Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Dez. 2018 - 5 StR 427/18

bei uns veröffentlicht am10.12.2018

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
5 StR 427/18
vom
10. Dezember 2018
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung u.a.
ECLI:DE:BGH:2018:101218B5STR427.18.0

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführer am 10. Dezember 2018 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. April 2018 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von einer Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und mit gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen verurteilt und daneben Einziehungsentscheidungen getroffen. Gegen dieses Urteil wenden sich die Angeklagten mit ihren jeweils auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revisionen. Die Überprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Rechtsmittel führen jedoch zur Urteilsaufhebung, soweit das Landgericht davon abgesehen hat, die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB anzuordnen.
2
1. Nach den Feststellungen avisierten die Angeklagten im August 2018 dem Tatopfer, mit dem sie sich seit 2016 zum gelegentlichen Drogenkonsum und Biertrinken getroffen und sich ihm als Drogenbezugsquelle angeboten hatten , ein Betäubungsmittelgeschäft. Dies diente ihnen als Vorwand, ihm durch List oder Drohung, nötigenfalls auch durch Gewalt das als Kaufpreis vereinbarte Geld sowie sein Mobiltelefon an sich zu bringen. Noch am Tattag konsumierten die Angeklagten, die sich bereits an den beiden Wochenendtagen zuvor „reich- lich Amphetamin und Cannabis zugeführt hatten“, neben Cannabis auch jeweils eine Dosis Amphetamin (UA S. 14). Das Landgericht hat deshalb nicht aus- schließen können, dass zum Zeitpunkt der als „Milieutat“ charakterisierten Tat (UA S. 30) die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten jeweils erheblich eingeschränkt war.
3
Das Landgericht hat – ohne einen Sachverständigen hinzuzuziehen – die Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB verneint, „da eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit , mithin ein Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB, bei keinem der Angeklagten festzustellen“ gewesen sei (UA S. 33).
4
2. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass die Strafkammer rechtsfehlerhaft von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne von § 64 StGB ausgegangen ist.
5
a) Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung ausreichend eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren. Diese Neigung muss noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. April 2008 – 4StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198, 199; vom 12. April 2012 – 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271; vom 12. Januar 2017 – 1 StR 587/16, insoweit nicht abgedruckt unter NStZ-RR 2017, 250; 20. Februar 2018 – 3 StR 645/17 mwN).
6
b) Danach hat sich ein Hang der Angeklagten nicht schon unter Hinweis auf ihre fehlende Drogenabhängigkeit verneinen lassen, zumal das Landgericht auch diese Feststellung nicht näher begründet und hierfür sachverständige Hilfe nicht beigezogen hat (vgl. zum Erfordernis der Anhörung eines Sachverständigen nach § 246a Satz 2 StPO; BGH, Beschluss vom 20. September 2011 – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463 mwN). Angesichts des festgestellten Konsum- verhaltens der Angeklagten, die – ausweislich ihrer Vorstrafen – auch schon seit Jahren Umgang mit Betäubungsmitteln hatten, war das Vorliegen eines Hangs auch nicht von vornherein ausgeschlossen.
7
3. Die Frage der Anordnung der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bedarf deshalb unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Satz 2 StPO) der erneuten Prüfung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls § 67 Abs. 2 StGB zu beachten haben.
8
Der Senat kann ausschließen, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mildere Strafen verhängt hätte. Die Strafaussprüche können deshalb bestehen bleiben.
Mutzbauer König Berger Mosbacher Köhler

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Dez. 2018 - 5 StR 427/18

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Dez. 2018 - 5 StR 427/18

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 64 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt


Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb

Strafgesetzbuch - StGB | § 67 Reihenfolge der Vollstreckung


(1) Wird die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63 und 64 neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen. (2) Das Gericht bestimmt jedoch, daß die Strafe oder ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vol

Strafprozeßordnung - StPO | § 246a Vernehmung eines Sachverständigen vor Entscheidung über eine Unterbringung


(1) Kommt in Betracht, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden wird, so ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Ange
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.

5 StR 87/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 12. April 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Brandstiftung u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. April 2012

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 9. Dezember 2011 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) soweit die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist,
b) in den Einzelstrafaussprüchen in den Fällen 1, 7 und 10 der Urteilsgründe und im Gesamtstrafausspruch.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Brandstiftung in drei Fällen sowie wegen Sachbeschädigung in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und elf Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verurteilung wegen Brandstiftung in drei Fällen beschränkten Revision. Das auf die Sachrüge gestützte Rechtsmittel erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts legte der Angeklagte neben den sieben rechtskräftig als Sachbeschädigungen ausgeurteilten Brandlegungen zwischen Februar 2009 und Juni 2011 drei Brände, indem er einen Papierstapel in einem Kellerverschlag des auch von ihm bewohnten Mehrfamilienhauses (Fall 1), den in einem an der Rückwand eines Restaurants stehenden Müllcontainer befindlichen Abfall (Fall 7) und im Eigentum anderer Mieter stehende Gegenstände in einem Kellerverschlag eines wiederum auch von ihm selbst bewohnten Mehrfamilienhauses (Fall 10) entzündete. In allen Fällen entstand aufgrund der vom Angeklagten billigend in Kauf genommenen Flammen- und Rauchentwicklung erheblicher Gebäudeschaden. Bei Begehung der Taten befand sich der an einer Alkoholabhängigkeit leidende Angeklagte jeweils – zumindest nicht ausschließbar – in erheblich alkoholisiertem Zustand, weshalb die Strafkammer eine erhebliche Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB angenommen hat.
3
Eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat das sachverständig beratene Landgericht mit der Begründung abgelehnt, bei dem Angeklagten bestehe zwar eine Alkoholabhängigkeit, ein Hang im Sinne des § 64 StGB liege jedoch nicht vor. Der Angeklagte sei stets in der Lage gewesen, seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Sein erhöhter Alkoholkonsum sei nicht Ursache, sondern Folge von Antriebsmangel und Strukturverlust im Alltag. Er habe zu keinem Zeitpunkt an Entzugserscheinungen gelitten und sei in der Lage gewesen, seinen Konsum aufzuschieben.
4
2. Die Erwägungen der Strafkammer zur Ablehnung einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Ihnen liegt ein zu enges Verständnis des Begriffs des Hanges zu übermäßigem Rauschmittelkonsum zugrunde. Ein Hang im Sinne des § 64 StGB setzt eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit oder zumindest eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung voraus, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel zu sich zu nehmen, wobei auch das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz dem nicht entgegenstehen (BGH, Beschlüsse vom 9. November2011 – 2StR 427/11 – und vom 30. März 2010 – 3 StR 88/10, NStZ-RR 2010, 216; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 64 Rn. 9 mwN).
5
Danach lässt sich die Verneinung eines Hanges nicht mit dem vom Sachverständigen festgestellten Alkoholabhängigkeitssyndrom in Einklang bringen: Der Sachverständige hat hierzu weiter ausgeführt, dass sich der Tagesablauf des Angeklagten jedenfalls zum Teil nach seinem Alkoholkonsum gerichtet habe, die gemessenen Alkoholwerte auf eine erhebliche Alkoholgewöhnung hindeuteten, eine gewisse Verwahrlosung des Angeklagten eingetreten sei und dieser bisher nicht mit dem Trinken aufgehört habe, obwohl dies seit längerem sein Wunsch sei. Das seitens der Strafkammer herangezogene Fehlen einer erheblichen Einschränkung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit hindert die Annahme eines Hanges nicht (BGH, Beschluss vom 9. November 2011 – 2 StR 427/11). Gleiches gilt für die Fähigkeit, den Konsum „aufzuschieben“. Es ist nicht Voraussetzungdes Hanges, dass die Rauschmittelgewöhnung auf täglichen oder häufig wiederholten Genuss zurückgeht ; vielmehr ist es auch ausreichend, wenn der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum Rauschmittelkonsum folgt (BGH, Beschluss vom 7. Januar 2009 – 5 StR 586/08, NStZ-RR 2009,

137).


6
3. Neben der Beanstandung der unterbliebenen Maßregelanordnung hebt der Senat auch die Aussprüche über die Einzelfreiheitsstrafen in den von der Revision erfassten Fällen – die wegen der Sachbeschädigungen verhängten, nicht angefochtenen Einzelgeldstrafen bleiben bestehen – sowie den Gesamtstrafausspruch auf, da nicht auszuschließen ist, dass das Land- gericht im Falle der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt auf niedrigere Strafen erkannt hätte. Auf diese Weise wird eine sachgerechte Abstimmung von Maßregel und Strafe ermöglicht. Der Senat kann zudem nicht ausschließen, dass sich die fehlerhafte Beurteilung des Hanges auf die Feststellung der Voraussetzungen der §§ 21, 49 StGB, insbesondere auf die Versagung der Strafrahmenverschiebung ausgewirkt hat. Das neue Tatgericht wird deshalb unter Befragung eines Sachverständigen zu prüfen haben, ob dem Angeklagten die bei Tatbegehung vorhandene Trunkenheit trotz seiner Alkoholabhängigkeit uneingeschränkt vorwerfbar ist und inwieweit er in allen Fällen mit vergleichbaren Straftaten rechnen musste (BGH, Beschlüsse vom 20. April 2005 – 5 StR 147/05, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 38, und vom 27. Januar2004 – 3 StR 479/03, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 33).
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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 587/16
vom
12. Januar 2017
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:120117B1STR587.16.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 12. Januar 2017 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 27. Juli 2016
a) im Ausspruch über die für die Fälle B. IV. der Urteilsgründe (50 Kokainankäufe des Angeklagten bei R. ) verhängten Einzelstrafen,
b) im Gesamtstrafenausspruch und
c) soweit eine Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist, aufgehoben. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten am 27. Juli 2016 (nicht wie widersprüchlich im Rubrum angeführt am Mittwoch, den 29. Juli 2016; vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 22. November 2016) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 20 Fällen, hiervon in 19 Fällen jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 57 Fällen, davon in 51 Fällen in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten verurteilt.
2
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

4

II.


3
1. Während der Schuldspruch entsprechend den Ausführungen des Generalbundesanwalts keinen durchgreifenden Rechtsfehler aufweist, sind die hinsichtlich der für die Fälle B. IV. der Urteilsgründe (50 Kokainkäufe des Angeklagten bei dem anderweitig verfolgten R. ) verhängten Einzelstrafen rechtsfehlerhaft. Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführt: „Die Kammer hat bezüglich dieser Fälle eine Anwendung des vertyp- ten Strafmilderungsgrundes aus § 31 S.1 Nr.1, S.2 und S.3 BtMG iVm § 46b Abs.2 und Abs.3 StGB abgelehnt, weil R. bereits vor der Aussage des Angeklagten das Land verlassen hatte (vgl. UA Seite 44), was dem Angeklagten bekannt gewesen sei (siehe UA Seite 27). Die Aufklärungshilfe des Angeklagten sei daher nicht als werthaltig anzusehen. Dies begegnet rechtlichen Bedenken. Denn es steht der Anwendbarkeit von § 31 S.1 Nr. 1 BtMG nicht entgegen, wenn der durch die Angaben des Angeklagten - zur Überzeugung des Tatrichters der Sache nach zutreffend - Belastete bisher noch nicht ergriffen werden konnte (BGH, Beschluss vom 28. August 2002 - 1 StR 309/02, NStZ 2003, 162 f.). Ein Aufklärungserfolg setzt nicht die Verurteilung oder Festnahme des von dem Täter Belasteten voraus, sondern ist schon dann anzunehmen, wenn zur Überzeugung des Gerichts durch seine Angaben, insbesondere eine für Fahndungsmaßnahmen ausreichende Bezeichnung der von ihm belasteten Person, die Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung eines Strafverfahrens im Falle der Ergreifung geschaffen wurden (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 16. Februar 2000 - 2 StR 532/99, StV 2000, 318). Die Kammer hat hierzu festgestellt, der Angeklagte habe mit seiner Offenlegung von Betäubungsmittelankäufen bei R. Taten geschildert, die 'ohne seine Angaben nicht hätten nachgewiesen werden können' (siehe UA Seite 27). Den Ermittlungsbehörden seien die Betäubungsmittelgeschäfte mit R. zuvor nicht bekannt gewesen und 'wären auch ohne die Einlassung des Angeklagten unerkannt geblieben' (UA Seite 28). Das Gericht hat die Angaben des Angeklagten zu den Geschäften mit R. als glaubhaft eingestuft (siehe UA Seite 25 ff.) und festgestellt , der Zeuge KOK H. habe ausgesagt, dass R. derzeit flüchtig sei (siehe UA Seite 26), woraus hervorgeht, dass es sich offenbar um eine existierende Person handelt, die aufgrund der Angaben des Angeklagten namhaft gemacht werden konnte. Dass dem Angeklagten bei seinen Angaben bekannt war, dass sich R. bereits im Ausland befand, hindert die Aufklärungshilfe nicht. Selbst taktierendes Verhalten, bei dem ein Täter sein Wissen bewusst erst offenbart, wenn die von ihm belastete Person das Land verlassen hat, kann eine Anwendung von § 31 BtMG nach sich ziehen (vgl. BGH, Urteil vom 31. Oktober 1984 - 2 StR 467/84, StV 1985, 14 f.). Der damit zu konstatierende Rechtsfehler erfasst die Einzelstrafaussprüche hinsichtlich der abgeurteilten Betäubungsmittelgeschäfte mit R. .“
4
Dem tritt der Senat bei.
5
Angesichts der Vielzahl der betroffenen Einzelstrafen kann der Senat auch nicht ausschließen, dass bei zutreffender Rechtsanwendung der Tatrichter eine geringere Gesamtfreiheitsstrafe festgesetzt hätte, weshalb auch der Ausspruch über die Gesamtstrafe aufzuheben war.

4

6
2. Das Urteil kann schließlich keinen Bestand haben, soweit die Strafkammer von einer Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abgesehen hat.
7
a) Nach den getroffenen Feststellungen, welche sich mit der Ansicht des Sachverständigen decken, hat der Angeklagte mit Sicherheit Alkohol und Koka- in konsumiert, und dies wohl auch nicht nur gelegentlich, was auch durch die Angaben des Zeugen A. bestätigt wurde (UA S. 12). Auch wenn nach Auffassung der Strafkammer die vom Angeklagten gemachten Mengenangaben im Hinblick auf das Fehlen jeglicher körperlicher sowie seelischer Schädigungen als unglaubwürdig und übertrieben erschienen sind (UA S. 13), liegt nach Auffassung des Landgerichts beim Angeklagten nicht ausschließbar ein Hang im Sinne des § 64 StGB vor (UA S. 48), da der Angeklagte unbestritten Kokain, Marihuana und Alkohol regelmäßig über einen längeren Zeitraum konsumiert hat. Die Strafkammer konnte jedoch noch keinen Hang feststellen, „Betäubungsmittel im Übermaß zu konsumieren“ (UA S. 48). Der Angeklagte sei ohne Schwierigkeiten in der Lage gewesen, den Konsum sowohl von Alkohol, Kokain und Marihuana unmittelbar nach der Festnahme sofort zu beenden, ohne jegliche körperliche oder seelische Entzugserscheinungen oder andere Beeinträchtigungen zu zeigen. Darüber hinaus habe der Konsum des Angeklagten auch schon vorher, also zu den Fahrzeiten, keinerlei körperliche oder psychische Auswirkungen gezeigt, welche aber bei dem von ihm behaupteten Ausmaß des Konsums sicher zu erwarten gewesen seien. Eine Vernachlässigung in seiner Lebensführung sei für die Kammer nicht erkennbar gewesen; der Angeklagte sei in der Lage gewesen, seine Betäubungsmittelgeschäfte mit einem nicht unerheblichen zeitlichen, logistischen und finanziellen Aufwand zu steuern und zu organisieren. Aus einer Gesamtschau dieser Aspekte sei ein Hang, Betäubungsmittel im Übermaß zu konsumieren, daher nicht gegeben (UA S. 49).
8
b) Diese Erwägungen zum Unterbleiben der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat den Begriff des Hangs i.S.v. § 64 StGB als Maßstab für die Maßregelanordnung im rechtlichen Ausgangspunkt nicht zutreffend erfasst.Es hat nicht alle für die Anwendung dieses Maßstabs bedeutsamen, von ihm festgestellten Umstände zur Persönlichkeit des Angeklagten, insbesondere zu den verfahrensgegenständlichen Taten, in die rechtliche Beurteilung zum Hang eingestellt. Die allein aus der vorgenommenen Gesamtschau herrührende tatgerichtliche Wertung erweist sich deshalb als rechtsfehlerhaft.
9
c) Wie das Landgericht an sich zutreffend angenommen hat, ist für einen Hang gemäß § 64 StGB eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2017 - 1 StR 613/16, Rn. 7; vom 26. Oktober 2016 - 4 StR 408/16, Rn. 6; vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113 und vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12, RuP 2013, 34 f.). Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienender Beschaffungstaten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 2016 - 4 StR 408/16, Rn. 6 und vom 2. April 2015 - 3 StR 103/15, Rn. 5; Urteil vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO; vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12 aaO; vom 12. April 2012 - 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271 und vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, NStZRR 2008, 198 f.). Ebenso wenig ist für einen Hang erforderlich, dass beim Tä- ter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2017 - 1 StR 613/16, Rn. 7; vom 26. Oktober 2016 - 4 StR 408/16, Rn. 6; vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO und vom 25. Juli 2007 - 1 StR 332/07, NStZ-RR 2008, 7).
10
Bei der Bewertung der festgestellten Umstände nach diesen Maßgaben hat das Landgericht im Kontext seiner Erwägungen nicht erkennbar in den Blick genommen, dass die große Anzahl der vom Angeklagten begangenen Betäubungsmittelstraftaten nach den getroffenen Feststellungen deutlich auch als Beschaffungstaten für den Eigenkonsum zu charakterisieren sind, deren indizielle Bedeutung einen Hang nahe legt. Warum diese als Ergebnis einer Gesamtschau für die Beurteilung des Hangs nicht bedeutsam sein sollen, obgleich das Landgericht zunächst selbst nicht ausschließbar von einem Hang im Sinne des § 64 StGB (UA S. 48) ausgegangen ist, ergibt sich aus den weiteren Ausführungen zur Ablehnung der Anordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB nicht, so dass es an einer tragfähigen Begründung fehlt. Die Strafkammer hat keine Umstände von Gewicht genannt, die der indiziellen Bedeutung der Beschaffungsfahrten entgegengehalten werden könnten.
11
Auf diesem Wertungsfehler der Strafkammer beruht das angefochtene Urteil insoweit. Handelt es sich wie hier um Straftaten, die begangen werden, um Rauschmittel selbst oder Geld für ihre Beschaffung zu erlangen, liegt der erforderliche symptomatische Zusammenhang nahe (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2017 - 1 StR 613/16, Rn. 9; vom 12. Oktober 2016 - 1 StR 470/16, Rn. 7 mwN und vom 28. August 2013 - 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014,

75).



12
d) Es handelt sich lediglich um einen Wertungsfehler des Landgerichts. Die der Entscheidung bezüglich der Maßregel zugrunde liegenden Feststellungen bleiben daher aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO). Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer kann ergänzende Feststellungen im Strafausspruch treffen.
Raum Graf Jäger Radtke Fischer

(1) Kommt in Betracht, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden wird, so ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen. Gleiches gilt, wenn das Gericht erwägt, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen.

(2) Ist Anklage erhoben worden wegen einer in § 181b des Strafgesetzbuchs genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen und kommt die Erteilung einer Weisung nach § 153a dieses Gesetzes oder nach den §§ 56c, 59a Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 oder § 68b Absatz 2 Satz 2 des Strafgesetzbuchs in Betracht, wonach sich der Angeklagte psychiatrisch, psycho- oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln zu lassen hat (Therapieweisung), soll ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten vernommen werden, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Angeklagte einer solchen Betreuung und Behandlung bedarf.

(3) Hat der Sachverständige den Angeklagten nicht schon früher untersucht, so soll ihm dazu vor der Hauptverhandlung Gelegenheit gegeben werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 434/11
vom
20. September 2011
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten schweren Raubes u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und auf Antrag des Beschwerdeführers am 20. September 2011
gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal vom 25. Mai 2011 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.
2. Die weiter gehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Kammer des Landgerichts Frankenthal zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, in weiterer Tateinheit mit versuchtem schweren Raub, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Von der Anordnung seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Mit seiner hiergegen eingelegten Revision macht der Angeklagte einen Verstoß gegen § 246a StPO geltend und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Die Nachprüfung des Schuld-, und Strafausspruchs hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Nichtanordnung einer Maßregel gemäß § 64 StGB hält dagegen rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

I.


2
Die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat das Landgericht ohne sachverständige Hilfe verneint, weil es das Vorliegen eines Hanges im Sinne von § 64 Satz 1 StGB nicht festzustellen vermochte. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass es an hinreichenden Erkenntnissen über die Trinkgewohnheiten des Angeklagten fehle. Zwar habe der Angeklagte schon Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, doch spreche vieles dafür, dass der Angeklagte lediglich bei gelegentlichen Alkoholeskapaden zu aggressiven Übergriffen neige. Auch seine berufliche und familiäre Integration stünden der Annahme eines Hanges entgegen.

II.


3
Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt hat, begegnen schon deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil - wie die Revision zu Recht rügt - entgegen § 246a Satz 2 StPO kein Sachverständiger hinzugezogen wurde.
4
Nach § 246a Satz 2 StPO ist ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und seine Behandlungsaussichten zu vernehmen, wenn das Gericht eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt erwägt. Diese durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatri- schen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I. S. 1327) neu geschaffene Vorschrift ist § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO nachgebildet und trägt nach dem Willen des Gesetzgebers in erster Linie der zugleich vorgenommenen Umwandlung von § 64 StGB in eine Soll-Vorschrift Rechnung (BTDrucks. 16/1344, S. 17; 16/5137 S. 11; 16/1110, S. 25). Danach ist der Tatrichter auch weiterhin grundsätzlich verpflichtet, einen Sachverständigen anzuhören , wenn nach den Umständen des Einzelfalls eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt in Betracht kommt und deshalb eine Anordnung dieser Maßregel konkret zu erwägen ist (Löwe/Rosenberg-Becker, StPO, 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; Berg in BeckOK, StPO, § 246a, Rn. 2). Von dieser Verpflichtung ist er allerdings dann befreit, wenn er die Maßregelanordnung nach § 64 StGB allein in Ausübung seines Ermessens nicht treffen will und diese Entscheidung von sachverständigen Feststellungen unabhängig ist (BTDrucks. 16/1344, S. 17; 16/5137 S. 11; Löwe/Rosenberg-Becker, StPO, 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; KK-Fischer, 6. Aufl., § 246a, Rn. 2). Ob darüber hinaus von einer Begutachtung auch dann abgesehen werden darf, wenn eine grundsätzlich in Betracht kommende Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht in Erwägung gezogen wird, weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht auf der Hand liegt (vgl. BT-Drucks. 16/1110, S. 25; BT-Drucks. 16/1344, S. 17; SK-StPO/Frister, § 246a, Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 246a, Rn. 3; a.A. BT-Drucks. 16/5137, S. 11; Löwe/ Rosenberg-Becker, StPO, 26. Aufl., § 246a, Rn. 8; Berg in BeckOK, StPO, § 246a, Rn. 2; Schneider NStZ 2008, 68, 70), braucht der Senat nicht zu entscheiden.
5
Das Landgericht hat die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB im Einzelnen erörtert und damit konkret in Erwägung gezogen. Dabei hat es die Annahme eines Hanges unter anderem mit der Begründung verneint, dass kei- ne ergiebigen Erkenntnisse über die Trinkgewohnheiten des Angeklagten gewonnen werden konnten. Seine Negativentscheidung beruht damit weder auf einem sicheren Ausschluss einer hinreichenden Erfolgsaussicht kraft eigener Sachkunde, noch auf einer Ausübung des durch § 64 StGB eingeräumten Ermessens. Kann über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine im Raum stehende Maßregelanordnung nach § 64 StGB keine Klarheit gewonnen werden, weil die Erkenntnismöglichkeiten des Tatrichters zur Beurteilung des Zustands des Angeklagten nicht ausreichen, ist die Beiziehung eines Sachverständigen nach § 246a Satz 2 StPO geboten. Dabei gehört es auch zu den Aufgaben des Sachverständigen, durch eine entsprechende Befragung des Angeklagten im Rahmen der Exploration und die Auswertung - gegebenenfalls noch herbeizuschaffenden - Aktenmaterials Defizite des Gerichts bei der Tatsachenfeststellung auszugleichen (vgl. Rössner in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 1, S. 410 f.).
6
Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Nichtanordnung einer Maßregel nach § 64 StGB auf diesem Rechtsfehler beruht.
Ernemann Cierniak Franke
Bender Quentin

(1) Kommt in Betracht, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden wird, so ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen. Gleiches gilt, wenn das Gericht erwägt, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen.

(2) Ist Anklage erhoben worden wegen einer in § 181b des Strafgesetzbuchs genannten Straftat zum Nachteil eines Minderjährigen und kommt die Erteilung einer Weisung nach § 153a dieses Gesetzes oder nach den §§ 56c, 59a Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 oder § 68b Absatz 2 Satz 2 des Strafgesetzbuchs in Betracht, wonach sich der Angeklagte psychiatrisch, psycho- oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln zu lassen hat (Therapieweisung), soll ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten vernommen werden, soweit dies erforderlich ist, um festzustellen, ob der Angeklagte einer solchen Betreuung und Behandlung bedarf.

(3) Hat der Sachverständige den Angeklagten nicht schon früher untersucht, so soll ihm dazu vor der Hauptverhandlung Gelegenheit gegeben werden.

(1) Wird die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63 und 64 neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen.

(2) Das Gericht bestimmt jedoch, daß die Strafe oder ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird. Bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitigen Freiheitsstrafe von über drei Jahren soll das Gericht bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Dieser Teil der Strafe ist so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und einer anschließenden Unterbringung eine Entscheidung nach Absatz 5 Satz 1 möglich ist. Das Gericht soll ferner bestimmen, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn die verurteilte Person vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und zu erwarten ist, dass ihr Aufenthalt im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird.

(3) Das Gericht kann eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 1 oder Satz 2 nachträglich treffen, ändern oder aufheben, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. Eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 kann das Gericht auch nachträglich treffen. Hat es eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 getroffen, so hebt es diese auf, wenn eine Beendigung des Aufenthalts der verurteilten Person im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe nicht mehr zu erwarten ist.

(4) Wird die Maßregel ganz oder zum Teil vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.

(5) Wird die Maßregel vor der Strafe oder vor einem Rest der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 zur Bewährung aussetzen, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist. Wird der Strafrest nicht ausgesetzt, so wird der Vollzug der Maßregel fortgesetzt; das Gericht kann jedoch den Vollzug der Strafe anordnen, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen.

(6) Das Gericht bestimmt, dass eine Anrechnung nach Absatz 4 auch auf eine verfahrensfremde Strafe erfolgt, wenn deren Vollzug für die verurteilte Person eine unbillige Härte wäre. Bei dieser Entscheidung sind insbesondere das Verhältnis der Dauer des bisherigen Freiheitsentzugs zur Dauer der verhängten Strafen, der erzielte Therapieerfolg und seine konkrete Gefährdung sowie das Verhalten der verurteilten Person im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. Die Anrechnung ist in der Regel ausgeschlossen, wenn die der verfahrensfremden Strafe zugrunde liegende Tat nach der Anordnung der Maßregel begangen worden ist. Absatz 5 Satz 2 gilt entsprechend.