Bundesgerichtshof Urteil, 19. Jan. 2006 - 4 StR 222/05

bei uns veröffentlicht am19.01.2006

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 222/05
vom
19. Januar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19. Januar
2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Prof. Dr. Kuckein,
Richterinnen am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 20. Dezember 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
2
Die Verfahrensrüge ist, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, jedenfalls unbegründet, so dass es auf die Frage ihrer Zulässigkeit nicht ankommt. Das Rechtsmittel hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg.

I.


3
1. Der Verurteilte war vom Landgericht Magdeburg mit Urteil vom 26. November 1992 wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Nach den Urteilsfeststellungen verfolgte er am 19. Januar 1992 eine ihm flüchtig bekannte junge Frau in den Hausflur ihres Elternhauses, stach in Tötungsabsicht mit einem Springmesser auf sie ein und würgte sie, weil er sich in seiner Hoffnung auf ein sexuelles Abenteuer, zu der ihm sein späteres Opfer allerdings keine Veranlassung gegeben hatte, getäuscht sah; erst als die Eltern zu Hilfe eilten, ließ er von seinem Opfer ab, das durch die Tat schwere körperliche und seelische Beeinträchtigungen davontrug. Zur Tatzeit lag eine alkoholbedingte Enthemmung (1,4 ‰ BAK) beim Verurteilten vor.
4
Erst knapp zwei Monate vor Begehung dieser Tat war der Verurteilte nach längerer Strafverbüßung unter Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung haftentlassen worden. Er war am 11. August 1984 vom Bezirksgericht Halle wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden, die auf der Grundlage des Einigungsvertrags in eine Jugendstrafe von zehn Jahren umgewandelt worden war. Gegenstand dieser Verurteilung war ein Tatgeschehen vom Januar 1984, in dessen Verlauf der Verurteilte in alkoholisiertem Zustand nachts mit einem Zimmermannshammer gewaltsam in die Wohnung der Schwägerin seiner damaligen Verlobten eindrang, um mit ihr den Geschlechtsverkehr auszuführen, obwohl diese ein solches Ansinnen früher abgelehnt hatte ; als die Frau erwachte und eine Anzeige ankündigte, erschlug er sie mit zahlreichen wuchtigen Hammerschlägen. Bei Entdeckung der Tat zwei Tage später hockte der zweijährige Sohn der Getöteten, der im selben Zimmer geschlafen hatte, blutverschmiert und unterkühlt neben dem Leichnam der Mutter.
5
Der Verurteilte hat sowohl die wegen der Anlasstat verhängte Strafe als auch die Reststrafe aus der Verurteilung durch das Bezirksgericht Halle bis zum 23. März 2002 (UA 11) vollständig verbüßt, nachdem Reststrafaussetzungen mehrmals abgelehnt worden waren. Auch danach verblieb er in der Justizvoll- zugsanstalt Naumburg, zunächst auf Grund von Unterbringungsanordnungen nach den Vorschriften des Gesetzes über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (UBG) des Landes Sachsen-Anhalt vom 6. März 2002, sodann auf Grund des gemäß § 275 a Abs. 5 StPO ergangenen Unterbringungsbefehls des Landgerichts Magdeburg vom 28. Juli 2004.
6
2. Zu den persönlichen Verhältnissen hat das Landgericht Folgendes festgestellt:
7
Der Verurteilte ist als Einzelkind in geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Seine Eltern verwöhnten ihn nach Kräften und bestärkten ihn darin, seine Interessen grundsätzlich als berechtigt anzusehen und durchzusetzen. Mit 17 Jahren zog er gegen den Willen seiner Eltern mit seiner Verlobten zusammen und wohnte in deren Elternhaus. Zu dieser Zeit nahm er häufig übermäßig Alkohol zu sich, obwohl er wusste, dass er unter Alkoholeinfluss aggressiv wurde. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit seiner Verlobten. Im November 1983 brach er nach einem solchen Streit nachts mit einem Schraubendreher in die Wohnräume der von ihm dann im Januar 1984 Getöteten ein, um mit dieser den Geschlechtsverkehr durchzuführen. Die Frau verwies ihn der Wohnung.
8
Nach der Haftentlassung im November 1991 fand der Verurteilte Aufnahme bei seinen Eltern und knüpfte Kontakte zu seinen früheren Bekannten, wobei er allerdings wiederum vermehrt dem Alkohol zusprach. Zur Zeit unterhält der Verurteilte intensive und auch intime Beziehungen zu einer transsexuellen Person, die wegen eines Kapitaldelikts bis zum Jahre 2011 Strafhaft zu verbüßen hat. Dieses Verhältnis sieht er als Lebensgemeinschaft an.
9
3. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB bejaht. Als "neue Tatsache" im Sinne dieser Bestimmung hat es eine während des Strafvollzuges wegen der Anlasstat zutage getretene Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, histrionischen und dissozialen Anteilen des Verurteilten gewertet , die ihren Ausdruck in wiederholten verbal-aggressiven Angriffen und Drohungen gegen Bedienstete der Vollzugsanstalt gefunden habe; dies lasse den Schluss zu, dass dem Verurteilten ein Umgang mit Provokations- und Abweisungssituationen , wie sie sich schon bei alltäglichen Konflikten ergeben können, in sozial adäquater Weise nicht möglich sei. Im Rahmen seiner Gesamtwürdigung ist es, beraten durch die psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. B. und Prof. Dr. S. , vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung hervorgetretenen Gefährlichkeit des Verurteilten zu der Einschätzung gelangt, dass dieser in Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen würde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.

II.


10
Das Urteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
11
1. Das Landgericht hat die formellen Eingangsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB zutreffend bejaht. Der Verurteilte ist durch das Urteil vom 26. November 1992 wegen eines Verbrechens gegen das Leben zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die die erforderliche Mindesthöhe von fünf Jahren übersteigt.
12
2. Entgegen der Ansicht der Revision bestehen gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 66 b Abs. 2 StGB weder im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133, 167) noch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m Art. 20 Abs. 3 GG durchgreifende Bedenken (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt; Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
13
Die Anwendbarkeit des § 66 b Abs. 2 StGB wird auch nicht dadurch gehindert , dass gegen den Verurteilten zum Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat die Maßregel der Sicherungsverwahrung - selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 StGB - nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil dieser die Tat im Beitrittsgebiet, wo er auch ansässig war, begangen hatte (Art. 1 a EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 - BGBl. II S. 889, 954), da diese Vorschrift gerade unabhängig vom Vorliegen der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB Anwendung findet (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
14
3. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet jedoch, dass das Landgericht als "neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB (nur) die schwerwiegende Persönlichkeitsstörung des Verurteilten angesehen hat. Damit hat es auf die Bewertung der Persönlichkeitsauffälligkeiten des Verurteilten abgestellt, nicht auf die dieser Bewertung zu Grunde liegenden Anknüpfungstatsachen. Für die Beurteilung der Frage, ob "neue Tatsachen" gegeben sind, ist aber nicht die neue oder möglicherweise sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen maßgeblich. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zu Grunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat be- reits vorlagen und ob diese dem damaligen Tatrichter bekannt oder für ihn erkennbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05).
15
Zwar hat das Landgericht dargelegt, dass während des Strafvollzugs wegen der Anlasstat bei dem Verurteilten Verhaltensweisen und Auffälligkeiten zutage getreten sind, auf welche sich die Diagnose einer schweren dissozialen Persönlichkeitsstörung stützt, und dass diese eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Während der früheren Verbüßungszeit war das Vollzugsverhalten des Verurteilten im wesentlichen angepasst; wenn es Beanstandungen gab, reagierte er positiv auf Aussprachen mit Vollzugsbediensteten; außerdem brachte er in deliktsbezogenen Gesprächen zum Ausdruck, dass er sich der Schwere und Verwerflichkeit seiner begangenen Straftat bewusst sei. Dies änderte sich bald nach der Anlassverurteilung. Zwar zeigte er sich anfangs noch kooperativ und einsichtig, dann aber traten massive Verhaltensauffälligkeiten auf. Er war leicht reizbar, zeigte eine geringe Frustrationstoleranz und ließ seiner Impulsivität freien Lauf. Wiederholt kam es zu verbal-aggressiven Angriffen auf Vollzugsbedienstete, die er nicht nur beleidigte, sondern auch massiv - teils mit dem Tode - bedrohte. Dreimal wurde er wegen derartiger Attacken zu Geldstrafen verurteilt. Dennoch war der Verurteilte nicht bereit, sein Verhalten zu ändern. Schließlich wurde der Justizvollzug so organisiert, dass nach Möglichkeit nur bestimmte Bedienstete, die mit dem Verurteilten umzugehen wussten , eingesetzt wurden. Selbst dadurch war allerdings keine nachhaltige Besserung der Verhaltensauffälligkeiten zu erzielen. Das Landgericht hat in diesen massiven Verhaltensauffälligkeiten aber ausdrücklich keine neuen Tatsachen im Sinne des § 66 b StGB gesehen, sondern ausschließlich erwogen, ob die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten erheblich und ob sie dem Ursprungsgericht bekannt oder für dieses erkennbar war. Der Senat kann nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass das Urteil auch im Ergebnis auf diesem unzutref- fenden Prüfungsmaßstab beruht. Dies gilt umso mehr, als das Landgericht die vom Verurteilten gezeigten Verhaltensauffälligkeiten - von seinem Ansatz her nachvollziehbar - weitgehend in pauschaler, zusammenfassender Form beschreibt. Um dem Revisionsgericht eine rechtliche Überprüfung der vom Landgericht vorgenommenen Gewichtung zu ermöglichen, bedarf es jedoch einer ins einzelne gehenden Darstellung des vom Tatrichter als neue erhebliche Tatsachen gewerteten Vollzugsverhaltens.
16
4. Die Frage, ob neben der in § 66 b Abs. 2 StGB erforderlichen Gefährlichkeit zusätzlich ein Hang des Verurteilten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB festgestellt werden muss (was wegen der unterschiedlichen Fassung der Absätze 1 und 2 des § 66 b StGB zweifelhaft erscheinen könnte), braucht der Senat nicht zu entscheiden. Im Übrigen liegt hier nach den bisherigen getroffenen Feststellungen des Landgerichts ein Hang des Verurteilten zur Begehung erheblicher Straftaten jedenfalls nahe.
17
5. Für die erneute Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
18
a) Verbal-aggressive Angriffe während des Vollzugs der Freiheitsstrafe (vgl. Art. 1 a Satz 2 EGStGB n.F.) stellen wegen des mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das Freiheitsrecht des Verurteilten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur dann erhebliche neue Tatsachen dar, wenn sie für sich genommen oder in ihrer Gesamtheit auf eine Bereitschaft des Verurteilten hinweisen, schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer zu begehen (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05; Beschluss vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05). Ob dies hier zutrifft , wird der neue Tatrichter vor dem Hintergrund der Anlassverurteilung we- gen eines wiederholten schwerwiegenden Aggressionsdelikts (zum symptomatischen Zusammenhang zwischen Anlasstat und neuer Tatsache vgl. Senatsbeschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt = NJW 2006, 384 f.), der Persönlichkeit des Verurteilten (einschließlich diagnostizierter Persönlichkeitsstörungen) sowie der besonderen Vollzugssituation zu beurteilen haben.
19
b) Bei der Gefährlichkeitsprognose wird der neu entscheidende Tatrichter auch zu prüfen haben, ob und inwieweit die beim Verurteilten bestehende schwerwiegende Persönlichkeitsstörung, die ursächlich für die aggressiven Verhaltensweisen im Vollzug ist, bisher therapeutisch aufgearbeitet werden konnte.
Tepperwien Maatz Kuckein
Solin-Stojanović Sost-Scheible

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 19. Jan. 2006 - 4 StR 222/05

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(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

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Strafgesetzbuch - StGB | § 66 Unterbringung in der Sicherungsverwahrung


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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 485/05
vom
12. Januar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Januar 2006 gemäß § 349 Abs.
4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 2. Juni 2005 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Der Verurteilte war am 20. Dezember 1995 vom Landgericht Magdeburg wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Diese Freiheitsstrafe hatte er am 22. November 2004 vollständig verbüßt. Als Entlasstermin war der 5. November 2004 vorgesehen. Am 5. Oktober 2004 beantragte die Staatsanwaltschaft, die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 StGB anzuordnen. Am 29. Oktober 2004 erging gegen den Verurteilten Unterbringungsbefehl nach § 275 a Abs. 5 StPO.
3
Gegenstand der Verurteilung war ein Tatgeschehen vom 17. Juni 1995, in dessen Verlauf der Verurteilte in alkoholisiertem Zustand (BAK zur Tatzeit 2,28 o/oo) seinem Nachbarn im Rahmen eines Streits mit erheblicher Kraft einen Messerstich in den Brustbereich versetzte, an dessen Folgen das Tatopfer wenig später verstarb. Das Landgericht ging davon aus, dass der Verurteilte bei Begehung der Anlasstat infolge des genossenen Alkohols in seiner Steuerungsfähigkeit nicht ausschließbar im Sinne des § 21 StGB erheblich eingeschränkt war. Einen psychiatrischen Sachverständigen hatte das Landgericht in diesem Verfahren nicht hinzugezogen.
4
Vor Begehung dieser Tat war der Verurteilte bereits viermal wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Erscheinung getreten und deswegen in der ehemaligen DDR zwischen 1973 und 1987 - die letzte Tat ereignete sich am 5. September 1986 - dreimal zu Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Ein weiteres gegen den Verurteilten geführtes Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (Tatzeit: 24. Mai 1992) wurde nach Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens im Hinblick auf das der Anlassverurteilung zugrunde liegende Strafverfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
5
2. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu Recht nicht auf § 66 b Abs. 1 StGB gestützt. Eine nachträgliche Unterbringungsanordnung nach § 66 b Abs. 1 StGB scheidet hier schon deshalb aus, weil die Voraussetzungen des § 66 StGB, auf die § 66 b Abs. 1 StGB Bezug nimmt, nicht erfüllt sind. Die der Anlasstat vorausgegangenen Taten unterfallen der Verjährungsregelung des § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB und können deshalb zur Begründung der hier allein in Betracht kommenden Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 bzw. Abs. 3 Satz 1 StGB nicht herangezogen werden.
6
3. Das Landgericht hat jedoch die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB bejaht.
7
Als "neue Tatsachen" hat es, beraten durch zwei psychiatrische Sachverständige , gewertet, dass der Verurteilte eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Merkmalen aufweise. Auf der Grundlage dieser Persönlichkeitsstörung habe sich bei ihm eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer "Kernpädophilie" sowie ein Alkoholabusus entwickelt. Soweit der Verurteilte während des Strafvollzugs Auffälligkeiten gezeigt habe, sei diesen Umständen eine eigenständige Bedeutung als "neue Tatsachen" nicht beizumessen, da diese lediglich Ausdruck der Persönlichkeitsstörung des Verurteilten seien.
8
Das Landgericht ist sodann im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu der Einschätzung gelangt, der Verurteilte werde in Freiheit aufgrund der festgestellten Persönlichkeitsstörung und der Störung der Sexualpräferenz und aufgrund eines bei ihm bereits "eingeschliffenen Verhaltensmusters" mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig erhebliche Straftaten begehen, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
9
4. Diese Beurteilung begegnet in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden sachlich-rechtlichen Bedenken.
10
a) Das Landgericht ist bei seiner Prüfung zwar im Ansatz zutreffend von den Anordnungsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB ausgegangen. Die Anlassverurteilung erfüllt die Eingangsvoraussetzungen dieser Vorschrift, da der Verurteilte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden ist.
11
b) Auch bestehen gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 66 b Abs. 2 StGB weder im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133, 167) noch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG Bedenken. Angesichts des berechtigten Interesses der Allgemeinheit, potentielle Opfer vor schwersten Verletzungen durch Straftäter zu schützen, ist die gesetzgeberische Entscheidung, in besonderen Ausnahmefällen, bei denen die formellen Voraussetzungen etwaiger früherer Verurteilungen fehlen, die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu ermöglichen, nicht zu beanstanden (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt).
12
Dieser Beurteilung steht hier nicht entgegen, dass gegen den Verurteilten , selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 StGB, im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat Sicherungsverwahrung nicht hätte angeordnet werden dürfen. Der Verurteilte hatte die Anlasstat vor dem 1. August 1995 im Beitrittsgebiet begangen und unterfiel deshalb der Regelung des Art. 1 a EGStGB in der zurzeit des Strafurteils geltenden Fassung des SichVG vom 16. Juni 1995 (BGBl. I S. 818). Diese Vorschrift schloss - für einen Fall wie den vorliegenden - die Anwendbarkeit der Vorschriften der Sicherungsverwahrung generell aus.
13
Dieser Umstand mag - was der Senat nicht zu entscheiden braucht - unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkung und insbesondere des Vertrauensschutzes bei Altfällen im Rahmen der Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB von Bedeutung sein, weil diese Vorschrift auf § 66 StGB Bezug nimmt (zu dem vergleichbaren Fall des § 66 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 1 a EGStGB i.d.F. des Gesetzes vom 26. Januar 1998 - BGBl. I S. 160 - vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05). Anders verhält es sich jedoch bei der hier allein in Betracht kommenden Anordnungsgrundlage des § 66 b Abs. 2 StGB, da diese Vorschrift gerade unabhängig vom Vorliegen der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB Anwendung findet.
14
c) Den Anforderungen, die an das Vorliegen "neuer Tatsachen" zu stellen sind, wird das angefochtene Urteil indes nicht gerecht. An diese Voraussetzungen sind strenge Anforderungen zu stellen. Im Einzelnen:
15
aa) "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB sind zunächst nur solche , die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562). Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, scheiden daher in jedem Fall aus. Aber auch Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter mit Blick auf § 244 Abs. 2 StPO hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind nicht neu im Sinne des § 66 b StGB. Rechtsfehler, die durch Nichtberücksichtigung solcher Tatsachen entstanden sind, können nicht durch die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung korrigiert werden (BGH aaO). Eine Bewertung bereits bei der Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt ebenfalls keine neue Tatsache dar (vgl. Senatsbeschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt).
16
bb) Darüber hinaus müssen die nachträglich erkennbar gewordenen Tatsachen eine "gewisse Erheblichkeitsschwelle" überschreiten (BTDrucks. 15/ 2887 S. 12; Lackner/Kühl StGB 25. Aufl. § 66 b Rdn. 4). Die Frage der Erheblichkeit der "neuen Tatsache" für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage , die vom Gericht in eigener Verantwortung ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als einer zum Strafrecht im Sinne des § 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörenden Maßnahme, die an eine Straftat anknüpft und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat bezieht (vgl. BVerfGE 109, 190, Leitsatz Ziff. 1 Buchst. a) folgt, dass die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt werden muss. Die "nova" müssen daher in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (vgl. Senatsbeschluss aaO).
17
d) Diesen Grundsätzen tragen die Ausführungen des Landgerichts nicht hinreichend Rechnung.
18
aa) Die Auffassung des Landgerichts, die kombinierte (dissoziale) Persönlichkeitsstörung des Verurteilten stelle in Verbindung mit der Störung der Sexualpräferenz eine "neue Tatsache" dar, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, die Persönlichkeitsstörung sei beim Verurteilten zwar bereits im jungen Erwachsenenalter - etwa seit 1975 - vorhanden gewesen. Auch habe die Störung der Sexualpräferenz bereits im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat vorgelegen. Jedoch seien der erkennenden Strafkammer, diese Störungen weder bekannt noch erkennbar gewesen , da sie erstmals, jedenfalls in "ihrem vollen Ausmaß", durch die im vorliegenden Verfahren tätigen psychiatrischen Sachverständigen diagnostiziert worden seien.
19
Dieser Begründung des Landgerichts liegt bereits ein falscher Ansatz zugrunde, weil es rechtsfehlerhaft allein auf die Bewertung der Persönlichkeitsauffälligkeiten des Verurteilten abgestellt hat. Dabei hat das Landgericht verkannt , dass für die Beurteilung der Frage, ob "neue Tatsachen" gegeben sind, nicht die neue oder möglicherweise sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen maßgeblich ist. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat bereits vorlagen und ob diese dem damaligen Tatrichter bekannt oder für ihn erkennbar waren. Es ist dabei - jedenfalls bei der Diagnose "Persönlichkeitsstörung" - nicht von Bedeutung, ob diese (Anknüpfungs-)Tatsachen bereits im Ausgangsverfahren oder in einem früheren Verfahren Grundlage einer sachverständigen Bewertung waren.
20
Dass maßgebliche, den diagnostizierten Störungen zugrunde liegende (Anknüpfungs-)Tatsachen bereits im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat gegeben waren, steht hier nach den getroffenen Feststellungen außer Frage. Diese Anknüpfungstatsachen - etwa Erkenntnisse zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten, insbesondere zu seinem Werdegang, der frühe Deliquenzbeginn , seine Alkoholproblematik und seine Vorstrafen, vor allem die mehrfachen Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, auf die die Diagnose "Störung der Sexualpräferenz" ausschließlich gestützt wird - waren im Ausgangsverfahren auch schon bekannt. Hinzu kommt, dass sich in jenem Verfahren in Anbetracht der erheblichen, auf eine Gewöhnung hindeutenden Alkoholisierung des Verurteilten bei der Anlasstat und zumindest bei einigen Vortaten einem sorgfältigen Tatrichter die Prüfung der Voraussetzungen einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB aufdrängen musste. Erkenntnisse, die er insoweit - etwa anhand der Vorstrafenakten - unter Aufklärungsgesichtspunkten hätte gewinnen können und müssen, waren für ihn, wie oben dargelegt , jedenfalls erkennbar und können als "neue Tatsachen" im vorliegenden Verfahren nicht mehr herangezogen werden.
21
Soweit das Landgericht darauf abstellt, die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten, sowie seine "Kernpädophilie" seien jedenfalls "in ihrem vollen Ausmaß" zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nicht bekannt gewesen, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, ob diese Feststellung auf konkreten "neuen" Anknüpfungstatsachen gründet oder ob sie, was nicht ausreichend wäre, lediglich auf der jetzigen Bewertung schon im Ausgangsverfahren bekannter oder erkennbarer Tatsachen durch die Sachverständigen beruht.
22
bb) Soweit das Landgericht die "Kernpädophilie" des Verurteilten als "novum" heranzieht, kommt unabhängig davon, dass es sich dabei nicht um eine Tatsache, sondern um eine Wertung handelt, hinzu, dass nach den bisherigen Feststellungen nicht zu erkennen ist, ob dieser Umstand in einem für die Erheblichkeitsbeurteilung der "nova" erforderlichen prognoserelevanten, symptomatischen Zusammenhang mit der Anlasstat steht. Die Erheblichkeit einer berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" darf, wie oben dargelegt, nicht losgelöst von der bei der Anlasstat hervorgetretenen spezifischen Gefährlichkeit beurteilt werden, sondern muss eine innere Beziehung zu dieser Gefährlichkeit aufweisen. In Bezug auf die "Kernpädophilie" des Verurteilten ergeben dies die Urteilsgründe nicht. Bei der Anlasstat handelte es sich um ein aus einem Konflikt heraus begangenes, spontanes Gewaltdelikt. Inwieweit die auf die Kernpädophilie zurückzuführenden Sexualdelikte des Verurteilten, bei denen es zu keiner unmittelbaren Gewaltanwendung gegenüber den Tatopfern kam, eine wie auch immer geartete innere Verknüpfung zu der bei dem Tötungsdelikt zutage getretenen Gefährlichkeit aufweisen, ist nicht zu erkennen.
23
5. Der Senat kann nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass das Vollzugsverhalten, das bislang unter diesem Gesichtspunkt nicht Gegenstand tatrichterlicher Beurteilung war, die Annahme "neuer Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB rechtfertigen kann. Bei der dem neuen Tatrichter insoweit obliegenden Prüfung wird dieser allerdings zu beachten haben, dass nicht schon jeder während des Vollzugs aufgetretene Ungehorsam als "novum" im Sinne des § 66 b StGB herangezogen werden kann. Vielmehr ist bei Vollzugsauffällig- keiten - neben den oben dargelegten Grundsätzen - bei Beurteilung der Erheblichkeit in besonderem Maße zu prüfen, ob sie für sich genommen oder jedenfalls in ihrer Gesamtheit Gewicht haben im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung anderer (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05). Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Bedingungen des Vollzugs zu beurteilen. Haben Auffälligkeiten oder während der Haft begangene Straftaten ihre Ursache überwiegend in den besonderen Bedingungen des Vollzugs, wird ihnen in der Regel die erforderliche erhebliche Indizwirkung für die Gefährlichkeit des Verurteilten nicht zukommen (vgl. BGH, aaO; zum vergleichbaren Fall der Bewertung von Straftaten während der Unterbringung nach § 63 StGB: vgl. BGH NStZ 1998, 405; BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 26; Senatsbeschluss vom 25. August 1998 - 4 StR 385/98). Tepperwien Maatz Kuckein Solin-Stojanović Sost-Scheible

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 485/05
vom
12. Januar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Januar 2006 gemäß § 349 Abs.
4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 2. Juni 2005 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Der Verurteilte war am 20. Dezember 1995 vom Landgericht Magdeburg wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Diese Freiheitsstrafe hatte er am 22. November 2004 vollständig verbüßt. Als Entlasstermin war der 5. November 2004 vorgesehen. Am 5. Oktober 2004 beantragte die Staatsanwaltschaft, die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 StGB anzuordnen. Am 29. Oktober 2004 erging gegen den Verurteilten Unterbringungsbefehl nach § 275 a Abs. 5 StPO.
3
Gegenstand der Verurteilung war ein Tatgeschehen vom 17. Juni 1995, in dessen Verlauf der Verurteilte in alkoholisiertem Zustand (BAK zur Tatzeit 2,28 o/oo) seinem Nachbarn im Rahmen eines Streits mit erheblicher Kraft einen Messerstich in den Brustbereich versetzte, an dessen Folgen das Tatopfer wenig später verstarb. Das Landgericht ging davon aus, dass der Verurteilte bei Begehung der Anlasstat infolge des genossenen Alkohols in seiner Steuerungsfähigkeit nicht ausschließbar im Sinne des § 21 StGB erheblich eingeschränkt war. Einen psychiatrischen Sachverständigen hatte das Landgericht in diesem Verfahren nicht hinzugezogen.
4
Vor Begehung dieser Tat war der Verurteilte bereits viermal wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Erscheinung getreten und deswegen in der ehemaligen DDR zwischen 1973 und 1987 - die letzte Tat ereignete sich am 5. September 1986 - dreimal zu Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Ein weiteres gegen den Verurteilten geführtes Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (Tatzeit: 24. Mai 1992) wurde nach Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens im Hinblick auf das der Anlassverurteilung zugrunde liegende Strafverfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
5
2. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu Recht nicht auf § 66 b Abs. 1 StGB gestützt. Eine nachträgliche Unterbringungsanordnung nach § 66 b Abs. 1 StGB scheidet hier schon deshalb aus, weil die Voraussetzungen des § 66 StGB, auf die § 66 b Abs. 1 StGB Bezug nimmt, nicht erfüllt sind. Die der Anlasstat vorausgegangenen Taten unterfallen der Verjährungsregelung des § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB und können deshalb zur Begründung der hier allein in Betracht kommenden Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 bzw. Abs. 3 Satz 1 StGB nicht herangezogen werden.
6
3. Das Landgericht hat jedoch die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB bejaht.
7
Als "neue Tatsachen" hat es, beraten durch zwei psychiatrische Sachverständige , gewertet, dass der Verurteilte eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Merkmalen aufweise. Auf der Grundlage dieser Persönlichkeitsstörung habe sich bei ihm eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer "Kernpädophilie" sowie ein Alkoholabusus entwickelt. Soweit der Verurteilte während des Strafvollzugs Auffälligkeiten gezeigt habe, sei diesen Umständen eine eigenständige Bedeutung als "neue Tatsachen" nicht beizumessen, da diese lediglich Ausdruck der Persönlichkeitsstörung des Verurteilten seien.
8
Das Landgericht ist sodann im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu der Einschätzung gelangt, der Verurteilte werde in Freiheit aufgrund der festgestellten Persönlichkeitsstörung und der Störung der Sexualpräferenz und aufgrund eines bei ihm bereits "eingeschliffenen Verhaltensmusters" mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig erhebliche Straftaten begehen, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
9
4. Diese Beurteilung begegnet in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden sachlich-rechtlichen Bedenken.
10
a) Das Landgericht ist bei seiner Prüfung zwar im Ansatz zutreffend von den Anordnungsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB ausgegangen. Die Anlassverurteilung erfüllt die Eingangsvoraussetzungen dieser Vorschrift, da der Verurteilte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden ist.
11
b) Auch bestehen gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 66 b Abs. 2 StGB weder im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133, 167) noch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG Bedenken. Angesichts des berechtigten Interesses der Allgemeinheit, potentielle Opfer vor schwersten Verletzungen durch Straftäter zu schützen, ist die gesetzgeberische Entscheidung, in besonderen Ausnahmefällen, bei denen die formellen Voraussetzungen etwaiger früherer Verurteilungen fehlen, die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu ermöglichen, nicht zu beanstanden (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt).
12
Dieser Beurteilung steht hier nicht entgegen, dass gegen den Verurteilten , selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 StGB, im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat Sicherungsverwahrung nicht hätte angeordnet werden dürfen. Der Verurteilte hatte die Anlasstat vor dem 1. August 1995 im Beitrittsgebiet begangen und unterfiel deshalb der Regelung des Art. 1 a EGStGB in der zurzeit des Strafurteils geltenden Fassung des SichVG vom 16. Juni 1995 (BGBl. I S. 818). Diese Vorschrift schloss - für einen Fall wie den vorliegenden - die Anwendbarkeit der Vorschriften der Sicherungsverwahrung generell aus.
13
Dieser Umstand mag - was der Senat nicht zu entscheiden braucht - unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkung und insbesondere des Vertrauensschutzes bei Altfällen im Rahmen der Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB von Bedeutung sein, weil diese Vorschrift auf § 66 StGB Bezug nimmt (zu dem vergleichbaren Fall des § 66 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 1 a EGStGB i.d.F. des Gesetzes vom 26. Januar 1998 - BGBl. I S. 160 - vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05). Anders verhält es sich jedoch bei der hier allein in Betracht kommenden Anordnungsgrundlage des § 66 b Abs. 2 StGB, da diese Vorschrift gerade unabhängig vom Vorliegen der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB Anwendung findet.
14
c) Den Anforderungen, die an das Vorliegen "neuer Tatsachen" zu stellen sind, wird das angefochtene Urteil indes nicht gerecht. An diese Voraussetzungen sind strenge Anforderungen zu stellen. Im Einzelnen:
15
aa) "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB sind zunächst nur solche , die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562). Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, scheiden daher in jedem Fall aus. Aber auch Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter mit Blick auf § 244 Abs. 2 StPO hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind nicht neu im Sinne des § 66 b StGB. Rechtsfehler, die durch Nichtberücksichtigung solcher Tatsachen entstanden sind, können nicht durch die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung korrigiert werden (BGH aaO). Eine Bewertung bereits bei der Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt ebenfalls keine neue Tatsache dar (vgl. Senatsbeschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt).
16
bb) Darüber hinaus müssen die nachträglich erkennbar gewordenen Tatsachen eine "gewisse Erheblichkeitsschwelle" überschreiten (BTDrucks. 15/ 2887 S. 12; Lackner/Kühl StGB 25. Aufl. § 66 b Rdn. 4). Die Frage der Erheblichkeit der "neuen Tatsache" für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage , die vom Gericht in eigener Verantwortung ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als einer zum Strafrecht im Sinne des § 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörenden Maßnahme, die an eine Straftat anknüpft und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat bezieht (vgl. BVerfGE 109, 190, Leitsatz Ziff. 1 Buchst. a) folgt, dass die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt werden muss. Die "nova" müssen daher in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (vgl. Senatsbeschluss aaO).
17
d) Diesen Grundsätzen tragen die Ausführungen des Landgerichts nicht hinreichend Rechnung.
18
aa) Die Auffassung des Landgerichts, die kombinierte (dissoziale) Persönlichkeitsstörung des Verurteilten stelle in Verbindung mit der Störung der Sexualpräferenz eine "neue Tatsache" dar, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, die Persönlichkeitsstörung sei beim Verurteilten zwar bereits im jungen Erwachsenenalter - etwa seit 1975 - vorhanden gewesen. Auch habe die Störung der Sexualpräferenz bereits im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat vorgelegen. Jedoch seien der erkennenden Strafkammer, diese Störungen weder bekannt noch erkennbar gewesen , da sie erstmals, jedenfalls in "ihrem vollen Ausmaß", durch die im vorliegenden Verfahren tätigen psychiatrischen Sachverständigen diagnostiziert worden seien.
19
Dieser Begründung des Landgerichts liegt bereits ein falscher Ansatz zugrunde, weil es rechtsfehlerhaft allein auf die Bewertung der Persönlichkeitsauffälligkeiten des Verurteilten abgestellt hat. Dabei hat das Landgericht verkannt , dass für die Beurteilung der Frage, ob "neue Tatsachen" gegeben sind, nicht die neue oder möglicherweise sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen maßgeblich ist. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat bereits vorlagen und ob diese dem damaligen Tatrichter bekannt oder für ihn erkennbar waren. Es ist dabei - jedenfalls bei der Diagnose "Persönlichkeitsstörung" - nicht von Bedeutung, ob diese (Anknüpfungs-)Tatsachen bereits im Ausgangsverfahren oder in einem früheren Verfahren Grundlage einer sachverständigen Bewertung waren.
20
Dass maßgebliche, den diagnostizierten Störungen zugrunde liegende (Anknüpfungs-)Tatsachen bereits im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat gegeben waren, steht hier nach den getroffenen Feststellungen außer Frage. Diese Anknüpfungstatsachen - etwa Erkenntnisse zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten, insbesondere zu seinem Werdegang, der frühe Deliquenzbeginn , seine Alkoholproblematik und seine Vorstrafen, vor allem die mehrfachen Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, auf die die Diagnose "Störung der Sexualpräferenz" ausschließlich gestützt wird - waren im Ausgangsverfahren auch schon bekannt. Hinzu kommt, dass sich in jenem Verfahren in Anbetracht der erheblichen, auf eine Gewöhnung hindeutenden Alkoholisierung des Verurteilten bei der Anlasstat und zumindest bei einigen Vortaten einem sorgfältigen Tatrichter die Prüfung der Voraussetzungen einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB aufdrängen musste. Erkenntnisse, die er insoweit - etwa anhand der Vorstrafenakten - unter Aufklärungsgesichtspunkten hätte gewinnen können und müssen, waren für ihn, wie oben dargelegt , jedenfalls erkennbar und können als "neue Tatsachen" im vorliegenden Verfahren nicht mehr herangezogen werden.
21
Soweit das Landgericht darauf abstellt, die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten, sowie seine "Kernpädophilie" seien jedenfalls "in ihrem vollen Ausmaß" zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nicht bekannt gewesen, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, ob diese Feststellung auf konkreten "neuen" Anknüpfungstatsachen gründet oder ob sie, was nicht ausreichend wäre, lediglich auf der jetzigen Bewertung schon im Ausgangsverfahren bekannter oder erkennbarer Tatsachen durch die Sachverständigen beruht.
22
bb) Soweit das Landgericht die "Kernpädophilie" des Verurteilten als "novum" heranzieht, kommt unabhängig davon, dass es sich dabei nicht um eine Tatsache, sondern um eine Wertung handelt, hinzu, dass nach den bisherigen Feststellungen nicht zu erkennen ist, ob dieser Umstand in einem für die Erheblichkeitsbeurteilung der "nova" erforderlichen prognoserelevanten, symptomatischen Zusammenhang mit der Anlasstat steht. Die Erheblichkeit einer berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" darf, wie oben dargelegt, nicht losgelöst von der bei der Anlasstat hervorgetretenen spezifischen Gefährlichkeit beurteilt werden, sondern muss eine innere Beziehung zu dieser Gefährlichkeit aufweisen. In Bezug auf die "Kernpädophilie" des Verurteilten ergeben dies die Urteilsgründe nicht. Bei der Anlasstat handelte es sich um ein aus einem Konflikt heraus begangenes, spontanes Gewaltdelikt. Inwieweit die auf die Kernpädophilie zurückzuführenden Sexualdelikte des Verurteilten, bei denen es zu keiner unmittelbaren Gewaltanwendung gegenüber den Tatopfern kam, eine wie auch immer geartete innere Verknüpfung zu der bei dem Tötungsdelikt zutage getretenen Gefährlichkeit aufweisen, ist nicht zu erkennen.
23
5. Der Senat kann nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass das Vollzugsverhalten, das bislang unter diesem Gesichtspunkt nicht Gegenstand tatrichterlicher Beurteilung war, die Annahme "neuer Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB rechtfertigen kann. Bei der dem neuen Tatrichter insoweit obliegenden Prüfung wird dieser allerdings zu beachten haben, dass nicht schon jeder während des Vollzugs aufgetretene Ungehorsam als "novum" im Sinne des § 66 b StGB herangezogen werden kann. Vielmehr ist bei Vollzugsauffällig- keiten - neben den oben dargelegten Grundsätzen - bei Beurteilung der Erheblichkeit in besonderem Maße zu prüfen, ob sie für sich genommen oder jedenfalls in ihrer Gesamtheit Gewicht haben im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung anderer (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05). Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Bedingungen des Vollzugs zu beurteilen. Haben Auffälligkeiten oder während der Haft begangene Straftaten ihre Ursache überwiegend in den besonderen Bedingungen des Vollzugs, wird ihnen in der Regel die erforderliche erhebliche Indizwirkung für die Gefährlichkeit des Verurteilten nicht zukommen (vgl. BGH, aaO; zum vergleichbaren Fall der Bewertung von Straftaten während der Unterbringung nach § 63 StGB: vgl. BGH NStZ 1998, 405; BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 26; Senatsbeschluss vom 25. August 1998 - 4 StR 385/98). Tepperwien Maatz Kuckein Solin-Stojanović Sost-Scheible

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 485/05
vom
12. Januar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. Januar 2006 gemäß § 349 Abs.
4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 2. Juni 2005 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Der Verurteilte war am 20. Dezember 1995 vom Landgericht Magdeburg wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Diese Freiheitsstrafe hatte er am 22. November 2004 vollständig verbüßt. Als Entlasstermin war der 5. November 2004 vorgesehen. Am 5. Oktober 2004 beantragte die Staatsanwaltschaft, die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 StGB anzuordnen. Am 29. Oktober 2004 erging gegen den Verurteilten Unterbringungsbefehl nach § 275 a Abs. 5 StPO.
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Gegenstand der Verurteilung war ein Tatgeschehen vom 17. Juni 1995, in dessen Verlauf der Verurteilte in alkoholisiertem Zustand (BAK zur Tatzeit 2,28 o/oo) seinem Nachbarn im Rahmen eines Streits mit erheblicher Kraft einen Messerstich in den Brustbereich versetzte, an dessen Folgen das Tatopfer wenig später verstarb. Das Landgericht ging davon aus, dass der Verurteilte bei Begehung der Anlasstat infolge des genossenen Alkohols in seiner Steuerungsfähigkeit nicht ausschließbar im Sinne des § 21 StGB erheblich eingeschränkt war. Einen psychiatrischen Sachverständigen hatte das Landgericht in diesem Verfahren nicht hinzugezogen.
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Vor Begehung dieser Tat war der Verurteilte bereits viermal wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Erscheinung getreten und deswegen in der ehemaligen DDR zwischen 1973 und 1987 - die letzte Tat ereignete sich am 5. September 1986 - dreimal zu Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Ein weiteres gegen den Verurteilten geführtes Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (Tatzeit: 24. Mai 1992) wurde nach Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens im Hinblick auf das der Anlassverurteilung zugrunde liegende Strafverfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
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2. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu Recht nicht auf § 66 b Abs. 1 StGB gestützt. Eine nachträgliche Unterbringungsanordnung nach § 66 b Abs. 1 StGB scheidet hier schon deshalb aus, weil die Voraussetzungen des § 66 StGB, auf die § 66 b Abs. 1 StGB Bezug nimmt, nicht erfüllt sind. Die der Anlasstat vorausgegangenen Taten unterfallen der Verjährungsregelung des § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB und können deshalb zur Begründung der hier allein in Betracht kommenden Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 bzw. Abs. 3 Satz 1 StGB nicht herangezogen werden.
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3. Das Landgericht hat jedoch die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB bejaht.
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Als "neue Tatsachen" hat es, beraten durch zwei psychiatrische Sachverständige , gewertet, dass der Verurteilte eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Merkmalen aufweise. Auf der Grundlage dieser Persönlichkeitsstörung habe sich bei ihm eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer "Kernpädophilie" sowie ein Alkoholabusus entwickelt. Soweit der Verurteilte während des Strafvollzugs Auffälligkeiten gezeigt habe, sei diesen Umständen eine eigenständige Bedeutung als "neue Tatsachen" nicht beizumessen, da diese lediglich Ausdruck der Persönlichkeitsstörung des Verurteilten seien.
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Das Landgericht ist sodann im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu der Einschätzung gelangt, der Verurteilte werde in Freiheit aufgrund der festgestellten Persönlichkeitsstörung und der Störung der Sexualpräferenz und aufgrund eines bei ihm bereits "eingeschliffenen Verhaltensmusters" mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig erhebliche Straftaten begehen, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
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4. Diese Beurteilung begegnet in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden sachlich-rechtlichen Bedenken.
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a) Das Landgericht ist bei seiner Prüfung zwar im Ansatz zutreffend von den Anordnungsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB ausgegangen. Die Anlassverurteilung erfüllt die Eingangsvoraussetzungen dieser Vorschrift, da der Verurteilte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden ist.
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b) Auch bestehen gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 66 b Abs. 2 StGB weder im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133, 167) noch unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebots aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG Bedenken. Angesichts des berechtigten Interesses der Allgemeinheit, potentielle Opfer vor schwersten Verletzungen durch Straftäter zu schützen, ist die gesetzgeberische Entscheidung, in besonderen Ausnahmefällen, bei denen die formellen Voraussetzungen etwaiger früherer Verurteilungen fehlen, die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu ermöglichen, nicht zu beanstanden (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt).
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Dieser Beurteilung steht hier nicht entgegen, dass gegen den Verurteilten , selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 StGB, im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat Sicherungsverwahrung nicht hätte angeordnet werden dürfen. Der Verurteilte hatte die Anlasstat vor dem 1. August 1995 im Beitrittsgebiet begangen und unterfiel deshalb der Regelung des Art. 1 a EGStGB in der zurzeit des Strafurteils geltenden Fassung des SichVG vom 16. Juni 1995 (BGBl. I S. 818). Diese Vorschrift schloss - für einen Fall wie den vorliegenden - die Anwendbarkeit der Vorschriften der Sicherungsverwahrung generell aus.
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Dieser Umstand mag - was der Senat nicht zu entscheiden braucht - unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkung und insbesondere des Vertrauensschutzes bei Altfällen im Rahmen der Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB von Bedeutung sein, weil diese Vorschrift auf § 66 StGB Bezug nimmt (zu dem vergleichbaren Fall des § 66 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 1 a EGStGB i.d.F. des Gesetzes vom 26. Januar 1998 - BGBl. I S. 160 - vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05). Anders verhält es sich jedoch bei der hier allein in Betracht kommenden Anordnungsgrundlage des § 66 b Abs. 2 StGB, da diese Vorschrift gerade unabhängig vom Vorliegen der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB Anwendung findet.
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c) Den Anforderungen, die an das Vorliegen "neuer Tatsachen" zu stellen sind, wird das angefochtene Urteil indes nicht gerecht. An diese Voraussetzungen sind strenge Anforderungen zu stellen. Im Einzelnen:
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aa) "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB sind zunächst nur solche , die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562). Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, scheiden daher in jedem Fall aus. Aber auch Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter mit Blick auf § 244 Abs. 2 StPO hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind nicht neu im Sinne des § 66 b StGB. Rechtsfehler, die durch Nichtberücksichtigung solcher Tatsachen entstanden sind, können nicht durch die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung korrigiert werden (BGH aaO). Eine Bewertung bereits bei der Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt ebenfalls keine neue Tatsache dar (vgl. Senatsbeschluss vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - zum Abdruck in BGHSt bestimmt).
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bb) Darüber hinaus müssen die nachträglich erkennbar gewordenen Tatsachen eine "gewisse Erheblichkeitsschwelle" überschreiten (BTDrucks. 15/ 2887 S. 12; Lackner/Kühl StGB 25. Aufl. § 66 b Rdn. 4). Die Frage der Erheblichkeit der "neuen Tatsache" für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage , die vom Gericht in eigener Verantwortung ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als einer zum Strafrecht im Sinne des § 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörenden Maßnahme, die an eine Straftat anknüpft und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat bezieht (vgl. BVerfGE 109, 190, Leitsatz Ziff. 1 Buchst. a) folgt, dass die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt werden muss. Die "nova" müssen daher in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (vgl. Senatsbeschluss aaO).
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d) Diesen Grundsätzen tragen die Ausführungen des Landgerichts nicht hinreichend Rechnung.
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aa) Die Auffassung des Landgerichts, die kombinierte (dissoziale) Persönlichkeitsstörung des Verurteilten stelle in Verbindung mit der Störung der Sexualpräferenz eine "neue Tatsache" dar, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, die Persönlichkeitsstörung sei beim Verurteilten zwar bereits im jungen Erwachsenenalter - etwa seit 1975 - vorhanden gewesen. Auch habe die Störung der Sexualpräferenz bereits im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat vorgelegen. Jedoch seien der erkennenden Strafkammer, diese Störungen weder bekannt noch erkennbar gewesen , da sie erstmals, jedenfalls in "ihrem vollen Ausmaß", durch die im vorliegenden Verfahren tätigen psychiatrischen Sachverständigen diagnostiziert worden seien.
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Dieser Begründung des Landgerichts liegt bereits ein falscher Ansatz zugrunde, weil es rechtsfehlerhaft allein auf die Bewertung der Persönlichkeitsauffälligkeiten des Verurteilten abgestellt hat. Dabei hat das Landgericht verkannt , dass für die Beurteilung der Frage, ob "neue Tatsachen" gegeben sind, nicht die neue oder möglicherweise sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen maßgeblich ist. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat bereits vorlagen und ob diese dem damaligen Tatrichter bekannt oder für ihn erkennbar waren. Es ist dabei - jedenfalls bei der Diagnose "Persönlichkeitsstörung" - nicht von Bedeutung, ob diese (Anknüpfungs-)Tatsachen bereits im Ausgangsverfahren oder in einem früheren Verfahren Grundlage einer sachverständigen Bewertung waren.
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Dass maßgebliche, den diagnostizierten Störungen zugrunde liegende (Anknüpfungs-)Tatsachen bereits im Zeitpunkt der Aburteilung der Anlasstat gegeben waren, steht hier nach den getroffenen Feststellungen außer Frage. Diese Anknüpfungstatsachen - etwa Erkenntnisse zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten, insbesondere zu seinem Werdegang, der frühe Deliquenzbeginn , seine Alkoholproblematik und seine Vorstrafen, vor allem die mehrfachen Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, auf die die Diagnose "Störung der Sexualpräferenz" ausschließlich gestützt wird - waren im Ausgangsverfahren auch schon bekannt. Hinzu kommt, dass sich in jenem Verfahren in Anbetracht der erheblichen, auf eine Gewöhnung hindeutenden Alkoholisierung des Verurteilten bei der Anlasstat und zumindest bei einigen Vortaten einem sorgfältigen Tatrichter die Prüfung der Voraussetzungen einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB aufdrängen musste. Erkenntnisse, die er insoweit - etwa anhand der Vorstrafenakten - unter Aufklärungsgesichtspunkten hätte gewinnen können und müssen, waren für ihn, wie oben dargelegt , jedenfalls erkennbar und können als "neue Tatsachen" im vorliegenden Verfahren nicht mehr herangezogen werden.
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Soweit das Landgericht darauf abstellt, die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten, sowie seine "Kernpädophilie" seien jedenfalls "in ihrem vollen Ausmaß" zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nicht bekannt gewesen, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, ob diese Feststellung auf konkreten "neuen" Anknüpfungstatsachen gründet oder ob sie, was nicht ausreichend wäre, lediglich auf der jetzigen Bewertung schon im Ausgangsverfahren bekannter oder erkennbarer Tatsachen durch die Sachverständigen beruht.
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bb) Soweit das Landgericht die "Kernpädophilie" des Verurteilten als "novum" heranzieht, kommt unabhängig davon, dass es sich dabei nicht um eine Tatsache, sondern um eine Wertung handelt, hinzu, dass nach den bisherigen Feststellungen nicht zu erkennen ist, ob dieser Umstand in einem für die Erheblichkeitsbeurteilung der "nova" erforderlichen prognoserelevanten, symptomatischen Zusammenhang mit der Anlasstat steht. Die Erheblichkeit einer berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" darf, wie oben dargelegt, nicht losgelöst von der bei der Anlasstat hervorgetretenen spezifischen Gefährlichkeit beurteilt werden, sondern muss eine innere Beziehung zu dieser Gefährlichkeit aufweisen. In Bezug auf die "Kernpädophilie" des Verurteilten ergeben dies die Urteilsgründe nicht. Bei der Anlasstat handelte es sich um ein aus einem Konflikt heraus begangenes, spontanes Gewaltdelikt. Inwieweit die auf die Kernpädophilie zurückzuführenden Sexualdelikte des Verurteilten, bei denen es zu keiner unmittelbaren Gewaltanwendung gegenüber den Tatopfern kam, eine wie auch immer geartete innere Verknüpfung zu der bei dem Tötungsdelikt zutage getretenen Gefährlichkeit aufweisen, ist nicht zu erkennen.
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5. Der Senat kann nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass das Vollzugsverhalten, das bislang unter diesem Gesichtspunkt nicht Gegenstand tatrichterlicher Beurteilung war, die Annahme "neuer Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB rechtfertigen kann. Bei der dem neuen Tatrichter insoweit obliegenden Prüfung wird dieser allerdings zu beachten haben, dass nicht schon jeder während des Vollzugs aufgetretene Ungehorsam als "novum" im Sinne des § 66 b StGB herangezogen werden kann. Vielmehr ist bei Vollzugsauffällig- keiten - neben den oben dargelegten Grundsätzen - bei Beurteilung der Erheblichkeit in besonderem Maße zu prüfen, ob sie für sich genommen oder jedenfalls in ihrer Gesamtheit Gewicht haben im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung anderer (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05). Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Bedingungen des Vollzugs zu beurteilen. Haben Auffälligkeiten oder während der Haft begangene Straftaten ihre Ursache überwiegend in den besonderen Bedingungen des Vollzugs, wird ihnen in der Regel die erforderliche erhebliche Indizwirkung für die Gefährlichkeit des Verurteilten nicht zukommen (vgl. BGH, aaO; zum vergleichbaren Fall der Bewertung von Straftaten während der Unterbringung nach § 63 StGB: vgl. BGH NStZ 1998, 405; BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 26; Senatsbeschluss vom 25. August 1998 - 4 StR 385/98). Tepperwien Maatz Kuckein Solin-Stojanović Sost-Scheible