Verwaltungsgericht Würzburg Urteil, 21. Feb. 2017 - W 1 K 16.1138

bei uns veröffentlicht am21.02.2017

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

Der … geborene Kläger wurde mit Wirkung vom 10.09.1981 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Studienrat ernannt. Zum 01.04.1987 wurde er zum Oberstudienrat ernannt. Seit 1985 bis zum Eintritt in den gesetzlichen Ruhestand zum …2014 unterrichtete der Kläger an der Berufsschule H* …

Am 26.06.2014 legte der Kläger bei seiner Beschäftigungsschule eine Kopie seines Schwerbehindertenausweises vor, wonach er ab dem 09.09.2013 als schwerbehindert (GdB 50) gilt. Er machte einen Anspruch auf eine zusätzliche Unterrichtsermäßigung von zwei Unterrichtsstunden in der Woche zusätzlich zu der bereits mit Schreiben vom 10.10.2013 gewährten Altersermäßigung von drei Unterrichtsstunden in der Woche für das laufende Schuljahr 2013/2014 geltend.

Mit Schreiben vom 03.07.2014 lehnte die Schulleiterin die Einräumung einer Stundenermäßigung wegen der Schwerbehinderung ab. Die Gewährung einer Vergünstigung vor Vorlage des Nachweises der Schwerbehinderung sei für Zusatzurlaub oder ähnliche Maßnahmen, worunter auch die Einräumung einer Stundenermäßigung falle, ausgeschlossen. Erst ab Vorlage des Nachweises, insbesondere des Schwerbehindertenausweises bei der Regierung von Unterfranken, könne eine Stundenermäßigung gewährt werden. Die nachträgliche Gewährung sei nicht möglich.

Mit Schreiben vom 26.11.2014 verwies der Kläger auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 07.04.2011 (B 9 SB 3/10 R) wonach eine rückwirkende Anerkennung der Schwerbehinderung sogar für einen Zeitraum vor der Antragstellung möglich sei. Er erweitere seine Forderung auch auf die Schuljahre 2011/2012 und 2012/2013. Theoretisch könne er auch das gesamte Jahr 2011 beanspruchen, weil die Verjährungsfrist drei Jahre betrage. Insgesamt handele es sich um eine Mehrarbeit von 210 Stunden, für die er einen finanziellen Ausgleich fordere.

Der Kläger legte in der Folge noch eine Bescheinigung des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 30.01.2015 vor, wobei wonach für die Zeit vom 15.03.2011 bis 08.09.2013 der Grad der Behinderung 50 betrage.

Mit Schreiben vom 04.12.2014 lehnte die Schulleiterin eine Gewährung eines Nachteilsausgleichs erneut ab.

Am 29.12.2014 hat der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg mit dem Ziel der Vergütung von insgesamt 252 Stunden geleisteter Arbeit mit einem Stundensatz von 32 € (= 8.064,00 €) erhoben. Zur Begründung der Klage hat der Kläger ausgeführt, in Bayern verkürze sich die Unterrichtszeit für Schwerbehinderte um jeweils 2 Stunden in der Woche. Der Kläger habe bis zum Ende seines aktiven Dienstes daher jeweils 2 Stunden in der Woche mehr Unterrichtszeit erbracht als es seiner Verpflichtung entsprochen habe. Dies ergebe sich aus der „Bekanntmachung über die Unterrichtspflichtzeit der Lehrer an beruflichen Schulen vom 12.07.1985 (KMBl Seite 12600), zuletzt geändert durch KMBek vom 17.02.2012 (KWMBl Seite 129)“. Der Kläger sei mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales rückwirkend ab dem 15.03.2011 bis zum 08.09.2013 als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt worden. Die rückwirkende Anerkennung sei aufgrund einer Entscheidung des BSG vom 07.04.2011 (B 9 SB 3/10 R) erfolgt. Die Klage sei nach Art. 87 Abs. 2 BayBG in Verbindung mit der Bekanntmachung über die Unterrichtspflichtzeit der Lehrer an beruflichen Schulen gerechtfertigt. Eine Dienstbefreiung sei wegen der Ruhestandsversetzung des Klägers nicht mehr möglich. Der Beklagte könne sich bei der Ausübung des ihm nach Art. 87 Abs. 1 Satz 3 BayBG eingeräumten Ermessens nicht darauf berufen, die ursprünglich zu gewährende Ermäßigung der Unterrichtszeiten könne im Nachhinein in natura nicht mehr gewährt werden, sodass auch eine finanzielle Abgeltung als Surrogat für die nicht gewährten Ermäßigungsstunden nicht in Betracht komme. Eine solche Sicht verkenne, dass der schwerbehinderte Beamte seinen gesundheitlichen Zustand auch nach Beendigung seines aktiven Dienstes noch verbessern könne, wenn ihm entsprechende zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. Hinzu komme, dass der Beklagte den Ausgleich für die vom Kläger erbrachten Stunden durch Freizeit dadurch vereitelt habe, dass sie den Antrag des Klägers, den Eintritt des Ruhestandes hinauszuschieben abgelehnt habe.

Der Kläger beantragt,

Der Beklagte wird verpflichtet, die dem Kläger als Schwerbehinderten seit dem Schuljahr 2010/2011 zu gewährenden 252 Ermäßigungsstunden als Mehrarbeit nachträglich zu genehmigen und zu vergüten und Nachzahlungsbeträge ab Rechtshängigkeit zu verzinsen,

hilfsweise,

der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers, die von ihm in den Schuljahren 2010/11, 2011/12, 2012/13 und 2013/14 geleistete Mehrarbeit als Schwerbehinderter nachträglich zu genehmigen und zu vergüten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Klage sei als Verpflichtungsklage statthaft. Das Widerspruchsverfahren sei fakultativ; vorliegend habe der Kläger zunächst Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht und dann Widerspruch erhoben. Dieses Verhalten habe die Zulässigkeit der Klage und die Unzulässigkeit des Widerspruchs zur Folge. Da in den Ablehnungsschreiben vom 03.07.2014 bzw. 04.12.2014 eine Rechtsbehelfsbelehrung:nicht erteilt worden sei, sei die Klage auch fristgerecht erhoben. Für den Zeitraum vom 15.03.2011 bis 31.07.2011 habe es bislang jedoch an einem Antrag des Klägers gefehlt. Insoweit sei die Forderung erstmals mit der Klage geltend gemacht worden. Die Klage sei unbegründet. Die Schulleitung sei für die Entscheidung über die Anordnung von Mehrarbeit und die Berechnung von Mehrarbeitsstunden zuständig. Voraussetzung für die Zahlung der mit der Klage geltend gemachten Mehrarbeitsvergütung sei zunächst die Anordnung von Mehrarbeit. Bereits hieran fehle es. Mehrarbeit im Schuldienst liege erst dann vor, wenn Lehrkräfte aus zwingenden dienstlichen Verhältnissen über die regelmäßige wöchentliche Unterrichtspflichtzeit hinaus Unterricht erteilen würden. Der Kläger habe den Ausweis wegen Schwerbehinderung erst nach seiner Ruhestandsversetzung bei der Schule vorgelegt und damit den Sachverhalt begründet, der zu einer Mehrarbeit führe. Die Prüfung der Anordnung von Mehrarbeit, insbesondere der Erforderlichkeit aufgrund zwingender dienstlicher Verhältnisse sei zu diesem Zeitpunkt weder geboten noch möglich gewesen. Mehrarbeit könne nicht rückwirkend angeordnet werden da die Erbringung der Mehrarbeitsleistung in der Vergangenheit denknotwendig ausgeschlossen sei. Vor der Anordnung von Mehrarbeit wäre unter anderem zu prüfen, ob der Unterricht nicht durch geeignete nebenamtliche Lehrkräfte oder Aushilfslehrkräfte erteilt werden könne. Diese Prüfung sei vorliegend nicht mehr möglich gewesen. Hätte die Schule gewusst, dass der Kläger schwerbehindert gewesen sei, hätte sie ohne Frage die Anordnung von Mehrarbeit verboten und durch andere organisatorische Maßnahmen die Unterrichtsversorgung sichergestellt. Mehrarbeit solle zudem zunächst durch Freizeit ausgeglichen werden. Nur sofern dies aus zwingenden dienstlichen Gründen nicht möglich sei, können an ihrer Stelle Lehrkräfte in Besoldungsgruppen mit aufsteigenden Gehältern eine Vergütung erhalten. Soweit sich der Kläger auf den Schutz der Schwerbehinderten berufe seien die Teilhaberichtlinien - Inklusion behinderter Angehöriger des Öffentlichen Dienstes in Bayern - (TeilR - Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen vom 19. November 2012 Az.: PE - P 1132 - 002 - 33 316/12, FMBl. 2012 S. 605) zu beachten. Die Schwerbehinderteneigenschaft sei grundsätzlich durch Vorlage des Schwerbehindertenausweis nachzuweisen (Ziff. 2.2.2 Abs. 1 S. 1 TeilR). Beschäftigte, die Schutz und Teilhabe nach diesen Vorschriften für sich in Anspruch nehmen würden, sollten frühzeitig die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaften beantragen und die Dienststelle hiervon schriftlich unterrichten (Ziff. 2.2.2 Abs. 1 S. 3 und 4 TeilR). Eine Stellenbesetzung oder Ernennung sowie die Gewährung von Zusatzurlaub nach § 125 SGB IX oder ähnliche Maßnahmen unter Vorbehalt oder auf Grundlage von Entscheidungen, die unter Vorbehalt ergangen seien, kämen dagegen grundsätzlich nicht in Betracht (Ziff. 2.2.2 Abs. 1 S. 7 TeilR). Da der Kläger die Antragstellung nicht schriftlich mitgeteilt habe, habe er auch keinen vorübergehenden Schutz in Anspruch nehmen können. Dies gelte natürlich erst recht für Zeiträume, die vor der Antragstellung liegen würden. Vor Vorlage des Nachweises der Schwerbehinderung seien ohnehin der Zusatzurlaub oder ähnliche Maßnahmen ausgeschlossen. Dementsprechend sehe Ziff. 3.1 der Bekanntmachung über die Unterrichtspflichtzeit der Lehrer an Beruflichen Schulen vom 12.07.1985 (KWMBl I S. 102), zuletzt geändert durch KMBek vom 17.02.2012 (KWMBl S. 129 - UPZBek.) die Kürzung der Unterrichtspflichtzeit ausdrücklich erst für die Zeit nach Vorlage der amtlichen Feststellung an die personalaktenführende Behörde vor. Zudem mache der Kläger mit der Klage Mehrarbeit auch für Zeiträume gelten, in denen er unstrittig erkrankt gewesen sei. Mehrarbeit könne aber während einer Dienstunfähigkeit nicht angeordnet und nicht geleistet werden. Wenn der Kläger darauf abhebe, dass bereits 2011 bzw. 2013 die Voraussetzungen für die Anerkennung als schwerbehinderte Person vorgelegen hätten, wäre dies mit den für die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft zuständigen Stellen zu erörtern. Jedenfalls habe der Kläger nicht einmal seine Antragstellung der Personalverwaltung mitgeteilt. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts könne auf den geltend gemachten Anspruch nicht angewendet werden. Die Vorschriften der TeilR, der UPZBek und des SGB IX würden dem Schutz der Schwerbehinderten vor Überforderung bzw. dem Nachteilsausgleich dienen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakten sowie der Gerichtsakten, auch in den Verfahren W 1 K 13.1282 und W 1 E 14.38, verwiesen.

Gründe

Die als Verpflichtungsklage statthafte Klage ist auch ansonsten zulässig, aber unbegründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Zahlung einer Mehrarbeitsvergütung für die Zeit vom 15.03.2011 bis 14.02.2014 in Höhe von 8.064,00 € nicht zu.

Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 87 Abs. 5 S. 2 BayBG. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass die Mehrarbeit bei Beamten, insbesondere Lehrern, mit der Folge einer dafür zu zahlenden Vergütung als Ausnahmetatbestand geregelt ist. Der Beamte ist grundsätzlich verpflichtet, ohne Vergütungsansprüche über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus Dienst zu tun, wenn zwingende dienstliche Verhältnisse es erfordern (Art. 87 Abs. 2 S. 1 BayBG). Werden Lehrkräfte an öffentlichen Schulen durch eine dienstlich angeordnete oder genehmigte Mehrarbeit mehr als drei Unterrichtstunden im Monat über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beansprucht, ist ihnen nach Maßgabe des Art. 87 Abs. 5 S. 1 BayBG eine entsprechende Dienstbefreiung zu gewähren. Nur wenn eine Dienstbefreiung aus zwingenden dienstlichen Gründen ausscheidet, ist eine Vergütung vorgesehen.

Eine solche Mehrarbeit, die einen Vergütungsanspruch auslösen könnte, liegt nicht vor. Der Kläger hat in der Zeit vom 15.03.2011 bis 14.02.2014 keine solche Mehrarbeit geleistet. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch lässt sich weder herleiten aus den beamtenrechtlichen Bestimmungen über die Mehrarbeit und ihre Vergütung und die Bekanntmachung über die Unterrichtspflichtzeit noch aus der Verbindung dieser Bestimmungen mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - SGB IX und die dazu ergangenen Teilhaberichtlinien.

1. Nach Art. 87 Abs. 5 S. 1 BayBG kommt eine Vergütung für eine Mehrarbeit nur dann in Betracht, wenn die Mehrarbeit u.a. „dienstlich angeordnet oder genehmigt wurde“ und diese „aus zwingenden dienstlichen Gründen nicht durch Dienstbefreiung innerhalb von drei Monaten ausgeglichen werden kann“. Es fehlt vorliegend schon an der für den Anspruch tatbestandlich erforderlichen Genehmigung oder Anordnung.

Der Kläger hat während der strittigen Zeiten nicht auf Grund einer Anordnung oder Genehmigung seines Dienstherrn Mehrarbeit geleistet, sondern damals jedenfalls tatsächlich Arbeit im Rahmen seiner Pflichtstunden. Der Beklagte ist auch nicht verpflichtet, für diese Zeiten nachträglich Mehrarbeit anzuordnen oder zu genehmigen mit der Folge, dass dem Kläger Mehrarbeitsvergütung zu zahlen ist.

Die Anordnung oder die Genehmigung von Mehrarbeit mit der Folge, dass dem Beamten eine Mehrarbeitsvergütung gezahlt werden kann, ist eine Ermessensentscheidung des Dienstherrn, die er nur unter Abwägung der im konkreten Zeitpunkt maßgebenden Umstände sachgerecht treffen kann. Der Dienstherr hat dabei zu prüfen, ob nach den dienstlichen Notwendigkeiten überhaupt eine Mehrarbeit erforderlich ist und welchem Beamten sie übertragen werden soll. Wegen des in Art. 87 Abs. 5 S. 1 BayBG normierten Vorranges des Freizeitausgleichs und der zusätzlichen finanziellen Belastung des Dienstherrn durch Zahlung einer Mehrarbeitsvergütung für den Fall, dass Freizeitausgleich wegen zwingender dienstlicher Belange nicht gewährt werden kann, ist es außerdem sachgerecht und geboten, bereits bei der Anordnung oder Genehmigung der Mehrarbeit zu prüfen, ob die Mehrarbeit voraussichtlich durch Dienstbefreiung innerhalb von drei Monaten ausgeglichen werden kann. Eine abwägende und vorausschauende Berücksichtigung der genannten Gesichtspunkte wäre bei einer Fallgestaltung wie der vorliegenden im Rahmen einer nachträglichen Entscheidung nicht möglich. Da ferner die Mehrarbeitsvergütung nur gezahlt werden darf, wenn die Mehrarbeit „aus zwingenden dienstlichen Gründen nicht durch Dienstbefreiung innerhalb von drei Monaten ausgeglichen werden kann“ (Art. 87 Abs. 5 S. 1 und 2 BayBG), könnte dieses an den Dienstherrn gerichtete Gebot, unter Beachtung des Vorranges des Freizeitausgleichs jeweils, gegebenenfalls sogar monatlich zu bestimmen, ob im konkreten Fall die Mehrarbeit durch Freizeit oder durch Zahlung einer Vergütung ausgeglichen wird, bei rückwirkender Genehmigung oder Anordnung keine Beachtung mehr finden (vgl. zu alldem schon BVerwG, U.v. 02.04.1981 - 2 C 1/81- juris).

2. Der geltend gemachte Anspruch ist auch nicht unter Berücksichtigung der Bestimmungen des SGB IX und der dazu ergangenen Teilhaberichtlinien gegeben. Insbesondere gibt es keine Verpflichtung des Beklagten, die Pflichtstunden des Klägers wegen seiner Schwerbehinderteneigenschaft rückwirkend ab 15.03.2011 zu ermäßigen. Dem steht schon entgegen, dass bereits geleistete Arbeit nicht rückgängig gemacht werden kann und deshalb eine Ermäßigung der Pflichtstunden zwangsläufig erst nach Feststellung der Behinderung (§ 69 Abs. 1 SGB IX) und Vorlage des Nachweises der Behinderung beim Dienstherrn gewährt werden kann (vgl. 2.2.2 Teilhaberichtlinien). Auch Sinn und Zweck des SGB IX und der dazu ergangenen Teilhaberichtlinien gebieten nicht, die Pflichtstunden jedenfalls rechtlich - gewissermaßen fiktiv - rückwirkend herabzusetzen und die danach tatsächlich über die herabgesetzten Pflichtstunden hinaus geleistete Arbeit nachträglich als Mehrarbeit mit der Folge eines Anspruchs auf Mehrarbeitsvergütung zu genehmigen. Die rechtlichen Wirkungen der Schwerbehinderteneigenschaft treten nicht ohne weiteres ein (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1988 - 5 C 67,85, juris-Rn. 8), Rechte aus dem SGB IX werden nicht von Amts wegen gewährt. Deshalb ist regelmäßig auf den Zeitpunkt des Antrags im Rahmen des Feststellungsverfahrens abzustellen (BVerwG, aaO, juris-Rn. 9). Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und auch des Bundesarbeitsgerichts (BAG, U.v. 23.02.1978 - 2 AZR 462/76 bei juris) insbesondere für den besonderen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte, der grundsätzlich nur dann eintritt, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft im Zeitpunkt der Kündigung entweder bereits durch Verwaltungsakt festgestellt war oder doch wenigstens ein entsprechender Antrag beim Versorgungsamt gestellt war. Die Bestimmungen des Schwerbehindertenrechts sollen nämlich dazu dienen, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu fördern, und Benachteiligungen zu vermeiden und ihnen entgegenzuwirken (§ 1 SGB IX). Die Leistungen sind damit stets auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet und nicht darauf, einen in der Vergangenheit liegenden Nachteil oder Schaden durch Geldleistungen zu kompensieren.

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur rückwirkenden Feststellung einer Schwerbehinderteneigenschaft (vgl. BSG, U.v. 07.04.2011 - B 9 SB 3/10 R bei juris), auf die sich der Kläger beruft, ändert hieran nichts. Zwar stellt das BSG nochmals fest, dass der Status als schwerbehinderter Mensch grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen beginnt, führt aber gleichzeitig in Übereinstimmung mit der zitierten Rechtsprechung des BVerwG und des BAG aus, dass zum Nachweis der Eigenschaft eine behördliche Feststellung erforderlich ist. Das BSG stellt in diesem Zusammenhang fest, dass weder im früher geltenden Schwerbehindertengesetz noch im SGB IX ausdrücklich geregelt ist, von welchem Zeitpunkt an die Feststellung zu treffen ist. Da es sich um eine Statusfeststellung handelt, die in einer Vielzahl von Lebensbereichen die Inanspruchnahme von Vorteilen bzw. Nachteilsausgleichen ermöglichen soll, und eine derartige Inanspruchnahme auch nach Ansicht des BSG regelmäßig nicht für längere Zeit rückwirkend möglich ist, reicht es grundsätzlich aus, wenn die GdB-Feststellung für die Zeit ab Antragstellung erfolgt. Mit der Stellung des Antrags bringt nämlich der behinderte Mensch der Behörde gegenüber sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck, weshalb es auch sachgerecht ist, von den behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum festgestellt haben möchte. Die vorliegend maßgebliche Frage, ob der Kläger Vorteile aus der Behinderteneigenschaft im Sinne einer Pflichtstundenreduzierung in Anspruch nehmen kann, beantwortet sich dabei aber nicht aus dem Schwerbehindertenrecht, sondern den beamtenrechtlichen Bestimmungen.

Soweit der Kläger sich in diesem Zusammenhang in der mündlichen Verhandlung vom 21.02.2017 erstmals darauf berufen hat, er habe die Stellung des Antrags auf Anerkennung einer Schwerbehinderung gegenüber der Schule mitgeteilt, ergeben sich hierfür schon keine Anhaltspunkte aus dem Akteninhalt, der der Kammer vorliegt. Zudem konnte der Kläger auch nicht konkret darlegen, wem gegenüber und auf welche Weise er diese Mitteilung gemacht hat. Schließlich hat sich der Kläger seiner Dienststelle bzw. dem Dienstherrn gegenüber auch nicht darauf berufen, bis zu der Entscheidung über den Schwerbehindertenantrag unter Vorbehalt als schwerbehinderter Beschäftigter behandelt zu werden, obwohl 2.2.2 S. 4 der Teilhaberichtlinien diese Möglichkeit ausdrücklich vorsieht. Auch dadurch hat der Kläger deutlich gemacht, dass er im Rahmen seiner Lehrertätigkeit keine Veranlassung sah, durch eine Stundenreduzierung seine Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu fördern oder Benachteiligungen zu vermeiden und ihnen entgegenzuwirken. Es besteht daher auch kein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Mehrarbeitsvergütung für den Zeitraum ab Antragstellung beim Zentrum Bayern Familie und Soziales.

3. Der Kläger kann seinen Anspruch auch nicht aus der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht des Dienstherrn herleiten (§ 45 BeamtStG). Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG können aus der Fürsorgepflicht grundsätzlich keine Ansprüche geltend gemacht werden, die über die Ansprüche hinausgehen, die im Beamtenrecht selbst speziell und abschließend festgelegt sind (U.v. 12.05.1966 - BVerwG 2 C 197.62 - BVerwGE 24, 96 mit weiteren Nachweisen und B.v. 5.08.1971 - BVerwG 6 B 21.71).

Für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 oder 14 GG ist ebenfalls nichts ersichtlich (BVerwG, U.v. 02.04.1981, a.a.O.).

Die Weigerung des Beklagten, dem Kläger nachträglich eine Pflichtstundenermäßigung zu gewähren und eine Mehrarbeit zu genehmigen und zu vergüten, ist daher rechtlich insgesamt nicht zu beanstanden.

4. Die Klage war daher mit der gesetzlichen Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.

Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Würzburg Urteil, 21. Feb. 2017 - W 1 K 16.1138

Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht Würzburg Urteil, 21. Feb. 2017 - W 1 K 16.1138

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 167


(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 3


(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Ni
Verwaltungsgericht Würzburg Urteil, 21. Feb. 2017 - W 1 K 16.1138 zitiert 9 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 3


(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Ni

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 69 Kontinuität der Bemessungsgrundlage


Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnun

Beamtenstatusgesetz - BeamtStG | § 45 Fürsorge


Der Dienstherr hat im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses für das Wohl der Beamtinnen und Beamten und ihrer Familien, auch für die Zeit nach Beendigung des Beamtenverhältnisses, zu sorgen. Er schützt die Beamtinnen und Beamten bei ihrer amtlich

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 125 Inhalt der schriftlichen Vereinbarung


(1) In der schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Leistungserbringer sind zu regeln:1.Inhalt, Umfang und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der Leistungen der Eingliederungshilfe (Leistungsvereinbarung) un

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 1 Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft


Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe

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Verwaltungsgericht Würzburg Urteil, 21. Feb. 2017 - W 1 K 16.1138 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).

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Bundessozialgericht Urteil, 07. Apr. 2011 - B 9 SB 3/10 R

bei uns veröffentlicht am 07.04.2011

Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. Januar 2010 aufgehoben.

Referenzen

(1) In der schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Leistungserbringer sind zu regeln:

1.
Inhalt, Umfang und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der Leistungen der Eingliederungshilfe (Leistungsvereinbarung) und
2.
die Vergütung der Leistungen der Eingliederungshilfe (Vergütungsvereinbarung).

(2) In die Leistungsvereinbarung sind als wesentliche Leistungsmerkmale mindestens aufzunehmen:

1.
der zu betreuende Personenkreis,
2.
die erforderliche sächliche Ausstattung,
3.
Art, Umfang, Ziel und Qualität der Leistungen der Eingliederungshilfe,
4.
die Festlegung der personellen Ausstattung,
5.
die Qualifikation des Personals sowie
6.
soweit erforderlich, die betriebsnotwendigen Anlagen des Leistungserbringers.
Soweit die Erbringung von Leistungen nach § 116 Absatz 2 zu vereinbaren ist, sind darüber hinaus die für die Leistungserbringung erforderlichen Strukturen zu berücksichtigen.

(3) Mit der Vergütungsvereinbarung werden unter Berücksichtigung der Leistungsmerkmale nach Absatz 2 Leistungspauschalen für die zu erbringenden Leistungen unter Beachtung der Grundsätze nach § 123 Absatz 2 festgelegt. Förderungen aus öffentlichen Mitteln sind anzurechnen. Die Leistungspauschalen sind nach Gruppen von Leistungsberechtigten mit vergleichbarem Bedarf oder Stundensätzen sowie für die gemeinsame Inanspruchnahme durch mehrere Leistungsberechtigte (§ 116 Absatz 2) zu kalkulieren. Abweichend von Satz 1 können andere geeignete Verfahren zur Vergütung und Abrechnung der Fachleistung unter Beteiligung der Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen vereinbart werden.

(4) Die Vergütungsvereinbarungen mit Werkstätten für behinderte Menschen und anderen Leistungsanbietern berücksichtigen zusätzlich die mit der wirtschaftlichen Betätigung in Zusammenhang stehenden Kosten, soweit diese Kosten unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse beim Leistungserbringer und der dort beschäftigten Menschen mit Behinderungen nach Art und Umfang über die in einem Wirtschaftsunternehmen üblicherweise entstehenden Kosten hinausgehen. Können die Kosten im Einzelfall nicht ermittelt werden, kann hierfür eine Vergütungspauschale vereinbart werden. Das Arbeitsergebnis des Leistungserbringers darf nicht dazu verwendet werden, die Vergütung des Trägers der Eingliederungshilfe zu mindern.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dabei wird den besonderen Bedürfnissen von Frauen und Kindern mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder sowie Menschen mit seelischen Behinderungen oder von einer solchen Behinderung bedrohter Menschen Rechnung getragen.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. Januar 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 für einen vor seinem Feststellungsantrag liegenden Zeitraum hat.

2

Der am 26.8.1945 geborene Kläger ist Arzt für Biochemie. Auf Veranlassung seiner behandelnden Ärztin wurde er am 4.4.2002 ins Krankenhaus aufgenommen. Dort wurde ein mindestens 10 x 10 cm großer gastrointestinaler Stromatumor (GIST) oberhalb des Blasendaches diagnostiziert und am 17.4.2002 operativ entfernt. In der Zeit danach wurden im Rahmen von Kontrolluntersuchungen Metastasen und Rezidive festgestellt, die zu weiteren operativen Eingriffen führten. Seit dem 1.1.2007 bezieht der Kläger Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit Abschlägen.

3

Im Dezember 2006 beantragte der Kläger beim beklagten Land die Feststellung eines GdB ab November 2000. Nach entsprechenden medizinischen Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 26.3.2007 wegen einer Harnblasenerkrankung im Zustand der Heilungsbewährung einen GdB von 80 seit dem 1.4.2002 fest. Dem Widerspruch des Klägers half der Beklagte teilweise ab und stellte fest, dass der GdB nunmehr wegen einer Dünndarmerkrankung, bei der von einer Heilungsbewährung nicht mehr auszugehen sei, 100 betrage. Den auf Feststellung eines GdB für die Zeit vor dem 1.4.2002 gerichteten Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 23.8.2007).

4

Das vom Kläger daraufhin angerufene Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 19.11.2008). Bei der Feststellung des GdB handele es sich um eine Statusentscheidung, die generell nur in die Zukunft wirke. § 6 Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ordne eine rückwirkende Feststellung für die Zeit ab Antragstellung an. Eine weitergehende Rückwirkung sei nach Maßgabe des § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV auf offenkundige Fälle zu beschränken. Ein derartiger Fall liege hier erst ab April 2002 vor, weil die bösartige Tumorerkrankung erstmals in diesem Monat objektiv beweisbar diagnostiziert worden sei. Für die Zeit davor fehle es an aussagekräftigen medizinischen Unterlagen, so dass die vom Kläger behauptete Tatsache, er sei bereits im Mai 2000 wegen Teerstühlen und Schwächeanfällen schwerbehindert gewesen, nicht als offenkundig gelten könne.

5

           

Im Rahmen seiner Berufung hat der Kläger vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19.11.2008 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 26.3.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.8.2007 zu verpflichten, bei ihm einen GdB von 100, hilfsweise 50, ab dem 1.5.2000 festzustellen,
hilfsweise
1. ihn als Arzt (Facharzt für Biochemie) und sachverständige Partei dazu zu vernehmen, dass er bereits seit Mai 2000 unter Teerstühlen, starken Symptomen einer Anämie und Kraftlosigkeit litt,
2. ein pathologisches Sachverständigengutachten durch Prof. Dr. R. B., Institut für Pathologie der Universität B., darüber einzuholen, dass sich sein Gesundheitszustand und seine Funktionseinschränkungen im Jahr 2002 nicht von dem Gesundheitszustand und den Funktionseinschränkungen im Mai 2000 aufgrund der Tumorart, seines Wachstums und der Begleitsymptome signifikant aus ärztlicher Sicht unterschied, so dass ein GdB von 100, mindestens jedoch 50, bereits seit Mai 2000, hilfsweise seit 1.11.2000 offenkundig bestand.

6

Das LSG hat unter Zulassung der Revision durch Urteil vom 19.1.2010 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es nach Darlegung der allgemeinen Grundlagen für die Feststellung des GdB (§ 69 SGB IX) ausgeführt: Es handele sich bei der Feststellung des GdB um eine Statusentscheidung, die prinzipiell in die Zukunft wirke und nach § 6 Abs 1 Satz 1 SchwbAwV lediglich deshalb auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurückzubeziehen sei, um den schwerbehinderten Menschen für die Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht unzumutbar zu belasten. Für eine weitergehende Rückwirkung sei nach Maßgabe des § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV nur dann Raum, wenn der Betroffene ein besonderes Interesse für eine frühere Statusentscheidung glaubhaft machen könne. Eine solche Rückwirkung müsse jedoch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) überdies auf offenkundige Fälle beschränkt werden, um den Sinn und Zweck einer Statusentscheidung nicht zu konterkarieren. Offenkundigkeit sei hierbei anzunehmen, wenn die für die Feststellung erforderlichen Voraussetzungen aus der Sicht eines unbefangenen, sachkundigen Beobachters nach Prüfung der objektiv gegebenen Befundlage ohne Weiteres deutlich zu Tage träten.

7

Zwar habe der Kläger ein besonderes Interesse an einer früheren Feststellung des GdB insoweit glaubhaft gemacht, als ihm nach § 236a SGB VI eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen zustehen würde, wenn seine Schwerbehinderteneigenschaft bereits zum 16.11.2000 festgestellt würde. Es fehle jedoch an einem offenkundigen Fall, weil medizinische Befunde, aus denen sich die Voraussetzungen für die vom Kläger begehrte Feststellung deutlich entnehmen ließen, für die Zeit vor April 2002 weder vorlägen noch ermittelbar seien. Letzteres ergäbe sich aus den Angaben des Klägers selbst sowie vor allem aus den Attesten der behandelnden Internistinnen Dr. P. und Dr. L. vom 25.4.2007. Danach seien hier entweder nur ganz pauschale Aussagen darüber möglich, dass der Kläger bereits ab Mai 2000 unter vereinzelt aufgetretenen Teerstühlen sowie unter starken Symptomen einer Anämie und unter Kraftlosigkeit gelitten habe, oder es könnten nur Rückschlüsse aus Befunden aus der Zeit ab April 2002 gezogen werden, was der Annahme eines offenkundigen Falles entgegenstehe.

8

Vor diesem Hintergrund müsse der Senat nicht in weitere Ermittlungen eintreten. Insbesondere müsse er den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen nicht folgen, weil sie entweder nur vage Tatsachenbehauptungen zum Inhalt hätten oder auf die Einholung eines "Rückschlussgutachtens" zielten, auf das es bei der Prüfung der Frage, ob ein offenkundiger Fall gegeben sei, gerade nicht ankommen könne.

9

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

10

Materielles Recht sei verletzt, weil der Status der Schwerbehinderteneigenschaft nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen beginne (BSGE 89, 79), und zwar ohne Beschränkung auf offensichtliche Fälle. Eine abweichende Entscheidung des BSG liege für Erstfeststellungen nicht vor. Das vom LSG herangezogene Urteil des BSG vom 29.5.1991 betreffe allein Überprüfungsanträge nach § 44 Abs 2 SGB X, bei denen es im Rahmen des Ermessens auf die "Offensichtlichkeit" ankomme. Demnach sei das rückwirkende Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft, wie im Sozialrecht generell üblich, mit sämtlichen Erkenntnismitteln zu erforschen. Eine Beschränkung auf Offensichtlichkeitsfälle oder kaum bestimmte "Ausnahmefälle" finde nicht statt.

11

Das angefochtene Urteil sei auch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG habe sein Recht auf rechtliches Gehör nach § 62 SGG verletzt, weil es seinen - des Klägers - Vortrag zum Schweregrad des Tumors und dessen Bewertung mit einem GdB von 100, hilfsweise 50, ab Mai 2000 unter Hinweis auf die fehlende Offenkundigkeit der Befunde übergangen habe. Zudem habe das LSG auch seine Amtsermittlungspflicht verletzt, weil es den in der letzten mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen zu Unrecht nicht gefolgt sei. Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe das angefochtene Urteil.

12

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19.1.2010 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19.11.2008 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 26.3.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.8.2007 für ihn einen GdB von 100, hilfsweise von 50, ab 1.5.2000, hilfsweise ab 1.11.2000, festzustellen.

13

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

14

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an. Zwar beziehe sich die vom LSG zutreffend angewandte Entscheidung des BSG vom 29.5.1991 auf die Überprüfung bereits bestandskräftiger Bescheide iS des § 44 SGB X. Eine Unterscheidung für die rechtliche Bewertung bei den Voraussetzungen für die rückwirkende Feststellung im Schwerbehindertenrecht sei hingegen hinsichtlich der Erstfeststellungen nicht erforderlich. Es komme lediglich auf die Bewertung der Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung als solche an. Diese sei und bleibe eine Statusentscheidung mit den bekannten Ausnahmen für die rückwirkende Feststellung nach der SchwbAwV. Der Kläger trage zwar vor, dass es dem Versorgungsträger und den Sozialgerichten zumutbar sei, durch Einholung von Befunden, Auskünften und ggf von Sachverständigengutachten den objektiven Eintrittspunkt der Schwerbehinderung von Amts wegen zu ermitteln. Dieser Rechtsgedanke sei indes nicht auf die rückwirkende Feststellung zu übertragen, wie bereits das BSG festgestellt habe. Hier gelte die Einschränkung der "Offenkundigkeit". Dieser Begriff lasse schon vom Wortsinn her eine aufwendige Ermittlung nicht zu.

15

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

16

Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

17

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB mit 100, hilfsweise von wenigstens 50, schon ab Mai 2000. Diesen Anspruch verfolgt der Kläger mit seiner zulässigen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG). Entgegen der Auffassung des LSG ist der Anspruch des Klägers auf rückwirkende GdB-Feststellung nicht aus Rechtsgründen ausgeschlossen. Für die Entscheidung, ob der Anspruch begründet ist, bedarf es weiterer einzelfallbezogener Tatsachenfeststellungen, die das LSG noch zu treffen hat.

18

Der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 ab Mai 2000 und damit für Zeiten vor dem vom Beklagten angenommenen Zeitpunkt (1.4.2002) richtet sich nach dem Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -SchwbG-) idF der Neubekanntmachung vom 26.8.1986 (BGBl I 1421, ber 1550) sowie nach den am 1.7.2001 in Kraft getretenen Vorschriften des SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I 1046), geändert durch das Gesetz vom 23.4.2004 (BGBl I 606).

19

Hinsichtlich der Maßstäbe für die Bestimmung des Begriffs der Behinderung ergeben sich durch die zum 1.7.2001 erfolgte Ablösung des SchwbG durch das SGB IX keine nennenswerten Unterschiede. Zwar sind die Begriffe der Behinderung und der des GdB im SGB IX anders umschrieben als zuvor in § 3 Abs 1 SchwbG, der seinem Wortlaut nach unter Behinderung die Auswirkungen einer nicht nur vorübergehenden Funktionsstörung verstand. Die nunmehr erfasste Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (s § 2 Abs 1, § 69 Abs 1 Satz 3 SGB IX bzw Satz 4 SGB IX) entspricht indes der schon nach altem Recht ergangenen Rechtsprechung des BSG (s insgesamt BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 2 RdNr 7). Entsprechendes gilt für den auf dem Behinderungsbegriff aufbauenden GdB (s §§ 2 Abs 1, 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX).

20

Zwar beginnt der Status als schwerbehinderter Mensch grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (vgl BSGE 89, 79, 81 = SozR 3-3870 § 59 Nr 1 S 3). Zum Nachweis dieser Eigenschaft ist jedoch eine behördliche Feststellung erforderlich. Dementsprechend stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (vgl § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG, § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX). Von welchem Zeitpunkt an diese Feststellung zu treffen ist, wird weder im SchwbG noch im SGB IX ausdrücklich geregelt. Hinreichende Maßgaben zur Bestimmung des Wirksamkeitsbeginns einer GdB-Feststellung lassen sich jedoch aus dem Sinn und Zweck solcher Feststellungen und dem Erfordernis einer Vermeidung unnötigen Verwaltungsaufwandes herleiten.

21

Dabei ist davon auszugehen, dass es sich um Statusfeststellungen handelt, die in einer Vielzahl von Lebensbereichen die Inanspruchnahme von Vorteilen und Nachteilsausgleichen ermöglichen sollen (vgl dazu zB BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 8 RdNr 16). Da eine derartige Inanspruchnahme regelmäßig nicht (für längere Zeit) rückwirkend möglich ist, reicht es grundsätzlich aus, wenn die GdB-Feststellung für die Zeit ab Antragstellung erfolgt (vgl dazu BSGE 69, 14, 17 f = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 9 f). Mit der Stellung des Antrags bringt nämlich der behinderte Mensch der Behörde gegenüber sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck. Insofern ist es sachgerecht, von dem behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum festgestellt haben möchte.

22

Diese aus dem SchwbG und dem SGB IX herzuleitenden rechtlichen Grundsätze haben ihren Niederschlag in den gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften über die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises gefunden. Nach § 4 Abs 5 Satz 1 SchwbG/§ 69 Abs 5 Satz 1 SGB IX stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie ggf über weitere gesundheitliche Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen aus. Die Einzelheiten der Ausweisausstellung sind in der nach den Vorgaben des § 4 Abs 5 SchwbG/§ 69 Abs 5 SGB IX auf der Grundlage des § 4 Abs 5 Satz 5 SchwbG/§ 70 SGB IX erlassenen SchwbAwV idF der Bekanntmachung vom 25.7.1991 (BGBl I 1739), mit späteren Änderungen zuletzt durch Art 20 Abs 8 Gesetz zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 (BGBl I 2904), geregelt. Nach deren § 6 Abs 1 Nr 1 ist auf der Rückseite des Ausweises als Beginn der Gültigkeit in den Fällen des § 69 Abs 1 und 4 SGB IX der Tag des Eingangs des Antrags auf Feststellung nach diesen Vorschriften einzutragen. § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV ermöglicht darüber hinaus auf Antrag des schwerbehinderten Menschen und nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses die Eintragung eines zusätzlichen, weiter zurückliegenden Datums.

23

Soweit § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV für die Eintragung des "zusätzlichen" vor dem Datum der Antragstellung liegenden Datums die "Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses" der antragstellenden Person verlangt, ist allerdings auch dort nicht weiter bestimmt, was ein "besonderes Interesse" iS dieser Vorschrift ist. Auch eine höchstrichterliche Definition des "besonderen Interesses" ist bisher nicht erfolgt. Einige (instanzgerichtliche) Entscheidungen haben ein besonderes Interesse für den Fall verneint, dass der Antragsteller aufgrund der vor die Antragstellung zurückreichenden schwerbehindertenrechtlichen Feststellung Steuervergünstigungen wahrnehmen (LSG für das Saarland Beschluss vom 5.11.2002 - L 5 B 12/01 SB -; SG Dortmund Urteil vom 29.3.2004 - S 43 SB 20/03 -; aA LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.5.1992 - L 4 Vs 3/91 -) oder rückwirkend Kindergeld beanspruchen wollte (SG Dresden Gerichtsbescheid vom 9.12.2004 - S 7 SB 340/02 -). Demgegenüber hat das LSG in dem hier angefochtenen Urteil das besondere Interesse bejaht, soweit der Kläger mit der rückwirkenden Feststellung des GdB von mehr als 50 gemäß § 236a SGB VI die Altersrente für schwerbehinderte Menschen abschlagsfrei beziehen könnte. Gleichsinnig hat das LSG Berlin-Brandenburg das besondere Interesse des dortigen Klägers im Urteil vom 18.2.2010 - 11 SB 351/08 - beurteilt.

24

Mangels normativer Maßgaben erscheint es auch angesichts der Bedeutung der Rückwirkung der entsprechenden Feststellungen angemessen, den Begriff des besonderen Interesses nach ähnlichen Maßstäben zu bestimmen wie den Anspruch eines im Ausland lebenden behinderten Menschen auf Feststellung seines GdB in Deutschland. Grundsätzlich hat ein in Deutschland lebender behinderter Mensch nach dem System des Schwerbehindertenrechts im SGB IX Anspruch auf Feststellung des für ihn maßgeblichen GdB unabhängig davon, ob sich seine rechtliche und/oder wirtschaftliche Situation dadurch unmittelbar verbessert. Ein besonderes Feststellungsinteresse (Rechtsschutzbedürfnis) für die Zeit ab Antragstellung ist nicht erforderlich (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 8). Etwas anderes gilt für einen im Ausland lebenden behinderten Menschen. Nach der Rechtsprechung des BSG ist auf dessen Antrag der GdB festzustellen, wenn davon in Deutschland Vergünstigungen abhängen, die keinen Inlandswohnsitz voraussetzen (s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 5; BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6; zuletzt BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 SB 1/10 R - SozialVerw 2011, 11). Ein im Ausland lebender Behinderter kann das Feststellungsverfahren nach § 4 SchwbG bzw § 69 SGB IX nur zur Ermöglichung konkreter inländischer Rechtsvorteile in Anspruch nehmen. Die Durchbrechung des Territorialitätsprinzips (§ 30 Abs 1 iVm § 37 Satz 1 SGB I) ist gerechtfertigt, wenn ihm trotz seines ausländischen Wohnsitzes aus der Feststellung seines GdB in Deutschland konkrete Vorteile erwachsen können (BSG aaO). Das BSG hat als entsprechenden Vorteil die Möglichkeit der Inanspruchnahme der gesetzlichen Altersrente für schwerbehinderte Menschen anerkannt (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 5; BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6).

25

Zu ähnlichen Ergebnissen würde eine in Anlehnung an den Begriff des Rechtsschutzinteresses bzw Rechtsschutzbedürfnisses im gerichtlichen, insbesondere sozialgerichtlichen Verfahren orientierte Definition des Begriffes des besonderen Interesses nach § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV führen. Das gerichtliche Rechtsschutzinteresse ist für einen von einer behördlichen Maßnahme betroffenen oder eine solche Maßnahme erstrebenden Bürger grundsätzlich anzunehmen, wenn er das angestrebte Ergebnis nicht auf einfachere Weise erreichen und mit der gerichtlichen Entscheidung seine rechtliche oder wirtschaftliche Stellung verbessern kann (s nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, vor § 51 RdNr 16a mwN).

26

Aus Anlass des vorliegend zu entscheidenden Einzelfalls bedarf es letztlich keiner abschließenden Definition des Begriffs des besonderen Interesses, denn es bestehen keinerlei Bedenken gegen die Bejahung des besonderen Interesses des Klägers durch das LSG. Die Möglichkeit des Bezuges einer abschlagsfreien Altersrente (s dazu sowie zur Berücksichtigung der rückwirkenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung BSG Urteil vom 29.11.2007 - B 13 R 44/07 R - SozR 4-2600 § 236a Nr 2) begründet zweifelsohne ein besonderes Interesse an der vor die Antragstellung zurückwirkenden Feststellung des GdB von 50 als Grundlage für die Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch (s § 2 Abs 2 SGB IX).

27

Entgegen der Auffassung des LSG ist indes für die Rückverlagerung des Zeitpunkts der Feststellung des GdB vor den Zeitpunkt der Antragstellung nicht zu fordern, dass der betreffende GdB im beanspruchten Feststellungszeitpunkt offensichtlich bereits vorgelegen hat. Eine Rechtsnorm, die dies bestimmt, existiert nicht. Insbesondere enthält § 6 SchwbAwV keine entsprechende Einschränkung. Diese Einschränkung lässt sich auch, anders als das Erfordernis eines besonderen Interesses, nicht aus den gesetzlichen Grundlagen des Schwerbehindertenrechts herleiten. Für die behördliche Erstfeststellung, dass ein GdB von 50 bereits zu einem Zeitpunkt vor der Antragstellung vorgelegen hat, ist nur die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich; eine solche rückwirkende Feststellung ist nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt.

28

Eine Beschränkung der rückwirkenden Feststellung des GdB durch ein Erfordernis der Offensichtlichkeit hat das BSG allein für den Fall angenommen, dass nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit zu prüfen ist(BSG Urteil vom 29.5.1991 - 9a/9 RVs 11/89 - BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3). Diese Einschränkung folgt indes nicht aus § 4 SchwbG/§ 69 SGB IX oder § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV, sondern rechtfertigt sich, wie in der Literatur zutreffend erkannt worden ist(von Steinäcker, Behindertenrecht 2006, 98, 100), allein im Hinblick auf das nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X auszuübende Verwaltungsermessen. Da es bei der Feststellung des GdB nicht um Sozialleistungen geht und § 44 Abs 1 SGB X damit unanwendbar ist(BSGE 69, 14, 16 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 8 f), hat die für die Feststellungen zuständige Behörde oder Körperschaft im Falle des Vorliegens einer auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogenen bindenden Feststellung des GdB über den Antrag auf Rückverlagerung im Überprüfungswege nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X kann ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. In dem Fall, in dem die entsprechenden tatsächlichen Voraussetzungen offenkundig sind, könnte das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung der bindenden Feststellung gebieten (BSGE 69, 14, 18 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 10).

29

Im Verfahren einer Erstfeststellung, um das es sich im vorliegenden Fall handelt, beanspruchen diese aus § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X fließenden, allein auf das Verwaltungsermessen bezogenen Grundsätze keine Gültigkeit. Hier muss die Feststellungsbehörde - bei Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses durch den Antragsteller - uneingeschränkt prüfen und entscheiden, ob und seit wann die geltend gemachte Eigenschaft (hier: GdB von mindestens 50) schon vor der Antragstellung bestanden hat. Der entsprechende Zeitpunkt ist festzustellen.

30

Eines über die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses hinausgehenden besonderen Korrektivs etwa in Form der Offensichtlichkeit bedarf es auch aus anderen Gründen nicht. Entsprechende Anträge lassen sich nach Aufklärung des Sachverhalts mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast behandeln (s von Steinäcker, aaO, 100).

31

Da das LSG davon ausgegangen ist, dass die rückwirkende Feststellung des GdB für Zeiten vor der Antragstellung auf offensichtliche Fälle beschränkt ist, hat es folgerichtig unterlassen, den Gesundheitszustand des Klägers in dem streitigen Zeitraum unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel aufzuklären. Da der erkennende Senat die nach seiner Auffassung erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst durchführen kann (vgl § 163 SGG), ist eine Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz geboten.

32

Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird ua auch zu prüfen sein, ob der Kläger ein besonderes GdB-Feststellungsinteresse nur ab November 2000 oder - seinem Antrag entsprechend - schon ab Mai 2000 glaubhaft machen kann.

33

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Der Dienstherr hat im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses für das Wohl der Beamtinnen und Beamten und ihrer Familien, auch für die Zeit nach Beendigung des Beamtenverhältnisses, zu sorgen. Er schützt die Beamtinnen und Beamten bei ihrer amtlichen Tätigkeit und in ihrer Stellung.

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.