Bundesgerichtshof Beschluss, 18. Sept. 2013 - 1 StR 380/13

bei uns veröffentlicht am18.09.2013

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 380/13
vom
18. September 2013
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. September 2013 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Coburg vom 27. März 2013 mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, und
b) im Adhäsionsausspruch. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine Strafkammer des Landgerichts Bamberg zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 42 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Daneben hat es im Adhäsionsverfahren den Angeklagten zu einer Schmerzensgeldzahlung verurteilt und weitere Feststellungen getroffen. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen. Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrensrüge und die allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.


2
Das Landgericht ist davon überzeugt, dass der die Tatvorwürfe bestreitende Angeklagte seine am 21. Februar 1990 geborene Stiefenkelin R. im Zeitraum zwischen 1. März 1996 und 28. Februar 1998 in 42 Fällen in jeweils gleicher Art und Weise sexuell missbraucht hat.
3
Nach den Feststellungen besuchte R. den Angeklagten im genannten Zeitraum in regelmäßigen Abständen an den Wochenenden in dessen Anwesen in L. und übernachtete dort. In der Zeit vom 1. März 1996 bis zum 31. August 1997 fanden diese Wochenendbesuche jedenfalls zweimal pro Monat, im Zeitraum vom 1. September 1997 bis zum 28. Februar 1998 nur noch einmal im Monat statt. Anlässlich eines jeden dieser Wochenendbesuche setzte sich der Angeklagte in den Abendstundenmit R. im Wohnzimmer der Wohnung auf die Eckcouch, legte eine Deckeüber sich und das Kind, griff ihm von oben in die Hose und in die Unterhose, fasste ihm mit der Hand an die nackte Scheide und streichelte diese über einen Zeitraum von mehreren Minuten. Das Kind erduldete das Verhalten des Angeklagten. Dieser handelte, um sich selbst zu erregen (UA S. 5).
4
Vom Vorwurf 30 weiterer gleichartiger Taten im genannten Tatzeitraum hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen , weil es sich nicht davon überzeugen konnte, dass R. häufiger als in den festgestellten 42 Fällen an Wochenenden bei dem Angeklagten übernachtet hat (UA S. 19).

II.


5
Die Revision des Angeklagten hat mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge Erfolg, ihm sei entgegen § 258 Abs. 2 StPO nicht (erneut) das letzte Wort gewährt worden.
6
1. Zwar ist dem Angeklagten nach Beendigung der Beweisaufnahme und den Schlussvorträgen von Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung zunächst die Möglichkeit zum letzten Wort gewährt worden, die er auch zu Ausführungen genutzt hat. Jedoch ist das Landgericht nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung und geheimer Beratung des Gerichts wieder in die Verhandlung eingetreten und hat der Neben- und Adhäsionsklägerin durch Beschluss für das Adhäsionsverfahren Prozesskostenhilfe gewährt. Hieran anschließend hätte dem Angeklagten erneut Gelegenheit zum letzten Wort erteilt werden müssen, weil - worauf der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hinweist - jeder (auch stillschweigende) Wiedereintritt in die Verhandlung den vorausgegangenen Ausführungen des Angeklagten die rechtliche Bedeutung als Schlussvortrag und als letztes Wort nimmt und die erneute Beachtung des § 258 StPO erforderlich macht (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Februar 2010 - 1 StR 3/10, NStZ-RR 2010, 152 mwN). Diese Verpflichtung besteht nur dann nicht, wenn nach dem letzten Wort ausschließlich Vorgänge erörtert werden , die auf die gerichtliche Entscheidung keinen Einfluss haben können (vgl. BGH, Beschluss vom 31. März 1987 - 1 StR 94/87, BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 2). Solches war hier jedoch nicht der Fall, weil die Strafkammer (unter Einschluss der Schöffen) nach Gewährung des letzten Wortes die Erfolgsaussicht des Adhäsionsantrags geprüft und dann in öffentlicher Verhandlung mit der Gewährung von Prozesskostenhilfe die hinreichende Aussicht dieses Antrags auf Erfolg auch bejaht hat. Die somit gebotene erneute Erteilung des letzten Wortes ist unterblieben. Dies stellt einen Verstoß gegen § 258 Abs. 2 StPO dar.
7
2. Der aufgezeigte Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Nichterteilung des letzten Wortes begründet zwar nicht ausnahmslos die Revision, sondern nur dann, wenn und soweit das Urteil darauf beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2009 - 4 StR 51/09, StraFo 2009, 333, 334 mwN). Dies kann hier indes nicht ausgeschlossen werden. Der Angeklagte hat die Taten bestritten und bereits Ausführungen gemacht, als ihm zum ersten Mal das letzte Wort erteilt worden ist. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass er bei einer nochmaligen Erteilung des letzten Wortes, nun im Wissen, dass das Landgericht dem Adhäsionsantrag eine hinreichende Erfolgsaussicht beimisst, weitere Ausführungen gemacht hätte , die sich auf die Überzeugungsbildung des Gerichts hätten auswirken können.
8
3. Die Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten zieht die Aufhebung des Ausspruchs im Adhäsionsverfahren nach sich. Der nicht angefochtene Teilfreispruch bleibt dagegen unberührt.

III.


9
Für die neue Hauptverhandlung bemerkt der Senat:
10
1. Die bisher zuständige Strafkammer hat den Angeklagten teilweise vom Vorwurf gleichartiger Straftaten freigesprochen, weil sie sich von weiteren Taten nicht überzeugen konnte. Sie hat dabei in den Urteilsgründen nicht mitgeteilt, aus welchen Gründen sie sich entgegen dem Anklagevorwurf von weiteren Wochenendbesuchen von R. beim Angeklagten nicht überzeugen konnte. Im Hinblick darauf, dass der Anklagevorwurf letztlich auf der Aussage einer einzigen Belastungszeugin aufbaut, wird das neue Tatgericht Anlass dazu haben zu prüfen, ob dem Aussageverhalten von R. zu den vom Teilfreispruch erfassten Fällen Beweisbedeutung für die Tatvorwürfe im Übrigen zukommt (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 15 sowie zur Beweiswürdigung nach Teileinstellung BGH, Beschluss vom 30. Mai 2000 - 1 StR 183/00, BGHR StPO § 154 Abs. 2 Teileinstellung

1).


11
2. Stützt das Tatgericht - wie hier die Strafkammer (UA S. 12) - in einer derartigen Beweissituation seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der Angaben der Belastungszeugin entscheidend darauf, dass deren Aussage von Detailreichtum geprägt war, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, an welche Umstände diese Wertung anknüpft, wenn die aufgrund der Angaben der Belastungszeugin getroffenen Sachverhaltsfeststellungen - wie hier (UA S. 5) - gerade überaus detailarm sind (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2013 - 1 StR 135/13).
12
3. Sofern sich die neue Strafkammer wieder von der Begehung gleichartiger Taten des sexuellen Missbrauchs durch den Angeklagten überzeugt, wird es naheliegen, bei der Beweiswürdigung zur Zahl der Taten in den Blick zu nehmen, wie oft R. gemeinsam mit ihren Geschwistern an Wochenenden zu Besuch beim Angeklagten war (vgl. UA S. 15) und ob - ausgehend von den Wahrnehmungen der Geschwister - auch bei solchen gemeinsamen Wochenendbesuchen Taten zum Nachteil der R. stattgefunden haben können.
Raum Jäger Spaniol
Cirener Mosbacher

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 18. Sept. 2013 - 1 StR 380/13

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 18. Sept. 2013 - 1 StR 380/13

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 154 Teileinstellung bei mehreren Taten


(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, 1. wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Bes

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 258 Schlussvorträge; Recht des letzten Wortes


(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort. (2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. (3) Der A
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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

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Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.

(2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.

(3) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen habe.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 3/10
vom
4. Februar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. Februar 2010 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 18. August 2009, soweit es ihn betrifft, im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
1. Das Landgericht München I hat den umfassend geständigen Angeklagten wegen insgesamt 61 Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten ist gemäß § 349 Abs. 2 StPO unbegründet , soweit sie sich gegen den Schuldspruch richtet. Sie führt jedoch aufgrund einer Verfahrensrüge zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.
2
2. Mit dieser macht die Revision einen Verstoß gegen § 258 Abs. 2 StPO geltend, weil dem Angeklagten das letzte Wort nicht gewährt worden sei. Nach ihrem - den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden - Vortrag war die Beweisaufnahme geschlossen und die Gelegenheit zum Schluss- vortrag des Verteidigers sowie zum letzten Wort des Angeklagten gegeben worden. Hieran anschließend wurde erneut in die Beweisaufnahme eingetreten und die Frage der Einziehung sichergestellter Betäubungsmittel und weiterer Gegenstände erörtert. Diesbezüglich erklärten sich der Angeklagte und sein Verteidiger mit deren formloser Einziehung einverstanden. Nach der erneuten Schließung der Beweisaufnahme wiederholten lediglich die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger ihre zuvor gestellten Anträge, während dem Angeklagten keine Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern.
3
3. a) Diese Verfahrensweise entsprach nicht dem Gesetz. Denn nach der Rechtsprechung ist dem Angeklagten gemäß § 258 Abs. 2 StPO erneut das letzte Wort zu gewähren, wenn nach dem Schluss der Beweisaufnahme nochmals in die Verhandlung eingetreten worden ist, weil jeder Wiedereintritt den vorausgegangenen Ausführungen des Angeklagten die rechtliche Bedeutung als Schlussvortrag und letztes Wort nimmt und die erneute Beachtung des § 258 StPO erforderlich macht (BGHSt 22, 278, 279/280; BGH NStZ-RR 1998,

15).


4
Wann von einem Wiedereintritt auszugehen ist, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Insbesondere liegt ein Wiedereintritt vor, wenn der Wille des Gerichts zum Ausdruck kommt, im Zusammenwirken mit den Prozessbeteiligten in der Beweisaufnahme fortzufahren oder wenn Anträge mit den Verfahrensbeteiligten erörtert werden (BGH NStZ 2004, 505, 507 m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor. Zum einen wird im Protokoll selbst das prozessuale Geschehen dahingehend bewertet, dass „nochmals in die Beweisaufnahme eingetreten“ und diese „erneut geschlossen“ wurde. Zum anderen kam der Erklärung des Angeklagten, er sei mit der formlosen Einzie- hung sichergestellter Gegenstände einverstanden, potentielle Bedeutung für die tatgerichtliche Sachentscheidung zu.
5
b) Der geltend gemachte Verfahrensverstoß ist auch bewiesen. Der für den Nachweis der in Rede stehenden wesentlichen Förmlichkeit (§ 274 Abs. 1 StPO) allein maßgeblichen Sitzungsniederschrift (vgl. BGHSt 22, 278, 280) lässt sich nach Ansicht des Senats nicht entnehmen, dass dem Angeklagten nach dem erneuten Schluss der Beweisaufnahme (nochmals) das letzte Wort gewährt worden ist. Es kommt daher nicht darauf an, dass die an dem Urteil beteiligten Berufsrichter, der staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertreter und die Protokollführerin in ihren jeweiligen dienstlichen Stellungnahmen erklärt haben, sich an den konkreten Verfahrensgang nicht mehr zu erinnern.
6
4. a) Auf dem dargelegten Verfahrensfehler kann jedoch der Schuldspruch nicht beruhen. Der Senat kann im vorliegenden Fall ausschließen, dass der Angeklagte in einem - erneuten - letzten Wort etwas insofern Erhebliches hätte bekunden können. Denn er war zuvor umfassend und für das Tatgericht, das seine Überzeugung zudem auf weitere Beweismittel gestützt hat, glaubhaft geständig gewesen.
7
b) Dagegen kann der Ausspruch über die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte, wäre ihm das letzte Wort erneut erteilt worden, Ausführungen gemacht hätte, die die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflusst hätten. Dies gilt umso mehr, als sein nach dem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme erklärtes Einverständnis mit der außergerichtlichen Einziehung sichergestellter Gegenstände jedenfalls unter dem Gesichtspunkt gezeigter Reue als mildernder Umstand hätte gewertet werden dürfen.
8
Dem steht nicht entgegen, dass sich die Verfahrensbeteiligten ausweislich der Urteilsgründe bereits am ersten der beiden Hauptverhandlungstage hinsichtlich der Gesamtstrafe verständigt hatten. Denn der am 4. August 2009 und damit sechs Tage vor Beginn der Hauptverhandlung in Kraft getretene § 257c StPO sieht in seinem Absatz 3 Satz 2 die Benennung einer Ober- und einer Untergrenze und in seinem Absatz 4 Satz 1 ein Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung vor, wenn der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist.
Nack Wahl Elf Jäger Sander

(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.

(2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.

(3) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen habe.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 51/09
vom
28. Mai 2009
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 28. Mai 2009 gemäß § 349 Abs. 4
StPO beschlossen:
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 8. Oktober 2008, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben. II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
1. Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 34 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge zu § 258 Abs. 2 Halbs. 2, Abs. 3 StPO Erfolg.
2
2. Die Revision beanstandet zu Recht, dass dem Angeklagten vor Verkündung des Urteils am 8. Oktober 2008 nicht nochmals das letzte Wort erteilt worden ist.
3
a) Nach den Schlussvorträgen in der Hauptverhandlung vom 1. Oktober 2008, in welchem die Staatsanwaltschaft die Verhängung einer (Gesamt-) Freiheitsstrafe von acht Jahren und die Aufrechterhaltung des Haftbefehls beantragt hatte, wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Der Angeklagte hatte das letzte Wort. Er schloss sich den Ausführungen seiner Verteidiger an, die in ihren Schlussvorträgen die Verhängung einer Bewährungsstrafe beantragt hatten. Im Anschluss beantragte die Verteidigung, den Haftbefehl gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen. Daraufhin verkündete die Strafkammer nach Beratung einen Beschluss, mit dem die Fortdauer der Untersuchungshaft „aus den Gründen des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 17.01.2008 und der Entscheidung des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 18.08.2008“ angeordnet wurde. Sodann wurde die Hauptverhandlung unterbrochen. Am nächsten Verhandlungstag, dem 8. Oktober 2008, verkündete das Landgericht das Urteil.
4
b) Diese Verfahrensweise verstieß gegen § 258 Abs. 2 Halbs. 2, Abs. 3 StPO. Das Gericht hatte mit seiner Haftentscheidung vom 1. Oktober 2008 zu erkennen gegeben, dass es sich der Bewertung des Beweisergebnisses durch die Staatsanwaltschaft anschloss. Damit war es wieder in die Beweisaufnahme eingetreten. Das nahm der vorausgegangenen Schlusserklärung des Angeklagten die Bedeutung des letzten Wortes und machte dessen nochmalige Gewährung erforderlich (vgl. BGH NStZ 1984, 376; NStZ-RR 1997, 107 m.w.N.).
5
c) Der aufgezeigte Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Nichterteilung des letzten Wortes begründet zwar nicht ausnahmslos die Revision, sondern nur dann, wenn und soweit das Urteil darauf beruht (vgl. BGH aaO). Dies kann hier nicht ausgeschlossen werden. Der Angeklagte hat die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritten und lediglich den Erwerb geringer Mengen Cannabis zum Eigenverbrauch eingeräumt. Durch die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft im Termin vom 1. Oktober 2008 war für ihn eine neue Verfahrenssituation eingetreten. Der in der Haftentscheidung des Landgerichts in Bezug genommene Haftbefehl des Amtsgerichts Saarbrücken vom 17. Januar 2008 gründet sich ausschließlich auf die Angaben des Hauptbelastungszeugen S. , auf dessen Glaubwürdigkeit es in diesem Verfahren entscheidend ankommt. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Angeklagte, der nunmehr davon ausgehen musste, dass das Landgericht den Angaben dieses Zeugen folgt, zu den Schuldvorwürfen erneut Stellung genommen und möglicherweise weitere für die Beweiswürdigung maßgebliche, ihn entlastende Umstände vorgetragen hätte.
Tepperwien Athing Ernemann
Franke Mutzbauer

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 183/00
vom
30. Mai 2000
in der Strafsache
gegen
wegen sexueller Nötigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. Mai 2000 gemäß § 349
Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 17. Dezember 1999 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

1. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
a) Soweit die Revision beanstandet, das Landgericht habe das Verfahren hinsichtlich eines weiteren dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwurfs des sexuellen Mißbrauchs der Geschädigten U. v on ähnlicher Begehungsweise und ähnlichem Gewicht wie die abgeurteilte Tat gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, ohne im Urteil dafür Gründe anzugeben, entspricht die Rüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Zutreffend geht die Revision zwar davon aus, daß in einem Fall, in dem der Anklagevorwurf wegen zwei Taten allein auf der Aussage einer einzigen Belastungszeugin aufbaut, wegen einer dieser Taten das Verfahren aber nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wird, den Gründen dafür Beweisbedeutung für die entscheidende Frage der Glaubwürdigkeit der einzigen Belastungszeugin
zukommen kann; wird der Grund für die Einstellung nicht mitgeteilt, liegt darin ein Erörterungsmangel (BGH StV 1998, 580, 582). Der Beschwerdeführer hat den Mangel auch richtig als Verfahrensfehler beanstandet. Bei der Beantwortung der Frage, ob einer - möglicherweise verletzten - Rechtsnorm verfahrens- oder sachlich-rechtlicher Charakter zukommt, ist grundsätzlich darauf abzuheben, daß für die sachlich-rechtliche Überprüfung dem Revisionsgericht allein die Urteilsurkunde zur Verfügung steht; alle anderen Erkenntnisquellen sind ihm verschlossen. Soweit sich der Rechtsfehler nicht allein aus der Urteilsurkunde erschließen läßt, weil er sich auf das der Entscheidung vorausgegangene Verfahren bezieht, verbleibt es bei der Verfahrensrüge. Der von der Revision geltend gemachte Erörterungsmangel betrifft zwar insoweit das sachliche Recht, als er in den Bereich der Beweiswürdigung fällt. Doch kann die Frage, ob und was im Zusammenhang mit einer Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO zu erörtern ist, nicht notwendig aus der Urteilsurkunde allein erschlossen werden. Eine derartige Verfahrenseinstellung kann in den Urteilsgründen zwar mitgeteilt sein; eine Verpflichtung dazu allein aus verfahrensrechtlicher Sicht enthält die Strafprozeßordnung aber nicht. Selbst wenn sich das Urteil aber dazu äußert, kann diese Ä ußerung unvollständig sein, so wenn in der Hauptverhandlung Gründe für die Verfahrenseinstellung genannt wurden, diese sich aber im Urteil nicht finden. Das bedeutet, daß eine entsprechende Rüge mit der - insbesondere der nicht ausgeführten - Sachrüge nicht ausreichend begründet ist, da auf dieser Grundlage eine abschließende Prüfung nicht möglich ist. Daran ändert nichts, daß es Urteile gibt, in denen eine teilweise erfolgte Verfahrenseinstellung, die Gründe dafür und ihre Auswirkung auf die Beweiswürdigung umfassend darge-
stellt sind. Eine solche Erörterung erfolgt in der Regel nur, wenn dazu nach Meinung des Tatgerichts Anlaß bestand. Die Prüfung, ob eine - fehlende - Erörterung geboten gewesen wäre, eröffnet nur die Verfahrensrüge. Der Fall ist dem vergleichbar, daß der Tatrichter ausgeschiedenen Verfahrensstoff dem Angeklagten bei der Strafzumessung angelastet hat, ohne vorher auf diese Möglichkeit hingewiesen zu haben; auch in diesem Fehler hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach einigem Schwanken einen Verfahrensfehler gesehen (BGHR StPO § 154 Abs. 1 Verwertungsverbot 1). Ist aber eine Verfahrensrüge zu erheben, muß der Revisionsführer den Sachverhalt so umfassend vortragen, daß das Revisionsgericht allein auf Grund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das tatsächliche Vorbringen der Revision zutrifft (BGH NJW 1995, 2047; BGH StV 1996, 530). Hier hat der Beschwerdeführer die Tatsache der Einstellung und die fehlende Erörterung der Gründe dafür im Urteil mitgeteilt; er hat auch, wenn auch in sehr summarischer Form, den Sachverhalt angesprochen, auf den sich die Einstellung bezog. Was fehlt ist jedoch eine Ä ußerung dazu, ob und ggf. welche Gründe für die Einstellung in der Hauptverhandlung erörtert wurden, denn die mangelnde Begründung der Einstellung im Urteil könnte im Ergebnis nur dann einen Verfahrensfehler darstellen, wenn es sich um Gründe handelte, die auf die anschließend getroffene Sachentscheidung Einfluß nehmen konnten, wie etwa zweifelhafte Glaubhaftigkeit der Angaben der einzigen Belastungszeugin zu dem eingestellten Vorfall.
Es ist auch - ungeachtet insoweit fehlender Protokollierungspflicht - in der Regel nicht so, daß eine Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung kommentarlos erfolgt. Sollte es in Ausnahmefällen dennoch so sein, müßte vom Beschwerdeführer zumindest aber das Vorbringen verlangt werden, daß für die Einstellung keine Gründe angeführt wurden, die für die Beweiswürdigung ohne Bedeutung waren, wie etwa Verfahrensbeschränkung aus prozeßökonomischen Gründen.
b) Die weitere Rüge, das Landgericht habe § 261 StPO verletzt, weil es auf den Inhalt einer Reihe in der Hauptverhandlung auf Antrag der Verteidigung ganz oder teilweise verlesener Vernehmungsprotokolle, Gutachten und sonstige Urkunden nicht eingegangen sei, greift gleichfalls nicht durch. Zwar muß das Urteil erkennen lassen, daß der Tatrichter Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, in seine Überlegungen einbezogen hat (BGHR StPO § 261 Inbegriff 7, 15). Doch kann nicht aus jedem Schweigen zu den in der Hauptverhandlung erhobenen Beweisen darauf geschlossen werden, das Gericht habe diese Beweismittel unbeachtet gelassen. Die Erörterungsbedürftigkeit in den schriftlichen Gründen beurteilt sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Nur mit Umständen, die im Zeitpunkt der Urteilsfällung noch beweiserheblich waren, muß sich der Tatrichter im Urteil auseinandersetzen. Ob das der Fall war, läßt sich dem Beweisgehalt der Beweismittel selbst nicht ohne weiteres entnehmen. Die weitere Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung kann dem Beweismittel jede Bedeutung genommen haben. Das gilt insbesondere , soweit es sich um Beweise von Hilfstatsachen handelt, auf die die Beweisanträge der Verteidigung weitgehend abzielten. Würde man eine weitergehende Begründungspflicht verlangen, liefe das darauf hinaus, daß der
Tatrichter in seinem schriftlichen Urteil nicht das Ergebnis der Hauptverhandlung zu begründen, sondern den Gang der Hauptverhandlung zu dokumentieren hätte (vgl. G. Schäfer StV 1995, 147, 156). 2. Ebenso können die Angriffe gegen die Beweiswürdigung, die die Revision mit der Sachrüge vorbringt, keinen Erfolg haben. Insbesondere mußte sich das Landgericht nicht ausdrücklich mit der Frage einer unbewußten Suggestion der Geschädigten durch die Heimleiterin M. befassen. Die Geschädigte hatte sich zunächst dem Mitpatienten K. und später dem früheren Werkstattleiter B. offenbart. Beide sind dann mit ihr zur Sozialpädagogin Ba. gegangen, wo sie den Sachverhalt wieder in gleicher Weise schilderte. Frau Ba. bewog die Geschädigte schließlich, sich mit der Heimleiterin in Verbindung zu setzen. Bei dieser Entstehungsgeschichte der Aussage liegt die Möglichkeit einer unbewußten Suggestion durch die Heimleiterin fern. Schäfer Maul Granderath Nack Kolz

(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,

1.
wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder
2.
darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.

(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.

(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannten Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.

(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.

(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 135/13
vom
23. August 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. August 2013 beschlossen
:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Kempten (Allgäu) vom 8. November 2012 mit den Feststellungen
aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO).
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Beischlaf zwischen Verwandten in fünf Fällen, wegen Vergewaltigung mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Beischlaf zwischen Verwandten in zehn Fällen, wegen Vergewaltigung mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Beischlaf zwischen Verwandten in fünf Fällen sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Zudem hat es die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
Die der Verurteilung des Angeklagten wegen der Sexualdelikte zu Grunde liegende Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
3
1. Nach den Feststellungen gebärdete sich der Angeklagte während des Verlaufs seiner 1993 eingegangenen Ehe despotisch und gewalttätig. Die Eheleute bekamen drei gemeinsame Töchter, darunter die am 6. März 1994 geborene F. . Im Jahre 2002 trennte sich die Ehefrau vom Angeklagten. Daraufhin hetzte der Angeklagte seine Tochter F. gegen die Mutter auf. F. wurde schließlich wegen aggressiven Verhaltens - so hatte sie ihre Mutter angegriffen - in einer Pflegefamilie untergebracht. Sie zog dann 2006 zu ihrem Vater. Fortan quälte er seine Tochter auf mannigfache Weise, auch durch Gewalttätigkeiten. Zudem übte er bei ihr im Mai 2007 in fünf Fällen den vaginalen Geschlechtsverkehr aus. Zwischen dem 1. Juni 2007 und dem 24. November 2007 wiederholte sich dies in weiteren zehn Fällen, jedes Mal versuchte das Mädchen jedoch, ihn wegzustoßen, wobei er ihr jeweils in den Schenkel kniff, um den Widerstand zu überwinden. Im Oktober 2007 schlug der Angeklagte mit dem Duschkopf auf den Kopf von F. ein, so dass diese eine stark blutende Platzwunde und einen gebrochenen Finger an der zum Schutz hochgehaltenen Hand erlitt. Zwischen November 2007 und März 2009 war F. wegen des Verdachts der Misshandlung durch den Vater im Kinderheim untergebracht. Jedoch „gelang“ es dem Angeklagten, sie zu sich zurückzuholen. So kam es zwischen dem 6. März 2009 und Februar 2011 zu weiteren fünf Fällen des vaginalen Geschlechtsverkehrs gegen den Willen des sich wehrenden Mädchens, das der Angeklagte dabei jeweils mit Gewalt niederdrückte.
4
Das Landgericht hat die Verurteilung des zu den Vorwürfen schweigenden Angeklagten auf die für glaubhaft erachteten Angaben der Geschädigten gestützt.
5
2. Auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsmaßstabs (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 14. Dezember 2011 - 1 StR 501/11, NStZ-RR 2012, 148 f.; Beschluss vom 23. August 2012 - 4 StR 305/12, NStZ-RR 2012, 383 f.) weist die Beweiswürdigung wegen der Sexualdelikte Rechtsfehler auf.
6
In einem Fall, in dem ein Angeklagter sich nicht einlässt, nur die Aussage des einzigen Belastungszeugen zur Verfügung steht und die Entscheidung allein davon abhängt, ob diesem einen Zeugen zu folgen ist, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - 2 StR 591/97, StV 1998, 250; Sander in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 72). Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
7
a) Das Landgericht hat die Angaben der Geschädigten deshalb als glaubhaft erachtet, weil sie detailreich, in sich schlüssig, widerspruchsfrei und nicht von übermäßigem Belastungseifer getragen seien. Es ist indes den Urteilsgründen nicht zu entnehmen und somit für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar, worauf es diese Bewertung der Aussage stützt. Insbesondere der angenommene Detailreichtum findet weder in der kargen Darstellung des Tatgeschehens noch in der äußerst knappen Würdigung eine Stütze. Die Angaben der Geschädigten sind dort nur insoweit dargestellt, als die Zeugin die jeweiligen sexuellen Übergriffe „eher pauschal mit ‚vaginalem Eindringen‘ oder ‚vaginalem Geschlechtsverkehr‘ beschrieb“, was mit der Annahme von Detail- reichtum oder Aussagegenauigkeit in einem gewissen, von der Strafkammer nicht aufgelösten Spannungsverhältnis steht.
8
b) Auch die Feststellungen in Bezug auf die Aussageentstehung lassen eine revisionsgerichtliche Überprüfung nicht zu. Hierzu teilt das Landgericht lediglich mit, ein Zeuge S. habe erklärt, dass die Geschädigte von sich aus keine Anzeige habe erstatten wollen und er die „treibende Kraft“ hierzu ge- wesen sei. Zum Zeugen S. wird im Rahmen der Darlegungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten lediglich mitgeteilt, dass im Jahr 2012 gegen den Angeklagten ein nicht rechtskräftiges amtsgerichtliches Urteil wegen gefährlicher Körperverletzung zu dessen Lasten ergangen ist.
9
Das Landgericht sieht die Angaben des Zeugen S. allein als Beleg für den mangelnden Belastungseifer der Geschädigten. Dies lässt besorgen , dass es die Bedeutung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 5. November 1997 - 3 StR 558/97, BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3; und vom 9. Juli 2009 - 5 StR 225/09) der Angaben der Geschädigten verkannt hat. So hätte erörtert werden müssen, ob in der „treibenden Kraft“ S. ein Motiv für eine Falschbelastung gelegen haben könnte.
10
Auch hätte es der Mitteilung bedurft, ob und welche Angaben die Geschädigte während ihrer Zeit im Kinderheim zu Übergriffen des Angeklagten gemacht und wie sie sich zu einer Rückkehr in den väterlichen Haushalt verhalten hat.
11
c) Den Urteilsfeststellungen kann zudem nicht entnommen werden, anhand welcher Anknüpfungspunkte im Beweisergebnis sich das Landgericht von der Anzahl der festgestellten Taten überzeugt hat. Das Landgericht teilt hierzu lediglich mit, dass die festgestellte Anzahl der Taten nur das „absolute Minimum“ sei, wie sich aus den Angaben der Zeuginergebe. Diese Angaben der Geschädigten zur Häufigkeit werden indes nicht mitgeteilt, so dass - auch unter Berücksichtigung dessen, dass an die Feststellung einer bestimmten Anzahl von Straftaten einer gleichförmig verlaufenden Serie sexueller Missbrauchshandlungen keine übersteigerten Anforderungen zu stellen sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. März 1997 - 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 109 f.; und vom 12. November 1997 - 3 StR 559/97, BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 8) - eine nachvollziehbare Grundlage für die dahingehende Überzeugungsbildung fehlt.

II.


12
Da der Senat nicht ausschließen kann, dass die Rechtsfehler bei der Bewertung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten sich auch auf die Beweiswürdigung hinsichtlich der gefährlichen Körperverletzung ausgewirkt haben, hebt er das Urteil insgesamt auf.
13
Sollte das neue Tatgericht erneut zur Verurteilung des Angeklagten gelangen , weist der Senat auf Folgendes hin:
14
Das Schweigen als zulässiges Verteidigungsverhalten darf dem Angeklagten weder bei der Strafzumessung noch bei der Prüfung der Voraussetzungen der Maßregel der Sicherungsverwahrung angelastet werden. Auf eine mangelnde Auseinandersetzung mit den hiesigen, vom Angeklagten nicht eingeräumten Taten kann weder die Begründung des Hangs noch der Gefahrenprognose gestützt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. März 2012 - 1 StR 64/12, StV 2012, 597; und vom 26. Oktober 2011 - 5 StR 267/11, NStZ-RR 2012, 9).
15
Auch im Übrigen hätten die Urteilsausführungen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung revisionsgerichtlicher Kontrolle nicht standgehalten. Sollte sich für das neue Tatgericht die Frage der Anordnung der Maßregel erneut stellen, wird es sorgfältiger als bisher sowohl die formellen - anders als die Anordnungsvarianten nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB verlangt die des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB eine qualifizierte Vorverurteilung zu Freiheitsstrafe - als auch die materiellen Voraussetzungen der Anordnung der Sicherungsverwahrung zu prüfen haben. Der Hang als eingeschliffenes Verhaltensmuster , bei dem es sich um einen Rechtsbegriff handelt, der als solcher dem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich ist, bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand (BGH, Beschluss vom 25. Mai 2011 - 4 StR 87/11, NStZ-RR 2011, 272). Seine Feststellung obliegt - nach sachverständiger Beratung - unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgeblichen Umstände dem Richter in eigener Verantwortung (BGH, Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, StV 2010, 484; Urteile vom 15. Februar 2011 - 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204; und vom 17. Dezember 2009 - 3 StR 399/09). Diese tatrichterliche Gesamtwürdigung kann nicht durch den Verweis auf die Schlüssigkeit der sachverständigen Ausführungen und den Hinweis, dass diese von keinem Verfahrensbeteiligten angezweifelt worden seien, ersetzt werden.
16
Soll im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung ein manipulatives Verhalten des Angeklagten verwertet werden, so ist dies entsprechend zu belegen. Auch die Frage, in welchem Zusammenhang zur eingeschliffenen Neigung zur Begehung bestimmter Delikte Vorahndungen wegen „verschiedenster Delikte“ oder das Fehlen einer „konstanten Berufstätigkeit“ stehen,ist entsprechend zu erörtern.
Wahl Graf Cirener
Radtke Mosbacher