung vermag – ungeachtet der dargelegten formellen und materiellen Einschränkungen – bei rückwirkend zeitlich unbegrenzter Fortdauer der Sicherungsverwahrung in den einschlägigen Fällen höchst gefährlicher Gewalttäter auf der Grundlage des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nichts an dem darin angenommenen Verstoß jedenfalls gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK zu ändern.
58
1. Ihn zu beseitigen, ist primär gesetzgeberischen Maßnahmen vorbehalten (vgl. dazu auch den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen, BT-Drucks. 17/3403). Hierfür ist nach Auffassung des Senats eine zwingend grundlegend veränderte Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung in Betracht zu ziehen, welche dessen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte strafgleiche Wirkung zu beseitigen geeignet ist, und zwar insbesondere durch verstärkte Therapieorientierung, ferner durch deutliche Vollzugserleichterungen im Vergleich zum Strafvollzug. Dies würde zugleich das bereits vom Bundesverfassungsgericht ansatzweise verlangte „Abstandsgebot“ (vgl. BVerfGE 109, 133, 153 ff., 166 f.) effektiv machen. Ob sich eine Neugestaltung in diesem Sinne auf die – hier allein relevanten – Altfälle mit Rückwirkung, etwa gar nur auf nach der Entscheidung des Ge- richtshofs bereits freigelassene Verurteilte beschränken ließe (so der vorbezeichnete Koalitionsentwurf), hat der Senat nicht zu beurteilen, erscheint freilich im Blick auf den Gleichheitsgrundsatz und das Freiheitsrecht aller in Sicherungsverwahrung Untergebrachter überaus zweifelhaft.
59
2. Der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verstoß insbesondere gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK verstärkt die verfassungsrechtlichen Zweifel, denen die rückwirkende Streichung der zuvor vorgesehenen Begrenzung der Unterbringungsdauer unterliegt. Diese Bedenken erfassen gleichermaßen die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB in Fällen, in denen die Regelung bei Tatbegehung noch nicht gegolten hat, namentlich soweit sie gar noch an Maßregelvoraussetzungen anknüpft, die erst nach Tatbegehung geschaffen worden sind. Der Bundesgerichtshof hat die verfassungsrechtliche Problematik in einschlägigen Fällen des § 66b StGB wiederholt behandelt (vgl. nur BGHSt 50, 373, 377 ff.; 52, 205, 209 ff.; BGH NStZ 2010, 565, 567).
60
Die eingetretene Divergenz der Auslegung des in Art. 103 Abs. 2 GG und in Art. 7 Abs. 1 MRK gleichermaßen verankerten Grundsatzes „nulla poena sine lege“ durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist für die Strafjustiz höchst problematisch. Sie betrifft zudem einen besonders empfindlichen Bereich der Strafrechtspflege , in dem ein beträchtliches Gewicht der Freiheitseinschränkung für Verurteilte in Spannung tritt zu einhergehenden gravierenden Gefahren für die Allgemeinheit – konkret für Leib und Leben potentieller Opfer –, die mit Lockerungen und Entlassungen einhergehen. Nach dem Urteil des Gerichtshofs kann sich die Frage einer Verfassungsmäßigkeit rückwirkender Regelungen bei § 67d Abs. 3 Satz 1 wie bei § 66b StGB neu stellen, insbesondere unter dem Blickwinkel des durch Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Vertrauens rechtskräftig Abgeurteilter angesichts der jedenfalls gegebenen Nähe zum Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG. Auch dem Bundesverfassungsgericht obliegt die Berücksichtigung einer verbindlichen Interpretation der Konvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. Grabenwarter JZ 2010, 857, 863).
61
Da das Verfahren nach § 132 GVG in der vom Senat abgelehnten Alternative letztlich zur Unanwendbarkeit der Normen führen kann, deren Rückwirkung in Frage steht – mit Ausnahme des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB, der keinen Anwendungsbereich ohne Rückwirkung hat (vgl. oben III. 2d; dazu BGH NStZ 2010, 565, 566) –, kommt eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungsgericht in der jetzigen Phase der Entscheidungsfindung nicht in Betracht. Sie mag nach Abschluss des Verfahrens gemäß § 132 GVG, unter Umständen aber auch vom Großen Senat für Strafsachen innerhalb dieses Verfahrens, in Erwägung zu ziehen sein. Näher läge sie freilich erst in Fällen, in denen ein Oberlandesgericht nach Durchführung des Vorlegungsverfahrens abschließend zur Anordnung der Fortdauer der Maßregelvollstreckung gelangen sollte. Im Übrigen lassen bereits anhängige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in absehbarer Zeit Entscheidungen erwarten. Selbst bei veränderter Beurteilung der Verfassungsrechtslage ist dabei die Verwerfung der zur Prüfung stehenden Normen nicht zwingend ; vielmehr erscheint auch eine Verpflichtung zu gesetzgeberischen Maßnahmen im Sinne der Umgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung nicht ausgeschlossen.

VII.


62
Bis zur Erledigung des Verfahrens nach § 132 GVG gibt der Senat die Akten den vorlegenden Oberlandesgerichten zurück. Er weist hierzu auf Folgendes hin:
63
1. Das Verfahren wird voraussichtlich mehrere Monate andauern. Während dieser Zeit wird die Unterbringung gegen die Verurteilten weiterhin vollstreckt, der Eingriff in das Freiheitsgrundrecht, dessen Zulässigkeit in den Vorlegungsverfahren in Zweifel steht, mithin stetig weiter vertieft. Dies erfor- dert, dass die Oberlandesgerichte bereits vor Klärung der Vorlegungsfrage aktuell zu überprüfen haben, ob – unabhängig von der Vorlegungsfrage – die Freiheitsentziehung gegen den Verurteilten zu beenden oder die Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen ist. Die Prüfung hat den vorstehend (oben IV.) bezeichneten, für die Oberlandesgerichte wegen der ausschließlichen Zuständigkeit des Senats nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG verbindlichen Maßstäben zu folgen.
64
2. Geboten ist zunächst eine neue Sachentscheidung nach § 67e Abs. 1 Satz 1 StGB aus Anlass des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ihr ist ein aktuelles Sachverständigengutachten zugrunde zu legen (§ 463 Abs. 3 Satz 4 StPO), das sich an den engeren Kriterien zu Verhältnismäßigkeit und Gefahrenbegriff zu orientieren hat.
65
3. Für den Fall, dass die bisherige oder eine erneute Sachprüfung auch unter Zugrundelegung dieser Grundsätze konkreter höchster Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit eine weitere Vollstreckung der Maßregel unerlässlich erscheinen lässt, ist zu beachten:
66
a) Auf etwa während des Vorlegungsverfahrens einschließlich des Verfahrens nach § 132 GVG auftretende neue Entwicklungen, die für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten bedeutsam sein können, muss unverzüglich mit einer neuen Sachprüfung der Unerlässlichkeit weiterer Freiheitsentziehung reagiert werden.
67
b) Es ist denkbar, dass die Prüfung im Verfahren nach § 132 GVG entgegen dem Votum des erkennenden Senats zum Ergebnis genereller Unzulässigkeit weiterer Maßregelvollstreckung gelangt. Dies zöge die sofortige Entlassung aller betroffenen Untergebrachten nach sich. Im Hinblick darauf ist eine vorsorgliche Vorbereitung sofort umsetzbarer, im Entlassungsfall angezeigter – insbesondere fürsorglicher – Maßnahmen zwingend geboten, die einer sozialen Gefährdung entlassener Verurteilter und einer damit einherge- henden Gefährdung der Allgemeinheit entgegenzuwirken vermögen. Durch eine unvorbereitete Eilentlassung würde diesen Gefahren Vorschub geleistet. Auf geeignete Maßnahmen hinzuwirken, ist auch Aufgabe der im Erledigungsverfahren tätigen Vollstreckungsgerichte einschließlich der vorlegenden Oberlandesgerichte.
Basdorf Brause Schaal Schneider König

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

Gegen die Urteile der Strafkammern und der Schwurgerichte sowie gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Urteile der Oberlandesgerichte ist Revision zulässig.

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

(1) Die Hauptverhandlung schließt mit der auf die Beratung folgenden Verkündung des Urteils.

(2) Wird ein Berufsverbot angeordnet, so ist im Urteil der Beruf, der Berufszweig, das Gewerbe oder der Gewerbezweig, dessen Ausübung verboten wird, genau zu bezeichnen.

(3) Die Einstellung des Verfahrens ist im Urteil auszusprechen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht.

(4) Die Urteilsformel gibt die rechtliche Bezeichnung der Tat an, deren der Angeklagte schuldig gesprochen wird. Hat ein Straftatbestand eine gesetzliche Überschrift, so soll diese zur rechtlichen Bezeichnung der Tat verwendet werden. Wird eine Geldstrafe verhängt, so sind Zahl und Höhe der Tagessätze in die Urteilsformel aufzunehmen. Wird die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten, die Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung zur Bewährung ausgesetzt, der Angeklagte mit Strafvorbehalt verwarnt oder von Strafe abgesehen, so ist dies in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen. Im übrigen unterliegt die Fassung der Urteilsformel dem Ermessen des Gerichts.

(5) Nach der Urteilsformel werden die angewendeten Vorschriften nach Paragraph, Absatz, Nummer, Buchstabe und mit der Bezeichnung des Gesetzes aufgeführt. Ist bei einer Verurteilung, durch die auf Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren erkannt wird, die Tat oder der ihrer Bedeutung nach überwiegende Teil der Taten auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden, so ist außerdem § 17 Abs. 2 des Bundeszentralregistergesetzes anzuführen.

(1) Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich. Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig. Die Tonübertragung in einen Arbeitsraum für Personen, die für Presse, Hörfunk, Fernsehen oder für andere Medien berichten, kann von dem Gericht zugelassen werden. Die Tonübertragung kann zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten oder Dritter oder zur Wahrung eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens teilweise untersagt werden. Im Übrigen gilt für den in den Arbeitsraum übertragenen Ton Satz 2 entsprechend.

(2) Tonaufnahmen der Verhandlung einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse können zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken von dem Gericht zugelassen werden, wenn es sich um ein Verfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland handelt. Zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten oder Dritter oder zur Wahrung eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens können die Aufnahmen teilweise untersagt werden. Die Aufnahmen sind nicht zu den Akten zu nehmen und dürfen weder herausgegeben noch für Zwecke des aufgenommenen oder eines anderen Verfahrens genutzt oder verwertet werden. Sie sind vom Gericht nach Abschluss des Verfahrens demjenigen zuständigen Bundes- oder Landesarchiv zur Übernahme anzubieten, das nach dem Bundesarchivgesetz oder einem Landesarchivgesetz festzustellen hat, ob den Aufnahmen ein bleibender Wert zukommt. Nimmt das Bundesarchiv oder das jeweilige Landesarchiv die Aufnahmen nicht an, sind die Aufnahmen durch das Gericht zu löschen.

(3) Abweichend von Absatz 1 Satz 2 kann das Gericht für die Verkündung von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in besonderen Fällen Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder der Veröffentlichung ihres Inhalts zulassen. Zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten oder Dritter sowie eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens können die Aufnahmen oder deren Übertragung teilweise untersagt oder von der Einhaltung von Auflagen abhängig gemacht werden.

(4) Die Beschlüsse des Gerichts nach den Absätzen 1 bis 3 sind unanfechtbar.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 441/05
vom
6. Dezember 2005
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
6. Dezember 2005, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 7. Juli 2005 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Betroffenen in Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die auch vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg. Die Jugendkammer hat nicht in der gesetzlichen Verfahrensweise entschieden und hat in der Sache (schon) die (formalen) Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrungen verkannt.

I.

Folgender Verfahrensgang liegt zu Grunde: 1. Der Betroffene war am 20. Oktober 1998 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen (§ 176 StGB in der bis 31. März 1998 geltenden Fassung) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. In einem Fall betrug die Einzelstrafe sechs Monate, die übrigen fünf Fälle waren besonders schwere Fälle i. S. d. (damaligen) § 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB; in einem Fall wurde eine Strafe von vier Jahren - die Einsatzstrafe - verhängt, in den vier weiteren Fällen betrug die Einzelstrafe jeweils drei Jahre und sechs Monate. Dieses Urteil ist seit dem 10. März 1999 rechtskräftig. Der Betroffene hat die Strafe bis Mitte Oktober 2005 vollständig verbüßt. 2. Am 7. Juni 2005 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, den Betroffenen nachträglich in Sicherungsverwahrung unterzubringen, da die Voraussetzungen von § 66b Abs. 2 StGB erfüllt seien. Diesen Antrag hat die Jugendkammer durch den angefochtenen Beschluss vom 7. Juli 2005 als unzulässig zurückgewiesen. Es fehlten die formalen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB, die genannte Verurteilung vom 20. Oktober 1998 sei nicht wegen Verbrechen, sondern wegen Vergehen erfolgt. Darüber hinaus rechtfertige auch eine Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und der im Strafvollzug angefallenen Erkenntnisse nicht die gemäß § 66b Abs. 2 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose. 3. Gegen diese Entscheidung richtet sich das zunächst als sofortige Beschwerde , später als Revision bezeichnete Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft. Sie macht geltend, die Jugendkammer hätte nur auf Grund einer Hauptverhand-
lung und dementsprechend durch Urteil entscheiden dürfen. In der Sache lägen zwar nicht die Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB, dafür jedoch die des § 66b Abs. 1 StGB vor. Auch die von der Jugendkammer vorgenommene Gesamtwürdigung sei aus im Einzelnen dargelegten Gründen rechtsfehlerhaft. 4. Wie die Verteidigung dem Senat vorgetragen hat, ist der Betroffene inzwischen auf freiem Fuß. Die Jugendkammer hat mit Beschluss vom 30. August 2005 einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Unterbringungsbefehls abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht München durch Beschluss vom 12. Oktober 2005 ( ) aus formellen und materiellen Gründen verworfen.

II.

Das Rechtsmittel ist statthaft und zulässig (vgl. zu einem im Verfahrensablauf im Kern identischen Fall BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 StR 9/05) und greift durch. 1. Wie in der genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Einzelnen ausgeführt ist, ergibt sich aus § 275a StPO, dass über einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Unterbringung in Sicherungsverwahrung nur auf Grund einer mündlichen Hauptverhandlung in der dafür vorgesehenen Besetzung (also mit Schöffen) entschieden werden kann. Eine Entscheidung durch Beschluss, also ohne Schöffen, kann regelmäßig keinen Bestand haben. 2. a) Auch die Verteidigung verkennt nicht, dass bei einem Antrag auf nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 275a Abs. 2 StPO die Regeln über das Zwischenverfahren nicht gelten. Sie hält diese Regelung aber für lückenhaft und ihre Konsequenz, dass auf einen solchen An-
trag dann stets auf Grund einer Hauptverhandlung zu entscheiden sei, für verfehlt. Es ginge nicht an, dass über einen Antrag, der aus zwingenden rechtlichen Gründen keinesfalls Erfolg haben könne, nur nach einer Hauptverhandlung und auch noch unter Heranziehung von zwei Gutachtern (vgl. § 275a Abs. 4 Satz 2 StPO) entschieden werden dürfe. Die Jugendkammer habe daher zu Recht in entsprechender Anwendung von § 207 StPO den Antrag der Staatsanwaltschaft durch Beschluss zurückgewiesen.
b) Der Senat kann dem letztlich nicht folgen. Notwendige Voraussetzung für eine analoge Anwendung der Regelungen über das Zwischenverfahren auf die nachträgliche Unterbringung in Sicherungsverwahrung wäre, wie für jede analoge Anwendung nicht unmittelbar anwendbarer Bestimmungen, eine vom Gesetzgeber nicht erkannte („planwidrige“ ) Regelungslücke (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2005 - 1 StR 350/05; Wahl, NStZ 1988, 317 m. w. N.). Daran fehlt es. Die Materialien zur nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung ergeben eindeutig, dass der Gesetzgeber die Verfahrensregeln, die für die Entscheidung über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) gelten, für das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung übernehmen wollte (vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 15). In dem Verfahren über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist für ein „Zwischenverfahren“ aber schon deshalb keine Notwendigkeit, weil bereits ein Hauptverfahren stattgefunden hat, in dem die formalen Voraussetzungen von Sicherungsverwahrung zu prüfen waren. Dies ist bei nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht der Fall. Dementsprechend heißt es auch in den Gesetzesmaterialien, dass bei vorbehaltener Sicherungsverwahrung auf jeden Fall eine weitere gerichtliche Entscheidung erfolgen muss, während ein Verfahren wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung nur stattfindet, wenn die Staatsanwaltschaft
einen entsprechenden Antrag stellt (aaO S. 16). Wenn der Gesetzgeber trotzdem für das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung die Regeln über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für anwendbar erklärt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er übersehen hätte, dass damit auch hier für ein Zwischenverfahren kein Raum ist. Darauf , ob auch eine andere Regelung vorstellbar und im Einzelfall zweckmäßiger sein könnte, kommt es unter diesen Umständen nicht an. 3. Von alledem unabhängig ist jedoch die Frage, ob eine Entscheidung, mit der eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung abgelehnt wurde, weil zwingend vorgeschriebene formale - also ohne jede wertende Würdigung feststellbare - Voraussetzungen fehlen, je darauf beruhen könnte (§ 337 StPO), dass sie nicht in der vorgeschriebenen Form oder ohne Anhörung von Sachverständigen getroffen wurde. Der Senat braucht dem aber nicht näher nachzugehen, weil die formalen Voraussetzungen einer nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung entgegen der Auffassung der Jugendkammer vorliegen. Allerdings hat die Jugendkammer, ersichtlich orientiert am ursprünglichen Antrag der Staatsanwaltschaft (vgl. oben I. 2.), zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen von § 66b Abs. 2 StGB nicht vorliegen, weil die Vorverurteilung nicht Verbrechen betrifft. Sie hat jedoch verkannt, dass dieser Mangel im Antrag der Staatsanwaltschaft sie nicht davon freistellte, den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, wobei gegebenenfalls entsprechende Hinweise zu geben sind (§ 275a Abs. 2 StPO i. V. m. §§ 264, 265 StPO).
Hier liegen die Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 StGB i. V. m. § 66 Abs. 2 StGB vor. § 66b Abs. 1 StGB verlangt die Verurteilung wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Vergehens. Dies liegt vor, § 176 StGB ist dort genannt. Weiter ist gemäß § 66b Abs. 1 StGB, letzter Halbsatz, erforderlich , dass die übrigen Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sind. Damit ist auf die formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 1 bis 3 StGB verwiesen. Hieraus ergeben sich auch für § 66b Abs. 1 StGB verschiedene Fallgruppen entsprechend denjenigen des § 66 StGB (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 66b Rdn. 10 m. w. N.). Hier liegen die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB vor. Der Verurteilung wegen sechs Fällen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von über sieben Jahren liegen nämlich vier Fälle zu Grunde, in denen je eine Strafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt wurde, und ein Fall, in dem diese Strafe sogar vier Jahre betrug (vgl. oben I. 1.). 4. Da nach alledem die formellen Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung vorliegen, kommt es entscheidend auf die (tatrichterliche) Würdigung der Persönlichkeit des Verurteilten, seiner Straftaten und der im Strafvollzug angefallenen Erkenntnisse an. Die hierauf bezogenen knappen Ausführungen der Jugendkammer und das hiergegen gerichtete Vorbringen der Staatsanwaltschaft - das, soweit bisher ersichtlich, nicht ohne weiteres zu einer nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung
drängt - können jedoch auf sich beruhen. Wie dargelegt, könnte, wenn überhaupt , die Entscheidung durch Beschluss statt durch Urteil allenfalls dann unschädlich sein, wenn die Zurückweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft aus Rechtsgründen ohne jede wertende Würdigung zwingend geboten gewesen wäre (vgl. oben II. 3.). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Nack Wahl Kolz Elf Graf

Ein Irrtum in der Bezeichnung des zulässigen Rechtsmittels ist unschädlich.

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 577/09
vom
12. Mai 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Mai 2010 gemäß §§ 349
Abs. 4, 126 Abs. 3 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 17. Juli 2009 aufgehoben.
2. Der Antrag auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird zurückgewiesen.
3. Die Entscheidung über die Entschädigung des Betroffenen wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
4. Der Unterbringungsbefehl des Landgerichts Saarbrücken vom 15. Juni 2007 wird aufgehoben. Der Betroffene ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen.
5. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Rechtsmittelkosten und die notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:


1
Das Landgericht Saarbrücken hat mit Urteil vom 17. Juli 2009 gegen den Betroffenen (erneut) die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwah- rung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB angeordnet. Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt er die Verletzung formellen und materiellen Rechts; das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in vollem Umfang Erfolg.

I.


2
Der wiederholt, unter anderem wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung vorbestrafte Betroffene war durch Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. September 1989 wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Zugleich hatte das Landgericht seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Der Verurteilte hatte nach Ansicht der damals erkennenden Strafkammer in einem Rausch jedenfalls die Tatbestände der Körperverletzung und des versuchten Totschlags durch Unterlassen verwirklicht. Die Anordnung der Maßregel hatte das Landgericht damit begründet, dass der Verurteilte auf Grund einer Persönlichkeitsstörung zur Begehung schwerster , sexuell motivierter Straftaten neige.
3
Durch Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Februar 1991 wurde in einem Sicherungsverfahren erneut die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Gegenstand dieses Verfahrens war eine gefährliche Körperverletzung, die der Verurteilte am 23. Februar 1990 während einer Flucht aus dem Maßregelvollzug begangen hatte.
4
Der Verurteilte befand sich anschließend nahezu ununterbrochen im Maßregelvollzug. Mit Beschluss vom 28. November 2005 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Saarbrücken gemäß § 67 d Abs. 6 Satz 1 StGB beide Unterbringungsanordnungen für erledigt, da ein Zustand im Sinne des § 20 StGB nicht (mehr) gegeben sei; gleichwohl sei der Verurteilte weiterhin als gefährlich für die Allgemeinheit einzustufen. Seit dem 23. Dezember 2005 befand sich der Verurteilte sodann in Strafhaft. Er verbüßte bis zum 22. Juni 2007 die Restfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. September 1989. Seitdem ist er einstweilen untergebracht (§ 275 a Abs. 5 StPO).
5
Mit Urteil vom 4. April 2007 hatte das Landgericht Saarbrücken auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 14. November 2006 im Hinblick auf die Verurteilung durch das Landgericht Saarbrücken vom 28. September 1989 gegen den Betroffenen gemäß § 66 b Abs. 3 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dieses Urteil hatte der Senat durch Beschluss vom 10. Februar 2009 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverwiesen. Aufhebungsgrund war, dass der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 7. Oktober 2008 - GSSt 1/08 - (BGHSt 52, 379) entschieden hatte, dass § 66 b Abs. 3 StGB nicht auf Fälle anwendbar ist, in denen der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist.
6
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht erneut die nachträgliche Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung angeordnet und nunmehr die Anordnung der Unterbringung auf das Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Februar 1991 gestützt, in der gegen den Betroffenen - weil schuldlos handelnd - nur auf die Unterbringung nach § 63 StGB erkannt worden war.

II.


7
Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand. Zwar hat das Landgericht die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 3 StGB rechtsfehlerfrei bejaht, jedoch ist diese Bestimmung gemäß § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK nicht auf Taten anwendbar, die vor ihrem Inkrafttreten begangen worden sind.
8
1. a) Nach dem Urteil der Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Fünfte Sektion) in der Rechtsache M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04) vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25; auszugsweise auch abgedruckt in NStZ 2010, 263; vgl. hierzu auch Kinzig NStZ 2010, 233) ist die Sicherungsverwahrung - ungeachtet ihrer Bezeichnung im deutschen Recht als „Maßregel der Besserung und Sicherung“ - im Sinne der MRK als Strafe zu qualifizieren, für die das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 MRK gilt (Rdnrn. 124 - 133). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies unter anderem damit begründet, dass die Sicherungsverwahrung wie eine Freiheitsstrafe mit Freiheitsentziehung verbunden sei und es in der Bundesrepublik Deutschland keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem der Sicherungsverwahrung gebe (Rdnrn. 127 bis 130). Er hat daher in jenem Fall die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz an den dortigen Beschwerdeführer verurteilt, da die Anwendung des § 67 d StGB in der Fassung vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160), in welchem die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung für Erstverwahrte von zehn Jahren in § 67 d Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. abgeschafft worden war, auf Altfälle gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK verstoße (Rdnrn. 135 ff.). Diese Entscheidung ist endgültig, nachdem der Antrag der Bundesregierung auf Verweisung der Rechtsache an die Große Kammer am 10. Mai 2010 abgelehnt worden ist (Artt. 43 Abs. 2, 44 Abs. 2 Buchst. c MRK).
9
b) Nach Maßgabe dieses Urteils verstößt im vorliegenden Fall die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK, da das Tatzeitrecht für die Anlasstat nicht die Anordnung von Sicherungsverwahrung androhte.
10
Der Betroffene hat die Tat, die der Verurteilung durch das Landgericht Trier vom 28. Februar 1991 zugrunde liegt, am 23. Februar 1990 begangen. Nach der rechtlichen Würdigung des Landgerichts handelte er bei ihrer Begehung nicht ausschließbar im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB). Danach kam bereits aus diesem Grund eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht in Betracht. Denn § 66 Abs. 1 StGB, sowohl in der zum Tatzeitpunkt gültigen Fassung vom 10. März 1987 (BGBl. I 945) als auch in allen späteren Fassungen, setzte und setzt als Anlasstat die Begehung einer vorsätzlichen, d.h. schuldhaft begangenen, Tat voraus, für die zudem auf eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren erkannt worden sein muss.
11
Im Übrigen wären aber auch bei schuldhafter Tatbegehung die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht erfüllt gewesen, weil der Betroffene vor der (neuen) Tat nicht im Sinne dieser Bestimmung bereits zweimal wegen vorsätzlicher Straftaten jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Zwar war er - neben der Verurteilung durch das Landgericht Saarbrücken vom 28. September 1989 - weiterhin durch Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 9. Mai 1980 wegen einer am 30. Juli 1979 begangenen gefährlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Diese Tat wäre indes nach § 66 Abs. 3 Satz 3 und 4 StGB a.F. (= § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB in der jetzt geltenden Fassung ) nicht berücksichtigungsfähig gewesen, da der Betroffene nach Verbüßung der damals erkannten Freiheitsstrafe für einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren nicht wieder straffällig geworden war.
12
Erstmals § 66 b Abs. 3 StGB, auf den das Landgericht die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung des Betroffenen gestützt hat, ermöglichte hier die Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung. Diese Bestimmung ist jedoch erst nach Begehung der Anlasstat durch Gesetz vom 23. Juli 2004 (BGBl. I 1838) eingeführt worden und am 29. Juli 2004 in Kraft getreten. Ihrer Anwendung auf Altfälle steht nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 daher Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK entgegen.
13
c) Dass gegen den Betroffenen - anders als in dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Fall - bereits mit der Anlassverurteilung auf eine von vorneherein zeitlich nicht befristete Maßregel (vgl. § 67 d Abs. 1 Satz 1 StGB in der auch zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung) erkannt worden war, führt zu keiner anderen rechtlichen Bewertung (anders OLG Saarbrücken , Beschluss vom 7. April 2010 - 1 Ws 73/10). Insoweit ist zu berücksichtigen , dass schon vor Einführung des § 67 d Abs. 6 Satz 1 StGB nach der Rechtsprechung der Vollstreckungsgerichte die Erledigung der Maßregel bei Wegfall einer ihrer Voraussetzungen auch dann zu beschließen war, wenn die Gefährlichkeit des Untergebrachten fortbestand (vgl. OLG Hamm NStZ 1982, 300; OLG Karlsruhe MDR 1983, 151; OLG Frankfurt NStZ 1993, 252 sowie hierzu auch BVerfG NStZ 1995, 174, 175). Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber in § 67 d Abs. 6 StGB lediglich festschreiben wollen (vgl. BT-Drucks. 15/2887 S. 13 f.). Nach dem zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Recht hätte somit die angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt werden und der Betroffene in Freiheit entlassen werden müssen, ohne dass an ihre Stelle die Sicherungsverwahrung treten konnte.
14
d) Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind - ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung (vgl. Art. 46 Abs. 1 MRK sowie hierzu Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. MRK Verfahren Rdnr. 76) - bei der Auslegung innerdeutschen Rechts zu berücksichtigen. Die Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB ist daher mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 dahin auszulegen, dass § 66 b Abs. 3 StGB nicht rückwirkend auf vor seinem Inkrafttreten begangene Taten angewendet werden darf.
15
Zwar handelt es sich bei der Sicherungsverwahrung nach innerdeutschem Recht um eine Maßregel der Besserung und Sicherung, für die nach § 2 Abs. 6 StGB grundsätzlich das Recht zum Zeitpunkt der Entscheidung gilt. § 2 Abs. 6 StGB schreibt die Maßgeblichkeit des zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Rechts jedoch nur vor, „wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“. Eine derartige andere Bestimmung stellt hier Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte dar.
16
Bei der MRK handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der durch den Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert worden ist. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht die MRK im Range einfachen Bundesrechts. Deutsche Gerichte haben daher die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 316 ff.; BVerfG EuGRZ 2010, 145, 147; Gollwitzer aaO Einführung Rdnrn. 39, 43 jeweils m.w.N.). Dabei sind auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt. Das nationale Recht ist wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes unabhängig vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit den Bestimmungen der MRK auszulegen (BVerfGE 111, 307, 324; Gollwitzer aaO).
17
Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist bei konventionsgemäßer Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB die Regelung des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK als (einfach -) gesetzliche Ausnahmeregelung zu bewerten, die für die Anordnung der Sicherungsverwahrung die Maßgeblichkeit des Tatzeitrechts vorsieht. Nach dem zur Tatzeit geltenden Recht war jedoch - wie bereits ausgeführt - die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Betroffenen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt möglich.
18
2. Der hier vorgenommenen Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB steht nicht die Bindungswirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004 (BVerfGE 109, 133) zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Wegfalls der Höchstdauer der erstmaligen Sicherungsverwahrung entgegen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in jener Entscheidung ausgesprochen, dass die Sicherungsverwahrung keine Strafe darstellt und eine nachträgliche Änderung ihrer Höchstdauer nicht gegen das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstößt (BVerfGE 109, 133, 167 ff.). Bei der Frage, ob entsprechend dem Gesetzesvorbehalt in § 2 Abs. 6 StGB eine Maßregel der Besserung und Sicherung von der Maßgeblichkeit des Rechts des Zeitpunkts der Entscheidung auszunehmen ist, handelt es sich indes um eine solche einfachen Rechts. Dem Gesetzgeber steht es im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens frei, für einzelne Maßregeln der Besserung und Sicherung in Abweichung von dem Grundsatz des § 2 Abs. 6 StGB die Geltung des Tatzeitrechts anzuordnen; er hat hiervon in der Vergangenheit wiederholt Gebrauch gemacht (vgl. die Nachweise bei Fischer StGB 57. Aufl. § 2 Rdnr. 15 und speziell Art. 93 des 1. StrRG). Ebenso kann dies Folge der gebotenen Berücksichtigung einer ebenfalls im Range einfachen Bundesrechts stehenden Bestimmung der MRK sein. Der Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, dass nach deutschem Verfassungsrecht die Sicherungsverwahrung nicht dem Rückwirkungsverbot unterfällt, wird dadurch nicht in Frage gestellt. Einfaches Recht hat zwar die Vorgaben des Grundgesetzes zu wahren, es kann aber im Einzelfall über die dort festgelegten Mindestanforderungen hinausgehen.
19
3. Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs steht der getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Die Frage, ob § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK einer Anwendung des § 66 b Abs. 3 StGB auf Altfälle entgegensteht, ist - soweit ersichtlich - vom Bundesgerichtshof noch nicht entschieden worden. Der 1. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 595/09 [zu § 66 b Abs. 2 StGB] mögliche Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 auf den zu entscheidenden Fall offen gelassen und dies mit der fehlenden Endgültigkeit der Entscheidung begründet. Soweit der 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 9. März 2010 - 1 StR 554/09 die Auffassung vertreten hat, dass die Ausführungen in der - damals ebenfalls noch nicht endgültigen - Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG auf einen Altfall nicht entgegenstehen, hat er dies mit hier nicht einschlägigen Besonderheiten des Jugendstrafrechts begründet. Im Übrigen ist, nachdem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am 10. Mai 2010 gemäß Art. 43 Abs. 2, Art. 44 Abs. 2 Buchst. c MRK endgültig gewor- den ist, eine neue Rechtslage gegeben, die eine etwaige Bindung an frühere entgegenstehende Rechtsprechung entfallen lassen würde (vgl. hierzu Hannich in KK 6. Aufl. § 132 GVG Rdnr. 8).
20
4. Die Maßregelanordnung war daher aufzuheben; gleichzeitig war in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO der Antrag der Staatsanwaltschaft zurückzuweisen und der Betroffene sofort auf freien Fuß zu setzen.
21
Die Entscheidung über die Entschädigung des Betroffenen wegen der seit Ende der Strafhaft erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt wegen der größeren Sachnähe dem Landgericht vorbehalten.
RiBGH Athing ist im Ernemann Solin-Stojanović Ruhestand und daher an der Unterschrift gehindert Ernemann Cierniak Franke

(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.

(2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt.

(3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.

(4) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt.

(5) Für Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.

(6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 263/10
vom
26. Mai 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 26. Mai 2010 gemäß
§ 206 a Abs. 1 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 7. Januar 2010 wird das Verfahren eingestellt. Die Kosten des Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last. Die Entscheidung über die Entschädigung des Verurteilten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten. Der Unterbringungsbefehl des Landgerichts Aachen vom 10. Dezember 2009 wird aufgehoben. Der Verurteilte ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur Einstellung des Verfahrens, weil die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung ergibt, dass es für die Verurteilung an der Verfahrensvoraussetzung eines rechtzeitigen Antrags fehlt.
2
1. Der Verurteilte war vom Landgericht mit Urteil vom 29. November 1995 wegen versuchten Mordes und sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren (Einzelstrafen zwölf Jahre und fünf Jahre) verurteilt worden. Er verbüßte diese Strafe unter Berücksichtigung der am 4. April 1995 begonnenen Untersuchungshaft bis zum 2. April 2009 vollständig. Im Anschluss daran wurde gegen ihn eine Restfreiheitsstrafe von 305 Tagen aus dem Urteil des Amtsgerichts K. vom 25. Juli 1989 vollstreckt. Mit Datum vom 23. Juli 2009 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Am 23. Dezember 2009 wurde der Verurteilte unter Berücksichtigung von Arbeitsleistungen aus der Strafhaft entlassen. Seitdem ist er auf Grund des Unterbringungsbefehls des Landgerichts vom 10. Dezember 2009 vorläufig in der Sicherungsverwahrung untergebracht.
3
2. Die vollständige Verbüßung der Strafe aus der Anlassverurteilung vor der Stellung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung steht der Fortsetzung des Verfahrens entgegen.
4
Zwar regeln § 66 b StGB, § 275 a StPO die formellen Anforderungen an die Durchführung des Verfahrens auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht in allen Einzelheiten. § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB ist insoweit zu entnehmen, dass die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinweisenden neuen Tatsachen vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe aus der Anlassverurteilung erkennbar geworden sein müssen. Aus § 275 a Abs. 1 Satz 3 StPO folgt, dass das Verfahren nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft durchgeführt wird. Der Antrag soll spätestens sechs Monate vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung gestellt werden. Wie zu verfahren ist, wenn der Antrag später, gar erst nach Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe aus der Anlassver- urteilung gestellt wird, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Allerdings ist der Regelung in Art. 1 a Satz 3 EGStGB zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Antragsfrist nicht für bedeutungslos gehalten hat; in diesem Fall hätte es einer Ausnahmeregelung für die in Satz 1 der Vorschrift angeführten Fälle der Unterbringung besonders gefährlicher Straftäter nach Landesgesetzen, in denen der Vollzug der Strafhaft aus der Anlassverurteilung beendet war, nicht bedurft.
5
Der Senat hat bereits entschieden, dass die Wiedererlangung der Freiheit nach Vollverbüßung der Haftstrafe aus der Anlassverurteilung einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht entgegensteht (BGHSt 50, 180, 182 ff.). Er hat in jener Entscheidung ausgeführt, dass in der verfahrensrechtlichen Vorschrift des § 275 a StPO das Bestreben deutlich wird, Verfahren über den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu beschleunigen und dem Vertrauensschutz des Verurteilten Rechnung zu tragen. Um sowohl dem gesetzgeberischen Anliegen eines möglichst effektiven Schutzes der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Gewalt- und Sexualstraftätern als auch dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz für den Verurteilten hinreichend Rechnung zu tragen, ist es danach aber erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft dem Verurteilten noch während des Strafvollzugs die Einleitung ihres Prüfungsverfahrens mitteilt und sie den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung stellt, bevor die Strafvollstreckung aus dem Ausgangsverfahren beendet ist (BGHSt 50, 180, 184; 294, 290). An dieser Auffassung hält der Senat fest.
6
Einer solchen Auslegung der §§ 66 b StGB, 275 a StPO stehen die Gesetzesmaterialien nicht entgegen. Soweit es in der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages weitergehend sogar heißt, dass die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungs- verwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl (§ 275 a Abs. 5 StPO) nur in Betracht komme, solange die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil vollzogen werde bzw. die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil nicht vollständig verbüßt sei (BTDrucks. 15/3346 S. 17; ähnlich auch BTDrucks. 15/2887 S. 12), hat der Senat a.a.O. bereits ausgeführt, dass hiermit nur der Begriff der Tatsachen, die "nach einer Verurteilung ... vor Ende des Vollzuges erkennbar werden", erläutert und der Zeitraum festgelegt werden soll, in dem die neuen Tatsachen erkennbar geworden sein müssen.
7
Die vom Senat vorgenommene Auslegung von § 66 b StGB, § 275 a StPO ermöglicht es zum einen, bei der Entscheidung über die nachträgliche Maßregelanordnung auch solche für die Gefährlichkeitsprognose wichtigen Tatsachen noch zu berücksichtigen, die erst kurz vor dem Vollzugsende erkennbar werden. Zum anderen wird ausgeschlossen, dass der Verurteilte ohne zeitliche Begrenzung auch nach vollständiger Beendigung der Vollstreckung der Strafe aus der Ausgangsverurteilung noch mit einer nachträglichen Maßregelanordnung rechnen muss. Das Rechtsstaatsprinzip, die Grundrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Bei der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung wird an eine strafrechtlich bereits geahndete Anlasstat aus der Vergangenheit angeknüpft und damit der allgemeine Grundsatz des Vertrauensschutzes im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit zurückgestellt. Die Erwartung des Betroffenen , nach Verbüßung der verhängten Strafe die Freiheit zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zu erlangen, tritt hier gegenüber dem Schutz der Grundrechte potentieller Opfer vor Verletzungen durch potentielle Straftäter zurück. Dem von Verfassungs wegen mit einem hohen Rang ausgestatteten Freiheitsgrundrecht des Betroffenen ist aber durch verfahrensrechtliche Garantien hinreichend Geltung zu verschaffen (BGHSt 50, 284, 290). Dies gebietet es, eine Antragstellung der Staatsanwaltschaft vor vollständiger Verbüßung der Strafhaft aus der Ausgangsverurteilung zu verlangen (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 66 b Rdn. 25; Ullenbruch in MünchKomm-StGB § 66 b Rdn. 62; Zschieschack /Rau JR 2006, 8, 9 f.; Rissing-van Saan in Festschrift für Kay Nehm (2006) S. 191, 197; a.A. Folkers NStZ 2006, 426, 431). Wird der Antrag erst danach gestellt, liegt ein Verfahrenshindernis vor (Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 b Rdn. 185).
8
Der Senat hat deshalb hier das Verfahren nach § 206 a Abs. 1 StPO eingestellt.
9
3. Die Entscheidung über eine Entschädigung des Verurteilten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen muss dem Landgericht überlassen bleiben. Die Prüfung, ob und in welchem Umfang eine Entschädigung zu gewähren ist, hat sich auf den gesamten Sachverhalt zu erstrecken, der die Strafverfolgungsmaßnahme ausgelöst hat. Die Entscheidung stellt mithin vorrangig eine tatrichterliche Aufgabe dar.
Fischer Roggenbuck Appl Cierniak Schmitt

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.

(2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt.

(3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.

(4) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt.

(5) Für Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.

(6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt.

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 441/05
vom
6. Dezember 2005
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
6. Dezember 2005, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 7. Juli 2005 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Betroffenen in Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die auch vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg. Die Jugendkammer hat nicht in der gesetzlichen Verfahrensweise entschieden und hat in der Sache (schon) die (formalen) Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrungen verkannt.

I.

Folgender Verfahrensgang liegt zu Grunde: 1. Der Betroffene war am 20. Oktober 1998 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen (§ 176 StGB in der bis 31. März 1998 geltenden Fassung) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. In einem Fall betrug die Einzelstrafe sechs Monate, die übrigen fünf Fälle waren besonders schwere Fälle i. S. d. (damaligen) § 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB; in einem Fall wurde eine Strafe von vier Jahren - die Einsatzstrafe - verhängt, in den vier weiteren Fällen betrug die Einzelstrafe jeweils drei Jahre und sechs Monate. Dieses Urteil ist seit dem 10. März 1999 rechtskräftig. Der Betroffene hat die Strafe bis Mitte Oktober 2005 vollständig verbüßt. 2. Am 7. Juni 2005 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, den Betroffenen nachträglich in Sicherungsverwahrung unterzubringen, da die Voraussetzungen von § 66b Abs. 2 StGB erfüllt seien. Diesen Antrag hat die Jugendkammer durch den angefochtenen Beschluss vom 7. Juli 2005 als unzulässig zurückgewiesen. Es fehlten die formalen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB, die genannte Verurteilung vom 20. Oktober 1998 sei nicht wegen Verbrechen, sondern wegen Vergehen erfolgt. Darüber hinaus rechtfertige auch eine Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und der im Strafvollzug angefallenen Erkenntnisse nicht die gemäß § 66b Abs. 2 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose. 3. Gegen diese Entscheidung richtet sich das zunächst als sofortige Beschwerde , später als Revision bezeichnete Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft. Sie macht geltend, die Jugendkammer hätte nur auf Grund einer Hauptverhand-
lung und dementsprechend durch Urteil entscheiden dürfen. In der Sache lägen zwar nicht die Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB, dafür jedoch die des § 66b Abs. 1 StGB vor. Auch die von der Jugendkammer vorgenommene Gesamtwürdigung sei aus im Einzelnen dargelegten Gründen rechtsfehlerhaft. 4. Wie die Verteidigung dem Senat vorgetragen hat, ist der Betroffene inzwischen auf freiem Fuß. Die Jugendkammer hat mit Beschluss vom 30. August 2005 einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Unterbringungsbefehls abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht München durch Beschluss vom 12. Oktober 2005 ( ) aus formellen und materiellen Gründen verworfen.

II.

Das Rechtsmittel ist statthaft und zulässig (vgl. zu einem im Verfahrensablauf im Kern identischen Fall BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 StR 9/05) und greift durch. 1. Wie in der genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Einzelnen ausgeführt ist, ergibt sich aus § 275a StPO, dass über einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Unterbringung in Sicherungsverwahrung nur auf Grund einer mündlichen Hauptverhandlung in der dafür vorgesehenen Besetzung (also mit Schöffen) entschieden werden kann. Eine Entscheidung durch Beschluss, also ohne Schöffen, kann regelmäßig keinen Bestand haben. 2. a) Auch die Verteidigung verkennt nicht, dass bei einem Antrag auf nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 275a Abs. 2 StPO die Regeln über das Zwischenverfahren nicht gelten. Sie hält diese Regelung aber für lückenhaft und ihre Konsequenz, dass auf einen solchen An-
trag dann stets auf Grund einer Hauptverhandlung zu entscheiden sei, für verfehlt. Es ginge nicht an, dass über einen Antrag, der aus zwingenden rechtlichen Gründen keinesfalls Erfolg haben könne, nur nach einer Hauptverhandlung und auch noch unter Heranziehung von zwei Gutachtern (vgl. § 275a Abs. 4 Satz 2 StPO) entschieden werden dürfe. Die Jugendkammer habe daher zu Recht in entsprechender Anwendung von § 207 StPO den Antrag der Staatsanwaltschaft durch Beschluss zurückgewiesen.
b) Der Senat kann dem letztlich nicht folgen. Notwendige Voraussetzung für eine analoge Anwendung der Regelungen über das Zwischenverfahren auf die nachträgliche Unterbringung in Sicherungsverwahrung wäre, wie für jede analoge Anwendung nicht unmittelbar anwendbarer Bestimmungen, eine vom Gesetzgeber nicht erkannte („planwidrige“ ) Regelungslücke (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2005 - 1 StR 350/05; Wahl, NStZ 1988, 317 m. w. N.). Daran fehlt es. Die Materialien zur nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung ergeben eindeutig, dass der Gesetzgeber die Verfahrensregeln, die für die Entscheidung über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) gelten, für das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung übernehmen wollte (vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 15). In dem Verfahren über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist für ein „Zwischenverfahren“ aber schon deshalb keine Notwendigkeit, weil bereits ein Hauptverfahren stattgefunden hat, in dem die formalen Voraussetzungen von Sicherungsverwahrung zu prüfen waren. Dies ist bei nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht der Fall. Dementsprechend heißt es auch in den Gesetzesmaterialien, dass bei vorbehaltener Sicherungsverwahrung auf jeden Fall eine weitere gerichtliche Entscheidung erfolgen muss, während ein Verfahren wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung nur stattfindet, wenn die Staatsanwaltschaft
einen entsprechenden Antrag stellt (aaO S. 16). Wenn der Gesetzgeber trotzdem für das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung die Regeln über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für anwendbar erklärt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er übersehen hätte, dass damit auch hier für ein Zwischenverfahren kein Raum ist. Darauf , ob auch eine andere Regelung vorstellbar und im Einzelfall zweckmäßiger sein könnte, kommt es unter diesen Umständen nicht an. 3. Von alledem unabhängig ist jedoch die Frage, ob eine Entscheidung, mit der eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung abgelehnt wurde, weil zwingend vorgeschriebene formale - also ohne jede wertende Würdigung feststellbare - Voraussetzungen fehlen, je darauf beruhen könnte (§ 337 StPO), dass sie nicht in der vorgeschriebenen Form oder ohne Anhörung von Sachverständigen getroffen wurde. Der Senat braucht dem aber nicht näher nachzugehen, weil die formalen Voraussetzungen einer nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung entgegen der Auffassung der Jugendkammer vorliegen. Allerdings hat die Jugendkammer, ersichtlich orientiert am ursprünglichen Antrag der Staatsanwaltschaft (vgl. oben I. 2.), zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen von § 66b Abs. 2 StGB nicht vorliegen, weil die Vorverurteilung nicht Verbrechen betrifft. Sie hat jedoch verkannt, dass dieser Mangel im Antrag der Staatsanwaltschaft sie nicht davon freistellte, den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, wobei gegebenenfalls entsprechende Hinweise zu geben sind (§ 275a Abs. 2 StPO i. V. m. §§ 264, 265 StPO).
Hier liegen die Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 StGB i. V. m. § 66 Abs. 2 StGB vor. § 66b Abs. 1 StGB verlangt die Verurteilung wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Vergehens. Dies liegt vor, § 176 StGB ist dort genannt. Weiter ist gemäß § 66b Abs. 1 StGB, letzter Halbsatz, erforderlich , dass die übrigen Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sind. Damit ist auf die formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 1 bis 3 StGB verwiesen. Hieraus ergeben sich auch für § 66b Abs. 1 StGB verschiedene Fallgruppen entsprechend denjenigen des § 66 StGB (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 66b Rdn. 10 m. w. N.). Hier liegen die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB vor. Der Verurteilung wegen sechs Fällen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von über sieben Jahren liegen nämlich vier Fälle zu Grunde, in denen je eine Strafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt wurde, und ein Fall, in dem diese Strafe sogar vier Jahre betrug (vgl. oben I. 1.). 4. Da nach alledem die formellen Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung vorliegen, kommt es entscheidend auf die (tatrichterliche) Würdigung der Persönlichkeit des Verurteilten, seiner Straftaten und der im Strafvollzug angefallenen Erkenntnisse an. Die hierauf bezogenen knappen Ausführungen der Jugendkammer und das hiergegen gerichtete Vorbringen der Staatsanwaltschaft - das, soweit bisher ersichtlich, nicht ohne weiteres zu einer nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung
drängt - können jedoch auf sich beruhen. Wie dargelegt, könnte, wenn überhaupt , die Entscheidung durch Beschluss statt durch Urteil allenfalls dann unschädlich sein, wenn die Zurückweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft aus Rechtsgründen ohne jede wertende Würdigung zwingend geboten gewesen wäre (vgl. oben II. 3.). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Nack Wahl Kolz Elf Graf

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.

(2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt.

(3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.

(4) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt.

(5) Für Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.

(6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt.

(1) Die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300) sind nur anzuwenden, wenn die Tat oder mindestens eine der Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden soll, nach dem 31. Dezember 2010 begangen worden ist. In allen anderen Fällen ist das bisherige Recht anzuwenden, soweit in den Absätzen 2 und 3 sowie in Artikel 316f Absatz 2 und 3 nichts anderes bestimmt ist.

(2) Sind die Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung nach § 66 des Strafgesetzbuches angeordnet werden soll, vor dem 1. Januar 2011 begangen worden und ist der Täter deswegen noch nicht rechtskräftig verurteilt worden, so ist § 66 des Strafgesetzbuches in der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung anzuwenden, wenn diese gegenüber dem bisherigen Recht das mildere Gesetz ist.

(3) Eine nach § 66 des Strafgesetzbuches vor dem 1. Januar 2011 rechtskräftig angeordnete Sicherungsverwahrung erklärt das Gericht für erledigt, wenn die Anordnung ausschließlich auf Taten beruht, die nach § 66 des Strafgesetzbuches in der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung nicht mehr Grundlage für eine solche Anordnung sein können. Das Gericht kann, soweit dies zur Durchführung von Entlassungsvorbereitungen geboten ist, als Zeitpunkt der Erledigung spätestens den 1. Juli 2011 festlegen. Zuständig für die Entscheidungen nach den Sätzen 1 und 2 ist das nach den §§ 454, 462a Absatz 1 der Strafprozessordnung zuständige Gericht. Für das Verfahren ist § 454 Absatz 1, 3 und 4 der Strafprozessordnung entsprechend anzuwenden; die Vollstreckungsbehörde übersendet die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichtes, die diese umgehend dem Gericht zur Entscheidung übergibt. Mit der Entlassung aus dem Vollzug tritt Führungsaufsicht ein.

(4) § 1 des Therapieunterbringungsgesetzes vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300, 2305) ist unter den dortigen sonstigen Voraussetzungen auch dann anzuwenden, wenn der Betroffene noch nicht in Sicherungsverwahrung untergebracht, gegen ihn aber bereits Sicherungsverwahrung im ersten Rechtszug angeordnet war und aufgrund einer vor dem 4. Mai 2011 ergangenen Revisionsentscheidung festgestellt wurde, dass die Sicherungsverwahrung ausschließlich deshalb nicht rechtskräftig angeordnet werden konnte, weil ein zu berücksichtigendes Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung dem entgegenstand, ohne dass es dabei auf den Grad der Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit angekommen wäre.

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 650/10
vom
26. Mai 2011
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 26. Mai 2011 gemäß § 349 Abs. 4
StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 6. Mai 2010 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und ausgesprochen, dass "als Härteausgleich für eine nicht mehr mögliche Gesamtstrafenbildung … von der Mindestverbüßungsdauer im Sinne von § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB acht Jahre Freiheitsstrafe als vollstreckt" gelten; außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom 20. Januar 2011 nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen, soweit sich das Rechtsmittel gegen den Schuld- und Strafausspruch richtet. Die Entscheidung über die Maßregel hat der Senat im Blick auf das vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 9. November 2010 (5 StR 394/10 u.a., NJW 2011, 240; zum Abdruck in BGHSt bestimmt) eingeleitete Anfrageverfahren zurückgestellt.
2
1. Die Sache ist nunmehr entscheidungsreif, nachdem der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in den den Anfrageverfahren zugrunde liegenden Strafsachen mit Beschluss vom 23. Mai 2011 zur Sache entschieden hat, ohne zuvor den Großen Senat für Strafsachen anzurufen.
3
2. Der Maßregelausspruch begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Schwurgerichtskammer stützt die Anordnung der Sicherungsverwahrung auf § 66 Abs. 1 StGB a.F., dessen formelle Voraussetzungen in Nummer 1 sie für erfüllt hält, weil der Angeklagte durch Urteile vom 9. Februar 1988 und vom 2. Februar 1995 jeweils zu Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr verurteilt worden sei. Dabei übersieht sie jedoch, dass der Angeklagte die nunmehr abgeurteilte Tat vor der Verurteilung vom 2. Februar 1995 wegen Totschlags begangen hat. Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. darf aber nur dann angeordnet werden, wenn die Anlasstat nach Rechtskraft der zweiten Vorverurteilung begangen worden ist (Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 66 Rn. 4). Vortaten und Vorverurteilungen müssen in der Reihenfolge "Tat - Urteil - Tat - Urteil" begangen worden sein (BGH, Beschlüsse vom 4. September 2008 - 4 StR 378/08 und vom 17. Dezember 2008 - 2 StR 481/08, NStZ-RR 2009, 137). Der Täter muss, um die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB a.F. zu erfüllen, die Warnfunktion eines jeweils rechtskräftigen Strafurteils zweimal missachtet haben (BGH, Beschlüsse vom 24. Juli 1987 – 2 StR 338/87, BGHSt 35, 6, 12, und vom 25. März 1992 – 2 StR 527/91, BGHSt 38, 258, 259). Daran fehlt es hier, weshalb die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB a.F. keinen Bestand haben kann.
4
Auf § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. stützt die Strafkammer die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht. Ob die dort geforderten Voraussetzungen gegeben sind, bedarf keiner Entscheidung, da das Revisionsgericht die dem Tatrichter nach diesen Vorschriften obliegende Ermessensentscheidung nicht ersetzen kann (BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2008 - 2 StR 481/08, NStZ-RR 2009, 137).
5
3. Für die erneute Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:
6
a) Das nunmehr zur Entscheidung berufene Schwurgericht wird zu beachten haben, dass § 66 StGB vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) für mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar erklärt worden ist. Daher ist § 66 StGB bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht erlassenen Weitergeltungsanordnung anzuwenden. Die weitere Anwendung des § 66 StGB in der Übergangszeit hat nach Maßgabe der Nummer III. 1. in Verbindung mit Nummer II. 1. b) des Tenors des angeführten Urteils zu erfolgen; für diesen Fall fordert das Bundesverfassungsgericht gemäß C. III. 2. a) der Gründe (Rn. 172) eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist.
7
Nach diesem Maßstab wird das neu zur Entscheidung berufene Schwurgericht die Voraussetzungen des § 66 StGB zu prüfen und - soweit es eine Anordnung nach § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB erwägt - auch das dort dem Tatrichter eingeräumte Ermessen auszuüben haben. Zwar geht es in dem hier zu entscheidenden Fall um eine rückwirkende Anwendung der Vorschriften über die (primäre) Sicherungsverwahrung. Denn zur Zeit der Begehung der Anlasstat in der Nacht zum 31. Oktober 1993 konnte gemäß Art. 1a EGStGB in der Fassung des Gesetzes vom 23. September 1990 zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertragsgesetz - und der Vereinbarung vom 18. September 1990(BGBl. 1990 II S. 885, 955) keine Sicherungsverwahrung angeordnet werden; dies hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 20. Januar 2011 ausgeführt, mit dem er die Entscheidung über die Maßregelanordnung in dieser Sache zunächst zurückgestellt hat. Die damalige Rechtslage hat das Bundesverfassungsgericht in Abschnitt A. I. 10. (Rn. 17) seines Urteils vom 4. Mai 2011 angesprochen (vgl. auch BT-Drucks. 15/2887 S. 20). Die unter Nummer III. 2. a) dieses Urteils getroffene Weitergeltungsanordnung, die engere Voraussetzungen formuliert, hat das Bundesverfassungsgericht jedoch ausschließlich auf die im Tenor (Nr. III. 2. i.V.m. Nr. II. 2.) genannten Altfälle des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB sowie sämtliche Fälle der §§ 66b Abs. 2 StGB, 7 Abs. 2 JGG beschränkt. Hier geht es indes um die Anordnung primärer Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB; diese ist einschränkungslos in Nummer III. 1. in Verbindung mit Nummer II. 1. b) des Tenors geregelt. Einer Übertragung der engeren Anwendungsvoraussetzungen auf die rückwirkende Anordnung primärer Sicherungsverwahrung in der Übergangszeit stehen der eindeutige Wortlaut und die Systematik der Weitergeltungsanordnung sowie die hierauf bezogenen Begründungselemente unter C. III. 2. a) und b) der Gründe (Rn. 171-173) entgegen.
8
b) Das Landgericht hat mit Recht an die Vorverurteilung vom 9. Februar 1988 angeknüpft. Insoweit hatte das Kreisgericht Magdeburg-Süd den Angeklagten wegen Widerstandes gegen staatliche Maßnahmen sowie Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit in Anwendung der strafverschärfenden Bestimmung des Rückfalls nach dem Strafgesetzbuch der DDR zu einer Freiheitsstra- fe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Zwar handelt es sich bei der ausgesprochenen Sanktion um eine Hauptstrafe nach § 64 StGB-DDR. Wegen der Rückfallvorschrift des § 44 StGB-DDR ist von einer hypothetischen Einzelstrafe von jeweils mindestens einem Jahr auszugehen (zur Gesamtwürdigung nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. in einem solchen Fall vgl. BT-Drucks. 13/116 S. 5). Rückfallverjährung ist nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht eingetreten. Hinsichtlich dieser Vorverurteilung ist § 66 Abs. 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300) nicht das mildere Recht (Art. 316e Abs. 2 EGStGB). Nach deutschem Strafrecht (§ 66 Abs. 4 Satz 5 StGB n.F.; vgl. auch BGH, Urteil vom 19. Juni 2008 – 4 StR 114/08, StV 2008, 518, 519) wäre die damals abgeurteilte Tat des An- geklagten nach § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 in Verbindung mit § 315 Abs. 3 Nr. 1b StGB zu beurteilen gewesen. Damit liegt im Sinne der neu gefassten formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung eine vorsätzliche Straftat aus dem 28. Abschnitt des Strafgesetzbuches vor, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist.
9
c) Ob die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB in weiteren Vorverurteilungen des Angeklagten gefunden werden können, vermag der Senat auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend zu beurteilen. Im Verneinungsfalle werden die Anordnungstatbestände in § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB – unter Berücksichtigung des Art. 316e Abs. 2 EGStGB – in den Blick zu nehmen sein. Ernemann Cierniak RiBGH Dr. Franke ist erkrankt und daher gehindert zu unterschreiben. Ernemann Bender Quentin

Tenor

1. Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. Februar 2009 - (540) M 13 / 1 Kap Js 2826/96 VRs (14/08) - und das Urteil des Bundes-gerichtshofs vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Urteile werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.

2. Damit wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 26. November 2009 - 5 StR 296/09 - gegenstandslos.

3. ...

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 50.000,00 € (in Worten: fünfzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 StGB.

I.

2

§ 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) ermöglichen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auch in solchen Fällen, in denen zum Zeitpunkt der Verurteilung wegen der Anlasstat aus Rechtsgründen keine primäre Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte. Mit einer Änderung von Satz 1 und der Einführung von Satz 2 der Vorschrift reagierte der Gesetzgeber auf eine restriktive Auslegung des § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB. Der Bundesgerichtshof hatte die Frage der Anwendbarkeit der Norm aufgeworfen, wenn zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung aus Rechtsgründen keine originäre Sicherungsverwahrung verhängt werden durfte (vgl. BGHSt 50, 284 <293 ff.>). Dies betraf wegen der Fassung von Art. 1a EGStGB bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) zum einen Verurteilungen wegen Taten in den neuen Ländern, bei denen im Zeitpunkt der Verurteilung die Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden konnte, zum anderen Taten, die zwar die Voraussetzungen des 1998 eingeführten § 66 Abs. 3 StGB erfüllten, jedoch vor dessen Inkrafttreten begangen und vor Einführung des § 66b StGB abgeurteilt worden waren (vgl. BTDrucks 16/4740, S. 1, 22 f.).Mit dem am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010(BGBl I S. 2300) wurde § 66b Abs. 1 StGB aufgehoben. Gemäß Art. 316e Abs. 1 EGStGB gilt das bisherige Recht der Sicherungsverwahrung allerdings für bis zum 31. Dezember 2010 begangene Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden soll, fort. Das Bundesverfassungsgericht hat § 66b Abs. 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) mit Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u. a. - für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 des Grundgesetzes erklärt.

II.

3

1. a) Das Stadtgericht Berlin verurteilte den Beschwerdeführer am 5. Oktober 1987 wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Der Beschwerdeführer - der zu jener Zeit wegen Auseinandersetzungen mit seiner Partnerin seinen Lebensmittelpunkt an seinem Arbeitsplatz, der Heizanlage einer Fabrik, hatte - war mit einem Arbeitskollegen nach gemeinsamem Alkoholgenuss in Streit geraten und hatte diesem mit einer 600 bis 800 Grad Celsius heißen Schürstange den Unterbauch durchbohrt. Er verbüßte die verhängte Strafe zu zwei Dritteln und wurde im Dezember 1994 unter Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung entlassen.

4

b) Mit Urteil des Landgerichts Berlin vom 4. Juli 1997 wurde der Beschwerdeführer wegen Totschlags seiner Ehefrau zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen der Strafkammer führten der Beschwerdeführer und seine Frau eine sehr problembelastete Ehe voller gegenseitiger Beschimpfungen und Verdächtigungen; mehrfach trennten sich die Ehepartner und lebten anschließend wieder zusammen. Am Abend vor der Tat im Dezember 1996 trank der Beschwerdeführer in einer Gaststätte erhebliche Mengen Alkohol, nachdem er sich von seiner Frau provoziert gefühlt hatte. Am nächsten Morgen begab er sich in die gemeinsame Wohnung, wo es nach Rückkehr seiner Frau von deren Arbeitsstelle zunächst zu heftigen Auseinandersetzungen, dann aber zu einer Versöhnung und einverständlichem Geschlechtsverkehr kam. Als seine Frau ihm danach wieder die Trennung ankündigte, konnte der Beschwerdeführer den Wechsel zwischen Zuwendung und Ablehnung nicht mehr ertragen. Er stieß seine Frau heftig weg, so dass sie rücklings auf den Boden fiel, setzte sich auf ihren Bauch, fixierte ihre Arme an den Handgelenken und schrie sie an, sie solle mit ihren Vorhaltungen aufhören. Als sie der Aufforderung nicht nachkam, packte der Beschwerdeführer sie von vorn mit beiden Händen am Hals und drückte über mindestens fünf Minuten mit aller Kraft zu, was bereits nach 10 bis 15 Sekunden zur Bewusstlosigkeit und alsbald zum Tod des Opfers führte.

5

Die Strafkammer ging von verminderter Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers aus, für welche die erhebliche Alkoholisierung zur Tatzeit (Blutalkoholkonzen-tration zwischen 2,04 und 2,14 Promille) nicht allein maßgeblich gewesen sei. Sachverständig beraten kam die Kammer zu dem Schluss, bei dem Beschwerdeführer handle es sich um eine akzentuierte Persönlichkeit mit ausgeprägter Eigenwilligkeit, Zurückgezogenheit und Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Kennzeichnend seien auch die erhöht reizbaren Anteile im Sinne leichter Provozierbarkeit. Er zeige deutlich schizoide Aspekte im Zusammenhang mit seiner schwach ausgeprägten Fähigkeit, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen seinen Bedürfnissen nach Nähe und Distanz herzustellen. Dieses Persönlichkeitsbild sei zwar für sich gesehen nicht von Krankheitswert. Die Tat sei jedoch Ausdruck einer heftigen affektiven Aufladung, ausgelöst durch die rasante Folge von Nähe und Distanz zwischen den Ehepartnern im Vorfeld des Tatgeschehens.

6

c) Der Beschwerdeführer befand sich zunächst in Untersuchungshaft und verbüßte nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 4. Juli 1997 die verhängte Freiheitsstrafe sowie die Reststrafe aus der vorigen Verurteilung vom 5. Oktober 1987. Während des Strafvollzugs wurde er durch Urteil des Amtsgerichts Brandenburg vom 15. Mai 2003 wegen vorsätzlicher Körperverletzung (Tatzeitpunkt: 12. August 2002) zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, wobei das Amtsgericht in den Urteilsgründen hervorhob, dass die mittels eines Schlages gegen den Kopf eines Mitgefangenen begangene Körperverletzung aus einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Geschädigten resultierte, die ihren Ursprung insbesondere in dessen provokantem Verhalten hatte.

7

2. a) Mit dem angegriffenen Urteil vom 24. Februar 2009 ordnete das Landgericht Berlin nachträglich auf der Grundlage des § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 StGB die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an.

8

aa) Der Beschwerdeführer werde aufgrund eines Hanges (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden. Der von der Kammer beauftragte Sachverständige habe bei dem Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsentwicklung mit Egozentrik, Rücksichtslosigkeit beim Durchsetzen eigener Interessen, Gefühlskälte und völlig unzureichenden Problem- und Konfliktlösungsstrategien festgestellt; hinzu komme ein massiver Alkoholmissbrauch. Der Beschwerdeführer sei unfähig, mit sozialen Konflikten angemessen umzugehen. Diese Konflikte vermeide er bis zu einem gewissen Punkt, bei dessen Überschreitung sich - gerade im Zusammenhang mit dem Konsum erheblicher Mengen Alkohols - ein aggressiver Impuls ungehindert Bahn breche. Insofern sei auch die Tat zum Nachteil seiner Ehefrau Ausfluss der gestörten Persönlichkeit des Beschwerdeführers, obwohl die Tat einige Züge einer Affekttat getragen habe. Bereits das damalige Urteil sei zu dem Ergebnis gelangt, dass neben der spezifischen Beziehungskonstellation die Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers und seine Reaktionsmuster elementare Bestandteile der Tatvoraussetzungen gewesen seien. Während der Haftzeit habe die Persönlichkeit des Beschwerdeführers keine nennenswerten Veränderungen erfahren. Noch immer trete seine Impulsivität deutlich zu Tage; er sei nicht in der Lage, vorsichtige Kritik oder intensivere Nachfragen zu seiner Person zu ertragen. Er trage deutlich schizoide und dissoziale Züge; so bringe er keinerlei Empathie für seine Opfer auf und sei kaum in der Lage, eigenes Fehlverhalten zu reflektieren. Eine Untersuchung mittels einer Prognosecheckliste zur Ermittlung von Psychopathien habe das Vorhandensein einer solchen ergeben, was ein Indikator für ein erhöhtes Kriminalitätsrisiko und eine fehlende Aussicht auf Behandlungserfolge sei. Ein weiterer Test habe eine hohe Wahrscheinlichkeit künftiger Gewaltstraftaten ergeben. Prognostisch negativ wirke sich insbesondere aus, dass es - auch während des Vollzugs - bereits mehrfach zu Gewaltanwendung durch den Beschwerdeführer gekommen sei. Dieser sei weiterhin gefährlich; die Gefahr neuer erheblicher Straftaten sei - insbesondere unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit von Alkohol sowie zu erwartender Konflikt- und Stresssituationen im Anschluss an eine Entlassung - auch gegenwärtig. Ein zweiter Sachverständiger sei in der Hauptverhandlung bei gewissen Abweichungen im Rahmen der Testergebnisse zum selben Ergebnis gekommen. Die Kammer schließe sich den in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen nach sorgfältiger eigener Prüfung an. Danach liege bei dem Beschwerdeführer ein Hang im Sinne eines eingeschliffenen inneren Zustands vor, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lasse und aus dem sich seine hohe Gefährlichkeit ergebe. Die Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers stelle diesen inneren Zustand dar, aus dem seine intensive Neigung zu Gewalttaten erwachse. Entsprechend seien sowohl der Mordversuch als auch der Totschlag zum Nachteil seiner Ehefrau als Ausfluss dieses Hanges und damit als Symptomtaten anzusehen. Für den Totschlag gelte dies auch in Ansehung des Umstands, dass er Züge einer Affekttat trage.

9

bb) Die formellen Voraussetzungen von § 66 Abs. 3 StGB (in Verbindung mit § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB) seien erfüllt. Der Rückgriff auf diese Vorschrift sei zulässig, obwohl sie im Zeitpunkt der Anlasstat noch nicht gegolten habe, weil es auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung ankomme. Dass § 66 Abs. 3 StGB erst nach der Verurteilung des Beschwerdeführers in Kraft getreten sei, rechtfertige gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB auch die Berücksichtigung von Tatsachen, die bereits im Zeitpunkt der Verurteilung erkennbar gewesen seien. Damals sei die Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht gekommen, weil die Voraussetzungen für eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 und 2 StGB nicht vorgelegen hätten.

10

cc) Im Rahmen ihres Ermessensspielraums berücksichtigte die Kammer, dass von der nachträglichen Sicherungsverwahrung nur sparsam Gebrauch zu machen und "das Fehlen jeglicher Behandlungsmaßnahmen während des Vollzugs durch die teilweise beklagenswerten Umstände in den brandenburgischen Justizvollzugsanstalten jedenfalls begünstigt worden" sei. Auf der anderen Seite sei zu berücksichtigen gewesen, dass es sich bei Anlass- und Vortat um schwerste Straftaten handle und keine milderen Maßnahmen - etwa im Rahmen der Führungsaufsicht - erkennbar seien, mit denen die Allgemeinheit in ausreichendem Maße vor der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers geschützt werden könne.

11

b) Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision des Beschwerdeführers mit Urteil vom 27. Oktober 2009 als unbegründet. Das Landgericht habe die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB ebenso rechtsfehlerfrei bejaht wie es einen Hang des Beschwerdeführers zur Begehung schwerer Straftaten sowie dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit festgestellt und die Anwendbarkeit sowie die sachlichen Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zutreffend angenommen habe. Die aus Verhältnismäßigkeitsgründen gebotene restriktive Anwendung von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB sei innerhalb des Anwendungsbereichs nach Gefährlichkeitsgesichtspunkten vorzunehmen; nach zwei schweren Kapitalverbrechen lägen die entsprechenden Voraussetzungen vor.

12

c) Mit Beschluss vom 26. November 2009 wies der Bundesgerichtshof die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers als unbegründet zurück.

III.

13

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Auslegung von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB dahin, dass die Norm auch Verurteilungen wegen solcher Taten umfasse, die zwar heute die Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 StGB erfüllen würden, jedoch vor dessen Inkrafttreten am 31. Januar 1998 begangen und vor Einführung von § 66b StGB am 29. Juli 2004 abgeurteilt worden seien, sei mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Ausnahmecharakter der Vorschrift nicht zu vereinbaren und trage dem Vertrauensschutz nicht Rechnung. Ferner habe das Landgericht weder eine Hangtäterschaft noch eine gegenwärtige Gefahr einschlägiger Rückfallstraftaten ausreichend belegt; Feststellungen zur Rückfallgeschwindigkeit fehlten völlig. Das Gericht habe keine eigene Gesamtbewertung des Beschwerdeführers vorgenommen, sondern sich nur den Ausführungen der Sachverständigen angeschlossen, ohne zwischen den beiden Gutachten bestehende Widersprüche aufzulösen. Zudem verstoße die auf § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB gestützte Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen das Rückwirkungsverbot und sei unverhältnismäßig. Die Anwendung eines milderen Mittels sei nicht geprüft, sondern pauschal abgelehnt worden.

IV.

14

Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich der Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands, der Deutsche Richterbund und der Deutsche Anwaltverein geäußert. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, die Regierungen der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Niedersachsen sowie der Bundesgerichtshof und der Generalbundesanwalt haben mitgeteilt, von einer Stellungnahme abzusehen.

B.

15

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

16

Die auf § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) gestützte nachträgliche Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzt die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

I.

17

Das Bundesverfassungsgericht hat - neben den anderen Vorschriften über Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung - auch § 66b Abs. 1 StGB in der hier maßgeblichen Fassung wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u. a. -, juris). Zugleich hat es gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, angeordnet. Danach darf § 66b Abs. 1 StGB während seiner Fortgeltung nur nach Maßgabe einer - insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter - strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden.

18

1. Die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung wird in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 172). Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung haben die Fachgerichte die Möglichkeiten einer Führungsaufsicht auszuloten und sich damit auseinanderzusetzen, ob und inwieweit der Gefährlichkeitsgrad des Betroffenen hierüber reduziert werden kann (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 176).

19

2. Soweit darüber hinaus ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG schutzwürdiges Vertrauen auf ein Unterbleiben der Anordnung einer Sicherungsverwahrung beeinträchtigt wird, ist dies angesichts des damit verbundenen Eingriffs in das Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verfassungsrechtlich nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig. Das Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange wird dabei durch die Wertungen von Art. 5 und Art. 7 EMRK verstärkt. Der mit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundene Eingriff in das Vertrauen des Betroffenen auf das Unterbleiben seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung kann deshalb nur noch dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK erfüllt sind (BVerfG, a.a.O., Rn. 131 ff.). Da die Bestimmung der Voraussetzungen einer psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt, ist während der Weitergeltung der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung bis zu einer Neuregelung insoweit auf das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz - ThUG) zurückzugreifen (BVerfG, a.a.O., Rn. 173).

20

Die Gerichte sind bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gehalten, über die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (Nummer III. 2. Buchstabe a des Tenors) genannten Fälle hinaus auch in den Fallkonstellationen, in denen die Anwendung einer Norm wie hier des § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB nach Maßgabe der Urteilsgründe (a.a.O., Rn. 132 ff.) auch in grundrechtlich geschütztes, durch die Wertungen von Art. 5 und 7 EMRK gestärktes Vertrauen eingreift, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn die genannten erhöhten Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfüllt sind.

21

3. § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB ermöglicht eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gerade für solche Fälle, in denen zum Zeitpunkt der Verurteilung des Betroffenen wegen der Anlasstat aus Rechtsgründen eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht in Betracht kam, weil die betreffenden Anlasstaten vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) geschaffenen § 66 Abs. 3 StGB begangen und vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung am 29. Juli 2004 (mit dem der vorherige Art. 1a Abs. 2 EGStGB gestrichen wurde) abgeurteilt wurden. Damit greift die Norm in das Vertrauen des Betroffenen auf ein Unterbleiben seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ein. Eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung darf daher auf der Grundlage von § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) in diesen Fällen nur noch dann ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz - ThUG) leidet (vgl. BVerfG, a.a.O., Nummer III. 2. Buchstabe a des Tenors).

II.

22

Die angefochtenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Sie sind daher aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

23

Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung genügt den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der weiter geltenden Vorschrift des § 66b Abs. 1 StGB aus den Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergeben. Die Gerichte haben nicht geprüft, ob hiernach noch eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig ist. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Fachgerichte im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung weder das Kammerurteil der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland) noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 berücksichtigen konnten, weil beide Entscheidungen noch nicht ergangen waren. Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 175). Das Landgericht wird deshalb nach den Maßgaben der vom Senat in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 nach § 35 BVerfGG getroffenen Übergangsregelung (Nummer III. 2. des Tenors) erneut über eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zu befinden oder dessen Freilassung gegebenenfalls unter Auflagen zu verfügen haben.

C.

24

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG (vgl. BVerfGE 101, 106 <132>; 104, 357 <358>; 105, 135 <136>). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).