Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juni 2017 - GSSt 2/17

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:120617BGSST2.17.0
12.06.2017

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 2/17
vom
12. Juni 2017
BGHSt: ja
BGHR: ja
Nachschlagewerk: ja
Veröffentlichung: ja
Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung
bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand
haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.
BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017- GSSt 2/17
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
ECLI:DE:BGH:2017:120617BGSST2.17.0

Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Raum, die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof SostScheible , die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Graf, Dr. Franke und Dr. Schäfer, die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Schneider sowie die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. König, Prof. Dr. Krehl, Dr. Eschelbach und Gericke am 12. Juni 2017 beschlossen:
Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.

Gründe:


1
Die Vorlage betrifft eine Frage aus dem Bereich der Strafzumessung.

I.


2
1. In dem beim 3. Strafsenat anhängigen Verfahren hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen.
3
Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen nahm der Angeklagte in dem Zeitraum vom 1. März 1990 bis zum 1. März 1994 in mindestens 35 Fällen beim Zubettbringen seiner am 1. März 1985 geborenen Tochter an ihr sexuelle Handlungen vor oder ließ solche von ihr an sich vornehmen. Während der Taten erklärte der einen offenen und liberalen Erziehungsstil pflegende Angeklagte, dass dies "dazu gehöre" und eine "gute Tochter das so mache". Allerdings schärfte er seiner Tochter auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da er sonst "ins Gefängnis müsse".
4
Der Angeklagte hat die Verurteilung mit der Revision umfassend angegriffen und die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet.
5
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revision durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
6
Nach Auffassung des 3. Strafsenats dringen die Verfahrensbeanstandungen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen nicht durch. Er ist der Ansicht, der Schuldspruch halte auch materiellrechtlicher Überprüfung stand. Die Feststellungen beruhten auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung; gegen die rechtliche Würdigung des Geschehens sei ebenfalls nichts zu erinnern.
7
Der 3. Strafsenat beabsichtigt allerdings, auf die Sachrüge den gesamten Strafausspruch aufzuheben. Anlass hierzu gibt ihm die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 1. Strafsenats (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 - 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393) vorgenommene Wertung des Landgerichts, zu Gunsten des Angeklagten spreche zwar, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen; jedoch könne dieser Umstand vorliegend nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld erfolgt und die späte An- zeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde.
8
Im Einzelnen hatte der 1. Strafsenat in der vom Landgericht in Bezug genommenen Entscheidung im Einklang mit Erwägungen in einem früheren Urteil des 3. Strafsenats (BGH, Urteil vom 10. November 1999 - 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749), das zu dem in § 358 Abs. 2 StPO normierten Verschlechterungsverbot ergangen war, ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gelte insbesondere in den Fällen , in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief-)Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen. Zuvor hatte der 5. Strafsenat in einem Fall, der die Vergewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, - nicht tragend - darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmildernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorliegenden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe , dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe (BGH, Beschluss vom 29. September 1997 - 5 StR 363/97, NStZ-RR 1998, 207). In der Literatur hat die Auffassung des 1. Strafsenats überwiegend Zustimmung gefunden (vgl. SK-StGB/Wolters, 135. Lfg., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 55; S/S-Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 29; MüKoStGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 323); zum Teil ist sie aber auch auf Ablehnung gestoßen (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61, § 176 Rn. 35; MüKoStGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 176 Rn. 72).
9
Der 3. Strafsenat versteht die Ausführungen der Strafkammer dahin, diese habe durch den ausdrücklichen Verweis auf die Entscheidung des 1. Strafsenats und die Betonung der gesetzgeberischen Wertung des § 78b StGB deutlich gemacht, dass sie bezüglich des Gewichts des Strafzumessungsgesichtspunktes Zeitablauf zwischen Tat und Urteil zwischen Straftaten, die den sexuellen Missbrauch eines Kindes zum Gegenstand haben, und sonstigen Straftaten generell unterscheide. Er hält diese Erwägung für rechtsfehlerhaft und kann nicht ausschließen, dass die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, hätte das Landgericht diesen Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt.
10
2. Der 3. Strafsenat hat deshalb unter Darlegung seiner Auffassung bei den anderen Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG angefragt, ob diese an (gegebenenfalls) entgegenstehender Rechtsprechung festhalten (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - 3 StR 342/15, NStZ 2016, 277, mit Anm. Schiemann, NStZ 2016, 336).
11
Hierauf hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 10. Mai 2016 (1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336) mitgeteilt, dass die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats seiner Rechtsprechung widerspreche und er an seiner Rechtsansicht grundsätzlich festhalte. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, einem besonders langen Zeitraum zwischen Tat und Urteil komme für sich genommen eine strafmildernde Wirkung zu. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses selbständigen Strafzumessungsgrundes sei nicht eindeutig, beruhe aber bei unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Sühnebedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne; daneben könnten besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände ausgelöst werden. Dies führe zu der Notwendigkeit einer individuellen Gewichtung des Faktors Zeitablauf; diese Wertung sei grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Nach den Maßgaben, die für die Überprüfung der tatgerichtlichen Strafzumessung in der Revisionsinstanz gelten, sei es rechtsfehlerfrei , wenn das Tatgericht in diesem Zusammenhang auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreife, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen seien. Er könne deshalb die Ansicht nicht teilen, dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe. Eine entsprechende Anknüpfung finde sich in mehreren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts. Die Verjährungsvorschriften hätten zwar "zum Teil" eine andere Zielrichtung als die Strafzumessungsregelungen, letztlich komme aber in ihnen auch zum Ausdruck , dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis infolge Zeitablaufs verneine. Es gehe mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten. Durch den Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung werde der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung ausgefüllt. Zu den Verjährungsvorschriften, an denen sich das Tatgericht orientieren dürfe, zähle auch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dass der Gesetzgeber mit dieser "Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten" nicht den ersichtlichen Willen kundgetan habe, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren , sei nicht aussagekräftig.
12
Der 2. Strafsenat hat mit näher begründetem Beschluss vom 14. Juni 2016 (2 ARs 67/16, juris) geantwortet, er stimme der Rechtsauffassung des 3. Strafsenats zu.
13
Der 4. und der 5. Strafsenat haben mitgeteilt, ihre Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats nicht entgegen.
14
3. Mit Beschluss vom 17. November 2016 (3 StR 342/15, NStZ-RR 2017, 103) hat der 3. Strafsenat dem Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: "Kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten?"
15
Er hat ausgeführt, er vermöge sich der Ansicht des 1. Strafsenats auch unter Berücksichtigung der Erwägungen in dem Beschluss vom 10. Mai 2016 nicht anzuschließen; denn sie vermische in sachlich nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er halte deshalb an seiner in dem Anfragebeschluss vom 29. Oktober 2015 dargelegten Auffassung fest; soweit er in der Entscheidung vom 10. November 1999 noch Anderes vertreten habe, gebe er diese Rechtsprechung auf. Danach könne der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten; die gesetzliche Regelung des Ruhens der Verjährung in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB führe nicht zu einem anderen Ergebnis.
16
Dem hat die Verteidigung mit näheren Ausführungen zugestimmt.
17
4. Der Generalbundesanwalt erachtet die Vorlage für zulässig und beantragt zu beschließen: "Es ist nicht rechtsfehlerhaft, wenn im Einzelfall bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Rahmen der Strafzumessung der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil unter Berücksichtigung der dem § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB zugrundeliegenden Motive des Gesetzgebers nicht in gleicher Weise Beachtung findet wie bei anderen Straftaten."

II.


18
Die Vorlage ist zulässig.
19
1. Sie betrifft eine Rechtsfrage im Sinne des § 132 Abs. 2 GVG und nicht die tatgerichtliche Wertung von für die Strafzumessung bedeutsamen Tatsachen , die dem Revisionsgericht grundsätzlich verschlossen und damit dem Divergenzverfahren nicht zugänglich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 213 ff.; vom 15. November 2007 - 4 StR 400/07, BGHSt 52, 84, 86 ff.); denn es steht die vom 3. Strafsenat bereits im rechtlichen Ansatz und damit losgelöst von dem konkreten Einzelfall als fehlerhaft erachtete Erwägung in Rede, aufgrund einer Vorschrift aus dem Bereich der Verjährungsregelungen sei ein strafzumessungsrechtlich erheblicher Umstand für bestimmte Delikte generell mit einem geringeren Gewicht zu bewerten als bei anderen Straftaten.
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2. Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Nach dem jedenfalls vertretbaren und deshalb für den Großen Senat für Strafsachen bindenden Verständnis der tatgerichtlichen Urteilsgründe (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 1995 - GSSt 1/95, BGHSt 41, 187, 194; vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 302; Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl., § 132 Rn. 29; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 132 GVG Rn. 42) durch den 3. Strafsenat hängt die Entscheidung über die Revision des Angeklagten davon ab, ob die Ausführungen der Strafkammer als rechtsfehlerhaft oder rechtsfehlerfrei zu bewerten sind. Durch ihre Beantwortung wird somit das Ergebnis des konkreten Revisionsverfahrens beeinflusst (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 128; vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16, NJW 2017, 94, 95).
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3. Der 3. Strafsenat kann auch mit Blick auf den im Anfrageverfahren ergangenen Antwortbeschluss des 1. Strafsenats nicht wie beabsichtigt entscheiden , ohne von dessen Rechtsauffassung abzuweichen. Dem steht im Ergebnis nicht entgegen, dass der 1. Strafsenat ausgeführt hat, er halte "grundsätzlich" an seiner Rechtsansicht fest, und im Folgenden - jedenfalls auch - darauf hingewiesen hat, es beurteile sich nach dem Einzelfall, mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf strafmildernd auswirke. Hierdurch haben sich die Auffassungen der beiden Senate zwar angenähert, indes ist die entscheidungserhebliche Divergenz zwischen den verschiedenen Ansichten betreffend die Frage, ob die in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB getroffene Regelung dazu führt, dass dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil bei Straftaten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, generell eine geringere Bedeutung als bei anderen Straftaten zukommt, nicht beseitigt.

III.


22
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die Vorlegungsfrage in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Sinne.
23
Die Strafzumessung erfordert eine sich am Einzelfall orientierende Bewertung der hierfür bedeutsamen Umstände (hierzu u. 1.). Zu diesen kann auch der eigenständige Strafzumessungsgesichtspunkt des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil gehören (hierzu u. 2.). Die Verjährungsvorschriften und dabei insbesondere die Regelung des § 78b StGB stehen dieser sich nach den Umständen des konkreten Falles richtenden Würdigung nicht entgegen; aus ihnen ergibt sich insbesondere nicht, dass bei dem von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB) dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil generell, d.h. losgelöst von den konkreten Einzelfallumständen , ein geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Straftaten (hierzu u. 3.). Allerdings kann das Tatgericht diejenigen Gesichtspunkte, die der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB zugrunde liegen, bei der Strafzumessung berücksichtigen, sofern sie im Einzelfall festgestellt und für die Bemessung der Strafe von Bedeutung sind (hierzu u. 4.). Im Einzelnen:
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1. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung ist zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierten Strafzumessungskriterien und Leitlinien (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 1447, 136/05, BVerfGE 118, 212, 228 ff.; BGH, Beschluss vom 15. November 2007 - 4 StR 400/07, BGHSt 52, 84, 87); sie erfordert nach anerkannten Grundsätzen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 215) eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB; BGH, Urteil vom 4. August 1965 - 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266). Daneben ist dessen Resozialisierung der zentrale Ge- sichtspunkt, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Es ist im Rahmen der konkreten Strafzumessung gehalten, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände festzustellen, zu bewerten, gegeneinander abzuwägen (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB) und die Strafe innerhalb des ihm zur Verfügung stehenden Strafrahmens zu bestimmen. Eine "Mathematisierung" oder ein sonstiger Schematismus sind dem Gesetz hierbei fremd (BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 351; Urteil vom 28. März 2013 - 4 StR 467/12, juris Rn. 30; Beschluss vom 10. November 2016 - 1 StR 417/16, juris).
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2. Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil gehört zu den Umständen , die nach diesen am Einzelfall orientierten Maßgaben Einfluss auf die Bemessung der Strafe gewinnen können.
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a) Kommt es in einem Strafverfahren zu einem großen Abstand zwischen Tat und Urteil, kann dies bei der Bestimmung der Rechtsfolgen unter drei verschiedenen Aspekten von Belang sein (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1998 - 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198 f.): Zum einen kann der betreffende Zeitraum bereits für sich genommen ins Gewicht fallen. Unabhängig hiervon kann zum zweiten einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Zum dritten kann sich schließlich eine darüber hin- ausgehende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu Gunsten des Angeklagten auswirken.
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b) Die sich an diese drei Gesichtspunkte anknüpfenden Rechtsfolgen sind unterschiedlich:
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aa) Die zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führende Verletzung des Beschleunigungsgebotes gebietet eine Kompensation zu Gunsten des hierdurch betroffenen Angeklagten (sog. Vollstreckungsmodell; st. Rspr.; vgl. grundlegend BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124).
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bb) Demgegenüber handelt es sich bei dem großen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil und bei den mit einer langen Verfahrensdauer einhergehenden Belastungen des Angeklagten um zwei selbständige, gegebenenfalls im Rahmen der nach den §§ 46 ff. StGB vorzunehmenden Strafzumessung getrennt zu prüfende und im tatgerichtlichen Urteil zu erörternde Strafzumessungsgesichtspunkte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, aaO S. 141 f.; vom 29. November 1985 - 2 StR 596/85, NStZ 1986, 217, 218; vom 29. März 1988 - 5 StR 76/88, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2; vom 22. Januar 1992 - 3 StR 440/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; vom 21. Dezember 2010 - 2 StR 344/10, NStZ 2011, 651).
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Dies entspricht, soweit es um die hier relevante strafmildernde Wirkung des Zeitraums zwischen Tat und Urteil geht, im Ergebnis einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1998 - 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.; vom 13. Mai 2015 - 2 StR 535/14, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 40; vom 29. September 2015 - 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7) und Literatur (vgl. etwa Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl., 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181; Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. 4, S. 269, 299 f.; Streng, JR 2006, 257, 259; LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61; MüKoStGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 319; NK-StGB-Streng, 5. Aufl., § 46 Rn. 88; S/S-Stree/Kinzig, StGB, 29. Aufl., § 46 Rn. 57a; AnwK-StGB/Seebode, 2. Aufl., § 46 Rn. 97; SSWStGB /Eschelbach, 3. Aufl., § 46 Rn. 168 ff.). Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil ist als sonstiger, nicht ausdrücklich namentlich aufgeführter Aspekt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB einzuordnen (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 56, 61; AnwK-StGB/Seebode, 2. Aufl., § 46 Rn. 97), wenn auch die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses Gesichtspunktes variiert (vgl. hierzu im Einzelnen BGH, Beschluss vom 10. Mai 2016 - 1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336 m. zahlr. w.N.). Im hiesigen Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass der Ablauf der Zeit zwar nicht die Tatschuld mindert; jedoch kann er Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre. Dies gilt insbesondere, wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat (vgl. LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240 mwN). Ein langer Zeitablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs , weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.), sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 - 2 StR 20/98, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35).
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c) Mit den dargelegten, die Strafzumessung allgemein prägenden Grundsätzen und dem Wesen des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil als Strafzumessungsgesichtspunkt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB sind generalisierende , die konkreten Einzelfallumstände außer Acht lassende Wertungen nicht vereinbar. Dies gilt für alle in diesem Zusammenhang bedeutsamen Strafzumessungsfaktoren ; ein Grund, insoweit zwischen dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil und den sonstigen nach § 46 Abs. 2 StGB zu beachtenden Faktoren zu unterscheiden, ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist aus strafzumessungsdogmatischer Sicht die Bedeutung des hier relevanten Kriteriums zum einen weder absolut, noch begründet es eine Regelwirkung; zum anderen ist dem strafrechtlichen Sanktionensystem auch eine Differenzierung der Bedeutung nach Deliktsgruppen fremd.
32
3. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt auch nicht von der Länge der zunächst nach den §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird ebenfalls nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach § 78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen ist. Insbesondere die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB steht dem sich aus den Grundsätzen der Strafzumessung ergebenden Erfordernis, den Faktor Zeitablauf zwischen Tat und Urteil stets individuell zu betrachten und zu gewichten, nicht entgegen; sie führt nicht dazu, dass bei Straftaten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern betreffen, dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil generell, d.h. losgelöst von den konkreten Einzelfallumständen, ein geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Straftaten.
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a) Dies folgt zunächst aus den im Vergleich zu dem Bereich der Strafzumessung unterschiedlichen Regelungsgehalten, Zielen und Ausgestaltungen der Vorschriften über die Verfolgungsverjährung.
34
§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist Teil des die Verfolgungsverjährung betreffenden gesetzlichen Regelungsgefüges. Dieses knüpft zwar wie der Strafzumessungsgesichtspunkt zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil an den seit der Begehung der Straftat vergangenen Zeitraum an. Die Verjährungsvorschriften begründen indes keine Maßstäbe für eine angemessene staatliche Sanktion für eine begangene Straftat; sie regeln vielmehr - unabhängig davon, welchen Sinn und Zweck man der Verjährung im Einzelnen beimisst (vgl. hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 293 ff.; Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016, S. 90 ff.; Hörnle in Festschrift Beulke, 2015, S. 115 ff.; Schiemann, NStZ 2016, 336) - die Verfolgbarkeit der Tat und lassen deren Strafbarkeit bzw. deren Unrecht und die Schuld des Täters unberührt (BVerfG, Beschlüsse vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 287, 294; vom 31. Januar 2000 - 2 BvR 104/00, NStZ 2000, 251). Nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB). Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken (BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 - 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 - 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Damit betrifft die Verjährung nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das "Ob" der Verfolgung; ihr Eintritt führt deshalb nach ständiger und einhelliger Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs nicht zu einer Veränderung der materiellrechtlichen Lage, sondern zu einem Verfahrenshindernis (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138, 139). Ist die Straftat verjährt, so ist der Angeklagte grundsätzlich nicht freizusprechen , sondern das Verfahren einzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2004 - 1 StR 565/03, wistra 2005, 27).
35
Um die mit der Verjährung verbundenen Ziele zu erreichen, hat der Gesetzgeber in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert , innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe bestimmt wird (vgl. § 78 Abs. 3 StGB). Die diesem Regelungsgefüge zugrunde liegenden Wertungen sind Ausdruck generalisierender Betrachtungen. Eine Aussage über das Strafbedürfnis im Einzelfall treffen die Verjährungsvorschriften nicht. Für sie ist ohne Belang, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig und gegebenenfalls welche angemessen erscheint. Umgekehrt beeinflussen die für die Strafzumessung maßgebenden Aspekte den Eintritt der Verfolgungsverjährung nicht. Der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen besteht nicht darin, einer Verminderung des Gewichts von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen. Deshalb führt etwa ein aus welchem Grund auch immer entfallenes oder geringeres Strafbedürfnis nicht zum vorzeitigen Eintritt der Verjährung.
36
Folgerichtig hat die Rechtsprechung die Länge der Verjährungsfrist im Rahmen der Strafzumessung regelmäßig nur dafür herangezogen, um im Einzelfall die Dauer des seit der Tat vergangenen Zeitraumes bzw. das Gewicht des Tatunrechts näher zu verdeutlichen, ohne eine darüber hinausgehende innere Verknüpfung - etwa zu § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB - herzustellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Januar 1992 - 3 StR 440/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; vom 26. Juli 1994 - 5 StR 113/94, StV 1995, 130; vom 7. Juni 2011 - 4 StR 643/10, StV 2011, 603, 607; insoweit unklar BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 - 2 BvR 750, 752 und 761/06, NStZ 2006, 680, 682; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. August 2015 - 2 BvR 2646/13, juris Rn. 30).
37
b) Somit steht das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Strafzumessung einzustellen ist, mit der Länge der nach abstrakt-generellen Regelungen vorgegebenen Verjährungsfrist in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Gründe dafür, von diesem allgemein für das Verhältnis zwischen Strafzumessung auf der einen und Verjährung auf der anderen Seite geltenden Grundsatz für die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil für diese Deliktsgruppe generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, bestehen nicht.
38
aa) Solche ergeben sich insbesondere nicht aus dem Sinn und Zweck des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie sie sich unter Beachtung des den Gesetzesmaterialien zu entnehmenden Willens des Gesetzgebers ergeben.
39
(1) Der Gesetzgeber hat in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB - erstmals mit dem 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. Juni 1994 (BGBl. I S. 1310) - eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll (vgl. Hörnle in Festschrift Beulke, 2015, S. 115, 116). Hierzu ist in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den Strafverfolgungsbehörden häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwie- gend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den Tätern häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange Zeit nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstatten, sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich (vgl. BT-Drucks. 12/2975, S. 1; 12/3825, S. 1; 12/6980, S. 1). Deshalb solle die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner gesamten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und Wider einer Strafanzeige zu entscheiden (vgl. BTDrucks. 12/6980, S. 4).
40
(2) Diese Erwägungen belegen zunächst, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hatte, die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten, hinsichtlich derer er ein entsprechendes Regelungsbedürfnis sah, über die bis dahin geltenden Verjährungsfristen hinaus zu ermöglichen. Den Gesetzesmaterialien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam , die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Grundsätze der Strafzumessung, insbesondere die dort relevanten Kriterien sowie deren Gewichtung, zu modifizieren, und dabei eine Aussage über das Verhältnis zwischen Zeitablauf und dem Gewicht des Strafbedürfnisses zu treffen (so aber Schiemann, NStZ 2016, 336). Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ruhen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist (vgl. etwa BT-Drucks. 15/350, S. 13 f.; 16/13671, S. 23 f.; 18/2601, S. 14, 22 f.).
41
bb) Dagegen, dass aufgrund der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB das Gewicht des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern generell gemindert ist, sprechen auch die folgenden weiteren Erwägungen:
42
(1) Wollte man den Gedanken, dass durch die von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hervorgerufene längere Verfolgbarkeit der Tat das Gewicht des Zeitablaufs seit der Tat bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten vermindert wird, konsequent weiter denken, so wäre die Bedeutung dieses Strafzumessungsgesichtspunktes allgemein auch über die von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten Fallgestaltungen hinaus mit der Länge der Verjährungsfrist verknüpft bzw. hinge sie von den diesbezüglichen Ruhens- oder Unterbrechungsbestimmungen ab. Ein solcher systemwidriger Zusammenhang wäre etwa im Falle des § 78b Abs. 4 StGB, der an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände gesetzlich normiert sind, in besonderer Weise unplausibel. Entsprechendes gilt für die Unterbrechensregelungen des § 78c StGB. Eine derart weitgehende Anbindung der Strafzumessung an die für die Verfolgungsverjährung geltenden Fristen ist - soweit ersichtlich - bisher auch weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur befürwortet worden.
43
(2) Ließe man die Art der begangenen Straftat ausreichen, um einen anerkannten Strafmilderungsgrund zu relativieren, so fiele dies auch dann zum Nachteil des Angeklagten ins Gewicht, wenn die Gründe, die zur Schaffung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB geführt haben, im konkreten Fall gar nicht vorliegen, der lange zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil vielmehr auf sonstigen Gesichtspunkten , etwa Versäumnissen der Strafverfolgungsorgane, beruht. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass dies mit den Grundsätzen einer den Maßgaben der §§ 46 ff. StGB folgenden Strafzumessung nicht vereinbar wäre.
Entsprechendes gilt für die vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift aufgeführte Fallkonstellation, bei der der sexuelle Missbrauch von einem Nachbarn begangen wurde, der kurz nach der Tat wegzieht und zu der Familie des kindlichen Opfers keinen Kontakt mehr unterhält. In diesen Fällen ist eine Drucksituation, die Anlass für den Gesetzgeber war, die Ruhensregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in das Strafgesetzbuch aufzunehmen, nicht gegeben. Es erschließt sich nicht, aus welchem Grunde dann gleichwohl dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil ein geringeres Gewicht beizumessen sein soll, nur weil es sich bei der Tat um ein bestimmtes Delikt handelt.
44
(3) Eine strafzumessungsrechtliche Koppelung des Faktors Zeitablauf an die Länge der Verjährungsfrist könnte in bestimmten Konstellationen auch zu sachwidrigen Ergebnissen führen. So verringert sich etwa mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Tat in den Fällen, in denen sich der Täter nicht weiter strafbar gemacht hat, unter dem Gesichtspunkt der Spezialprävention das Strafbedürfnis, möglicherweise bis zu dessen vollständigem Wegfall. Der relevante Zeitraum kann gegebenenfalls auch mehrere Jahrzehnte betragen. Dies gilt nicht nur im Anwendungsbereich von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, bei dem die letzte Erhöhung der Altersgrenze bewirkt hat, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch Unterbrechungshandlungen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers verlängern kann (BT-Drucks. 18/2601, S. 23). Noch längere Zeiträume können etwa bei den gemäß § 78 Abs. 2, 4 StGB unverjährbaren Delikten des versuchten Mordes oder der Beihilfe zum Mord (vgl. LK/Schmid, StGB, 12. Aufl., § 78 Rn. 6) eintreten. Diese Wertungen des Gesetzgebers sind zwar zu beachten. Dies führt jedoch nicht dazu, sie über den Bereich der Verjährung hinaus auf die Strafzumessung zu erstrecken, deren Wesenselement die umfassende Würdigung der Einzelfallumstände darstellt (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB). Zudem wäre es nicht sachgerecht, den Strafzweck der Spezialprävention trotz seiner gesetzlich hervorgehobenen Bedeutung (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StPO) in den beschriebenen Fällen aufgrund allein an die Art der begangenen Straftat anknüpfender Überlegungen nur eingeschränkt zu berücksichtigen.
45
(4) Wollte man schließlich die hier in Rede stehende Verknüpfung zwischen Strafzumessung und Verfolgungsverjährung herstellen, so erschiene es wenig konsequent, sie auf die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu beschränken. Auch in anderen Fallkonstellationen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB oder solchen, die von dieser Vorschrift nicht erfasst werden, kann es - wenn auch möglicherweise weniger häufig - vorkommen, dass Täter und Opfer eine besondere persönliche Beziehung verbindet und der Täter versucht, das Opfer davon abzuhalten, die Straftat zu offenbaren. Dies gilt etwa für Körperverletzungs - oder Nötigungshandlungen zum Nachteil von Lebenspartnern, kann aber auch bei anderen Delikten wie zum Beispiel gegen das Vermögen oder das Eigentum von Familienangehörigen gerichteten Straftaten von Bedeutung sein.
46
4. Die Bedeutung des Strafzumessungsgesichtspunktes zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil ist nach alldem einzelfall- und nicht deliktsgruppenabhängig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass neben anderen die wesentlichen Gründe, die den Gesetzgeber zur Schaffung und sukzessiven Erweiterung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bewogen haben, nicht auch im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung erlangen können. Insbesondere erlauben es die in § 46 Abs. 2 StGB aufgeführten Strafzumessungskriterien, in systemkonformer Weise die wesentlichen unrechtssteigernden Elemente zu erfassen, die auch im Rahmen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Rolle spielen. Hierzu gilt:
47
Aus dem Umstand, dass der Faktor Zeitablauf zwischen Tat und Urteil als Strafzumessungsfaktor stets nach Maßgabe der Umstände des konkreten Falles zu betrachten und zu gewichten ist, folgt auch, dass eine Wechselwirkung mit den anderen im Einzelfall für die Bemessung der Sanktion bedeutsamen Gesichtspunkten besteht. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB nennt als Strafzumessungskriterien neben anderen die verschuldeten Auswirkungen der Tat und das Verhalten des Täters nach dieser. Damit können dem Täter zum einen Auswirkungen auf das Tatopfer straferschwerend angelastet werden, die er verschuldet hat, sie somit von ihm mindestens vorausgesehen werden konnten und ihm vorzuwerfen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 1990 - 4 StR 359/90, BGHSt 37, 179, 180), wobei es bezüglich der Vorhersehbarkeit genügt, dass sie in ihrer Art und ihrem Gewicht im Wesentlichen erkennbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 29. August 2006 - 1 StR 285/06, NStZ-RR 2006, 372). Zum anderen kann jedes Tun oder Unterlassen berücksichtigt werden, das Schlüsse auf den Unrechtsgehalt der Tat zulässt, auf Rechtsfeindlichkeit, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche des Täters hinweist oder Einblicke in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewährt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 24. Juli 1985 - 3 StR 127/85, NStZ 1985, 545; Beschluss vom 6. Dezember 1996 - 2 StR 468/96, NStZ-RR 1997, 196; vgl. auch S/S-Stree-Kinzig, StGB, 29. Aufl., § 46 Rn. 39; MüKoStGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 246 ff. jeweils mwN).
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Nach diesen Maßgaben gewinnt das Zeitmoment aufgrund der verminderten Notwendigkeit, durch die Verhängung der Strafe spezialpräventiv auf den Angeklagten einzuwirken, etwa dann an Bedeutung, wenn der Täter sich in der Zwischenzeit nicht weiter strafbar gemacht hat. Das Gewicht des langen Abstandes zwischen Tat und Urteil kann aber auch durch andere Umstände, darunter solchen, die im Zusammenhang mit § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB relevant sind, beeinflusst werden. So war wie dargelegt vor allem der mögliche Einfluss, den der Täter auf das Opfer nimmt, um dieses zu veranlassen, die Tat nicht zu offenbaren, für den Gesetzgeber Grund für die Schaffung der genannten Norm. Dieser Umstand erfüllt zumindest regelmäßig die genannten Voraussetzungen und kann deshalb als für die Strafzumessung relevantes, die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs reduzierendes Nachtatverhalten zu Lasten des Angeklagten gewertet werden. Aber auch ohne ein unmittelbares Einwirken durch den Täter kann zum Beispiel die mit dem Zeitablauf einhergehende längere Dauer der psychischen Belastung, denen das Opfer durch eine familiäre Drucksituation ausgesetzt ist, von Bedeutung sein, sofern der Täter diese Auswirkungen verschuldet hat.
49
Eine solche Bewertung kann das Tatgericht systemgerecht und damit ohne Rekurs auf die Verjährungsregeln freilich nicht bereits allein aufgrund der Zuordnung der Tat zu einer bestimmten Deliktsgruppe, sondern nur auf der Grundlage der im konkreten Fall getroffenen Feststellungen nach Maßgabe aller relevanten Einzelfallumstände vornehmen.
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Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juni 2017 - GSSt 2/17

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juni 2017 - GSSt 2/17

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(1) Über den Antrag entscheidet das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre. (2) Die dem Antrag stattgebende Entscheidung unterliegt keiner Anfechtung. (3) Gegen die den Antrag verwerfende E

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Die Verjährung beginnt, sobald die Tat beendet ist. Tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später ein, so beginnt die Verjährung mit diesem Zeitpunkt.

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(1) Die Verjährung ruht

1.
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2.
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(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 7/06
vom
8. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Februar 2006 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 5. Oktober 2005 wird mit der Maßgabe verworfen, dass in sämtlichen Fällen die tateinheitliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen entfällt. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


1
1. Der Angeklagte hat sich 1990 wiederholt an seiner damals acht Jahre alten Stieftochter, der Nebenklägerin, sexuell vergangen, als er sie zu Bett brachte, während seine Ehefrau, die Mutter der Nebenklägerin, mit der Versorgung eines Säuglings befasst war. Er hat der Nebenklägerin z.B. Gegenstände in die Scheide eingeführt, ist mit einem oder mehreren Fingern - er versuchte es auch mit der ganzen Hand - oder seiner Zunge dort eingedrungen, führte ihre Hand an sein Geschlechtsteil oder rieb damit an ihren Schamlippen.
2
Die Nebenklägerin, die die Vorfälle erst 2005 zur Anzeige brachte, ist als Folge der Taten nach wie vor psychisch schwer belastet und therapiebedürftig. Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung bei ihr entschuldigt; sie akzeptiert dies jedoch nicht und lehnt Kontakt mit ihm ab. Allerdings hat sie er- klärt, eine von ihm angekündigte - freilich noch nicht erbrachte - Schmerzensgeldzahlung von 15.000.- € zu akzeptieren.
3
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wegen insgesamt acht Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, wobei die Einzelstrafen zweimal acht Monate , viermal ein Jahr und zweimal ein Jahr und drei Monate betrugen. Die Strafkammer war von besonders schweren Fällen i. S. d. § 176 Abs. 3 StGB aF ausgegangen, hatte aber die Voraussetzungen des § 46a Nr. 2 StGB bejaht und von der danach eröffneten Möglichkeit zur Strafrahmenmilderung Gebrauch gemacht.
4
3. Die auf die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist zwar auf den Strafausspruch beschränkt, führt aber insoweit zu einer Abänderung des Schuldspruchs (§ 349 Abs. 4 StPO), als der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) verjährt ist (§ 78 StGB i.V.m. § 78b StGB aF).
5
Wie der Generalbundesanwalt zutreffend im Einzelnen dargelegt hat, gilt § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nF (BGBl. I 2003, 3007), wonach die Verjährung jetzt auch bei Straftaten gemäß § 174 StGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruht, auch rückwirkend für vor Inkrafttreten dieser Bestimmung (1. April 2004) begangene Taten. Anderes gilt, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits Verjährung eingetreten war (BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 4 StR 443/05; BGH NStZ 2005, 89, 90). So verhält es sich hier. Die Verjährungsfrist für Vergehen gemäß § 174 StGB beträgt gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre, war also angesichts der erst 2005 erfolgten Anzeige bei der ersten zur Unterbrechung der Verjährung geeigneten Handlung abgelaufen. Der danach gebotenen Änderung des Schuldspruchs steht der Umstand, dass die Revision auf den Strafausspruch beschränkt ist, nicht entgegen (vgl. BGHSt 11, 393, 394; BGH bei Spiegel DAR 1978, 146, 160 ).
6
4. Im Übrigen bleibt die Revision erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
7
a) Die Änderung des Schuldspruchs gefährdet den Strafausspruch hier nicht. Abgesehen davon, dass auch verjährte Taten bei der Strafzumessung nicht unberücksichtigt bleiben müssen, kommt dem Umstand, dass der Angeklagte eine Vertrauensstellung missbraucht hat, unabhängig von der Anwendbarkeit des § 174 StGB straferschwerende Wirkung zu, da dieser Gesichtspunkt die Tatschuld erhöht (vgl. BGH bei Pfister NStZ-RR 1999, 321, 322 ; Renzikowski in MünchKomm, StGB § 176 Rdn. 66 jew. m. w. N.).
8
b) Die - wohl versehentliche - fehlerhafte Bezeichnung der angewendeten Fassung des § 176 StGB - die Strafkammer spricht von der Fassung des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes, statt richtig von der des zur Tatzeit geltenden 4. Strafrechtsreformgesetzes, dessen Strafrahmen sie aber zu Grunde gelegt hat - gefährdet, so auch im Ergebnis die Revision, den Strafausspruch nicht.
9
c) Zu Recht weist die Revision allerdings darauf hin, dass die Strafkammer die abgeurteilten Delikte als Verbrechen bezeichnet hat. Dies trifft nicht zu, wie sich aus § 12 Abs. 3 StGB ohne weiteres ergibt. Der Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen hat faktisch jedoch vor allem noch gesetzestechnische Bedeutung und ist vorwiegend formal zu verstehen (vgl. Radtke in MünchKomm, StGB § 12 Rdn. 6). Der sachliche Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen ist vor allem dort nicht hoch, wo, wie auch hier, der besonders schwere Fall eines Vergehens mit ebenso hoher Mindeststrafe bedroht ist wie ein Verbrechen (vgl. hierzu näher Radtke aaO Rdn. 9 m. w. N.). Daher lässt allein die hier vorliegende fehlerhafte Bezeichnung Taten - auch angesichts der konkreten Höhe der verhängten Strafen - eine rechtsfehlerhafte Strafzumessung nicht besorgen. Konkrete Umstände, die eine andere Beurteilung nahe legen könnten, sind nicht ersichtlich.
10
d) Die Revision wendet sich gegen die Annahme besonders schwerer Fälle i. S. d. § 176 Abs. 3 StGB (der genannten Fassung). Vor allem, so trägt sie vor, habe in diesem Zusammenhang der Umstand entscheidende Bedeutung , dass die Taten bereits länger zurückliegen.
11
Der Senat vermag dem nicht zu folgen. Dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu (wie etwa in den von der Revision genannten Entscheidungen BGHSt 40, 48, 58 und BGH, Beschluss vom 6. November 2001 - 4 StR 461/01, bei denen es nicht um Sexualdelikte z. N. von Kindern, sondern um Totschlag und schwere räuberische Erpressung ging). Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen, wie hier, ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (hier: Stief-)Vater missbraucht wird und (wie ebenfalls hier) erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige findet. Deshalb hat der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen (vgl. BGH NJW 2000, 748, 749; G. Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl. Rdn. 437).
12
e) Auch die übrigen Erwägungen der Revision, die im Kern darauf hinauslaufen , die Strafkammer habe nicht rechtsfehlerfrei zwischen Strafrahmenbestimmung und Festsetzung der Einzelstrafen differenziert und dadurch im Ergebnis - von ihr nicht übersehene - strafmildernde Gesichtspunkte (z. B. das Geständnis, die sozialen Folgen der Strafe für den bisher nicht vorbestraften Angeklagten und der Versuch einer Entschuldigung) zu gering und strafschärfende Gesichtspunkte (z. B. die Folgen der Tat) zu schwer gewichtet, können hier schon angesichts der sehr maßvollen Einzelstrafen und der hieraus nach - so auch die Strafkammer selbst - straffem Zusammenzug gebildeten Gesamtstrafe durchgreifende Rechtsfehler nicht verdeutlichen.
13
Rechtlichen Bedenken gegen die von der Strafkammer bejahte Anwendbarkeit von § 46a StGB - der von der Strafkammer angewendete § 46a Nr. 2 StGB betrifft vorwiegend einen hier nicht vorliegenden materiellen Schaden des Opfers (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 46a Rdn. 11 m. w. N.), § 46a Nr. 1 StGB erfordert einen "kommunikativen Prozess" zwischen Täter und Opfer (vgl. aaO Rdn. 10a m. w. N.), für den hier wenig spricht - braucht der Senat dabei nicht näher nachzugehen, da der Angeklagte insoweit nur begünstigt sein kann.
14
5. Auf den Hinweis des Generalbundesanwalts, dass vor allem angesichts der schwerwiegenden und noch immer fortwirkenden psychischen Belastungen der Nebenklägerin die Strafe auch angemessen i. S. d. § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO wäre, kommt es unter den gegebenen Umständen ebenfalls nicht mehr an. Wahl Kolz Hebenstreit Elf Graf

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(2) Das angefochtene Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn lediglich der Angeklagte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter Revision eingelegt hat. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben, hindert diese Vorschrift nicht, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen. Satz 1 steht auch nicht der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt entgegen.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 342/15
vom
29. Oktober 2015
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
hier: Anfragebeschluss
ECLI:DE:BGH:2015:291015B3STR342.15.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 29. Oktober 2015 beschlossen:
Der Senat beabsichtigt zu entscheiden: Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.
Der Senat fragt bei den anderen Strafsenaten an, ob an (gegebenenfalls ) entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird.

Gründe:

1
I. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit verfahrens- und materiellrechtlichen Beanstandungen gegen seine Verurteilung.
2
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen entblößte der Angeklagte in dem Zeitraum vom 1. März 1990 bis zum 1. März 1994 in mindestens 35 Fällen beim Zubettbringen seiner am 1. März 1985 geborenen Tochter sein Geschlechtsteil vor dem Kind und veranlasste dieses, seinen Penis zu berühren. Das Mädchen nahm hierbei das Glied des Angeklagten in eine oder beide Hände, warf dieses zwischen den Händen hin und her oder umschloss es mit der ganzen Hand. Der Penis des Angeklagten war nicht in allen Fällen erigiert ; in mindestens einem Fall kam es jedoch zu einem Samenerguss. Wenigstens einmal berührte der Angeklagte mit dem Finger die entblößte Scheide des Kindes; in einem weiteren Fall demonstrierte er den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau, indem er sein Geschlechtsteil an der Scheide des Mädchens rieb. Während der Taten erklärte der einen offenen und liberalen Erziehungsstil pflegende Angeklagte, dass dies "dazu gehöre" und eine "gute Tochter das so mache". Allerdings schärfte er seiner Tochter auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da er sonst "ins Gefängnis müsse".
3
Nach Auffassung des Senats dringen die Verfahrensbeanstandungen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen nicht durch. Der Schuldspruch hält materiellrechtlicher Überprüfung stand. Die Feststellungen beruhen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung ; gegen die rechtliche Würdigung des Geschehens ist ebenfalls nichts zu erinnern. Der Senat beabsichtigt allerdings, auf die Sachrüge den gesamten Strafausspruch aufzuheben. Anlass hierzu sowie zu dem Anfrageverfahren gibt die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 1. Strafsenats (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 - 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393) vorgenommene Wertung des Landgerichts, zu Gunsten des Angeklagten spreche zwar, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen; jedoch könne dieser Umstand vorliegend nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld geschehen und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde. Es ist nicht auszuschließen, dass sowohl die Einzelstrafen als auch die Gesamtstrafe nied- riger ausgefallen wären, hätte das Tatgericht diesen Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt.
4
II. Der 1. Strafsenat hat in der genannten Entscheidung ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief-)Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.
5
Demgegenüber hatte der 5. Strafsenat zuvor in einem Fall, der die Vergewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, - nicht tragend - darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmildernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorliegenden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand durch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe, dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe (BGH, Beschluss vom 29. September 1997 - 5 StR 363/97, NStZ-RR 1998, 207).
6
Der Senat vermag sich der Ansicht des 1. Strafsenats, der ein Teil der Literatur gefolgt ist (SK-StGB/Wolters, 135. Lfg., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 55; S/S-Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 29; aA Fischer, StGB, 63. Aufl., § 46 Rn. 61; § 176 Rn. 35; MüKoStGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 176 Rn. 66), nicht anzuschließen; denn sie vermischt in sachlich nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen der Verjährung.
7
1. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung erfordert eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters, § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB (BGH, Urteil vom 4. August 1965 - 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266). Daneben ist die Resozialisierung des Täters der zentrale Gesichtspunkt der Strafzumessung, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB. Nach diesen Maßgaben kann ein langer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil eine Strafmilderung gebieten. Der Ablauf der Zeit mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre; dies gilt insbesondere , wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat (LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240). Ein langer Zeitablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs, weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.), sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 - 2 StR 20/98, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35).
8
2. Demgegenüber betreffen die Vorschriften über die Verfolgungsverjährung ausschließlich die Verfolgbarkeit der Tat (BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2000 - 2 BvR 104/00, NStZ 2000, 251); nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich, § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB. Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken (BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 - 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 - 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Zur Erreichung dieser Ziele hat der Gesetzgeber in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert, innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe bestimmt wird, vgl. § 78 Abs. 3 StGB.
9
3. Aus diesen unterschiedlichen Zwecken und Ausgestaltungen der Strafzumessung und der Verfolgungsverjährung folgt einerseits, dass für die Frage der Verjährung nicht von Bedeutung ist, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig und gegebenenfalls welche angemessen erschiene. Andererseits spielt die Dauer der Verjährungsfrist für die Strafzumessung und die dort zu bewertenden Umstände keine Rolle. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt nicht von der Länge der zunächst nach §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird auch nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach § 78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen wird. Dies gilt etwa auch für die Ruhensregelung des § 78b Abs. 4 StGB, die an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände gesetzlich normiert sind.
10
Gründe dafür, hiervon für die Fälle des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil dort generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, sind nicht ersichtlich. In § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hat der Gesetzgeber - erstmals mit dem 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. Juni 1994 (BGBl. I S. 1310) - eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll. Der Gesetzgeber hat hierzu in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den Strafverfolgungsbehörden häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwiegend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den Tätern häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange Zeit nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstatten , sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich (vgl. BT-Drucks. 12/2975 S. 1; 12/3825 S. 1; 12/6980 S. 1; Hervorhebung nicht im Original). Deshalb solle die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner gesamten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und Wider einer Strafanzeige zu entscheiden (vgl. BT-Drucks. 12/6980 S. 4). Diese Erwägungen belegen eindeutig, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hatte , die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten auch über die bis dahin geltenden Verjährungsregelungen hinaus zu ermöglichen. Den Gesetzesmateria- lien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam, über diesen Gesichtspunkt hinaus die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Strafzumessungskriterien sowie deren Gewichtung zu modifizieren. Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ruhen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist (vgl. etwa BT-Drucks. 15/350 S. 13; 16/13671 S. 24; 18/2601 S. 14, 22 f.).
11
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die letzte Erhöhung der Altersgrenze bewirkt, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch Unterbrechungshandlungen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers verlängern kann (BT-Drucks. 18/2601 S. 23). Diese Wertung des Gesetzgebers ist zwar trotz der sich hieraus für die Rechtspraxis ergebenden Probleme hinzunehmen. Der Senat würde es jedoch - ungeachtet der bereits dargelegten Bedenken - in solchen Fällen für regelmäßig als in der Sache unangemessen erachten , den Abstand zwischen Tat und Urteil von gegebenenfalls mehreren Jahrzehnten bei der Strafzumessung nur eingeschränkt zu Gunsten eines möglicherweise in der Zwischenzeit straflosen Täters zu gewichten.
12
III. Der Senat fragt deshalb an beim 1. Strafsenat, ob an der entgegen stehenden Rechtsprechung festgehalten wird, und bei den anderen Strafsenaten , ob ggf. an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird, § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG.
Becker Hubert Schäfer Mayer Spaniol

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 ARs 67/16
vom
14. Juni 2016
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
hier: Anfragebeschluss des 3. Strafsenats vom 29. Oktober 2015 - 3 StR 342/15
ECLI:DE:BGH:2016:140616B2ARS67.16.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Juni 2016 gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG beschlossen:
Der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats steht Rechtsprechung des 2. Strafsenats nicht entgegen. Der 2. Strafsenat schließt sich der Rechtsauffassung des anfragenden Senats an.

Gründe:

1
Der 2. Strafsenat hat mit Beschluss vom 6. April 2016 in der Sache 2 StR 219/15 die Revisionshauptverhandlung unterbrochen und zur Begründung ausgeführt:
2
"Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchter sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision.
3
Der Senat kann über das Rechtsmittel nicht abschließend entscheiden.
4
Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der Angeklagte in der Zeit von Sommer 1995 bis Anfang 2010 die Enkelinnen seiner Lebensgefährtin. Eingegrenzt wurden eine Tat zum Nachteil von M. , die zwischen dem 21. August 1995 und dem 1. Dezember 1996 begangen wurde, ferner Taten zum Nachteil der Nebenklägerin, die zwischen dem 17. Januar 1997 und Sommer 1999 (Fall II.2. der Urteilsgründe), zwischen Sommer 2003 und Sommer 2005 (Fall II.3. der Urteilsgründe), im Zeitraum vom 28. September 2000 bis zum 28. Mai 2009 (Fall II.4. der Urteilsgründe) und im Zeitraum zwischen dem 17. Januar 2007 und dem 16. Januar 2010 (Fall II.5. der Urteilsgründe) begangen wurden.
5
Das Landgericht hat bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Taten lange zurückliegen. Allerdings komme „dem lan- gen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil“ bei Fällen sexuellen Kindes- missbrauchs nicht die gleich hohe Bedeutung zu wie in anderen Fällen (vgl. BGH NStZ 2006, 393).
6
Der Senat neigt zu der Auffassung, dass dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung auch bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Ansatz die gleiche Bedeutung zukommt, wie bei anderen Straftaten.
7
Dies entspricht der Auffassung des 3. Strafsenats, der deshalb durch Beschluss vom 29. Oktober 2015 – 3 StR 342/15 (NStZ 2016, 227 f.) bei dem ersten Strafsenat angefragt hat, ob dieser an seiner abweichenden Rechtsauffassung festhält, wie sie im Beschluss vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06 (NStZ 2006, 393) erläutert wurde. Die Fragestellung ist im vorliegenden Fall ebenso von Bedeutung wie in dem Anfrageverfahren. Daher ist eine Unterbrechung der Revisionshauptverhandlung angezeigt, um das Ergebnis des Anfrageverfahrens berücksichtigen zu können.
8
Der Senat ist, ebenso wie der 3. Strafsenat, der Auffassung, dass die Strafe eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein soll. Ihre Bemessung erfordert eine am Einzelfall orientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Die Schuld des Täters ist die Grundlage für die Zumessung der Strafe (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Der lange Ablauf von Zeit seit der Begehung der Tat mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei früherer Ahndung der Fall gewesen wäre (vgl. LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240). Das Strafbedürfnis nimmt mit langem Zeitablauf seit der Begehung der Tat ab (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 142). Das gilt prinzipiell auch für Missbrauchsdelikte (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Mai 2015 – 2 StR 535/14, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 40).
9
Verjährungsvorschriften regeln dagegen, wie lange eine für strafbar erklärte Tat verfolgt werden soll. Die Verjährung macht eine Tat nicht ungeschehen. Sie lässt das Unrecht der Tat und die Schuld des Täters unberührt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1969 – 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 294). Die Verjährung der Strafverfolgung soll vielmehr dem Rechtsfrieden die- nen und einer Untätigkeit der Behörden vorbeugen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 – 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 – 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen besteht hingegen nicht darin, einer Verminderung von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen.
10
Dies gilt erst recht für die Regelungen über das Ruhen des Fristablaufs in den Fällen von Missbrauchsdelikten an Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Mit der Sonderregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach die Verjährung der Strafverfolgung bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 179, 180 Abs. 3, §§ 182, 225, 226a und 237 bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers ruht, soll vielmehr der besonderen Situation von Tatopfern Rechnung getragen werden, die als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene aufgrund familiärer Bindungen oder besonderer Abhängigkeitsverhältnisse gehemmt sind, Übergriffe anzuzeigen. Der Gesetzgeber hat damit nicht bezweckt, Strafzumessungsgesichtspunkte abweichend von den allgemeinen Grundsätzen zu regeln."
11
In dem Verfahren 2 StR 377/15, dem die gleiche Problematik zugrunde liegt, hat der Senat die weitere Beratung der Sache ebenfalls zurückgestellt. Fischer Appl Eschelbach Ott Zeng

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 342/15
vom
17. November 2016
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
hier: Vorlagebeschluss gemäß § 132 Abs. 2 GVG
ECLI:DE:BGH:2016:171116B3STR342.15.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 17. November 2016 beschlossen:
Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten?

Gründe:

1
I. 1. Das Landgericht Bad Kreuznach hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit verfahrens- und materiellrechtlichen Beanstandungen gegen seine Verurteilung.
2
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen entblößte der Angeklagte in dem Zeitraum vom 1. März 1990 bis zum 1. März 1994 in mindestens 35 Fällen beim Zubettbringen seiner am 1. März 1985 geborenen Tochter sein Geschlechtsteil vor dem Kind und veranlasste dieses, seinen Penis zu berühren. Das Mädchen nahm hierbei das Glied des Angeklagten in eine oder beide Hände, warf dieses zwischen den Händen hin und her oder umschloss es mit der ganzen Hand. Der Penis des Angeklagten war nicht in allen Fällen erigiert ; in mindestens einem kam es jedoch zu einem Samenerguss. Wenigstens einmal berührte der Angeklagte mit dem Finger die entblößte Scheide des Kin- des; in einem weiteren Fall demonstrierte er den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau, indem er sein Geschlechtsteil an der Scheide des Mädchens rieb. Während der Taten erklärte der einen offenen und liberalen Erziehungsstil pflegende Angeklagte, dass dies "dazu gehöre" und eine "gute Tochter das so mache". Allerdings schärfte er seiner Tochter auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da er sonst "ins Gefängnis müsse".
3
2. Nach Auffassung des Senats dringen die Verfahrensbeanstandungen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen nicht durch. Der Schuldspruch hält materiellrechtlicher Überprüfung stand. Die Feststellungen beruhen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung; gegen die rechtliche Würdigung des Geschehens ist ebenfalls nichts zu erinnern.
4
Der Senat beabsichtigt allerdings, auf die Sachrüge den gesamten Strafausspruch aufzuheben. Anlass hierzu gibt die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 1. Strafsenats (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 - 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393) vorgenommene Wertung des Landgerichts , zu Gunsten des Angeklagten spreche zwar, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen; jedoch könne dieser Umstand vorliegend nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld erfolgt und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde. Die Strafkammer hat durch den ausdrücklichen Verweis auf die Entscheidung des 1. Strafsenats und die Betonung der gesetzgeberischen Wertung des § 78b StGB deutlich gemacht, dass es bezüglich des Gewichts des Strafzumessungsgesichtspunktes Zeitablauf zwischen Tat und Urteil zwischen Straftaten, die in den Anwendungsbereich des § 78b StGB (im vorliegenden Zusammenhang allein in Betracht kommend: § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB) fallen, und sonstigen Straftaten generell unterscheidet. Der Senat hält diese Erwägung für rechtsfehlerhaft. Er kann nicht ausschließen, dass die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, hätte das Landgericht diesen Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt.
5
Der 1. Strafsenat hatte in der genannten Entscheidung im Einklang mit Erwägungen in einem früheren Urteil des 3. Strafsenats (BGH, Urteil vom 10. November 1999 - 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749), das zu dem in § 358 Abs. 2 StPO normierten Verschlechterungsverbot ergangen war, ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief-)Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.
6
Demgegenüber hatte der 5. Strafsenat zuvor in einem Fall, der die Vergewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, - nicht tragend - darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmildernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorliegenden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe, dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe (BGH, Beschluss vom 29. September 1997 - 5 StR 363/97, NStZ-RR 1998, 207).
7
3. Vor diesem Hintergrund hat der Senat mit Beschluss vom 29. Oktober 2015 (NStZ 2016, 277) gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei den anderen Strafsenaten angefragt, ob diese an (gegebenenfalls) entgegenstehender Rechtsprechung festhalten.
8
Der 1. Strafsenat hat mit Beschluss vom 10. Mai 2016 (1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336) geantwortet, die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats widerspreche seiner Rechtsprechung; er halte an seiner Rechtsansicht "grundsätzlich" fest. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, einem besonders langen Zeitraum zwischen Tat und Urteil komme für sich genommen eine strafmildernde Wirkung zu. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses selbständigen Strafzumessungsgrundes sei nicht eindeutig, beruhe aber bei unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Sühnebedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne; daneben könnten besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände ausgelöst werden. Dies führe zu der Notwendigkeit der individuellen Gewichtung des Faktors Zeitablauf; diese Wertung sei grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Nach den Maßgaben, die für die Überprüfung der tatgerichtlichen Strafzumessung in der Revisionsinstanz gelten, sei es rechtsfehlerfrei, wenn das Tatgericht in diesem Zusammenhang auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreife, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen seien. Er könne deshalb die Ansicht nicht teilen, dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe. Eine entsprechende Anknüpfung finde sich in mehreren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts. Die Verjährungsvorschriften hätten zwar "zum Teil" eine andere Zielrichtung als die Strafzumessungsregelungen , letztlich komme aber in ihnen auch zum Ausdruck, dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis infolge Zeitablaufs verneine. Es gehe mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten. Durch den Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung werde der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung ausgefüllt. Zu den Verjährungsvorschriften , an denen sich das Tatgericht orientieren dürfe, zähle auch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dass der Gesetzgeber mit dieser "Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten" nicht den ersichtlichen Willen kundgetan habe, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren, sei nicht aussagekräftig.
9
Der 2. Strafsenat hat mit näher begründetem Beschluss vom 14. Juni 2016 (2 ARs 67/16) geantwortet, er stimme der Rechtsauffassung des 3. Strafsenats zu.
10
Der 4. und der 5. Strafsenat haben mitgeteilt, ihre Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats nicht entgegen.
11
II. Der Senat vermag sich der Ansicht des 1. Strafsenats, der ein Teil der Literatur gefolgt ist (SK-StGB/Wolters, 135. Lfg., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 55; S/S-Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 29; aA Fischer , StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61; § 176 Rn. 35; MüKoStGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 176 Rn. 66), auch unter Berücksichtigung der Erwägungen in dem Beschluss vom 10. Mai 2016 nicht anzuschließen; denn sie vermischt in sachlich nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er hält deshalb an seiner in dem Anfragebeschluss vom 29. Oktober 2015 dargelegten Auffassung fest; soweit er in seiner Entscheidung vom 10. November 1999 noch Anderes vertreten hatte, gibt er diese Rechtsprechung auf. Danach kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten; die gesetzliche Regelung des Ruhens der Verjährung in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Hierzu gilt im Einzelnen:
12
1. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung erfordert eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB; BGH, Urteil vom 4. August 1965 - 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266). Daneben ist dessen Resozialisierung der zentrale Gesichtspunkt der Strafzumessung, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Nach diesen Maßgaben kann ein langer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil eine Strafmilderung gebieten. Der Ablauf der Zeit mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre; dies gilt insbesondere, wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat (LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240). Ein langer Zeitablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs , weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.), sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35).
13
2. Demgegenüber regeln die Verjährungsvorschriften die Verfolgbarkeit der Tat (BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2000 - 2 BvR 104/00, NStZ 2000, 251); nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Verjährung betrifft nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das "Ob" der Verfolgung; ihr Eintritt führt deshalb nach ständiger und einhelliger Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs nicht zu einer Veränderung der materiellrechtlichen Lage, sondern zu einem Verfahrenshindernis (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138, 139); der Angeklagte ist nicht freizusprechen, vielmehr ist das Verfahren einzustellen. Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken (BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 - 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 - 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Zur Erreichung dieser Ziele hat der Gesetzgeber in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert, innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe bestimmt wird (vgl. § 78 Abs. 3 StGB).
14
3. Aus diesen unterschiedlichen Regelungsgehalten, Zwecken und Ausgestaltungen der Strafzumessung einerseits und der Verfolgungsverjährung andererseits folgt zum Einen, dass für die Frage der Verjährung nicht von Bedeutung ist, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig und gegebenenfalls welche angemessen erschiene. Zum Anderen spielt die Dauer der Verjährungsfrist für die Strafzumessung und die dort zu bewertenden Umstände keine Rolle. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt nicht von der Länge der zunächst nach §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird auch nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach § 78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen wird. Dies gilt etwa auch für die Ruhensregelung des § 78b Abs. 4 StGB, die an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände gesetzlich normiert sind.
15
Gründe dafür, hiervon für die Fälle des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei den dort aufgeführten Straftaten generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, sind nicht ersichtlich. In § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hat der Gesetzgeber - erstmals mit dem 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. Juni 1994 (BGBl. I S. 1310) - eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll. Der Gesetzgeber hat hierzu in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den Strafverfolgungsbehörden häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwiegend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den Tätern häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange Zeit nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstatten, sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung (Unterstreichung durch den Senat) der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich (vgl. BT-Drucks. 12/2975, S. 1; 12/3825, S. 1; 12/6980, S. 1). Deshalb solle die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner gesamten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und Wider einer Strafanzeige zu entscheiden (vgl. BTDrucks. 12/6980, S. 4). Diese Erwägungen belegen, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hatte, die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten auch über die bis dahin geltenden Verjährungsregelungen hinaus zu ermöglichen. Den Gesetzesmaterialien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam, über diesen Gesichtspunkt hinaus die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Strafzumessungskriterien sowie deren Gewichtung zu modifizieren. Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ruhen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist (vgl. etwa BT-Drucks. 15/350, S. 13; 16/13671, S. 23 f.; 18/2601, S. 14, 22 f.).
16
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die letzte Erhöhung der Altersgrenze bewirkt, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch Unterbrechungshandlungen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers verlängern kann (BT-Drucks. 18/2601, S. 23). Diese Wertung des Gesetzgebers ist zwar trotz der sich hieraus für die Rechtspraxis ergebenden Probleme hinzunehmen. Der Senat würde es jedoch - ungeachtet der bereits dargelegten Bedenken - in solchen Fällen für regelmäßig als in der Sache unangemessen erachten , den Abstand zwischen Tat und Urteil von gegebenenfalls mehreren Jahrzehnten bei der Strafzumessung nur eingeschränkt zu Gunsten eines möglicherweise in der Zwischenzeit straflosen Täters zu gewichten.
17
4. Im Übrigen bemerkt der Senat zu den Darlegungen des 1. Strafsenats in dessen Beschluss vom 10. Mai 2016 Folgendes:
18
Soweit der 1. Strafsenat zu Beginn der Begründung ausführt, er halte an seiner Auffassung "grundsätzlich" fest, erschließt sich die nähere Bedeutung dieser Aussage nicht ohne Weiteres; denn weder an dieser noch an anderer Stelle wird deutlich, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen er eine Ausnahme oder mehrere Ausnahmen von dem von ihm postulierten Grundsatz annehmen will.
19
Der Aussage, es könne nicht allgemein, sondern nur unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung bedeutsamen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf zwischen Tat und Urteil bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auswirke, stimmt der Senat ebenso zu wie den Darlegungen zur eingeschränkten Überprüfbarkeit der tatgerichtlichen Strafzumessung in der Revisionsinstanz. Jedenfalls Letzteres entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach es Aufgabe des Tatgerichts ist, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen be- und entlastenden Umstände festzustellen und gegeneinander abzuwägen; das Revisionsgericht darf diese Würdigung nicht selbst vornehmen, sondern nur nachprüfen, ob dem Tatgericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist (st. Rspr.; vgl. aus neuerer Zeit etwa BGH, Urteil vom 13. Oktober 2016 - 4 StR 239/16, juris Rn. 56 mwN). Diese Maßstäbe gelten für alle Delikte gleichermaßen, mithin auch für die hier in Rede stehenden von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten Sexualstraftaten. Mit diesen Vorgaben - der am Einzelfall orientierten tatgerichtlichen Betrachtungsweise sowie der eingeschränkten Überprüfung in der Revisionsinstanz - ist es indes nicht vereinbar , wenn die Revisionsgerichte den Tatgerichten für diese Deliktsgruppe eine Vorgabe machen, die dahin geht, einem von diesen im konkreten Fall als bestimmend angesehenen Strafzumessungsgesichtspunkt wegen der Art der Straftat generell - und somit gerade unabhängig von den näheren Einzelfallumständen - eine geringere Bedeutung als bei allen anderen Delikten beizumessen.
20
Die vom 1. Strafsenat ausführlich dargelegten unterschiedlichen Konzepte zur straftheoretischen Verankerung des Strafzumessungsaspekts Zeitablauf zwischen Tat und Urteil vermögen zur Lösung der hier aufgeworfenen Rechtsfrage nur wenig beizutragen. Dasselbe gilt für diejenigen Passagen in den - nicht die hiesige Fallgestaltung betreffenden - Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, denen der 1. Strafsenat einen Zusammenhang zwischen Strafzumessung und Verjährung entnimmt. Deren Gehalt erschöpft sich im Wesentlichen in der näheren Erläuterung der Bedeutung des Zeitablaufs für den dortigen konkreten Fall, ohne dass sie einen Konnex in dem vom 1. Strafsenat intendierten Sinne herstellen.
21
Schließlich würde die Auffassung des 1. Strafsenats zu Ende gedacht dazu führen, dass die Bedeutung des Strafzumessungsgesichtspunktes Zeitablauf allgemein auch über die Fallgestaltungen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hinaus mit der Länge der Verjährungsfrist verknüpft ist bzw. von den diesbezüglichen Ruhens- oder Unterbrechensbestimmungen abhängt. Ein derartiger systemwidriger Zusammenhang ist in dieser Form bisher allerdings weder in der Rechtsprechung noch - soweit ersichtlich - im Schrifttum angenommen worden.
22
III. Da der Senat somit in der Frage, ob der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in gleicher Weise Berücksichtigung finden kann wie bei anderen Straftaten, von der Auffassung des 1. Strafsenats abweichen will, legt er die streitige Rechtsfrage gemäß § 132 Abs. 2 GVG dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor.
Becker Schäfer Spaniol Berg Hoch

(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 400/07
vom
15. November 2007
in der Strafsache
gegen
Veröffentlichung: ja
BGHSt: ja
Nachschlagewerk: ja
StGB §§ 248 a, 265 a
Es entscheidet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls, ob bei Bagatelldelikten
bis zu einer bestimmten Schadensgrenze die gesetzliche Mindeststrafe
übersteigende Freiheitsstrafen nicht mehr schuldangemessen sind. Diese Frage
ist deshalb einer Vorlegung nach § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich.
4. Strafsenat, Beschluss vom 15. November 2007 – 4 StR 400/07
I. Amtsgericht Halle-Saalkreis
II. Landgericht Halle
III. Oberlandesgericht Naumburg
wegen Erschleichens von Leistungen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende Richterin
am Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien, die Richter am Bundesgerichtshof
Maatz und Athing sowie die Richterinnen am Bundesgerichtshof SolinStojanović
und Sost-Scheible am 15. November 2007 beschlossen:
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Naumburg zurückgegeben.

Gründe:


A.


1
I. Das Amtsgericht Halle-Saalkreis verurteilte den Angeklagten am 27. Juni 2006 wegen Hausfriedensbruchs, wegen Diebstahls geringwertiger Sachen sowie wegen Erschleichens geringwertiger Leistungen in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten. Nach den Feststellungen des Urteils hatte der Angeklagte in der Zeit vom 21. November 2005 bis zum 11. Februar 2006 in neun Fällen öffentliche Verkehrsmittel in Halle benutzt, ohne im Besitz eines gültigen Fahrscheins zu sein; am 26. Januar 2006 hatte er ferner in einem Supermarkt zwei Flaschen Bier im Gesamtwert von 0,62 Euro entwendet und trotz eines Hausverbots, das gegen ihn wegen des Diebstahls der Bierflaschen ausgesprochen worden war, den Supermarkt wenige Stunden später erneut betreten.
2
Das Amtsgericht hielt gemäß § 47 Abs. 1 StGB die Verhängung von Freiheitsstrafen gegen den Angeklagten für unerlässlich und setzte für jeden Fall der Leistungserschleichung und für den Hausfriedensbruch Einzelfreiheitsstrafen von zwei Monaten sowie für den Diebstahl eine Einsatzstrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe fest. Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht Halle durch Urteil vom 22. Januar 2007 als unbegründet. Ergänzend stellte die Strafkammer fest, dass in den Fällen der Leistungserschleichung jeweils nur ein Kurzstreckentarif in Höhe von 1,10 Euro vom Angeklagten zu entrichten gewesen war. Ebenso wie das Amtsgericht hielt die Berufungskammer des Landgerichts die Verhängung von Freiheitsstrafen gemäß § 47 Abs. 1 StGB für unerlässlich und bestätigte deshalb die erstinstanzlich festgesetzten Einzelfreiheitsstrafen sowie die Gesamtfreiheitsstrafe. Trotz des geringen Wertes der gestohlenen Bierflaschen und des jeweils zu entrichtenden Beförderungsentgeltes sah sich die Strafkammer hieran durch das Übermaßverbot nicht gehindert, weil der Angeklagte mehrfach, auch einschlägig, bestraft und Bewährungsversager sei. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen beanstandet.
3
II. Das zur Entscheidung über die Revision berufene Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigt, die Revision des Angeklagten entsprechend dem Antrag des Generalstaatsanwalts in Naumburg nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen. Es erachtet die vom Landgericht verhängten Freiheitsstrafen wegen besonderer Umstände, die in der Persönlichkeit des Angeklagten liegen, zur Einwirkung auf ihn als unerlässlich im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB. Die Einzelfreiheitsstrafen und die Gesamtfreiheitsstrafe seien in ihrer Höhe noch angemessen; das Übermaßverbot werde durch sie nicht verletzt.
4
Mit Ausnahme der wegen Hausfriedensbruchs verhängten Einzelstrafe sieht sich das Oberlandesgericht Naumburg an der beabsichtigten Entschei- dung durch die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 25. Oktober 2001 - 1 Ss 52/01 - (NStZ-RR 2002, 75) und des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. Februar 2006 - 1 Ss 575/05 - (NStZ 2007, 37) gehindert:
5
Das Oberlandesgericht Braunschweig habe es in der genannten Entscheidung als "schlechthin unangemessen" angesehen, den Diebstahl einer Kaufhausware im Wert von 5,00 DM mit einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten zu ahnden. Das Oberlandesgericht Stuttgart habe den seine Entscheidung tragenden Rechtssatz aufgestellt, die Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und Tatunrecht sei bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro - ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit eines Angeklagten - unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar , so dass wegen des zu beachtenden Übermaßverbotes eine tatrichterliche Ermessensausübung ausscheide. Beide Oberlandesgerichte hätten deshalb die vom Tatrichter verhängten Freiheitsstrafen von zwei Monaten auf die allein als angemessen angesehene gesetzliche Mindeststrafe von jeweils einem Monat zurückgeführt.
6
Das Oberlandesgericht Naumburg hat die Sache daher gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof über folgende Fragen vorgelegt: "Stehen das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters stets entgegen, wenn der Täter einer Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht entrichten wollte?" sowie "Stehen das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters stets entgegen, wenn der Täter eines durch die Wegnahme zweier Bierflaschen aus einem Supermarkt begangenen Diebstahls einen Schaden von nicht mehr als 0,62 Euro verursacht hat?"
7
III. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Sache an das Oberlandesgericht zurückzugeben; hilfsweise zu beschließen:
8
„1. Ob das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat entgegenstehen, wenn der Täter einer Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht entrichten wollte, kann nur nach Lage des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung erheblicher Faktoren beurteilt werden.
9
2. Ob das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat entgegenstehen, wenn der Täter eines durch die Wegnahme zweier Bierflaschen aus einem Supermarkt begangenen Diebstahls einen Schaden von nicht mehr als 0,62 Euro verursacht hat, kann nur nach Lage des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung erheblicher Faktoren beurteilt werden.“

B.


10
Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzugeben. Die Vorlegungsvoraussetzungen des § 121 Abs. 2 GVG sind nicht gegeben, weil sich die vom Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigte Abweichung auf die Bewertung von Tatsachen, nicht aber auf eine Rechtsfrage bezieht. Durch die Beschlüsse der Oberlandesgerichte Braunschweig und Stuttgart ist das vorlegende Oberlandesgericht daher nicht gehindert, in dem von ihm zu entscheidenden Fall ungeachtet einer Ähnlichkeit der zu beurteilenden Sachverhalte die Revision des Angeklagten zu verwerfen.
11
Der Generalbundesanwalt hat dazu u.a. ausgeführt: "Die Entscheidung, unter welchen Umständen die Grenzen schuldangemessenen Strafens überschritten sind und dadurch das Übermaßverbot verletzt ist, gehört zur Strafzumessung und ist als tatrichterliche Wertung tatsächlicher Umstände eine Frage des Einzelfalls, die der Klärung im Wege eines Vorlageverfahrens nicht zugänglich ist (vgl. BGHSt 27, 212, 214ff; NStZ 1983, 261, 262; 1988, 270f; Franke in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 59; KK-Hannich 5. Aufl. StPO § 121 GVG Rdnr. 36); darauf, dass das vorlegende Oberlandesgericht die Frage als Rechtsfrage behandelt hat, kommt es nicht an (vgl. BGHSt 31, 314, 316; NStZ 1995, 409, 410).
(…)
Im Hinblick auf das Wesen der Strafzumessung, die zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierte Strafzumessungskriterien und -leitlinien ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.06.2007 - 2 BvR 1447/05 und 2 BvR 12 BvR 136/05 Rdnr. 78 [= NStZ 2007, 598ff.]), muss daher in
der Regel davon ausgegangen werden, dass sich die Rechtsausführungen der Obergerichte zu den Grenzen schuldangemessenen Strafens nur auf den der Entscheidung zugrunde liegenden Einzelfall beziehen (vgl. BGHSt 27, 212, 215f; 28, 318, 324f; Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485), mögen sie auch so formuliert sein, dass sie als grundsätzliche Aussage aufgefasst werden könnten (vgl. BGHSt 18, 324, 325f; 28, 165, 166; NStZ 1988, 270f). Denn unterschiedliche Ergebnisse rechtsfehlerfrei angewendeten tatrichterlichen Ermessens bei der Strafzumessung haben mit abweichenden Entscheidungen in Rechtsfragen nichts gemein ; die denkbaren Umstände des Einzelfalles sind zu vielschichtig für generelle Aussagen (BGHSt 27, 212, 216; Franke in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 59; KKHannich 5. Aufl. StPO § 121 GVG Rdnr. 36; Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist nicht davon auszugehen, dass die Oberlandesgerichte Braunschweig und Stuttgart die Verhängung von die Mindeststrafe übersteigenden Freiheitsstrafen unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters in Fällen des Diebstahls sehr geringwertiger Sachen aus Kaufhäusern und des Erschleichens sehr geringwertiger Leistungen stets als Verstöße gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens und gegen das Übermaßverbot bewertet haben.
Das Oberlandesgericht Braunschweig hat in dem von ihm zu entscheidenden Fall die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von zwei Monaten beanstandet, weil es das Tatunrecht im doppelten Sinne als denkbar gering angesehen hat: Zum einen wegen der wertmäßigen Geringfügigkeit der entwendeten Schachtel Zigaretten, zum anderen im Hinblick auf die bloß "abstrakte Warenwert-Entziehung" im Kaufhaus, ohne dass dadurch eine "konkret-personale Sphäre" betroffen gewesen sei. Bereits der letztgenannte Gesichtspunkt macht deutlich, dass das Oberlandesgericht Braunschweig seine Entscheidung nicht auf alle Fälle des Diebstahls von Waren im Wert von 5,00 DM oder weniger aus Supermärkten ausdehnen wollte.
(…)
Schließlich ist in die Auslegung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Braunschweig einzubeziehen, dass er nach dem Verständnis des vorlegenden Oberlandesgerichts nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stünde. Dies kann im Hinblick auf die Bedeutung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die Vorlegungspflicht der Oberlandesgerichte (vgl. BGHSt 44, 171, 173) nicht unberücksichtigt bleiben. Bereits 1979 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die gesetzliche Regelung , die für den Diebstahl geringwertiger Sachen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe androht, mit dem Grundgesetz vereinbar ist (BVerfGE 50, 205, 214 ff).
Unter Berufung auf diese Senatsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 festgestellt, dass die Verhängung einer die Mindeststrafe übersteigenden kurzen Freiheitsstrafe auch in Fällen des Diebstahls geringwertiger Sachen verfassungsgemäß sein kann, wenn der Täter mehrfach und überwiegend einschlägig vorbestraft ist (BVerfG, Beschluss vom 09.06.1994 - 2 BvR 710/94). (…) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 09.06.1994 klargestellt, dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 StGB nicht erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht kommt. Zugleich hat es die gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafen, also auch die Einzelfreiheitsstrafe von zwei Monaten wegen des Diebstahls von zwei Flaschen Bier im Wert von 1,40 DM aus einem Supermarkt angesichts seiner vielfachen, überwiegend einschlägigen Vorstrafen als mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens vereinbar angesehen.
Auch das Oberlandesgericht Stuttgart hat lediglich in einer Einzelfallentscheidung die Verhängung von zweimonatigen Freiheitsstrafen für Leistungserschleichungen mit einem Schaden von 1,65 Euro als nicht mehr schuldangemessen bewertet. Maßgeblich hierfür war ersichtlich eine einzelfallbezogene Abwägung der wesentlichen Strafzumessungsgesichtspunkte.
(…)
Der vom Oberlandesgericht Naumburg aus den Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichtes Stuttgart hervorgehobene Satz ("Die Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und Tatunrecht ist bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro - ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit des Angeklagten - unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar.") ist bei verständiger Würdigung nur Ergebnis dieser Einzelfallabwägung. Er ist zwar allgemein formuliert, wird in dem ihm vom Oberlandesgericht Naumburg zugemessenen Bedeutungsgehalt vom Oberlandesgericht Stuttgart jedoch nicht begründet. Da er zudem in auf den Einzelfall bezogene Erwägungen eingebettet ist, ist davon auszugehen, dass das Oberlandesgericht Stuttgart die Verhängung von zweimonatiger Freiheitsstrafe für Leistungserschleichungen mit einem Schaden von 1,65 Euro nicht allgemein, sondern nur in dem ihm vorliegenden Verfahren als nicht mehr schuldangemessen erachtete.“
12
Dem stimmt der Senat zu. Es entscheidet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls, ob bei Bagatelldelikten bis zu einer bestimmten Schadensgrenze die gesetzliche Mindeststrafe übersteigende Freiheitsstrafen nicht mehr schuldangemessen sind. Diese Frage ist deshalb einer Vorlegung nach § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich.
Tepperwien Maatz Athing
Solin-Stojanović Sost-Scheible

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/06
vom
23. April 2007
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil
des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge
die Tatsachengrundlage entzogen werden.
2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten
Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht
er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls
weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen
trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung
hierüber mit Gründen zu versehen.
3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen
Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im
Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.
BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06 - Landgericht München I
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, die Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Nack und Basdorf sowie die Richter am Bundesgerichtshof Häger,
Maatz, Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, Pfister und Becker am 23. April
2007 beschlossen:
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden. 2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. 3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.

Gründe:

I.

1
Die Vorlage des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs an den Großen Senat für Strafsachen betrifft die Frage, ob die Beweiskraft eines berichtigten Hauptverhandlungsprotokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich ist, wenn aufgrund der Protokollberichtigung einer bereits zulässig erhobenen Verfahrensrüge zum Nachteil des Beschwerdeführers die Tatsachengrundlage entzogen wird.
2
1. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (1 StR 466/05) über eine Revision des Angeklagten zu entscheiden, die sich zum Beweis eines formal ordnungsgemäß gerügten Verfahrensfehlers auf eine Sitzungsniederschrift beruft, die nach Erhebung der Verfahrensrüge in dem Sinne berichtigt wurde, dass der behauptete Verfahrensfehler in Wirklichkeit nicht geschehen sei.
3
a) Das Landgericht München I hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nrn. 2 und 5 StGB) zu Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte dem Geschädigten in einem Oktoberfestzelt mit einem 1,3 kg schweren gläsernen Krug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich geschlagen. Der Geschädigte wurde erheblich verletzt.
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b) Der Beschwerdeführer erhebt - neben der Sachbeschwerde - eine Verfahrensrüge. Er beanstandet mit der am 7. Juli 2005 beim Landgericht eingegangenen Revisionsbegründung, der Anklagesatz sei in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden (Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO). Er beruft sich insoweit auf die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift, in der die Verlesung des Anklagesatzes - zunächst - nicht beurkundet war. Hier hatte es lediglich geheißen: "Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft München I gegen den Angeklagten am 20.01.05 Anklage zum Schwurgericht des Landgericht München I erhoben hat, die mit Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 18.02.05 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde."
5
Am 18. August 2005 ergänzten der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle das Protokoll hinsichtlich des ersten Hauptverhandlungstages dahingehend, dass an der genannten Stelle des Protokolls der Satz angefügt wird: "Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz".
6
Auch in der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft (§ 347 Abs. 1 Satz 2 StPO) wird unter Vorlage entsprechender dienstlicher Äußerungen von Verfahrensbeteiligten vorgetragen, dass der Anklagesatz in Wirklichkeit verlesen wurde. Zum Beleg erklärte etwa der Berichterstatter der Strafkammer, die Verlesung der rechtlichen Bewertung des Tatgeschehens als versuchter Totschlag habe Unmutsäußerungen im Publikum ausgelöst. Die Urkundsbeamtin verwies auf einen ihr bei der Fertigung der Protokollreinschrift unterlaufenen Übertragungsfehler aus den teilweise stenographischen Aufzeichnungen während der Hauptverhandlung, in denen der Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes noch enthalten war. Das entsprechende Blatt der vorläufigen Aufzeichnungen ist ihrer dienstlichen Erklärung beigefügt.
7
Die Verteidiger des Angeklagten wurden vor der Protokollberichtigung angehört. Der Verteidiger in der tatrichterlichen Hauptverhandlung, der die Revision nicht selbst begründet hat, äußerte sich dabei wie folgt: "An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses Rückschlusses erscheint es mir aber durchaus möglich, dass die Erinnerung der Urkundspersonen zutreffend ist."
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2. Der 1. Strafsenat möchte die Revision des Angeklagten verwerfen. Die Verfahrensrüge hält er für unbegründet, da er unter Aufgabe seiner Rechtsprechung zum Verbot der "Rügeverkümmerung" (vgl. BGHSt 34, 11, 12; NStZ 1984, 521; 1986, 374; 1995, 200, 201) die berichtigte Sitzungsniederschrift als im Sinne von § 274 StPO beachtlich erachtet, auch wenn durch die Berichtigung der Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird. Da sich der 1. Strafsenat an der beabsichtigten Entscheidung durch entgegenstehende Rechtsprechung der anderen Strafsenate gehindert sieht, hat er mit Beschluss vom 12. Januar 2006 (NStZ-RR 2006, 112, m. Anm. Fezer StV 2006, 290, Jahn/Widmaier JR 2006, 166 und Lampe NStZ 2006, 366) bei den anderen Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 GVG angefragt, ob an dieser Rechtsprechung festgehalten wird.
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Der 2. Strafsenat (Beschl. vom 31. Mai 2006 i.V.m. Beschl. vom 3. Juli 2006 - 2 ARs 53/06 = NStZ-RR 2006, 275) und der 3. Strafsenat (Beschl. vom 22. Februar 2006 - 3 ARs 1/06) haben der vom 1. Strafsenat vertretenen Rechtsansicht zugestimmt und entgegenstehende eigene Rechtsprechung aufgegeben. Der 4. Strafsenat (Beschl. vom 3. Mai 2006 - 4 ARs 3/06 = NStZ-RR 2006, 273) und der 5. Strafsenat (Beschl. vom 9. Mai 2006 - 5 ARs 13/06) haben an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten.
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3. Daraufhin hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 23. August 2006 (NJW 2006, 3582 m. Anm. Widmaier) dem Großen Senat gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Ist die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt?
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4. Der Generalbundesanwalt hält die Vorlegungsfrage für zu eng gefasst; sie sei auf alle Revisionen, insbesondere auch auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers, zu erstrecken.
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In der Sache selbst tritt der Generalbundesanwalt im Grundsatz der Rechtsansicht des 1. Strafsenats bei, dass die Beweisregel des § 274 StPO auch hinsichtlich eines nachträglich berichtigten Protokolls gelte. Die Vorschrift schaffe keine vom wirklichen Verfahrensgeschehen abweichende formelle bzw. prozessuale Wahrheit; § 274 StPO bezwecke vielmehr nur eine klare Kompetenzverteilung zwischen der Tatsachen- und der Revisionsinstanz in Form des grundsätzlichen Verbots, im Revisionsverfahren die tatrichterliche Hauptverhandlung zu rekonstruieren. Im Interesse einer fairen Verfahrensgestaltung und der Effektivität des Rechtsmittels müsse der Beschwerdeführer jedoch vor der Gefahr fehlerhafter Protokollberichtigungen geschützt werden. Vor der Berichtigung seien daher dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten einzuholen und dem Beschwerdeführer rechtliches Gehör zu gewähren. Verblieben bei der freibeweislichen Überprüfung aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete Zweifel an der Korrektheit der Berichtigung, könne es ihr die Beachtung im Sinne von § 274 StPO verwehren.
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Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:
a) Die nach Erhebung einer Verfahrensrüge erfolgte Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls ist für das Revisionsgericht grundsätzlich auch dann im Sinne von § 274 StPO beachtlich, wenn dadurch der Verfahrensrüge zu Ungunsten des Revidenten die Tatsachengrundlage entzogen wird.
b) Bestehen aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete Anhaltspunkte für eine inhaltliche Unrichtigkeit der Protokollberichtigung , so kann das Revisionsgericht die entscheidungserheblichen Verfahrenstatsachen freibeweislich aufklären.

II.

14
1. Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG sind gegeben. Den Bedenken, die der 4. Strafsenat im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage im konkreten Fall geäußert hatte (vgl. NStZ-RR 2006, 273), ist der 1. Strafsenat mit ausführlicher Begründung entgegengetreten (vgl. NJW 2006, 3582, 3583, 3586 f.). Dessen Beurteilung ist jedenfalls vertretbar und folglich für den Großen Senat bindend (vgl. BGHSt 41, 187, 194; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 132 GVG Rdn. 42).
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2. Die vorgelegte Rechtsfrage ist allerdings auf alle Revisionen - namentlich auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers - zu erweitern. Wenngleich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Entscheidungen über eine Revision anderer Beschwerdeführer als des Angeklagten ersichtlich sind, in denen es auf die relative Unbeachtlichkeit einer Protokollberichtigung angekommen wäre, so sind doch die tragenden Erwägungen in den Entscheidungsgründen davon unabhängig, wer Beschwerdeführer ist (vgl. nur grundlegend BGHSt 2, 125; ebenso schon RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277).

III.

16
Im Strafprozessrecht sind Zulässigkeit und Beachtlichkeit einer Protokollberichtigung nicht ausdrücklich geregelt. Auch die Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung enthalten insoweit keine eindeutigen Hinweise.
17
1. Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten (§ 273 Abs. 1 StPO) nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese wesentlichen Förmlichkeiten betreffenden Inhalt lässt das Gesetz nur den Nachweis der Fälschung zu (§ 274 Satz 2 StPO). Bei § 274 StPO handelt es sich um eine Beweisregel (BGH NJW 2006, 3579, 3581, zur Veröffentlichung in BGHSt 51, 88 bestimmt; Dahs AnwBl. 1950/51, 90 f.; Dallinger NJW 1951, 256, 257; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S. 687 f.), die nach der Fertigstellung des ordnungsgemäß errichteten und von beiden Urkundspersonen unterzeichneten Protokolls (§§ 271, 273 Abs. 4 StPO) gilt. Dies wurde zunächst dahin verstanden, dass den Urkundspersonen - außerhalb des Nachweises der Fälschung - Protokollberichtigungen , soweit es um die wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens geht, von vorneherein versagt sind, und zwar solche zugunsten wie zu Lasten des Beschwerdeführers (in diesem Sinne noch RGSt 8, 141, 143 f.; 17, 346, 348). Die Frage nach der Beachtlichkeit von Protokollberichtigungen würde sich danach nicht stellen.
18
Den Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung im Zusammenhang mit einer Protokollberichtigung (vgl. Hahn, Materialien zur StPO 2. Aufl. S. 40, 256 ff., 1039, 1394) entnimmt der Große Senat nicht, dass der Gesetzgeber selbst dann jeden Zweifel an der Richtigkeit des - ursprünglichen - Protokollinhalts für unberechtigt hielt, sollte eine Protokollberichtigung aufgrund sicherer Erinnerung der Urkundspersonen erfolgen.
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2. In die Zivilprozessordnung, die eine der Vorschrift des § 274 StPO vergleichbare Bestimmung (§ 165 ZPO) enthält, ist durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974 (ProtVereinfG, BGBl I 3651) mit § 164 ZPO eine Vorschrift eingefügt worden, nach der - unter Anhörung der Beteiligten - Protokollberichtigungen vorgenommen werden dürfen. Anders als für das Verwaltungs -, Finanz- und Sozialgerichtsverfahren (Art. 3 Nr. 1, Art. 4 Nr. 1, Art. 5 Nr. 2 des ProtVereinfG: jeweils Verweisung auf die §§ 159 bis 165 ZPO) hat der Gesetzgeber, der mit dem Protokollvereinfachungsgesetz von 1974 die Praxis der Zivilgerichte zur Protokollberichtigung (vgl. Zöller, ZPO 10. Aufl. S. 263) auf eine gesetzliche Grundlage gestellt hat (BRDrucks. 551/74 S. 63; BTDrucks. 7/2769 S. 10), diese Vorschrift nicht für den Strafprozess für anwendbar erklärt.

IV.

20
Die Rechtsprechung hat nach anfänglichem Schwanken Protokollberichtigungen im Strafverfahren zugelassen und dies im Wesentlichen damit begründet , dass insoweit eine auslegungsbedürftige Gesetzeslücke bestehe. Umfang und Folgen zulässiger Berichtigungen wurden allerdings nicht einheitlich bestimmt:
21
1. Eine Protokollberichtigung ist jederzeit zulässig und geboten, falls die Urkundspersonen Mängel erkennen (vgl. BGHSt 1, 259, 261; BGH JZ 1952, 281; NStZ 2005, 281, 282; RGSt 19, 367, 370; OGHSt 1, 277, 278; anders noch RGSt 8, 141, 143 f.; 17, 346, 348). Sie ist auch stets beachtlich, wenn sie zugunsten des Beschwerdeführers wirkt (BGHSt 1, 259, 261 f.; RGSt 19, 367, 369 f.; 21, 200, 201; OLG Köln NJW 1952, 758) oder wenn sie - bei einem einheitlichen Vorgang - teilweise zu seinen Gunsten, teilweise zu seinen Ungunsten vorgenommen worden ist (BGHSt aaO; RGSt 56, 29; RG GA 57 [1910], 396; JW 1932, 3109).
22
Nach bisheriger Rechtsprechung ist eine Protokollberichtigung - ebenso wie eine Distanzierung der Urkundspersonen vom Protokollinhalt (vgl. hierzu BGHSt 4, 364; BGH NStZ 1988, 85) - jedoch unbeachtlich, wenn sie einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzieht (Verbot der Rügeverkümmerung). Dieser Rechtssatz hat eine lange Tradition: Er findet sich - aufbauend auf der Rechtsprechung der preußischen Obergerichte (vgl. RGSt 43, 1, 10) - schon zu Beginn der Reichsgerichtsrechtsprechung (RGSt 2, 76, 77 f.). Er blieb ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts (grundlegend RGSt 43, 1 m.w.N.; ferner RGSt 56, 29; 59, 429, 431; 63, 408, 409 f.) bis zu dem - die umfassende Beachtlichkeit einer Berichtigung bejahenden - Beschluss des Großen Strafsenats für Strafsachen vom 11. Juli 1936 (RGSt 70, 241). Diese Entscheidung darf indessen im Hinblick auf im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut stehende Formulierungen keine Beachtung finden.
23
Der ursprünglichen Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung folgten nach 1945 verschiedene Obergerichte, unter anderem der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone (OGHSt 1, 277 [m.w.N. 279]; 3, 83, 84), und schließlich der Bundesgerichtshof. Grundlegend war das Urteil des 3. Strafsenats vom 19. Dezember 1951 (BGHSt 2, 125), das sich im Wesentlichen den in RGSt 43, 1 und OGHSt 1, 277 dargelegten Argumenten anschloss (nachfolgend BGHSt 7, 218, 219; 10, 145, 147; 10, 342, 343; 12, 270, 271; 22, 278, 280; 34, 11, 12; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 11; 13; 27; 28; BGH NStE StPO § 344 Nr. 7; NStZ 1984, 521; 1995, 200, 201; 2002, 219; StV 2002, 183; JZ 1952, 281; wistra 1985, 154; Urt. vom 21. Dezember 1966 - 4 StR 404/66). Diese Rechtsprechung steht in Übereinstimmung mit der heute herrschenden Meinung in der strafprozessualen Literatur (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 55 ff. m. zahlr. w. N.).
24
Soweit danach eine Protokollberichtigung für das Revisionsgericht nicht beachtlich ist, führt dies dazu, dass Sachverhalte, die aufgrund der formellen Beweiskraft des - unberichtigten - Protokolls als unwiderlegbar vermutet werden , der Verfahrenswirklichkeit nicht zu entsprechen brauchen (BGHSt 26, 281, 283; 36, 354, 358; RGSt 43, 1, 6).
25
2. Folgende Argumente werden für den Rechtssatz, wonach eine Protokollberichtigung einer Rüge nicht die Tatsachengrundlage entziehen darf, vorgebracht :
26
Mit dem Eingang der Revisionsbegründungsschrift erwerbe der Beschwerdeführer eine prozessuale Befugnis bzw. ein prozessuales Recht auf Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für die Revisionsinstanz, zumal er selbst praktisch keine Möglichkeit habe, die Berichtigung des Protokolls zu erzwingen (BGHSt 2, 125, 126; RGSt 43, 1, 9; 59, 429, 431). Da er zur Begründung seiner Verfahrensrüge nur das Protokoll in der ihm vorliegenden Form verwerten dürfe, müsse ihm das Recht zustehen, sich nachträglichen Änderungen zu seinen Lasten zu widersetzen (OGHSt 1, 277, 280); er müsse auch gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Protokollberichtigung gesichert sein (BGHSt 2, 125, 127).
27
Der Gesetzgeber habe mit § 274 StPO eine Norm geschaffen, die der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräume (BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283); das Hauptverhandlungsprotokoll erzeuge gewissermaßen einen Sachverhalt, der kraft gesetzlicher Vorschrift als Tatsache zu behandeln sei ohne Rücksicht darauf, wie der wirkliche Sachverhalt liegen möge (RGSt 43, 1, 6). Der Gesetzgeber habe die mögliche Ausnutzung einer prozessrechtlich zulässigen Befugnis zu wahrheitswidrigen Zwecken gesehen und in Kauf genommen (RG aaO; OGHSt 1, 277, 282). Die Neugestaltung des § 274 StPO sei Sache des Gesetzgebers (BGH, Beschl. vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01; OGHSt 1, 277, 280).
28
Mit zunehmender Zeit lasse das Erinnerungsvermögen der Urkundspersonen nach. Die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen sei nicht auszuschließen (BGHSt 2, 125, 128; RGSt 43, 1, 5; OGHSt 1, 277, 281).
29
Die zeitlich unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Berichtigungen wäre mit der nach Sinn und Zweck des § 274 StPO zu erhebenden Forderung nach genauester Abfassung der Sitzungsniederschrift nicht vereinbar. Denn die Möglichkeit ihrer jederzeitigen Änderung könne dazu führen, dass ihrer Herstellung weniger Sorgfalt zugewendet werde (BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277, 281).
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Auch wenn eine Revision nur deshalb erfolgreich sei, weil sie einen Sachverhalt vortrage, der der Verfahrenswirklichkeit nicht entspreche, sei nicht zu besorgen, dass die Gerechtigkeit letztlich Schaden nehme. Denn selbst bei missbräuchlicher Ausübung der durch § 274 StPO gewährten prozessualen Befugnis erreiche der Beschwerdeführer nur, dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1, 277, 282).
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3. Das Verbot der Rügeverkümmerung war jedoch in der Rechtsprechung nie unbestritten:
32
Anders als zunächst das Reichsgericht judizierte das Reichsmilitärgericht (RMG 9, 35; 15, 281, 282). Wenngleich es auf der Grundlage einer anderen Prozessordnung - diese ließ gegen das Protokoll auch den Nachweis der Unrichtigkeit zu (§ 335 Satz 2 MStGO) - zu entscheiden hatte, trat es auch auf der Grundlage der Strafprozessordnung den Argumenten des Reichsgerichts entgegen (vgl. RMG 9, 35, 41 ff.). Dessen II. Strafsenat wollte sich der Auffassung des Reichsmilitärgerichts anschließen. In dem von ihm herbeigeführten Beschluss der Vereinigten Strafsenate wurde die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts jedoch bestätigt (RGSt 43, 1). Nach 1945 hielt zunächst das OLG Braunschweig (HESt 1, 192) eine nachträgliche Protokollberichtigung zum Nachteil des Beschwerdeführers für beachtlich.
33
Auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs finden sich gegen das Verbot der Rügeverkümmerung Vorbehalte: Ob eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge die Grundlage entziehen darf, wurde vom 1. Strafsenat offen gelassen in NJW 1982, 1057 sowie vom 5. Strafsenat in BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 (vgl. auch BGH [3. Strafsenat] NStZ-RR 1997, 73). Zweifel äußerte der 2. Strafsenat in NJW 2001, 3794, 3796 (kritisch derselbe Senat in diesem Zusammenhang auch in BGHSt 36, 354, 358 f.). Zuletzt sprachen sich definitiv - in obiter dicta - der 2. Strafsenat (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 m. Anm. Mosbacher JuS 2006, 39, 42 und Park StV 2005, 257) und der 1. Strafsenat (NStZ 2006, 181) für eine Änderung der Rechtsprechung zur Berücksichtigung einer Protokollberichtigung trotz Rügeverlust aus.
34
4. Dieser Kritik am Verbot der Rügeverkümmerung liegen folgende Erwägungen zugrunde:
35
Das Strafverfahrensrecht kenne keine Rechtsnorm, wonach für das Revisionsgericht die Sitzungsniederschrift in ihrer ursprünglichen Fassung, nicht nach ihrer Berichtigung im Sinne von § 274 StPO beachtlich sei. "Ein prozessuales Recht der Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes beurkundet oder etwas Geschehenes nicht beurkundet wird, gibt es nicht" (RMG 9, 35, 41 f.).
36
Grundsätzlich sei auch für die Revisionsgerichte die wahre Sachlage maßgeblich, wenn prozessual erhebliche Tatsachen der Klärung bedürften (BGHSt 36, 354, 358 f.). Wenn tatsächlich kein Verfahrensfehler gegeben sei, dürften bloße Mängel des Protokolls, welche die Urkundspersonen erkannt und beseitigt hätten, kein Revisionsgrund sein (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29; BGH NJW 2001, 3794, 3796; RMG 9, 35, 43; OLG Braunschweig HESt 1, 192, 193). Ein Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen sei hingegen nicht gerechtfertigt (BGH NStZ 2006, 181). Eine von der Verfahrenswirklichkeit abweichende prozessuale Wahrheit sei nicht anzuerkennen, da § 274 StPO nicht die Tatsachen verändere, es sich bei der Vorschrift vielmehr nur um eine Beweisregel handele (BGH NJW 2006, 3579, 3581).
37
Bei Berücksichtigung der Protokollberichtigung könnten durch Protokollmängel veranlasste Verfahrensverzögerungen vermieden werden (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29; BGH NStZ 2006, 181). Die Ausweitung der Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls könnte begrenzt werden; die Problematik rechtsmissbräuchlicher Verfahrensrügen würde sich erübrigen (BGHR aaO).

V.

38
Der Große Senat beantwortet die vorgelegte Rechtsfrage wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich und gibt dabei den für eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung sprechenden Argumenten den Vorzug:
39
1. Der Grundsatz, wonach einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Tatsachengrundlage zum Nachteil des Beschwerdeführers entzogen werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung geändert werden; eines Gesetzes bedarf es nicht:
40
a) Die grundsätzlich umfassende Berücksichtigung der nachträglichen Protokollberichtigung widerspricht dem Gesetz nämlich nicht. Zwar lässt § 274 Satz 2 StPO als Gegenbeweis gegen die Beurkundungen des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zu. Eine Berichtigung durch Erklärungen der Urkundspersonen enthält jedoch einen Widerruf der früheren Beurkundung und entzieht ihr, soweit die Berichtigung reicht, die absolute Beweiskraft, so dass es eines Gegenbeweises nicht mehr bedarf (ebenso bereits RGSt 19, 367, 370). Insbesondere auch deswegen hat die Rechtsprechung schon bisher nachträgliche Protokollberichtigungen, die einer Verfahrensrüge erst zum Erfolg verhelfen , für beachtlich gehalten (RG aaO; ähnlich für sich zugunsten des Beschwerdeführers vom Protokollinhalt distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen BGHSt 4, 364, 365; BGH NJW 2001, 3794, 3796; NStZ 1988, 85; RGSt 57, 394, 396 f.; OLG Köln NJW 1952, 758).
41
b) Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Beibehaltung der Tatsachengrundlage für eine Rüge begründet, findet im Gesetz keine Stütze. Der Revisionsführer hat keinen Anspruch darauf, aus tatsächlich nicht gegebenen Umständen Verfahrensvorteile abzuleiten (vgl. BGH NJW 2006, 3579, 3580; Gollwitzer in FS für Gössel S. 543, 558; Lampe NStZ 2006, 366, 367; Lohse in Anwaltskommentar, StPO § 344 Rdn. 18). Ein etwaiges Vertrauen des Beschwerdeführers dahingehend , dass ein - inhaltlich unrichtiges - Protokoll für die Revisionsinstanz allein beachtlich bleibe, ist nicht schützenswert und kann auch nicht auf das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gestützt werden (a.A. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169; Krawczyk HRRS 2006, 344, 353). Verfahrensrechte können nur durch den tatsächlichen Verfahrensverlauf verletzt worden sein. Dementsprechend ist nur ein auf dessen Überprüfung bezogener effektiver Rechtsschutz erforderlich. Einen weitergehenden , aus rechtsstaatlichen Prinzipien abzuleitenden Anspruch des Beschwerdeführers , dass zu seinen Gunsten Unwahres unter allen Umständen als wahr fingiert bleiben muss, gibt es nicht. Da ein Recht auf Beibehaltung der Grundlage für eine Rüge weder einfachgesetzlich geregelt noch gar verfas- http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=NJW&B=1950&S=930 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=NJW&B=1951&S=259 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=MDR&B=1951&S=193 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=100&G=StPO&P=274 - 17 - sungsrechtlich verankert ist, gilt für die Zulässigkeit und Beachtlichkeit von Protokollberichtigungen auch kein Gesetzesvorbehalt.
42
2. Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet; wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein (vgl. BGHSt 36, 354, 358 f.). Dies spricht entscheidend dafür, die Regelung des § 274 StPO in einer Weise auszulegen, welche die inhaltliche Richtigkeit der Sitzungsniederschrift gewährleistet.
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a) Allerdings wird dem entgegengehalten, dass § 274 StPO nach dem Willen des Gesetzgebers der Zweckmäßigkeit Vorrang vor der Wahrheit einräume (so BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283). Dieser Vorrang gilt aber schon jetzt nicht uneingeschränkt. Denn damit wäre der unstreitige Grundsatz nicht vereinbar, dass - wie bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt (IV 1 und V 1a) - Protokollberichtigungen und distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen beachtlich sind, wenn sie das Revisionsvorbringen bestätigen (vgl. BGHSt 4, 364; BGH NStZ 1988, 85; RGSt 19, 367, 369 f.; 21, 323, 324 f.; 57, 394, 396 f.; OLG Köln NJW 1952, 758).
44
b) Der Wahrheitspflicht würde nicht dadurch Genüge getan, dass die Wahrheit in eine "materielle" und eine "formelle" bzw. "prozessuale Wahrheit" aufzuspalten wäre. Die Beweisregel des § 274 StPO schafft keinen von der (objektiven ) Wahrheit abweichenden Wahrheitsbegriff (so aber Cüppers NJW 1950, 930, 931 ff.; 1951, 259; Dahs, StraFo 2000, 181, 185; Jahn JuS 2007, 91 Fn. 3; Park StraFo 2004, 335, 337; Schneidewin MDR 1951, 193; vgl. auch RGSt 43, 1, 6). Die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO verändert nicht die Tatsachen, macht nicht aus Unwahrheit Wahrheit (vgl. Detter StraFo 2004, 329, 334; ebenso Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren 1980 S. 157, der aber "in diesem Ausnahmefall eine Lüge (für) prozessual zulässig" hält).
45
3. Die Verpflichtung zur Entscheidung auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts erhält inzwischen durch das Beschleunigungsgebot und den Gesichtspunkt des Opferschutzes zusätzliches Gewicht.
46
a) Das Bundesverfassungsgericht hat in jüngerer Zeit - unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. vom 31. Mai 2001 - Nr. 37591/97 - Metzger gegen Deutschland - Rdn. 41 = NJW 2002, 2856, 2857) - mehrfach betont, die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer sei bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat (BVerfG NJW 2003, 2897, 2898; 2006, 672, 673; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 251 [jeweils 3. Kammer des Zweiten Senats ]). Bei erfolgreichen Verfahrensrügen wäre nach dieser Auffassung wohl regelmäßig eine kompensationspflichtige rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben; denn Verfahrensfehler kann nur das Gericht begehen (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1533). Gerade auch die nach bisheriger Rechtsprechung zur Urteilsaufhebung führende Fiktion eines Verfahrensfehlers, die allein darauf beruht, dass die Urkundspersonen durch eine unrichtige Sitzungsniederschrift den Anschein eines in Wahrheit nicht vorgefallenen Verfahrensfehlers erweckt haben, fällt in den Verantwortungsbereich der Justiz. Vor diesem Hintergrund ist das Gewicht des für das Verbot der Rügeverkümmerung früher vorgebrachten Arguments, der Beschwerdeführer könne nicht mehr erreichen, als dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1, 277, 282), stark relativiert.
47
b) Neben der Wahrheitspflicht und dem Beschleunigungsgebot kann auch der Opferschutz gebieten, ein Urteil nicht allein wegen eines fiktiven - unwahren - Sachverhalts aufzuheben. Liegt tatsächlich kein Verfahrensfehler vor und ist das Urteil auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden, so ist es nicht gerechtfertigt, Opferzeugen nach der "Feuerprobe" (Sowada NStZ 2005, 1, 7) in der ersten Hauptverhandlung nochmals einer konfrontativen Vernehmung zu unterziehen. In diesem Sinne verpflichtet auch der Rahmenbeschluss der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. März 2001 (ABlEG Nr. L 82 vom 22. März 2001) in Art. 3 Abs. 2 die Mitgliedstaaten, "die gebotenen Maßnahmen (zu ergreifen), damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen" (hierzu BGH NJW 2005, 1519, 1520 f.; vgl. auch BTDrucks. 15/1976 S. 8, 19 zu § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG n.F.).
48
4. Ebenso sind mit der Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung der Erfolgsaussicht bewusst unwahrer Verfahrensrügen Grenzen gesetzt.
49
a) Eine veränderte Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu stützen, spricht dafür, die Zurückhaltung bei der Berücksichtigung der Protokollberichtigung aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung einer zulässig erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird.
50
aa) Die grundlegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Verbot der Rügeverkümmerung (BGHSt 2, 125) erging in einer Zeit, in der die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig erhobene Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht als standeswidrige Verfehlung galt (vgl. Dahs AnwBl. 1950/51, 90: "Die wahrheitswidrige Verfahrensrüge ist eine standesrechtliche Verfehlung" [S. 90]; "… der Anwalt, der die hier wiedergegebenen Grundsätze nicht anerkennt, [muß] mit der Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens seitens des Generalstaatsanwalts rechnen" [S. 92]; ferner d. Nachw. b. Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 598 f.).
51
Heute wird es hingegen schon als "anwaltlicher Kunstfehler" bezeichnet, sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu bedienen, dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet (vgl. hierzu G. Schäfer in FS 50 Jahre BGH S. 707, 726 f. m.w.N.; ders., Die Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rdn. 1814; ferner - gestützt auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - Dahs, Handbuch des Strafverteidigers von der 1. Auflage 1969, Rdn. 754, bis zur neuesten 7. Aufl. [ab 4. Auflage Dahs jun.] 2005, Rdn. 918: "… braucht der Verteidiger sich nicht zu scheuen, von dem durch das Protokoll 'geschaffenen' unverrückbaren Tatbestand als 'Wahrheit' auszugehen"). In der Literatur wird sogar postuliert, dass das "Recht der Verteidigung zur 'unwahren Verfahrensrüge' … sakrosankt" sei (Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583, 585), sogar die "Pflicht zur Lüge" bestehe (vgl. Dahs StraFo 2000, 181, 185; Leipold NJW-Spezial 2006, 521, 522; in vergleichbarem Sinne auch Sarstedt /Hamm, Die Revision in Strafsachen 6. Aufl. Rdn. 292 ff.).
52
bb) All dies widerstreitet diametral den Vorstellungen, von denen der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge (BGHSt 7, 162) ausgegangen ist. Hier ist ausgeführt, das Erfordernis der bestimmten Behauptung eines Verfahrensfehlers führe dazu, dass der Verteidiger - unbeschadet der Frage der Standeswidrigkeit seines Verhaltens - jedenfalls "vor seinem Gewissen und nach außen hin die Verantwortung für die Geltendmachung eines jeden Verfahrensmangels übernehmen" muss, "indem er ihn ernstlich behauptet und nicht etwa nur darauf hinweist, daß er sich aus der Niederschrift ergebe"; dieses Erfordernis solle "einem Mißbrauch rein formaler Möglichkeiten entgegenwirken" (BGH aaO 164; hierzu Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S. 665 f.; Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 599).
53
Die veränderte Einstellung auf Seiten der Strafverteidiger hat verdeutlicht , dass sich die mit der Rechtsprechung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge verknüpfte Hoffnung nicht erfüllt hat, auf diese Weise - insbesondere durch den Appell an das Gewissen des die Revision begründenden Verteidigers - bewusst unwahre Verfahrensrügen zu verhindern. Vielmehr hat diese Rechtsprechung den Rat nach sich gezogen, Unwahres ohne weiteres als tatsächlich geschehen zu behaupten; denn die Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO schließe "jeden Formulierungs- oder Formelkompromiß in der Revisionsbegründung aus, zu dem zart besaitete Strafverteidiger - falls es solche gibt - sich durch ihr Gewissen gedrängt sehen könnten. Die Revisionsgerichte ahnden derartige Relikte von Wahrheitsliebe (gemeint: angedeutete Distanzierung vom Protokollinhalt) mit unnachsichtiger Strenge" (Dahs StraFo 2000, 181, 185).
54
Die Änderung des anwaltlichen Ethos ist ein weiteres Argument für die Änderung der Rechtsprechung.
55
b) Die prozessuale Wirksamkeit auch einer bewusst unwahren Verfahrensrüge wurde von der Rechtsprechung trotz erkennbaren Unbehagens und geäußerter Zweifel bis vor kurzem nie verneint (vgl. BGHSt 7, 162, 164; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21; 22; 24; 27; BGH NJW 2001, 3794, 3796; RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277, 282; Detter StraFo 2004, 329, 334; Park StraFo 2004, 335, 337; Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 585). Erst in neuerer Zeit hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die nachgewiesenermaßen wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll dann als rechtsmissbräuchlich missbilligt, wenn der Beschwerdeführer - im Fall der Angeklagtenrevision (auch) der Verteidiger in der Revisionsinstanz - sicher weiß, dass sich der Fehler nicht ereignet hat, und zwar auch dann, wenn er Kenntnis erst im Laufe des Revisionsverfahrens erhält (BGHSt 51, 88 = NJW 2006, 3579 m. Anm. Benthin NJ 2007, 36, Fahl JR 2007, 34, Hollaender JR 2007, 6, Jahn JuS 2007, 91, Lindemann/Reichling StV 2007, 152 und Widmaier NJW 2006, 3587). Der solchermaßen rügevernichtende Missbrauch prozessualer Rechte ist allerdings regelmäßig nicht leicht nachweisbar (BGH NJW 2006, 3579, 3582).
56
5. Eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung begegnet zudem der Tendenz zur Ausweitung der Rechtsprechung zu offensichtlichen Mängeln des Protokolls (ebenso BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29). Diese Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 2001, 3794; NStZ 2000, 546) geht mittlerweile sehr weit; ihr fehlen - jedenfalls in Grenzfällen - hinreichend klare und verlässliche Konturen. Diese Tendenz ist gerade vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Folgen der relativen Unbeachtlichkeit der Protokollberichtigung als nicht mehr tragbar empfunden werden. In der Literatur wird hierzu vorgebracht , die Senate suchten in Grenzfällen geradezu nach Möglichkeiten der Durchbrechung der formellen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (Detter StraFo 2004, 329, 330; Park StraFo 2004, 335, 338, 340; krit. auch Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583 f.; Kuhn NJW-Spezial 2006, 567; Ventzke StV 2004, 300 f.).
57
6. Eine Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt geboten, dass auf diese Weise die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften über die Protokollführung anzuhalten wären (so aber BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277, 281; Jahn/Widmaier JR 2006, 166 f.; MeyerGoßner DRiZ 1997, 471, 474; Park StraFo 2004, 335, 342; ders. StV 2005, 257, 259). Die Tragfähigkeit einer solchen Argumentation ist schon bislang zweifelhaft ; denn gerade ein Protokoll, das offensichtlich unsorgfältig geführt ist, verliert von vorneherein jede Beweiswirkung und die Revisionsgerichte klären im Freibeweisverfahren, ob ein Verfahrensfehler vorliegt. Im Ergebnis wird bislang gerade derjenige "Tatrichter, der das Hauptverhandlungsprotokoll nachlässig führt, … prämiert" (Ventzke StV 2004, 300, 301).
58
7. Die Berichtigung setzt bei den Urkundspersonen sichere Erinnerung voraus (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 47 ff. m.w.N.). Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht (mehr) berichtigt werden. Ein Argument gegen die umfassende Berücksichtigung einer Berichtigung durch das Revisionsgericht ist die Erfahrung nachlassender Erinnerung grundsätzlich nicht. Dass die Urkundspersonen unbewusst Erinnerungsdefizite mit "Erfahrungswissen" ausfüllen (Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 167; vgl. auch BGHSt 2, 125, 128 f.; OGHSt 1, 277, 281; Park StV 2005, 257, 259), liegt gerade bei den in der Literatur für problematisch erachteten Fällen, in denen es um den sachlichen Inhalt nicht regelmäßiger Prozesshandlungen (etwa bei Hinweisen nach § 265 StPO) geht (vgl. Jahn/Widmaier aaO 167 ff.), fern. Häufig kann eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie in dem der Vorlegung zugrunde liegenden Fall die Urkundsbeamtin auf die unmittelbar während der Verhandlung getätigten Aufzeichnungen, die Grundlage der Sitzungsniederschrift waren; oftmals beruhen Protokollmängel auf derartigen Übertragungsfehlern. Schließlich stammt der Hinweis auf das nachlassende Erinnerungsvermögen aus einer Zeit, als es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 StPO), die insgesamt regelmäßig zu einer zeitlichen Straffung des Verfahrens nach der Hauptverhandlung geführt haben, noch nicht gab.
59
Das Argument, dass dem berichtigten Protokoll schon deshalb ein tatsächlich geringerer Beweiswert zukomme, weil sich die Urkundspersonen zuvor übereinstimmend geirrt haben müssten (vgl. Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 605), hält der Große Senat nicht für durchgreifend. Dass beide Urkundspersonen bei der Anfertigung des ursprünglichen Protokolls nicht gewissenhaft genug waren, wird nämlich dadurch ausgeglichen, dass besonders hohe Anforderungen an die Sorgfalt bei der Berichtigung gestellt werden. Ein übereinstimmender Irrtum im Sinne einer gemeinsamen Fehlvorstellung der Ur- kundspersonen liegt nach aller forensischer Erfahrung ohnehin nicht vor. Dies würde voraussetzen, dass die Urkundspersonen über die Einzelheiten des Prozessgeschehens und dessen - fehlende - Beurkundung gleich reflektiert hätten. So spricht etwa in dem der Vorlegung zugrunde liegenden Fall nichts dafür, dass der Vorsitzende und die Protokollführerin zunächst bei der Protokollerstellung noch übereinstimmend davon überzeugt waren, der Vertreter der Staatsanwaltschaft habe den Anklagesatz nicht verlesen.

VI.

60
Zusätzliche Gewähr für die Richtigkeit der nachträglichen Änderung der Sitzungsniederschrift bietet eine rechtlich verbindliche Form der Protokollberichtigung , die zu einer im Revisionsverfahren überprüfbaren Entscheidungsgrundlage führt. Dies sichert die Effektivität des Rechtsmittels der Revision (vgl. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169) und trägt im Fall der Angeklagtenrevision dessen verfassungsrechtlich verbürgtem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) Rechnung. Lässt sich jedoch zuverlässig ausschließen, dass sich die Urkundspersonen an ein der Verfahrenswirklichkeit nicht entsprechendes Prozessgeschehen irrtümlich vermeintlich sicher erinnern, so haben die Argumente, welche das Verbot der Rügeverkümmerung mit dem Schutz des Beschwerdeführers bzw. der prozessualen Waffengleichheit begründen (vgl. Fezer StV 2006, 290, 291; Tepperwien aaO 604), kein Gewicht.
61
1. In Fällen der vorliegenden Art ist zur Sicherung der Effektivität des Rechtsmittels bei der Protokollberichtigung folgendes Verfahren einzuhalten:
62
Wie bereits dargelegt (V 7), setzt die Berichtigung sichere Erinnerung bei den Urkundspersonen voraus. Die Absicht der Berichtigung ist dem Beschwerdeführer - im Fall einer Angeklagtenrevision zumindest dem Revisionsverteidiger - zusammen mit dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Diese Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden Erwägungen zu enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falls eingehen, wie hier etwa darauf, dass die Verlesung der rechtlichen Würdigung des Tatgeschehens zu Unmutsäußerungen der Zuhörer führte. Daneben sollten gegebenenfalls während der Hauptverhandlung getätigte Aufzeichnungen, welche den Protokollfehler belegen, in Abschrift übermittelt werden. Dem Beschwerdeführer ist innerhalb angemessener Frist rechtliches Gehör zu gewähren.
63
Widerspricht der Beschwerdeführer daraufhin der beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert, indem er im Einzelnen darlegt, aus welchen Gründen er im Gegensatz zu den Urkundspersonen sicher ist, dass das zunächst gefertigte Protokoll richtig ist, so sind erforderlichenfalls weitere dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzuholen. Auch hierzu ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Stellungnahme zu gewähren. Halten die Urkundspersonen die Niederschrift weiterhin für inhaltlich unrichtig, so haben sie diese gleichwohl zu berichtigen. In diesem Fall ist ihre Entscheidung über die Protokollberichtigung - dies ergibt sich bereits aus allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. § 34 StPO) - mit Gründen zu versehen. Darin sind die Tatsachen anzugeben, welche die Erinnerung der Urkundspersonen belegen. Ferner ist auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und gegebenenfalls abweichende Erklärungen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzugehen.
64
2. Eine erneute Zustellung des Urteils nach Berichtigung der Sitzungsniederschrift ist nicht erforderlich. Nach § 273 Abs. 4 StPO setzt eine wirksame Zustellung einzig voraus, dass die Niederschrift fertig gestellt ist. Die Fertigstellung erfolgt zu dem Zeitpunkt, zu dem die letzte der beiden erforderlichen Unterschriften geleistet wurde (§ 271 Abs. 1 StPO), selbst wenn die Niederschrift sachlich oder formell fehlerhaft ist oder Lücken aufweist (vgl. Engelhardt in KK-StPO 5. Aufl. § 271 Rdn. 8; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 31, § 273 Rdn. 56). Spätere Berichtigungen derartiger Mängel be- rühren den Zeitpunkt der Fertigstellung nicht mehr (vgl. Gollwitzer aaO). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. In seinem Vertrauen, eine bestimmte Verfahrensrüge werde erfolgreich sein, wird der Beschwerdeführer auch sonst nicht geschützt.
65
3. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Tragen sie die Berichtigung, so ist das berichtigte Protokoll zugrunde zu legen. Allerdings kommt dem berichtigten Teil des Protokolls nicht die formelle Beweiskraft des § 274 StPO zu. Nur so ist das Revisionsgericht in der Lage, zum Schutz der Beschwerdeführer die rügevernichtende Protokollberichtigung zu überprüfen. Verbleiben dem Revisionsgericht Zweifel, ob die Berichtigung zu Recht erfolgt ist, kann es den Sachverhalt im Freibeweisverfahren weiter aufklären. Insoweit gelten die Grundsätze, die schon bisher für eine ursprünglich offensichtlich mangelhafte Sitzungsniederschrift zur Anwendung kamen. Verbleiben dem Revisionsgericht auch nach seiner Überprüfung Zweifel an der Richtigkeit des berichtigten Protokolls, hat es seiner Entscheidung das Protokoll in der ursprünglichen Fassung zugrunde zu legen. Hirsch Rissing-van Saan Nack Basdorf Häger Maatz Wahl Bode Kuckein Pfister Becker

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert
worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter
näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil
der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Miebach,
Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kolz und Becker am
17. Januar 2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

Gründe:


I.

1
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
2
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Re- vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet es die Revisionsführerin als sachlichrechtlichen Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche Mindestmaß unterschreitet.
3
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb abgeschlossenen Gebäude-, Inventar - und Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
4
Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt, dass ohne Berücksichtigung dieser Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei. Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
5
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten gebildet.
6
2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch aufzuheben.
7
a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden, dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des Landge- richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne Berücksichtigung der Verzögerung auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
8
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die gebotene Kompensation für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen , dass auf die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
9
b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3. Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3. Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran anknüpfenden Folge- regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er möchte daher dieses Modell generell anwenden und demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
10
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007, 3294).
11
3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.

II.

12
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG sind gegeben.
13
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des 3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen ; die Gründe hierfür hat der Große Senat an dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs ergäbe.

III.

14
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des Vorlegungsbeschlusses.
15
Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer Kompensation dieses Verstoßes , die nicht nur mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem nationalen deutschen Straf- und Strafprozess- recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben. Deren Überschreitung könnte aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation zur Verfügung stünde , die die Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB unberührt lässt. Eine solche liegt mit der Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
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Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge, die für die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung belässt sie der unrechts- und schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion. Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
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Im Einzelnen:
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1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte. Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2. Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
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Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft) entlassen zu werden. Regelungen darüber , welche sonstigen Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben , auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
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2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit gewähre , reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen (BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w. N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur deren Einstellung gemäß § 153 StPO führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt 24, 239, 242 f.).
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Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden und -schärfenden Aspekte selbständig , auch neben dem schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
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Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
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a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./. Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm. Kühne) in zwei gegen die dortigen Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der Beschwerdeführer erachtet , dass diesen die Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine Überprüfung der Berücksichtigung der Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche, soweit dieses schließlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S. 382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen an die den Beschwerdeführern zu gewährende Kompensation zu stellen gewesen wären, um den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die Entscheidung nicht.
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b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerieten sie in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG - Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
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Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert , aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe, erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003, 2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
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Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin präzisiert , dass es nicht genüge, die Verletzung des Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG - Kammer - NStZ 1997, 591).
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c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze durch die Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses ) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl. BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV 2002, 598).
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3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
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a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen. So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht , wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239, 242). Ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von der ge- setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
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In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
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Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar mildesten Fall noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl. Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden muss, sei es in der Form eines „Härteausgleichs“ (s. für den Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt 31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275 f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.; StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von § 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
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b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK für den Ausgleich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
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aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7. August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei ist auch das Verständnis zu berücksichtigen , das sie in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
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Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm. Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes bewirken können.
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Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die Kompensation für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007, 254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159; Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254; Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f. m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese Umstände für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294 f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV 2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht schleppend geführten Zivilprozesses oder einem Bürger , der an einem verzögerten Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
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Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im Großteil der Fälle dazu führen, dass der gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen, die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben (s. oben a).
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bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an eine hinreichende Kompensation stellen.
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Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 - Ver-waltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005, 475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren ). Dies legt es nahe, dass aus der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende Feststellung selbst getroffen hätten.
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Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m. w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26. Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
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Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen Opportunitätsgrundsätzen) je nach den Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO: EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
41
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s. dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR 1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487, 494; Italien: s. näher Ress in Festschrift Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003, 2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März 2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht enthält demgegenüber keine Regelungen , die es den Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.
42
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206; s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60 StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im Erkenntnisverfahren vorzu- nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
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4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das Vollstreckungsmodell.
44
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die nach den Maßstäben des § 46 StGB zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe maßgeblich etwa für die Fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis 3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60 StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§ 79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung, die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen (§§ 53, 54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
45
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) - ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229, 230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen.
46
b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S. 351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270, 271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH wistra 2004, 470).
47
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann, künftig den durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation - für die Gesamtstrafe.
48
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die Kompensation ausschließlich an die - für die Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
49
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und daher „grundsätzlich“ als Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen - bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl. dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts- und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders wäre es auch kaum erklärbar, dass das Bundesverfassungs- gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt, dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen seitens der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sind, im Urteil dadurch Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Genüge getan wie durch die bezifferte Reduzierung der Strafe.
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6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte - gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken (s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen ; denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des neuen Modells.
51
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö- gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
52
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt, ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
53
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit größerer Flexibilität für die Reststrafenaussetzung).

IV.

54
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen auszurichten:
55
1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
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Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastun- gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
57
In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen, welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.
58
2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist - wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
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Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden (vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung berufene Gericht hat dann festzulegen , in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben. Hirsch Rissing-vanSaan Basdorf Maatz Miebach Wahl Bode Kuckein Gerhardt Kolz Becker

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/16
vom
15. Juli 2016
BGHSt: ja
BGHR: ja
Nachschlagewerk: ja
Veröffentlichung: ja
––––––––––––––––––––––––––-
Macht ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht
nach § 52 Abs. 1 StPO Gebrauch, so erfordern die Einführung des
Inhalts einer früheren Aussage des Zeugen in die Hauptverhandlung durch
Vernehmung des Richters, vor dem der Zeuge im Rahmen des die konkrete Tat
betreffenden Ermittlungsverfahrens ausgesagt hat, und die Verwertung des
dadurch gewonnenen Beweisergebnisses, dass der Richter den Zeugen gemäß
§ 52 Abs. 3 Satz 1 StPO über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt hat; einer
weitergehenden Belehrung bedarf es nicht.
BGH, Beschluss vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16 - LG Köln
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
ECLI:DE:BGH:2016:150716BGSST1.16.0

Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg, die Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Raum und Prof. Dr. Fischer, die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible sowie die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Graf, Dr. Franke, Dr. Schäfer, Prof. Dr. König, Dr. Berger, Prof. Dr. Krehl und Gericke am 15. Juli 2016 beschlossen:
Macht ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 StPO Gebrauch, so erfordern die Einführung des Inhalts einer früheren Aussage des Zeugen in die Hauptverhandlung durch Vernehmung des Richters, vor dem der Zeuge im Rahmen des die konkrete Tat betreffenden Ermittlungsverfahrens ausgesagt hat, und die Verwertung des dadurch gewonnenen Beweisergebnisses, dass der Richter den Zeugen gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt hat; einer weitergehenden Belehrung bedarf es nicht.

Gründe:


1
Die Vorlage betrifft eine verfahrensrechtliche Frage aus dem Bereich der §§ 252, 52 StPO.
2
I. 1. In dem beim 2. Strafsenat anhängigen Verfahren hat das Landgericht den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen tötete der Angeklagte seine Ehefrau durch insgesamt 60 Stiche und Schnitte mit einem Messer. Motiv der Tat waren die Eifersucht des Angeklagten auf einen Nebenbuhler und seine mangelnde Bereitschaft, eine vom Tatopfer angekündigte Trennung hinzunehmen. Das Landgericht hat insoweit angenommen, der Angeklagte habe aus niedrigen Beweggründen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gehandelt.
3
Der Angeklagte hat diese Verurteilung mit der Revision umfassend angegriffen. Er hat einen Verstoß gegen die §§ 252, 52 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 StPO gerügt und die Verletzung materiellen Rechts beanstandet. Zur Begründung der Verfahrensrüge hat er vorgetragen, das Landgericht habe seine Überzeugung vom Tathergang auch auf Angaben der Tochter des Angeklagten gestützt, die sie im Ermittlungsverfahren gegenüber einem in der Hauptverhandlung vernommenen Richter gemacht hatte. Dieser habe die Zeugin zwar über ihr Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO belehrt, nicht aber darüber, dass bei etwaiger späterer Zeugnisverweigerung ihre in der richterlichen Vernehmung gemachten Angaben verwertet werden könnten. Nachdem die Zeugin in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und sich mit einer Verwertung ihrer Angaben im Ermittlungsverfahren nicht einverstanden erklärt habe, sei ihre frühere Aussage nicht verwertbar. § 252 StPO enthalte für derartige Fälle ein umfassendes Verwertungsverbot; die in der Rechtsprechung anerkannte Ausnahme bei einer richterlichen Vernehmung des Zeugen stehe mit dem Schutzzweck der Vorschrift nicht im Einklang. Jedenfalls sei es notwendig, den Zeugen vor einer ermittlungsrichterlichen Befragung auch auf die mögliche Verwertbarkeit von Angaben hinzuweisen.
4
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen. Die erhobene Verfahrensrüge sei unter Bezugnahme auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unbegründet ; die Sachrüge dringe ebenfalls nicht durch.
5
Der 2. Strafsenat beabsichtigt, das landgerichtliche Urteil auf die Revision des Angeklagten aufzuheben. Er hält sowohl die Verfahrens- als auch die Sachrüge für erfolgversprechend. Die §§ 252, 52 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 StPO seien verletzt. Nach bisheriger Rechtsprechung sei es zulässig, in den Fällen, in denen ein vor der Hauptverhandlung vernommener Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch mache, die richterliche Vernehmungsperson über den Inhalt der Aussage des Zeugen zu vernehmen, die der Zeuge nach Belehrung gemäß § 52 StPO in einer früheren richterlichen Vernehmung gemacht habe. Abweichend hiervon sei eine solche Beweisaufnahme nur dann noch gerechtfertigt, wenn der Zeuge in der zuvor durchgeführten richterlichen Vernehmung ausdrücklich auch darüber belehrt worden sei, dass eine jetzt gemachte Aussage auch dann verwertbar bleibe, wenn der Zeuge in einer späteren Hauptverhandlung vom Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch mache. Materiellrechtlich sei das Urteil fehlerhaft, weil die Feststellungen das Tatbestandsmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe nicht belegten und deshalb den Schuldspruch wegen Mordes nicht trügen. Er sieht sich durch die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehindert, der Revision auf die Formalrüge hin stattzugeben.
6
2. Der 2. Strafsenat hatte daher die Absicht erklärt, seine eigene Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juni 1983 - 2 StR 150/83, BGHSt 32, 25, 31 f.) aufzugeben und gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei den übrigen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs angefragt, ob diese der beabsichtigten Änderung der bisherigen Rechtsprechung zustimmen oder an entgegenstehender Rechtsprechung festhalten (Beschluss vom 4. Juni 2014 - 2 StR 656/13, NStZ 2014, 596).
7
Hierauf hatten der 1., 4. und 5. Strafsenat mitgeteilt, sie hielten an ihrer der neuen Auffassung des 2. Senats widerstreitenden Rechtsprechung fest (Beschlüsse vom 14. Januar 2015 - 1 ARs 21/14, juris; vom 16. Dezember 2014 - 4 ARs 21/14, NStZ-RR 2015, 48; vom 27. Januar 2015 - 5 ARs 64/14, NStZ-RR 2015, 118). Der 3. Strafsenat hatte geantwortet, seine Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung des 2. Strafsenats nicht entgegen ; er neige allerdings in der Sache dazu, an der bisherigen Rechtsprechung, wie sie bereits seit Jahrzehnten praktiziert werde, festzuhalten (Beschluss vom 8. Januar 2015 - 3 ARs 20/14, juris).
8
Mit Beschluss vom 18. März 2015 hatte der 2. Strafsenat die Sache dem Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG vorgelegt. Nach einem Hinweis des Großen Senats für Strafsachen, die Vorlage sei unzulässig, weil es an der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage fehle, hatte der 2. Strafsenat diese mit Beschluss vom 24. Februar 2016 zurückgenommen.
9
3. Mit Beschluss vom selben Tage hat er die Sache gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG erneut dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:
10
"Ist die Einführung und Verwertung einer früheren Aussage eines Zeugen , der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, durch Vernehmung der richterlichen Vernehmungsperson nur dann zulässig, wenn diese den Zeugen nicht nur über sein Zeugnisverweige- rungsrecht, sondern auch über die Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage im weiteren Verfahren belehrt hatte?"
11
Der 2. Strafsenat hält an seiner Auffassung betreffend die Verfahrensrüge nach den §§ 252, 52 StPO und die Erforderlichkeit einer weitergehenden Belehrung des Zeugen fest. Während er in seinem ursprünglichen Anfragebeschluss dargelegt hatte, die in der Rechtsprechung anerkannte Möglichkeit der Vernehmung einer früheren richterlichen Vernehmungsperson führe zu einer Austarierung von öffentlichem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung und den die Regelung der §§ 52, 252 StPO tragenden Schutzzwecküberlegungen , die auch heute noch - trotz der hiergegen in der Literatur seit jeher erhobenen Einwendungen - gerechtfertigt erscheine und auch nicht zu einer bedenklichen Einschränkung von Zeugenrechten führe (BGH, Beschluss vom 4. Juni 2014 - 2 StR 656/13, NStZ 2014, 596), hat er demgegenüber in seinem Vorlagebeschluss vom 24. Februar 2016 die Meinung vertreten, die Bedenken schon gegen die grundsätzliche Zulassung einer Verwertung der bei einem Richter getätigten Aussage von aussageverweigerungsberechtigten Zeugen trotz Widerspruchs in der Hauptverhandlung hätten erhebliches Gewicht. Der 2. Strafsenat geht davon aus, dass sich der Große Senat für Strafsachen mit dieser der Vorlagefrage vorgelagerten Grundsatzfrage werde befassen müssen. Zudem hat er nunmehr ausgeführt, aufgrund der nach seiner Ansicht fehlerhaften Annahme des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe durch das Landgericht könne zwar der Schuldspruch nicht bestehen bleiben. Da es sich insoweit aber nur um einen Wertungsfehler handele, könnten auf die Sachrüge die Feststellungen aufrechterhalten werden. Demgegenüber seien auf die Verfahrensrüge nach der hierzu von ihm vertretenen Auffassung nicht nur der Schuldspruch der landgerichtlichen Entscheidung, sondern weitergehend auch die diesem zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Eines neuen Anfrage- verfahrens nach § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bedürfe es nicht. Aufgrund der Antworten der übrigen Senate auf den Anfragebeschluss vom 4. Juni 2014 sei als sicher davon auszugehen, dass eine zur Vorlage berechtigende Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 GVG fortbestehe. Außerdem sei ein erneutes Anfrageverfahren wegen der dadurch bedingten Verzögerung des Verfahrens mit dem Beschleunigungsgebot nicht vereinbar. Schließlich sei die vorgelegte Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 4 GVG.
12
Der Generalbundesanwalt erachtet die Vorlage ebenfalls für zulässig und beantragt zu beschließen:
13
"Die Verwertung einer früheren richterlichen Vernehmung eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, durch Vernehmung der richterlichen Vernehmungsperson ist zulässig , wenn dieser Richter den Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt hat. Eine qualifizierte Belehrung über die Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage im weiteren Verfahren ist nicht erforderlich."
14
II. Die Vorlegungsfrage ist mit Blick auf das hier Entscheidungserhebliche zu weit gefasst:
15
1. Sie differenziert zunächst nicht zwischen den einzelnen Zeugnisverweigerungsrechten und betrifft deshalb nicht nur solche aus persönlichen Gründen nach § 52 StPO, wie sie im vorliegenden Fall allein von Bedeutung sind, sondern darüber hinaus auch diejenigen aus beruflichen Gründen nach den §§ 53, 53a und 54 StPO. Dort ist im Gegensatz zu § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht gesetzlich angeordnet, dass der Zeugnisverweigerungsberechtigte vor jeder Vernehmung über sein diesbezügliches Recht zu belehren ist. Demge- mäß stellt sich bei dieser Personengruppe im Rahmen der Prüfung der Verwertbarkeit einer früheren Aussage nach § 252 StPO die Frage, ob diese - unter anderem - davon abhängig ist, dass der Zeuge noch weiter als nur über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden ist, nicht in gleicher Weise wie in den Fällen des § 52 StPO. Die Vorlegungsfrage ist somit auf die Fälle der Zeugnisverweigerung aus persönlichen Gründen zu beschränken.
16
2. Im vorliegenden Fall geht es zudem allein um die Verwertung der Aussage eines Richters, der die Zeugin in dem die konkrete Tat betreffenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, nicht aber in einem sonstigen Verfahren vernommen hat.
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3. Der Große Senat für Strafsachen fasst die Vorlegungsfrage deshalb wie folgt neu:
18
"Ist die Einführung und Verwertung einer früheren Aussage eines Zeugen , der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 StPO Gebrauch macht, durch Vernehmung des Richters, der den Zeugen im Rahmen des die konkrete Tat betreffenden Ermittlungsverfahrens vernommen hat, nur dann zulässig, wenn dieser den Zeugen nicht nur über sein Zeugnisverweigerungsrecht, sondern auch über die Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage im weiteren Verfahren belehrt hatte ?"
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III. Die Vorlage ist zulässig. Von Bedeutung sind dabei im vorliegenden Verfahren lediglich die folgenden Gesichtspunkte:
20
1. Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich in dem im Rahmen des § 132 Abs. 2 und 4 GVG maßgeblichen Sinne.
21
a) Sowohl im Falle einer Divergenzvorlage nach § 132 Abs. 2 GVG als auch bei einer Vorlage wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage nach § 132 Abs. 4 GVG ist es für die Zulässigkeit der Vorlage über den jeweiligen Gesetzeswortlaut hinaus erforderlich, dass die Beantwortung der streitigen Rechtsfrage für die abweichende Vorentscheidung und die beabsichtigte Entscheidung ergebnisrelevant und deshalb erheblich ist. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob das Ergebnis des konkreten Revisionsverfahrens als solches durch die Beantwortung der Vorlagefrage durch den Großen Senat für Strafsachen beeinflusst wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Oktober 1961 - 2 StR 289/61, BGHSt 16, 271, 278; vom 20. Oktober 1992 - GSSt 1/92, BGHSt 39, 100, 102; Urteil vom 22. April 1997 - 1 StR 701/96, BGHSt 43, 53, 58; Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 128; vom 17. März 2015 - GSSt 1/14, NJW 2015, 3800; SSW-StPO/Quentin, 2. Aufl., § 132 Rn. 2). Dies ist unter anderem dann nicht der Fall, wenn dem Großen Senat für Strafsachen eine das Verfahren betreffende Rechtsfrage vorgelegt wird und der vorlegende Senat das tatgerichtliche Urteil ohnehin aufgrund eines im Rahmen der erhobenen Sachrüge beachtlichen materiellrechtlichen Fehlers aufheben sowie die Sache an ein neues Tatgericht zurückverweisen will.
22
b) Hieran gemessen ist die Entscheidungserheblichkeit in dem hiesigen Verfahren gegeben. Der 2. Strafsenat hat zwar ausgeführt, dass er neben der Verfahrensrüge auch die Sachrüge für erfolgversprechend hält. Anders als in dem ersten Vorlageverfahren in dieser Sache hat er nunmehr jedoch in seinem Vorlagebeschluss ausgeführt, dass unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung die Aufhebung des landgerichtlichen Urteils auf die Sachrüge zwar den Schuldspruch betreffe, indes die vom Landgericht bisher getroffenen Feststellungen unberührt lasse. Demgegenüber führe die Verfahrensrüge zu einer vollständigen Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung einschließlich der vom Landgericht getroffenen Feststellungen. Hieraus folgt, dass die Revision bei einer Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils auf die Verfahrensbeanstandung vollen Erfolg hätte; dann hätte das neue Tatgericht insgesamt neue Feststellungen zu treffen. Bei einer Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils auf die Sachrüge wäre die Revision demgegenüber nur teilweise erfolgreich; denn in diesem Fall wäre das neue Tatgericht an die bisherigen Feststellungen gebunden und könnte selbst allenfalls ergänzende, hierzu nicht in Widerspruch stehende neue Feststellungen treffen. Das konkrete Ergebnis des derzeit anhängigen Revisionsverfahrens und seine Auswirkung auf das weitere Verfahren stehen deshalb nicht unabhängig von der Beantwortung der Vorlegungsfrage bereits fest.
23
2. Die Durchführung eines erneuten Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG war nicht notwendig.
24
Dabei kann offen bleiben, ob dieses Ergebnis bereits daraus folgt, dass ein entsprechendes Verfahren vor dem ersten Vorlagebeschluss des 2. Strafsenats durchgeführt worden war. Denn jedenfalls sind die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG gegeben. In den dort geregelten Fällen ist die Durchführung eines Anfrageverfahrens nicht erforderlich; dies gilt selbst dann, wenn gleichzeitig eine Divergenzvorlage in Betracht käme (BGH, Beschlüsse vom 22. November 1994 - GSSt 2/94, BGHSt 40, 360, 365 f.; vom 23. August 2007 - 3 StR 50/07, NJW 2007, 3294, 3298. Im Ergebnis ebenso BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 128; vom 13. Januar 1987 - 4 ARs 22/86, BGHSt 34, 256, 258 zu § 42 IRG; KK-Hannich, StPO, 7. Aufl., § 132 GVG Rn. 16; aA LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 132 GVG Rn. 39; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 132 GVG Rn. 16; SK-StPO/ Frister, 4. Aufl., § 132 GVG Rn. 27; Radtke/Hohmann/Rappert, StPO, § 132 GVG Rn. 19; Ignor/Bertheau, NJW 2008, 2209, 2211). Die vorgelegte Rechtsfrage ist von grundsätzlicher Bedeutung; denn sie betrifft - auch in der durch den Großen Senat für Strafsachen präzisierten Fassung - eine in Strafverfahren häufig gegebene Fallgestaltung. Die Entscheidung über sie ist deshalb richtungsweisend für eine Vielzahl vergleichbarer Fälle und somit für die Rechtsanwendung von zukunftsweisender Bedeutung. Sie ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, da zu vermeiden ist, dass in einer derart praxisrelevanten Verfahrensfrage zukünftig unterschiedliche Entscheidungen ergehen.
25
IV. Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die Vorlegungsfrage in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Sinne.
26
Er hält an den in der jahrzehntelangen, gefestigten Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, soweit sie für die Entscheidung des vorliegenden Falles von Bedeutung sind, fest. § 252 StPO enthält - was hier als Vorfrage der Klärung durch den Großen Senat für Strafsachen obliegt (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 3. Mai 1994 - GSSt 2 und 3/93, BGHSt 40, 138, 145; vom 4. Februar 2003 - GSSt 2/02, BGHSt 48, 197, 200) - kein umfassendes Verwertungsverbot , das die Vernehmung eines Richters über den Inhalt der Aussage eines Zeugen ausschließt, den der Richter in dem die konkrete Tat betreffenden Ermittlungsverfahren vor der Hauptverhandlung vernommen hat (hierzu u. 1.). Die Einführung und Verwertung des Inhalts der Bekundungen des Zeugen erfordert , dass der Richter ihn über sein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO belehrt hat; einer weitergehenden Belehrung auch über die Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage im weiteren Verfahren bedarf es hierfür nicht (hierzu u. 2.). Für den vorliegenden Fall nicht von Relevanz ist demgegenüber, ob § 252 StPO darüber hinaus insgesamt lediglich das Verbot zu entnehmen ist, die frühere Aussage des Zeugen zu verlesen, mithin ob und gegebenenfalls unter welchen näheren Voraussetzungen die Vorschrift die Einführung der früheren Aussage eines nach § 52 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen auch durch Vernehmung sonstiger Personen, etwa Polizeibeamter , Staatsanwälte oder Richter, die den Zeugen in einem anderen Verfahren vernommen haben, gestattet oder dies untersagt. Der Große Senat für Strafsachen ist deshalb aus Anlass dieses Verfahrens nicht veranlasst, Vorgaben zu diesen und den sich im Übrigen im Rahmen des § 252 StPO stellenden Rechtsfragen zu machen. Zu deren Klärung durch eine in sich stimmige Gesamtregelung ist vielmehr der Gesetzgeber berufen (hierzu u. 3.). Im Einzelnen:
27
1. § 252 StPO verbietet es nicht, den Ermittlungsrichter in der Hauptverhandlung zu den Angaben eines Zeugen zu vernehmen, die der Zeuge vor dem Richter gemacht hat, nachdem er über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden war.
28
a) Das bisherige Verständnis des Regelungsgehalts des § 252 StPO ist in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich.
29
aa) Das Reichsgericht hat dem Wortlaut der Vorschrift entsprechend in zahlreichen Entscheidungen die Norm dahin ausgelegt, sie enthalte lediglich ein Verlesungs-, nicht aber ein darüber hinausgehendes Verwertungsverbot (vgl. etwa RG, Urteile vom 1. November 1881 - Rep. 2453/81, RGSt 5, 142, 143; vom 26. Mai 1887 - Rep. 1002/87, RGSt 16, 119, 120; vom 21. November 1901 - Rep. 4486/01, RGSt 35, 5; vom 5. Mai 1914 - II 331/14, RGSt 48, 246; vom 23. Mai 1938 - 2D 188/38, RGSt 72, 221, 222).
30
Hiervon abgewichen ist sodann der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone, der entschieden hat, ein Polizeibeamter dürfe über frühere Aussagen eines Zeugen nicht vernommen werden, wenn dieser in der Hauptverhandlung berechtigterweise die Aussage verweigert (OGH, Urteil vom 5. März 1949 - StS 131/48, OGHSt 1, 299).
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Dem hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen, allerdings weiterführend bereits in einer sehr frühen Entscheidung mit ausführlicher Begründung dahin erkannt, dass über den Inhalt einer Aussage, die der Zeuge bei einer früheren richterlichen Vernehmung nach Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gemacht hat, durch Vernehmung des Richters Beweis erhoben werden dürfe (BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99). In der Folgezeit ist diese Rechtsprechung fortgesetzt und für bestimmte Fallgestaltungen weiterentwickelt worden (vgl. etwa Urteile vom 14. Oktober 1959 - 2 StR 249/59, BGHSt 13, 394; vom 2. Mai 1962 - 2 StR 132/62, BGHSt 17, 324). Der Bundesgerichtshof hat an ihr auch festgehalten, nachdem durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 (BGBl. I, S. 1067) die Vorschrift des § 163a Abs. 5 StPO aF eingeführt wurde und auch die Staatsanwaltschaft und die Polizei verpflichtet wurden, die Zeugen über ihr Recht nach § 52 StPO zu belehren (BGH, Urteil vom 14. März 1967 - 5 StR 540/66, BGHSt 21, 218; vgl. auch etwa BGH, Urteile vom 16. März 1977 - 3 StR 327/76, BGHSt 27, 139; vom 29. Juni 1983 - 2 StR 150/83, BGHSt 32, 25, 29; vom 20. März 1990 - 1 StR 693/89, BGHSt 36, 384, 385).
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Somit enthält § 252 StPO nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs über seinen Wortlaut hinaus nicht nur ein Verlesungs -, sondern auch ein Verwertungsverbot. Dieses schließt in der Regel auch die Feststellung des Inhalts der früheren Aussage durch andere Beweismittel und damit jede Verwertung der bei einer früheren Vernehmung gemachten Aussage eines Zeugen aus, wenn dieser in der Hauptverhandlung nach § 52 StPO berechtigt das Zeugnis verweigert und nicht ausdrücklich die Verwertung seiner früheren Bekundungen gestattet. Deren Einführung durch Aussage einer früheren Vernehmungsperson ist danach ebenfalls grundsätzlich unzulässig. Von diesem Verbot sind allerdings solche Bekundungen ausgenommen, die ein Zeuge nach Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht im Bewusstsein der Bedeutung und Tragweite dieses Rechts vor einem Richter gemacht hat. Sie dürfen durch Vernehmung des Richters in die Hauptverhandlung eingeführt und bei der Urteilsfindung verwertet werden (vgl. aus neuerer Zeit etwa BGH, Urteile vom 8. Dezember 1999 - 5 StR 32/99, BGHSt 45, 342, 345; vom 3. November 2000 - 2 StR 354/00, BGHSt 46, 189, 195; vom 12. Februar 2004 - 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 76 f.; Beschluss vom 13. Juni 2012 - 2 StR 112/12, BGHSt 57, 254, 256 jeweils mwN).
33
Die unterschiedliche Behandlung von richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen hat der Bundesgerichtshof in älteren Entscheidungen damit begründet , dass der Richter - anders als nach damaliger Rechtslage ein Polizeibeamter oder Staatsanwalt - verpflichtet sei, Zeugen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen (BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99, 106). Seit Inkrafttreten des § 163a Abs. 5 StPO aF (§ 163 Abs. 3 StPO nF) am 1. April 1965, der - gegebenenfalls i.V.m. § 161a Abs. 1 Satz 2 StPO - auch für Vernehmungen durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft eine Belehrung der Zeugen über ihr Zeugnisverweigerungsrecht vorschreibt, sieht die Rechtsprechung demgegenüber das tragende Argument für die unterschiedliche Behandlung darin, dass das Gesetz - wie § 251 Abs. 1 und Abs. 2 StPO zu entnehmen sei - richterlichen Vernehmungen allgemein höheres Vertrauen entgegenbringe (BGH, Urteile vom 14. März 1967 - 5 StR 540/66, BGHSt 21, 218, 219; vom 20. März 1990 - 1 StR 693/89, BGHSt 36, 384, 386). Zusätzlich wird die Zulässigkeit der Vernehmung einer richterlichen Vernehmungsperson mit der für den Zeugen erkennbar erhöhten Bedeutung der richterlichen Vernehmung für das Strafverfahren begründet (BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 - 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 77). Daneben hat der Bundesgerichtshof wesentlich auf eine Güterabwägung abgestellt. Danach ist im Falle eines nach Belehrung bewusst erklärten Verzichts auf die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts in einer richterlichen Vernehmung das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege von höherem Gewicht als das Interesse des Zeugen, sich die Entscheidungsfreiheit über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts bis zur späteren Hauptverhandlung erhalten zu können (vgl. BGH, Urteile vom 8. Dezember 1999 - 5 StR 32/99, BGHSt 45, 342, 346; vom 3. November 2000 - 2 StR 354/00, BGHSt 46, 189, 195 f.; vom 25. März 1998 - 3 StR 686/97, BGHR StPO § 252 Verwertungsverbot 14).
34
Voraussetzung für eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verwertungsverbot des § 252 StPO ist eine ordnungsgemäße Belehrung über das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts und die sich daraus ergebende Möglichkeit für den Zeugen, aus diesem Grund keine Angaben zur Sache zu machen. Nicht erforderlich ist es hingegen nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs , den aussageverweigerungsberechtigten Zeugen über die Folgen eines Verzichts auf das Auskunftsverweigerungsrecht, insbesondere über die weitere Verwertbarkeit auch im Falle einer späteren Zeugnisverweigerung in der Hauptverhandlung, "qualifiziert" zu belehren (BGH, Urteil vom 29. Juni 1983 - 2 StR 150/83, BGHSt 32, 25, 31 f.; Beschluss vom 12. April 1984 - 4 StR 229/84, StV 1984, 326; Urteil vom 30. August 1984 - 4 StR 475/84, NStZ 1985, 36). Der 2. Strafsenat hat dies seinerzeit mit der Erwägung begründet, dass ein Zeuge nicht einmal auf die Möglichkeit des Widerrufs eines erklärten Verzichts auf sein Zeugnisverweigerungsrecht noch während der laufenden Vernehmung hingewiesen werden müsse; umso weniger sei es deshalb geboten, ihn schon vorsorglich für den Fall, dass er in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigern sollte, über die Auswirkungen auf die Verwertbarkeit seiner Aussage hinzuweisen (BGH, Urteil vom 29. Juni 1983 - 2 StR 150/83, BGHSt 32, 25, 31 f.). Ergänzend hat der 4. Strafsenat angeführt, für die Annahme einer solchen Belehrungs - oder Hinweispflicht fehle es an einer gesetzlichen Grundlage (BGH, Urteil vom 30. August 1984 - 4 StR 475/84, NStZ 1985, 36).
35
bb) Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsprechung nicht beanstandet und betont, der Ermittlungsrichter sei in besonderer Weise geeignet - und vom Gesetzgeber dafür vorgesehen -, präventiven Rechtsschutz zu gewährleisten (BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2491/07, juris Rn. 4).
36
cc) Die Auffassung des Bundesgerichtshofs hat im Schrifttum seit jeher zum Teil Zustimmung (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 252 Rn. 14; KK-Diemer, StPO, 7. Aufl., § 252 Rn. 22 ff.; KMR-Paulus, § 252 Rn. 20 ff.; BeckOK-StPO/Ganter, StPO, § 252 Rn. 25 ff.; Krey, Gedächtnisschrift Meyer, S. 239, 242 f.; Bosch, Jura 2012, 33, 35; in der Sache ebenso Frister, Festschrift Fezer, S. 211, 223 f.), überwiegend jedoch Kritik (vgl. etwa LR/Sander/ Cirener, StPO, 26. Aufl., § 252 Rn. 10: "kriminalpolitische Zweckmäßigkeitsentscheidung" ) erfahren, wobei die diesbezüglichen Meinungen der Literatur nicht einheitlich sind. Zum Teil wird angeführt, die Rechtsprechung habe die von ihr im Verhältnis zur Legislative einzuhaltenden Grenzen überschritten (vgl. aus neuerer Zeit etwa El-Ghazi, JR 2015, 343, 344 f.; Neumann, ZIS 2016, 121, 122 ff. jeweils mwN). In der Sache wird im Wesentlichen teilweise die Ansicht vertreten, § 252 StPO statuiere ein umfassendes Verwertungsverbot, das auch die Einführung der früheren Aussage des Zeugen in die Hauptverhandlung durch Vernehmung des Richters umfasse, vor dem der Zeuge ausgesagt hat (HK-StPO/Julius, 5. Aufl., § 252 Rn. 2; SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 252 Rn. 4; MüKoStPO/Ellbogen, § 252 Rn. 49; Radtke/Hohmann/Pauly, StPO, § 252 Rn. 25; Eschelbach, Festschrift v. Heintschel-Heinegg, S. 147, 154; El-Ghazi, JR 2015, 343, 345 f.; Fezer, JuS 1977, 669, 671; Geppert, Jura 1988, 363, 370; Grünwald, JZ 1966, 489, 497; Hanack, JZ 1972, 236, 238; Geerds, JuS 1991, 199, 201; Eb. Schmidt, JR 1959, 369, 373; Welp, JR 1996, 76, 78; Degener, StV 2006, 509, 512). Insbesondere nach der Einführung der Belehrungspflicht auch bei polizeilichen und staatsanwaltlichen Vernehmungen meint ein anderer Teil des Schrifttums, die Unterscheidung zwischen richterlichen und sonstigen Vernehmungspersonen sei nicht tragfähig zu begründen, und vertritt unter Betonung des Wortlauts der Norm die Auffassung, die frühere Aussage des Zeugen könne durch Vernehmung jedweder Vernehmungsperson, die den Zeugen ordnungsgemäß nach § 52 StPO belehrt hat, in die Hauptverhandlung eingeführt werden (Kohlhaas, NJW 1965, 1254, 1255; ders., DRiZ 1966, 286, 290 f.; Nüse, JR 1966, 281, 282 f.; Rogall, Festschrift Otto, S. 973, 987; Bosch, Festschrift v. Heintschel-Heinegg, S. 65, 73 ff.; Qian Li, Das Beweisverbot des § 252 StPO, S. 207). Teilweise wird auch mit dem vorlegenden Senat eine Ausdehnung der Belehrungsformel befürwortet (Bosch, Festschrift v. HeintschelHeinegg , S. 65, 75 ff.; Neumann, ZIS 2016, 121, 127 ff.; im Ergebnis offen etwa LR/Sander/Cirener, StPO, 26. Aufl., § 252 Rn. 10; SSW-StPO/Kudlich/Schuhr, 2. Aufl., § 252 Rn. 20).
37
b) Die Auslegung des § 252 StPO führt zu einem Verständnis der Norm, das der Vernehmung eines Ermittlungsrichters, vor dem der zeugnisverweigerungsberechtigte , hierüber belehrte Zeuge ausgesagt hat, nicht im Sinne eines umfassenden Verwertungsverbots entgegen steht.
38
aa) Ein Verbot, den Inhalt einer früheren Aussage eines Zeugen, der nach § 52 StPO zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt ist, dadurch in die Hauptverhandlung einzuführen, dass der Richter, der den Zeugen in dem die konkrete Tat betreffenden Ermittlungsverfahren vernommen hat, zum Gehalt der betreffenden Aussage gehört wird, folgt zunächst nicht aus dem - insoweit eindeutigen - Wortlaut der Norm. Nach diesem ist es vielmehr lediglich untersagt , die frühere Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung zu verlesen, mithin sie durch Verlesung des hierüber erstellten Protokolls zu Beweiszwecken in die Hauptverhandlung einzuführen. Dieses Wortverständnis steht mit dem sonstigen Sprachgebrauch der Strafprozessordnung im Einklang, wie er etwa in § 249 StPO Eingang gefunden hat und liegt auch in anderem Zusammenhang der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugrunde (vgl. etwa BGH, Urteile vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 205; vom 8. Dezember 1999 - 5 StR 32/99, BGHSt 45, 342, 345; vom 10. Februar 2000 - 4 StR 616/99, BGHSt 46, 1, 3).
39
bb) Die Beachtung der Gesetzessystematik führt zu demselben Ergebnis.
40
(1) § 252 StPO ist in die Vorschriften zum Urkundenbeweis (§§ 249 ff. StPO) eingestellt. Deren Regelungsgegenstand ist die Beweiserhebung gerade durch Verlesung von Urkunden in der Hauptverhandlung oder ihrer Einführung im Selbstleseverfahren. In den dadurch begründeten Sachzusammenhang wür- de sich § 252 StPO nicht bruchlos einfügen, wollte man ihm ein Verwertungsverbot bezüglich der Vernehmung eines Richters über eine vor ihm getätigte Aussage eines nach § 52 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen entnehmen. Der unter systematischen Gesichtspunkten passende Standort für ein derartiges Verbot läge eher bei den §§ 52 ff. StPO, welche die inhaltlichen Regelungen zu den Zeugnisverweigerungsrechten enthalten.
41
(2) § 252 StPO erlangt jedenfalls nach heutiger Rechtslage nicht nur dann eine eigenständige Bedeutung, wenn man ihm ein Verwertungsverbot in dem dargelegten Sinne entnimmt; die Norm geht insbesondere über den Regelungsgehalt des § 250 Satz 2 StPO hinaus. Zwar ist bereits dort bestimmt, dass die Vernehmung eines Zeugen nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden darf. Von diesem Grundsatz macht jedoch § 251 StPO Ausnahmen. Mit Blick auf die Verlesungsmöglichkeiten nach § 251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 StPO dürften somit ohne die Bestimmung des § 252 StPO Niederschriften über die vormalige Vernehmung des Zeugen, der in der Hauptverhandlung erstmals von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, bei einem Einverständnis der Verfahrensbeteiligten verlesen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. April 2007 - 4 StR 345/06, BGHSt 51, 280 ff.; vom 29. August 2001 - 2 StR 266/01, NJW 2002, 309, jeweils zu § 55 StPO; s. auch BGH, Urteile vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99, 102; vom 12. Juli 1956 - 4 StR 236/56, BGHSt 10, 77, 78 f.).
42
(3) Hinzu kommt, dass die Strafprozessordnung der Zeugenvernehmung durch einen Richter an verschiedenen Stellen eine besondere Bedeutung einräumt. Dies zeigt sich etwa in § 251 Abs. 2 StPO, der die Verlesung von Niederschriften über eine richterliche Vernehmung auch in Fällen zulässt, in denen § 250 Satz 2, § 251 Abs. 1 StPO dies bei sonstigen Vernehmungsprotokollen nicht erlauben. Gemäß § 168c Abs. 2 StPO ist bei der richterlichen Vernehmung eines Zeugen der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten und dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet; hieraus resultieren auch entsprechende Fragerechte. Eine entsprechende Regelung für nichtrichterliche Vernehmungen besteht nicht. Zudem ist nur ein Richter befugt, eine eidliche Vernehmung vorzunehmen (§ 161a Abs. 1 Satz 3 StPO). Deshalb kann sich ein Zeuge wegen falscher uneidlicher Aussage (§ 153 StGB) oder Meineids (§ 154 StGB) nur strafbar machen, wenn er von einem Richter, nicht aber wenn er von einem Polizeibeamten oder Staatsanwalt vernommen wird.
43
cc) Der Wille des Gesetzgebers steht jedenfalls einem Verständnis des § 252 StPO im Sinne der bisherigen Rechtsprechung, soweit für die vorliegende Fallgestaltung relevant, nicht entgegen.
44
(1) Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift enthält keine deutlichen Hinweise darauf, dass der Wille des historischen Gesetzgebers dahin ging, einen allumfassenden Schutz der Aussagefreiheit des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen sicherzustellen. Als Indiz für den gesetzgeberischen Willen kommen im Wesentlichen allein Äußerungen von Abgeordneten in der zweiten Plenarberatung in Betracht, deren Bedeutung für die vorliegende Fallgestaltung sich allerdings nicht ohne Weiteres erschließt.
45
Die Entwürfe zur Reichsstrafprozessordnung enthielten ursprünglich keine dem § 252 StPO entsprechende Vorschrift. Eine Bestimmung dieses Inhalts konnte als praktisch überflüssig angesehen werden, weil die Verlesung der Niederschrift über eine außerhalb der Hauptverhandlung getätigte Zeugenaussage bereits nach dem heutigen § 250 Satz 2 StPO212 des Entwurfs) unzu- lässig gewesen wäre und ein Fall der - enger als der heutige § 251 StPO gefassten - Ausnahmevorschrift des § 213 des Entwurfs nicht vorlag (vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3, Abteilung 1, 2. Aufl., S. 856 f.). Die Aufnahme einer § 252 StPO entsprechenden Norm (§ 213a des Kommissionsentwurfs) ging auf Beratungen der Reichsjustizkommission zurück. In deren Verlauf wurde der ergänzende Antrag gestellt, eine Verlesungsmöglichkeit unter anderem auch für Aussagen von Zeugen zu schaffen, die erst in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen (vgl. Hahn, aaO, S. 856). Dies stieß auf Widerspruch und führte zu der gegenläufigen Initiative eines Abgeordneten, eine Regelung im Sinne des heutigen § 252 StPO aufzunehmen. In der Beratung wurde auf die Entbehrlichkeit einer solchen Bestimmung im Blick auf die ohnehin gegebene Unzulässigkeit der Verlesung bei Annahme des (ursprünglichen) Entwurfs hingewiesen. Gleichwohl hielt der Abgeordnete an seinem Antrag fest und betonte, dass er auch dann "großes Gewicht darauf lege, diesen Satz im Gesetze auszudrücken" (vgl. Hahn, aaO, S. 858; vgl. auch ders., aaO, Abteilung 2, 2. Aufl., S. 1621, 1657, 1901 ff.).
46
Die Frage, ob die Vernehmung einer Verhörsperson zulässig sei, wurde im Gesetzgebungsverfahren nur ein einziges Mal angesprochen. In der zweiten Plenarberatung machte der Abgeordnete L. geltend, dass die "historisch gewordene Tatsache" der vormaligen Aussage des Zeugen dem weiteren Verfahren zur Wahrheitsermittlung zur Verfügung gestellt werden müsse. Weiter trug er das "formelle Bedenken" vor, dass bei Annahme des Kommissionsantrags eine Vernehmung von Verhörspersonen über die Aussage nicht ausgeschlossen sei. Außerdem lasse sich nicht verhindern, dass die Aussage in den Schlussvorträgen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung wiedergegeben oder im Beratungszimmer durch "einen Blick in die Akten" festgestellt werde (vgl. Hahn, aaO, S. 1901). Der Berichterstatter S. wandte daraufhin ein, dass jede Gesetzgebung aufhöre, wenn durch derartige Manipulationen "der Gedanke und die Vorschrift des Gesetzes illusorisch gemacht werden" könnten und dürften; die Gesetze müssten "von den Beamten in einer Weise gehandhabt werden, dass der Sinn, den der Gesetzgeber damit verbunden hat, respektiert" werde (Hahn, aaO, Abteilung 2, S. 1902). Im Einzelnen griff er als "Manipulation" die - gegen den heutigen § 261 StPO sowie den Grundsatz der Unmittelbarkeit verstoßende - Einführung und Verwertung des Inhalts der Aussage über die Schlussvorträge sowie durch Aktenstudium im Beratungszimmer an und befasste sich nicht weiter mit der Vernehmung der Verhörsperson (vgl. auch Rogall, Festschrift Otto, S. 973, 978).
47
Somit bleibt unklar, inwieweit die Äußerungen des Berichterstatters S. als Erwiderung auf den Abgeordneten L. sich überhaupt auf die Möglichkeit der Vernehmung einer Verhörsperson beziehen. Dies erhellt sich auch nicht durch den weiteren Verlauf der Beratungen, denn in diesen wurde die betreffende Frage nicht mehr angesprochen. Die dem heutigen § 252 StPO entsprechende Vorschrift wurde schließlich in der von der Reichsjustizkommission vorgeschlagenen Fassung unverändert angenommen (vgl. Hahn, aaO, S. 1903).
48
(2) Auch ein - mit Blick auf den Zeitablauf im Vergleich zu den Intentionen des historischen Gesetzgebers ohnehin bedeutsamerer - Wille des aktuellen Gesetzgebers, § 252 StPO dahin zu verstehen, dass dieser es verbietet, richterliche Vernehmungspersonen in der Hauptverhandlung als Zeugen zu hören , ist nicht erkennbar. Der Gesetzgeber hat ersichtlich bislang über mehrere Jahrzehnte keinen Anlass gesehen, die Auslegung der Norm durch die Rechtsprechung zu korrigieren. Auch bei der Einführung des § 255a StPO, der die Möglichkeit einräumt, Bild-Ton-Aufzeichnungen einer Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung vorzuführen, hat er keinen Anlass gesehen, § 252 StPO zu modifizieren, obwohl der in § 255a Abs. 1 StPO enthaltene Verweis auf § 252 StPO dazu führt, dass die Videoaufzeichnung und damit das qualitativ höherwertige Beweismittel nicht verwertet werden darf, während nach der von der Rechtsprechung zu § 252 StPO vertretenen Auffassung der Rückgriff auf die Aussage des Richters über den Vernehmungsinhalt gestattet ist. Der Gesetzgeber hat sogar nicht reagiert, nachdem die Rechtsprechung ausdrücklich auf diesen Wertungswiderspruch hingewiesen hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 - 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 76 f.). Der derzeit vorliegende, auf der Grundlage des Berichts einer vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eingesetzten Kommission erarbeitete Referentenentwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 27. Mai 2016 sieht ebenfalls keine Veränderung des § 252 StPO vor. Dieses langjährige Schweigen des Gesetzgebers kann zwar nicht ohne Weiteres als Zustimmung zu dem Normverständnis der Rechtsprechung gewertet werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 1988 - 1 BvL 23/86, BVerfGE 78, 20, 25). Seinem Verhalten ist bei einer Gesamtwürdigung jedoch zu entnehmen, dass er die derzeitige Normanwendungspraxis, wie sie sich insbesondere nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darstellt, jedenfalls nicht beanstandet.
49
dd) Sinn und Zweck der §§ 52, 252 StPO sprechen im Ergebnis ebenfalls nicht dagegen, in den Fällen des § 252 StPO die Vernehmung des Richters in der Hauptverhandlung über die vor ihm getätigte Zeugenaussage zuzulassen.
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(1) § 52 StPO trägt der besonderen Lage eines Zeugen Rechnung, der als Angehöriger des Beschuldigten der Zwangslage ausgesetzt sein kann, sei- nen Angehörigen zu belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen. Die Norm soll folglich in erster Linie den Zeugen vor Konflikten schützen, die aus den Besonderheiten der Vernehmungssituation entstehen, insbesondere einerseits durch die Wahrheitspflicht bei der Zeugenvernehmung und andererseits durch die sozialen Pflichten, die aus der persönlichen Bindung gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten erwachsen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 8. Dezember 1958 - GSSt 3/58, BGHSt 12, 235, 239; Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207 mwN). Dieser Gesichtspunkt wird allerdings bei der Einvernahme eines Richters über den Inhalt einer früher vor ihm getätigten Zeugenaussage weitaus weniger berührt, als in den Fällen, in denen der Zeuge selbst aussagen soll. Nach verbreiteter Ansicht erweitert § 252 StPO allerdings den durch § 52 StPO gewährten Schutz des Zeugen dadurch, dass die Norm diesem die Möglichkeit sichert, eine einmal gemachte Aussage bis zur Hauptverhandlung folgenlos wieder rückgängig machen zu können, ohne sie durch eine neue Aussage ersetzen zu müssen, bei deren Abgabe der Zeuge wiederum dem Spannungsfeld zwischen Wahrheitspflicht und Näheverhältnis ausgesetzt wäre (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 25. September 2003 - 2 BvR 1337/03, NStZ-RR 2004, 18, 19).
51
(2) Diesem Schutz des Zeugen steht jedenfalls die Wahrheitsfindung als zentrales Anliegen des Strafprozesses und deshalb als Gesichtspunkt, der auch bei der an Sinn und Zweck der Norm orientierten Auslegung des § 252 StPO nicht außer Betracht bleiben darf, gegenüber. Die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten - zu denen auch die hier vorliegende zählt - stellt einen wesentlichen Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens dar (vgl. BVerfG, Urteile vom 3. März 2004 - 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279, 336; vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11, BVerfGE 133, 168, 199, jew. mwN). Bei angemessener Beachtung dieses Spannungsverhältnisses und Ab- wägung der gegenläufigen Belange (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2491/07, juris Rn. 4; BGH, Urteile vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99, 105; vom 8. Dezember 1999 - 5 StR 32/99, BGHSt 45, 342, 345; vom 3. November 2000 - 2 StR 354/00, BGHSt 46, 189, 195) gebietet § 252 StPO es jedenfalls nicht, dem Schutz des Zeugen einen quasi absoluten Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung einzuräumen.
52
ee) Mit Blick auf die vorstehenden Erwägungen trägt das dargelegte Verständnis des § 252 StPO schließlich den verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2491/07, juris Rn. 4).
53
2. Die Verwertung der Erkenntnisse aus der früheren ermittlungsrichterlichen Vernehmung des Zeugen setzt eine über den Regelungsgehalt des § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO hinausgehende Belehrung nicht voraus; der Zeuge muss insbesondere nicht darauf hingewiesen werden, dass die Möglichkeit besteht, den vernehmenden Richter im weiteren Verfahren zu der Aussage des Zeugen zu hören.
54
a) Die Strafprozessordnung sieht in § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO, gegebenenfalls i.V.m. § 163 Abs. 3 Satz 1, § 161a Abs. 1 Satz 2 StPO, lediglich vor, dass der zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigte Zeuge über dieses Recht zu belehren ist. Dabei ist dem Zeugen eine genügende Vorstellung von der Bedeutung seines Weigerungsrechts zu vermitteln, ohne dass auf seine Entschließungsfreiheit eingewirkt wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 52 Rn. 26 mwN). Weitere, im vorliegenden Zusammenhang relevante Belehrungspflichten enthält das Gesetz nicht. Nach seiner - etwa auch bei § 55 Abs. 2 StPO deutlich werdenden - Konzeption gehört es insbesondere nicht zu einer ordnungsgemäßen Unterrichtung des Zeugen, dass dieser auch darüber informiert wird, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn er zunächst aussagt , später jedoch von seinem Weigerungsrecht Gebrauch macht.
55
b) Es besteht kein Anlass, über die geltende Gesetzeslage hinaus die Vernehmung eines Richters zum Inhalt einer vor ihm getätigten Zeugenaussage von einer weiteren Belehrung des Zeugen abhängig zu machen.
56
aa) Ausdrückliche Belehrungen über die Möglichkeit, Angaben von Verfahrensbeteiligten im weiteren Verfahren zu verwerten, sind dem deutschen Strafprozessrecht auch in anderen Konstellationen fremd.
57
(1) Dies zeigt zunächst die Regelung des § 52 Abs. 3 Satz 2 StPO. Die Vorschrift ermöglicht es dem Zeugen, einen Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht auch noch während der Vernehmung zu widerrufen. Die Vernehmung darf in diesem Fall nicht durch- bzw. fortgeführt werden. Was der Zeuge vor dem Widerruf ausgesagt hat, kann allerdings verwertet werden (BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99, 107; Beschluss vom 12. April 1984 - 4 StR 229/84, StV 1984, 326; Urteile vom 9. September 1987 - 3 StR 307/87, NJW 1988, 716; vom 28. Januar 2004 - 2 StR 452/03, NJW 2004, 1466, 1467). Die Norm dient somit ersichtlich dem Zeugenschutz und regelt eine den Fällen des § 252 StPO ähnliche Konstellation, ohne allerdings eine über den Inhalt des § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO hinausgehende Belehrung vorzusehen. Der wesentliche Unterschied zu Fällen der vorliegenden Art besteht lediglich in dem Zeitpunkt des Sinneswandels des Zeugen. Während dieser bei § 52 Abs. 3 Satz 2 StPO in der laufenden Vernehmung eintreten muss, erfasst § 252 StPO diejenigen Fälle, in denen sich der zuvor vernommene Zeu- ge erst in der Hauptverhandlung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft. Es erscheint nicht sachgerecht, allein wegen dieses Umstands die Frage des Inhalts der erforderlichen Belehrung unterschiedlich zu beurteilen.
58
(2) Gegen die Notwendigkeit einer im Sinne des vorlegenden Senats erweiterten Belehrung streitet auch der Vergleich mit der Rechtslage bei einem Beschuldigten. Dessen Aussagefreiheit und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung sind in der Verfassung verankert. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens. Dazu gehört, dass im Rahmen des Strafverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen. Der Beschuldigte muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11, BVerfGE 133, 168, 201 mwN; BGH, Beschluss vom 13. Mai 1996 - GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 151 f.). Hieraus folgt allerdings nur, dass er über seine Aussagefreiheit als solche in Kenntnis gesetzt werden muss (vgl. BVerfG, aaO). Dementsprechend regelt § 136 Abs. 1 Satz 2 ff. StPO - soweit hier von Bedeutung -, dass der Beschuldigte darauf hinzuweisen ist, es stehe ihm frei, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Lässt er sich daraufhin zur Sache ein, können seine Angaben später jedenfalls durch Zeugnis der Vernehmungsperson in das weitere Verfahren eingeführt und verwertet werden, auch wenn er sich in der Zwischenzeit entschlossen hat, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine polizeiliche, staatsanwaltliche oder richterliche Vernehmungsperson handelt. Trotz des hohen Ranges und des großen Gewichts des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit ist eine ausdrückliche Belehrung über diesen Umstand nicht erforderlich. Es würde zu einem Wertungswiderspruch führen, wollte man für einen zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen, dessen Schutz zwar ebenfalls von großer, keinesfalls aber höherer Bedeutung ist als derjenige des Beschuldigten, eine entsprechende Belehrung verlangen.
59
(3) Die Fälle, in denen die Rechtsprechung eine über den Gesetzeswortlaut des § 136 Abs. 1 Satz 2 ff. StPO hinausgehende sog. qualifizierte Belehrung verlangt, unterscheiden sich grundlegend von der Konstellation bei einem sich erst in der Hauptverhandlung zum Gebrauch des Zeugnisverweigerungsrechts entschließenden Zeugen. Sie betreffen Sachverhalte, bei denen zunächst ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht gegeben ist, der Beschuldigte aber später erneut vernommen wird. Dann ist der Beschuldigte über den Regelungsgehalt des § 136 Abs. 1 Satz 2 ff. StPO hinaus auch darauf hinzuweisen, dass wegen der bisher fehlerhaften bzw. unterbliebenen Belehrung die vorangehenden Angaben unverwertbar sind (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 - 4 StR 455/08, BGHSt 53, 112, 115). In diesen Fällen dient die sog. qualifizierte Belehrung somit dazu, einen anlässlich einer früheren Vernehmung zu Tage getretenen Verfahrensfehler zu korrigieren, mithin die Möglichkeit seiner Fortwirkung zu beseitigen und so den Einfluss des früheren Fehlers auf die neuen Angaben möglichst auszuschließen. Demgegenüber geht es hier darum, ob ein Zeuge über die Möglichkeit der künftigen Verwertung seiner - als solchen ordnungsgemäß zustande gekommenen - Aussage zu informieren ist.
60
(4) Soweit der Bundesgerichtshof im Übrigen Belehrungspflichten auch ohne eine ausdrückliche diesbezügliche gesetzliche Regelung anerkannt hat, betrifft dies insbesondere Fälle gesetzlich nicht bzw. nicht näher geregelter Befragungen , z.B. vor der Exploration einer Aussageperson durch einen Sachverständigen (vgl. BGH, Urteile vom 29. Juni 1989 - 4 StR 201/89, BGHSt 36, 217, 220; vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 208 f.). Auch diese Fälle weisen zu der hiesigen Konstellation wesentliche Unterschiede auf.
61
bb) Es ist nicht davon auszugehen, dass die in der bisherigen Rechtsprechung vertretene Ansicht zum notwendigen Belehrungsinhalt dem Willen des Gesetzgebers widerspricht. Dieser hatte auch insoweit in Kenntnis der jahrzehntelangen Rechtspraxis ausreichend - z.B. bei der Einführung der Belehrungspflicht bei polizeilichen Vernehmungen oder des § 255a StPO - Gelegenheit , die Belehrungsregelungen etwa im Sinne des Anliegens des anfragenden Senats zu modifizieren. Dies hat er bislang jedoch unterlassen.
62
cc) Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. d EMRK erfordern eine über § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO hinausgehende Belehrung ebenfalls nicht. Diese Regelungen stehen auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Verwertung von im Ermittlungsverfahren erlangten Zeugenaussagen , wenn die Zeugen in der Hauptverhandlung berechtigterweise schweigen, nicht entgegen, sofern der Beschuldigte bzw. Angeklagte ausreichend Gelegenheit hatte, die Bekundungen in Zweifel zu ziehen. Eine besondere Belehrung des Zeugen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Wahrung eines insgesamt fairen Verfahrens nicht für geboten erachtet (vgl. EGMR, Urteil vom 19. Juli 2012 - 26171/07, NJW 2013, 3225, 3226).
63
dd) Weiter ist für den hier vorliegenden Fall der richterlichen Vernehmung in dem konkreten Ermittlungsverfahren von Belang, dass dem Zeugen wegen deren für ihn erkennbaren und regelmäßig von ihm empfundenen erhöhten Bedeutung für das Verfahren nach der Belehrung gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO deutlicher als bei einer polizeilichen Vernehmung vor Augen steht, dass er sich zwar aus dem ihn treffenden Interessenwiderstreit, eine nahestehende Person belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen, durch Gebrauchmachen von dem Zeugnisverweigerungsrecht befreien, aber, falls er aussagt, diese Angaben vor einem Richter nicht ohne Weiteres wieder beseitigen kann (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 - 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 77). Um ihm die Tragweite und Endgültigkeit seiner Angaben zu verdeutlichen, bedarf es deshalb jedenfalls bei einer Vernehmung durch den Ermittlungsrichter keines Hinweises zur Verwertbarkeit der Aussage. Seinen von § 252 StPO wie dargelegt nicht absolut geschützten Interessen wird somit in Fällen der hier vorliegenden Art bereits durch die Belehrung nach § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO in ausreichender Weise Rechnung getragen. Weitergehendes ist auf der Grundlage des geltenden Rechts zur sachgerechten Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht erforderlich.
64
3. Der Große Senat für Strafsachen weist abschließend darauf hin, dass mit dieser Entscheidung nur ein Teil der sich bei der Anwendung des § 252 StPO ergebenden Fragen geklärt ist. Wie dargelegt bestehen über die Vorlagefrage hinaus in dem derzeitigen Normengefüge Wertungswidersprüche, etwa zwischen § 252 StPO und § 255a StPO. Strafverfahren, bei denen der Regelungsbereich der §§ 52, 252 StPO betroffen ist, gehören - z.B. wenn sie Fälle des innerfamiliären sexuellen Missbrauchs betreffen - häufig zu denjenigen, bei denen einerseits die Beweissituation typischerweise besonders schwierig ist und andererseits die persönlichen Interessen der Beteiligten in besonderer Weise berührt werden. Hinzu kommt, dass der verstärkte Einsatz technischer Vernehmungshilfen im Ermittlungsverfahren und der Transfer der so gewonnenen Beweisergebnisse in die Hauptverhandlung derzeit im Fokus von die Strafprozessordnung betreffenden Änderungsvorschlägen stehen. Mit Blick auf diese Umstände und vor dem Hintergrund der außerordentlich hohen Praxisrelevanz des hier bedeutsamen Regelungskomplexes erscheint dem Großen Senat für Strafsachen ein Tätigwerden des Gesetzgebers mit dem Ziel, ein in sich stimmiges Gesamtgefüge zu entwickeln, unabdingbar.
Limperg Raum Fischer Sost-Scheible
Graf Franke Schäfer König
Berger Krehl Gericke

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 400/07
vom
15. November 2007
in der Strafsache
gegen
Veröffentlichung: ja
BGHSt: ja
Nachschlagewerk: ja
StGB §§ 248 a, 265 a
Es entscheidet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls, ob bei Bagatelldelikten
bis zu einer bestimmten Schadensgrenze die gesetzliche Mindeststrafe
übersteigende Freiheitsstrafen nicht mehr schuldangemessen sind. Diese Frage
ist deshalb einer Vorlegung nach § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich.
4. Strafsenat, Beschluss vom 15. November 2007 – 4 StR 400/07
I. Amtsgericht Halle-Saalkreis
II. Landgericht Halle
III. Oberlandesgericht Naumburg
wegen Erschleichens von Leistungen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende Richterin
am Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien, die Richter am Bundesgerichtshof
Maatz und Athing sowie die Richterinnen am Bundesgerichtshof SolinStojanović
und Sost-Scheible am 15. November 2007 beschlossen:
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Naumburg zurückgegeben.

Gründe:


A.


1
I. Das Amtsgericht Halle-Saalkreis verurteilte den Angeklagten am 27. Juni 2006 wegen Hausfriedensbruchs, wegen Diebstahls geringwertiger Sachen sowie wegen Erschleichens geringwertiger Leistungen in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten. Nach den Feststellungen des Urteils hatte der Angeklagte in der Zeit vom 21. November 2005 bis zum 11. Februar 2006 in neun Fällen öffentliche Verkehrsmittel in Halle benutzt, ohne im Besitz eines gültigen Fahrscheins zu sein; am 26. Januar 2006 hatte er ferner in einem Supermarkt zwei Flaschen Bier im Gesamtwert von 0,62 Euro entwendet und trotz eines Hausverbots, das gegen ihn wegen des Diebstahls der Bierflaschen ausgesprochen worden war, den Supermarkt wenige Stunden später erneut betreten.
2
Das Amtsgericht hielt gemäß § 47 Abs. 1 StGB die Verhängung von Freiheitsstrafen gegen den Angeklagten für unerlässlich und setzte für jeden Fall der Leistungserschleichung und für den Hausfriedensbruch Einzelfreiheitsstrafen von zwei Monaten sowie für den Diebstahl eine Einsatzstrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe fest. Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht Halle durch Urteil vom 22. Januar 2007 als unbegründet. Ergänzend stellte die Strafkammer fest, dass in den Fällen der Leistungserschleichung jeweils nur ein Kurzstreckentarif in Höhe von 1,10 Euro vom Angeklagten zu entrichten gewesen war. Ebenso wie das Amtsgericht hielt die Berufungskammer des Landgerichts die Verhängung von Freiheitsstrafen gemäß § 47 Abs. 1 StGB für unerlässlich und bestätigte deshalb die erstinstanzlich festgesetzten Einzelfreiheitsstrafen sowie die Gesamtfreiheitsstrafe. Trotz des geringen Wertes der gestohlenen Bierflaschen und des jeweils zu entrichtenden Beförderungsentgeltes sah sich die Strafkammer hieran durch das Übermaßverbot nicht gehindert, weil der Angeklagte mehrfach, auch einschlägig, bestraft und Bewährungsversager sei. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen beanstandet.
3
II. Das zur Entscheidung über die Revision berufene Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigt, die Revision des Angeklagten entsprechend dem Antrag des Generalstaatsanwalts in Naumburg nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen. Es erachtet die vom Landgericht verhängten Freiheitsstrafen wegen besonderer Umstände, die in der Persönlichkeit des Angeklagten liegen, zur Einwirkung auf ihn als unerlässlich im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB. Die Einzelfreiheitsstrafen und die Gesamtfreiheitsstrafe seien in ihrer Höhe noch angemessen; das Übermaßverbot werde durch sie nicht verletzt.
4
Mit Ausnahme der wegen Hausfriedensbruchs verhängten Einzelstrafe sieht sich das Oberlandesgericht Naumburg an der beabsichtigten Entschei- dung durch die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 25. Oktober 2001 - 1 Ss 52/01 - (NStZ-RR 2002, 75) und des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. Februar 2006 - 1 Ss 575/05 - (NStZ 2007, 37) gehindert:
5
Das Oberlandesgericht Braunschweig habe es in der genannten Entscheidung als "schlechthin unangemessen" angesehen, den Diebstahl einer Kaufhausware im Wert von 5,00 DM mit einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten zu ahnden. Das Oberlandesgericht Stuttgart habe den seine Entscheidung tragenden Rechtssatz aufgestellt, die Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und Tatunrecht sei bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro - ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit eines Angeklagten - unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar , so dass wegen des zu beachtenden Übermaßverbotes eine tatrichterliche Ermessensausübung ausscheide. Beide Oberlandesgerichte hätten deshalb die vom Tatrichter verhängten Freiheitsstrafen von zwei Monaten auf die allein als angemessen angesehene gesetzliche Mindeststrafe von jeweils einem Monat zurückgeführt.
6
Das Oberlandesgericht Naumburg hat die Sache daher gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof über folgende Fragen vorgelegt: "Stehen das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters stets entgegen, wenn der Täter einer Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht entrichten wollte?" sowie "Stehen das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters stets entgegen, wenn der Täter eines durch die Wegnahme zweier Bierflaschen aus einem Supermarkt begangenen Diebstahls einen Schaden von nicht mehr als 0,62 Euro verursacht hat?"
7
III. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Sache an das Oberlandesgericht zurückzugeben; hilfsweise zu beschließen:
8
„1. Ob das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat entgegenstehen, wenn der Täter einer Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht entrichten wollte, kann nur nach Lage des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung erheblicher Faktoren beurteilt werden.
9
2. Ob das Übermaßverbot und das Gebot schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat entgegenstehen, wenn der Täter eines durch die Wegnahme zweier Bierflaschen aus einem Supermarkt begangenen Diebstahls einen Schaden von nicht mehr als 0,62 Euro verursacht hat, kann nur nach Lage des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung erheblicher Faktoren beurteilt werden.“

B.


10
Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzugeben. Die Vorlegungsvoraussetzungen des § 121 Abs. 2 GVG sind nicht gegeben, weil sich die vom Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigte Abweichung auf die Bewertung von Tatsachen, nicht aber auf eine Rechtsfrage bezieht. Durch die Beschlüsse der Oberlandesgerichte Braunschweig und Stuttgart ist das vorlegende Oberlandesgericht daher nicht gehindert, in dem von ihm zu entscheidenden Fall ungeachtet einer Ähnlichkeit der zu beurteilenden Sachverhalte die Revision des Angeklagten zu verwerfen.
11
Der Generalbundesanwalt hat dazu u.a. ausgeführt: "Die Entscheidung, unter welchen Umständen die Grenzen schuldangemessenen Strafens überschritten sind und dadurch das Übermaßverbot verletzt ist, gehört zur Strafzumessung und ist als tatrichterliche Wertung tatsächlicher Umstände eine Frage des Einzelfalls, die der Klärung im Wege eines Vorlageverfahrens nicht zugänglich ist (vgl. BGHSt 27, 212, 214ff; NStZ 1983, 261, 262; 1988, 270f; Franke in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 59; KK-Hannich 5. Aufl. StPO § 121 GVG Rdnr. 36); darauf, dass das vorlegende Oberlandesgericht die Frage als Rechtsfrage behandelt hat, kommt es nicht an (vgl. BGHSt 31, 314, 316; NStZ 1995, 409, 410).
(…)
Im Hinblick auf das Wesen der Strafzumessung, die zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierte Strafzumessungskriterien und -leitlinien ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.06.2007 - 2 BvR 1447/05 und 2 BvR 12 BvR 136/05 Rdnr. 78 [= NStZ 2007, 598ff.]), muss daher in
der Regel davon ausgegangen werden, dass sich die Rechtsausführungen der Obergerichte zu den Grenzen schuldangemessenen Strafens nur auf den der Entscheidung zugrunde liegenden Einzelfall beziehen (vgl. BGHSt 27, 212, 215f; 28, 318, 324f; Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485), mögen sie auch so formuliert sein, dass sie als grundsätzliche Aussage aufgefasst werden könnten (vgl. BGHSt 18, 324, 325f; 28, 165, 166; NStZ 1988, 270f). Denn unterschiedliche Ergebnisse rechtsfehlerfrei angewendeten tatrichterlichen Ermessens bei der Strafzumessung haben mit abweichenden Entscheidungen in Rechtsfragen nichts gemein ; die denkbaren Umstände des Einzelfalles sind zu vielschichtig für generelle Aussagen (BGHSt 27, 212, 216; Franke in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 59; KKHannich 5. Aufl. StPO § 121 GVG Rdnr. 36; Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist nicht davon auszugehen, dass die Oberlandesgerichte Braunschweig und Stuttgart die Verhängung von die Mindeststrafe übersteigenden Freiheitsstrafen unabhängig von der strafrechtlichen Vergangenheit des Täters in Fällen des Diebstahls sehr geringwertiger Sachen aus Kaufhäusern und des Erschleichens sehr geringwertiger Leistungen stets als Verstöße gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens und gegen das Übermaßverbot bewertet haben.
Das Oberlandesgericht Braunschweig hat in dem von ihm zu entscheidenden Fall die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von zwei Monaten beanstandet, weil es das Tatunrecht im doppelten Sinne als denkbar gering angesehen hat: Zum einen wegen der wertmäßigen Geringfügigkeit der entwendeten Schachtel Zigaretten, zum anderen im Hinblick auf die bloß "abstrakte Warenwert-Entziehung" im Kaufhaus, ohne dass dadurch eine "konkret-personale Sphäre" betroffen gewesen sei. Bereits der letztgenannte Gesichtspunkt macht deutlich, dass das Oberlandesgericht Braunschweig seine Entscheidung nicht auf alle Fälle des Diebstahls von Waren im Wert von 5,00 DM oder weniger aus Supermärkten ausdehnen wollte.
(…)
Schließlich ist in die Auslegung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Braunschweig einzubeziehen, dass er nach dem Verständnis des vorlegenden Oberlandesgerichts nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stünde. Dies kann im Hinblick auf die Bedeutung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die Vorlegungspflicht der Oberlandesgerichte (vgl. BGHSt 44, 171, 173) nicht unberücksichtigt bleiben. Bereits 1979 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die gesetzliche Regelung , die für den Diebstahl geringwertiger Sachen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe androht, mit dem Grundgesetz vereinbar ist (BVerfGE 50, 205, 214 ff).
Unter Berufung auf diese Senatsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1994 festgestellt, dass die Verhängung einer die Mindeststrafe übersteigenden kurzen Freiheitsstrafe auch in Fällen des Diebstahls geringwertiger Sachen verfassungsgemäß sein kann, wenn der Täter mehrfach und überwiegend einschlägig vorbestraft ist (BVerfG, Beschluss vom 09.06.1994 - 2 BvR 710/94). (…) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 09.06.1994 klargestellt, dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 StGB nicht erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht kommt. Zugleich hat es die gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafen, also auch die Einzelfreiheitsstrafe von zwei Monaten wegen des Diebstahls von zwei Flaschen Bier im Wert von 1,40 DM aus einem Supermarkt angesichts seiner vielfachen, überwiegend einschlägigen Vorstrafen als mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens vereinbar angesehen.
Auch das Oberlandesgericht Stuttgart hat lediglich in einer Einzelfallentscheidung die Verhängung von zweimonatigen Freiheitsstrafen für Leistungserschleichungen mit einem Schaden von 1,65 Euro als nicht mehr schuldangemessen bewertet. Maßgeblich hierfür war ersichtlich eine einzelfallbezogene Abwägung der wesentlichen Strafzumessungsgesichtspunkte.
(…)
Der vom Oberlandesgericht Naumburg aus den Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichtes Stuttgart hervorgehobene Satz ("Die Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und Tatunrecht ist bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro - ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit des Angeklagten - unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar.") ist bei verständiger Würdigung nur Ergebnis dieser Einzelfallabwägung. Er ist zwar allgemein formuliert, wird in dem ihm vom Oberlandesgericht Naumburg zugemessenen Bedeutungsgehalt vom Oberlandesgericht Stuttgart jedoch nicht begründet. Da er zudem in auf den Einzelfall bezogene Erwägungen eingebettet ist, ist davon auszugehen, dass das Oberlandesgericht Stuttgart die Verhängung von zweimonatiger Freiheitsstrafe für Leistungserschleichungen mit einem Schaden von 1,65 Euro nicht allgemein, sondern nur in dem ihm vorliegenden Verfahren als nicht mehr schuldangemessen erachtete.“
12
Dem stimmt der Senat zu. Es entscheidet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls, ob bei Bagatelldelikten bis zu einer bestimmten Schadensgrenze die gesetzliche Mindeststrafe übersteigende Freiheitsstrafen nicht mehr schuldangemessen sind. Diese Frage ist deshalb einer Vorlegung nach § 121 Abs. 2 GVG nicht zugänglich.
Tepperwien Maatz Athing
Solin-Stojanović Sost-Scheible

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

30
Allerdings kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei der Bildung einer Gesamtstrafe strafmildernd ins Gewicht fallen, dass zwischen den einzelnen Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 1995 – 1 StR 463/95, BGHR StGB § 54 Serienstraftaten 3 mwN). Auch bei der Bemessung einer Gesamtstrafe gilt jedoch, dass das Gesetz bei der Strafzumessung "von jedem Sche- matismus …" weit entfernt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt34, 345, 351). Vielmehr richtet es sich nach den Umständen des Einzelfalles, ob der genannte enge Zusammenhang bei der Gesamtstrafenbildung als bestimmender Strafzumessungsgrund im Sinne von § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO maßgeblich zu Gunsten des Täters zu werten und daher ausdrücklich zu erwägen ist oder nicht (BGH, Urteil vom 18. September 1995 aaO). Die strafmildernde Bedeutung dieses Umstandes beruht – etwa im Bereich von Sexualdelikten – darauf, dass die wiederholte Verwirklichung gleichartiger , gegen dasselbe Opfer gerichteter, einer persönlichen Beziehung entspringenden Taten nicht notwendig Ausdruck einer sich steigernden rechtsfeindlichen Einstellung sein muss; vielmehr kann die Hemmschwelle für die späteren Taten von Tat zu Tat niedriger geworden sein (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 1995 aaO).

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 417/16
vom
10. November 2016
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge mit Waffen u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:101116B1STR417.16.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 10. November 2016
beschlossen:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8. März 2016 wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO). 2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat: Entgegen dem Revisionsvorbringen erfolgte die Bildung der Gesamtstrafe gemäß § 54 StGB ohne Rechtsfehler. Der Tatrichter war nicht gehindert, die in drei von neun Fällen verwirkte höchste Einzelstrafe (fünf Jahre und sechs Monate) auf 13 Jahre und sechs Monate zu erhöhen. 1. Die Bemessung der Gesamtstrafe im Rahmen der Gesamtstrafenbildung nach § 54 Abs. 1 StGB ist im Wege einer Gesamtschau des Unrechtsgehalts und des Schuldumfangs durch einen eigenständigen Zumessungsakt vorzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1971 – 1 StR 485/71, BGHSt 24, 268, 269 f.; Beschluss vom 17. Dezember 2013 – 4 StR 261/13). Der Summe der Einzelstrafen kommt nur ein geringes Gewicht zu, maßgeblich ist die angemessene Erhöhung der Einsatzstrafe unter zusammenfassender Würdigung der Person des Täters und der einzelnen Straftaten (§ 54 Abs. 1 Satz 3 StGB). Dabei ist vor allem das Verhältnis der einzelnen Taten zueinander, ihre größere oder geringere Selbstständigkeit, die Häufigkeit der Begehung, die Gleichheit oder Verschiedenheit der verletzten Rechtsgüter und der Begehungsweisen sowie das Gesamtgewicht des abzuurteilenden Sachverhalts zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 30. November 1971 – 1 StR 485/71, BGHSt 24, 268, 269 f.). Besteht zwischen den einzelnen Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang hat die Erhöhung der Einsatzstrafe in der Regel geringer auszufallen (BGH, Beschlüsse vom 13. April 2010 – 3 StR 71/10, NStZ-RR 2010, 238 und vom 13. November 2008 – 3 StR 485/08). Wird die Einsatzstrafe erheblich erhöht, bedarf dies näherer Begründung (BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2006 – 2 StR 346/06, NStZ 2007, 326). Eine starke Erhöhung der Einsatzstrafe bedarf besonderer Begründung, wenn sich diese nicht aus den fehlerfrei getroffenen Feststellungen von selbst ergibt. Da der Strafzumessung eine "Mathematisierung" fremd ist, kann – anders als der Revisionsführer meint – ein Rechtsfehler nicht allein darin gesehen werden, dass die Einsatzstrafe auf das etwa Zweieinhalbfache erhöht wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 25. August 2010 – 1 StR 410/10, NStZ 2011, 32; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 54 Rn. 7a). Derartige mathematische Überlegungen finden im Gesetz keine Stütze; auch bei der Bemessung einer Gesamtstrafe gilt, dass das Gesetz bei der Strafzumessung "von jedem Schematismus" weit entfernt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 351; Urteil vom 28. März 2013 – 4 StR 467/12). Der Tatrichter kann auch nicht dazu gezwungen werden, eine schuldunangemessene erhöhte Einsatzstrafe festzusetzen, um die rechtsfehlerfreie Verhängung einer tat- und schuldangemessenen Gesamtstrafe zu ermöglichen (vgl. BGH, Urteil vom 23. April 1997 – 3 StR 16/97, BGHR StGB § 54 Strafhöhe

1).


Das Revisionsgericht hat nur auf Rechtsfehler einzugreifen. Diese können insbesondere dann vorliegen, wenn die Gesamtstrafe sich nicht innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens befindet oder die gebotene Begründung für die Gesamtstrafe fehlt, oder wenn die Besorgnis besteht, der Tatrichter habe sich von der Summe der Einzelstrafen leiten lassen (vgl. hierzu u.a. BGH, Beschluss vom 3. Februar 1999 – 2 StR 678/98 mwN). Eine ungewöhnlich hohe Divergenz zwischen Einsatzstrafe und Gesamtstrafe kann (jedenfalls beim Fehlen einer tragfähigen Begründung) die letztgenannte Besorgnis begründen (BGH, Beschluss vom 25. August 2010 – 1 StR 410/10, NStZ 2011, 32 mwN). 2. Solche Rechtsfehler sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Tatrichter hat die Erhöhung der Einsatzstrafe nicht nur durch zulässige (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 1971 – 1 StR 485/71, BGHSt 24, 268, 271; BGH, Urteil vom 17. August 1988 – 2 StR 353/88, BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 1 und Beschluss vom 15. August 1989 – 1 StR 382/89, BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 4) Bezugnahme auf die Strafzumessungserwägungen begründet, die den neun wegen Straftaten nach dem BtMG verhängten Einzelstrafen zugrunde lagen. Er hat den das Tatgeschehen charakterisierenden langen Tatzeitraum hervorgehoben, der mit Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (220 Kilogramm Haschisch ) in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge im März 2007 begann und im Dezember 2014 mit bewaffnetem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sein Ende fand. Dazwischen lagen sieben weitere Straftaten, von denen jeweils drei Taten (Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge – 70 bzw. 80 Kilogramm Haschisch – in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) mit den Einsatzstrafen geahndet worden sind. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden; denn die in einem Zeitraum von siebeneinhalb Jahren eingebetteten und im Verhältnis zueinander eine große
Selbständigkeit aufweisenden Taten heben das Geschehen von typischen Serienstraftaten ab. Der Festsetzung einer dem Gesamtgewicht des Sachverhalts gerecht werdenden Gesamtstrafe stand nicht entgegen, dass die Strafkammer die Einsatzstrafen noch in der unteren Hälfte des angewandten Strafrahmens festgesetzt hat und das Gewicht der einzelnen Taten, wie es rechtlich möglich gewesen wäre, nicht schon durch die Festsetzung höherer Einzelstrafen berücksichtigt hat. Deshalb war es rechtlich geboten, die für das Gesamtgewicht maßgeblichen Umstände, sofern sie nicht schon vollständig die Einzelstrafen mitbestimmt haben, jedenfalls bei der Gesamtstrafenbildung angemessen zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 1995 – 1 StR 463/95, BGHR StGB § 54 Serienstraftaten 3; BGH, Urteile vom 23. Oktober 1997 – 4 StR 347/97, NStZ-RR 1998, 236 und vom 21. März 2006 – 1 StR 61/06, NStZ-RR 2007, 72). Das hat das Landgericht getan. Die der Bemessung der Einzelstrafen vorangestellten Erwägungen, auf die das Landgericht bei der Gesamtstrafenbildung Bezug genommen hat, belegen, dass es die für die vorzunehmende Gesamtwürdigung des Täters und seines Verhaltens bedeutsamen
Umstände bedacht hat. In der Gesamtschau der Taten hattenUnrechtsgehalt und Schuldumfang hier besonderes Gewicht. Graf Cirener Radtke Mosbacher Fischer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert
worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter
näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil
der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Miebach,
Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kolz und Becker am
17. Januar 2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

Gründe:


I.

1
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
2
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Re- vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet es die Revisionsführerin als sachlichrechtlichen Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche Mindestmaß unterschreitet.
3
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb abgeschlossenen Gebäude-, Inventar - und Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
4
Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt, dass ohne Berücksichtigung dieser Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei. Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
5
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten gebildet.
6
2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch aufzuheben.
7
a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden, dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des Landge- richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne Berücksichtigung der Verzögerung auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
8
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die gebotene Kompensation für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen , dass auf die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
9
b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3. Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3. Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran anknüpfenden Folge- regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er möchte daher dieses Modell generell anwenden und demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
10
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007, 3294).
11
3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.

II.

12
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG sind gegeben.
13
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des 3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen ; die Gründe hierfür hat der Große Senat an dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs ergäbe.

III.

14
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des Vorlegungsbeschlusses.
15
Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer Kompensation dieses Verstoßes , die nicht nur mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem nationalen deutschen Straf- und Strafprozess- recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben. Deren Überschreitung könnte aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation zur Verfügung stünde , die die Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB unberührt lässt. Eine solche liegt mit der Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
16
Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge, die für die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung belässt sie der unrechts- und schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion. Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
17
Im Einzelnen:
18
1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte. Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2. Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
19
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft) entlassen zu werden. Regelungen darüber , welche sonstigen Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben , auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
20
2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit gewähre , reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen (BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w. N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur deren Einstellung gemäß § 153 StPO führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt 24, 239, 242 f.).
21
Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden und -schärfenden Aspekte selbständig , auch neben dem schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
22
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
23
a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./. Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm. Kühne) in zwei gegen die dortigen Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der Beschwerdeführer erachtet , dass diesen die Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine Überprüfung der Berücksichtigung der Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche, soweit dieses schließlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S. 382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen an die den Beschwerdeführern zu gewährende Kompensation zu stellen gewesen wären, um den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die Entscheidung nicht.
24
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerieten sie in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG - Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
25
Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert , aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe, erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003, 2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
26
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin präzisiert , dass es nicht genüge, die Verletzung des Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG - Kammer - NStZ 1997, 591).
27
c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze durch die Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses ) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl. BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV 2002, 598).
28
3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
29
a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen. So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht , wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239, 242). Ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von der ge- setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
30
In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
31
Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar mildesten Fall noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl. Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden muss, sei es in der Form eines „Härteausgleichs“ (s. für den Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt 31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275 f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.; StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von § 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
32
b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK für den Ausgleich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
33
aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7. August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei ist auch das Verständnis zu berücksichtigen , das sie in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
34
Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm. Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes bewirken können.
35
Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die Kompensation für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007, 254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159; Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254; Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f. m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese Umstände für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294 f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV 2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht schleppend geführten Zivilprozesses oder einem Bürger , der an einem verzögerten Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
36
Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im Großteil der Fälle dazu führen, dass der gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen, die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben (s. oben a).
37
bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an eine hinreichende Kompensation stellen.
38
Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 - Ver-waltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005, 475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren ). Dies legt es nahe, dass aus der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende Feststellung selbst getroffen hätten.
39
Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m. w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26. Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
40
Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen Opportunitätsgrundsätzen) je nach den Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO: EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
41
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s. dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR 1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487, 494; Italien: s. näher Ress in Festschrift Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003, 2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März 2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht enthält demgegenüber keine Regelungen , die es den Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.
42
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206; s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60 StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im Erkenntnisverfahren vorzu- nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
43
4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das Vollstreckungsmodell.
44
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die nach den Maßstäben des § 46 StGB zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe maßgeblich etwa für die Fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis 3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60 StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§ 79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung, die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen (§§ 53, 54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
45
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) - ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229, 230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen.
46
b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S. 351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270, 271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH wistra 2004, 470).
47
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann, künftig den durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation - für die Gesamtstrafe.
48
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die Kompensation ausschließlich an die - für die Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
49
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und daher „grundsätzlich“ als Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen - bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl. dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts- und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders wäre es auch kaum erklärbar, dass das Bundesverfassungs- gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt, dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen seitens der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sind, im Urteil dadurch Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Genüge getan wie durch die bezifferte Reduzierung der Strafe.
50
6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte - gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken (s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen ; denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des neuen Modells.
51
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö- gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
52
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt, ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
53
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit größerer Flexibilität für die Reststrafenaussetzung).

IV.

54
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen auszurichten:
55
1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
56
Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastun- gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
57
In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen, welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.
58
2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist - wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
59
Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden (vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung berufene Gericht hat dann festzulegen , in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben. Hirsch Rissing-vanSaan Basdorf Maatz Miebach Wahl Bode Kuckein Gerhardt Kolz Becker

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert
worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter
näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil
der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Miebach,
Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kolz und Becker am
17. Januar 2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

Gründe:


I.

1
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
2
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Re- vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet es die Revisionsführerin als sachlichrechtlichen Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche Mindestmaß unterschreitet.
3
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb abgeschlossenen Gebäude-, Inventar - und Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
4
Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt, dass ohne Berücksichtigung dieser Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei. Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
5
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten gebildet.
6
2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch aufzuheben.
7
a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden, dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des Landge- richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne Berücksichtigung der Verzögerung auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
8
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die gebotene Kompensation für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen , dass auf die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
9
b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3. Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3. Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran anknüpfenden Folge- regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er möchte daher dieses Modell generell anwenden und demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
10
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007, 3294).
11
3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.

II.

12
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG sind gegeben.
13
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des 3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen ; die Gründe hierfür hat der Große Senat an dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs ergäbe.

III.

14
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des Vorlegungsbeschlusses.
15
Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer Kompensation dieses Verstoßes , die nicht nur mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem nationalen deutschen Straf- und Strafprozess- recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben. Deren Überschreitung könnte aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation zur Verfügung stünde , die die Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB unberührt lässt. Eine solche liegt mit der Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
16
Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge, die für die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung belässt sie der unrechts- und schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion. Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
17
Im Einzelnen:
18
1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte. Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2. Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
19
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft) entlassen zu werden. Regelungen darüber , welche sonstigen Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben , auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
20
2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit gewähre , reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen (BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w. N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur deren Einstellung gemäß § 153 StPO führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt 24, 239, 242 f.).
21
Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden und -schärfenden Aspekte selbständig , auch neben dem schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
22
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
23
a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./. Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm. Kühne) in zwei gegen die dortigen Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der Beschwerdeführer erachtet , dass diesen die Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine Überprüfung der Berücksichtigung der Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche, soweit dieses schließlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S. 382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen an die den Beschwerdeführern zu gewährende Kompensation zu stellen gewesen wären, um den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die Entscheidung nicht.
24
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerieten sie in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG - Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
25
Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert , aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe, erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003, 2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
26
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin präzisiert , dass es nicht genüge, die Verletzung des Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG - Kammer - NStZ 1997, 591).
27
c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze durch die Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses ) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl. BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV 2002, 598).
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3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
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a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen. So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht , wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239, 242). Ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von der ge- setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
30
In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
31
Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar mildesten Fall noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl. Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden muss, sei es in der Form eines „Härteausgleichs“ (s. für den Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt 31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275 f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.; StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von § 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
32
b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK für den Ausgleich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
33
aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7. August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei ist auch das Verständnis zu berücksichtigen , das sie in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
34
Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm. Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes bewirken können.
35
Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die Kompensation für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007, 254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159; Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254; Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f. m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese Umstände für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294 f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV 2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht schleppend geführten Zivilprozesses oder einem Bürger , der an einem verzögerten Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
36
Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im Großteil der Fälle dazu führen, dass der gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen, die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben (s. oben a).
37
bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an eine hinreichende Kompensation stellen.
38
Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 - Ver-waltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005, 475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren ). Dies legt es nahe, dass aus der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende Feststellung selbst getroffen hätten.
39
Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m. w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26. Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
40
Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen Opportunitätsgrundsätzen) je nach den Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO: EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
41
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s. dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR 1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487, 494; Italien: s. näher Ress in Festschrift Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003, 2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März 2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht enthält demgegenüber keine Regelungen , die es den Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.
42
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206; s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60 StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im Erkenntnisverfahren vorzu- nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
43
4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das Vollstreckungsmodell.
44
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die nach den Maßstäben des § 46 StGB zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe maßgeblich etwa für die Fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis 3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60 StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§ 79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung, die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen (§§ 53, 54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
45
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) - ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229, 230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen.
46
b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S. 351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270, 271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH wistra 2004, 470).
47
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann, künftig den durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation - für die Gesamtstrafe.
48
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die Kompensation ausschließlich an die - für die Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
49
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und daher „grundsätzlich“ als Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen - bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl. dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts- und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders wäre es auch kaum erklärbar, dass das Bundesverfassungs- gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt, dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen seitens der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sind, im Urteil dadurch Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Genüge getan wie durch die bezifferte Reduzierung der Strafe.
50
6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte - gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken (s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen ; denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des neuen Modells.
51
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö- gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
52
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt, ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
53
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit größerer Flexibilität für die Reststrafenaussetzung).

IV.

54
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen auszurichten:
55
1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
56
Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastun- gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
57
In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen, welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.
58
2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist - wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
59
Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden (vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung berufene Gericht hat dann festzulegen , in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben. Hirsch Rissing-vanSaan Basdorf Maatz Miebach Wahl Bode Kuckein Gerhardt Kolz Becker

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 S t R 5 3 5 / 1 4
vom
13. Mai 2015
in der Strafsache
gegen
wegen sexueller Nötigung u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
, zu Ziffer 3. auf dessen Antrag, und nach Anhörung des Beschwerdeführers
am 13. Mai 2015 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 22. August 2014 im Strafausspruch aufgehoben. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
Der Schuldspruch ist rechtlich nicht zu beanstanden, jedoch kann der Strafausspruch keinen Bestand haben.
3
Das Landgericht hat zur Strafrahmenwahl und zur Strafzumessung im engeren Sinn nur eine summarische Begründung mitgeteilt. Dabei hat es dem Angeklagten für alle Fälle unter anderem angelastet, dass er "über einen langen Zeitraum eine Mehrzahl von Taten zum Nachteil von vier verschiedenen Tatopfern beging". Ferner spreche die "erhebliche kriminelle Energie des Angeklagten" gegen ihn. Diese komme darin zum Ausdruck, dass der Angeklagte von dem Zeugen K. auf Taten zum Nachteil seiner Töchter E. und G. angesprochen und deswegen sogar körperlich angegangen worden sei, aber sich davon nicht von weiteren Taten zum Nachteil der Nebenklägerin De. C. habe abhalten lassen.
4
Diese Begründung begegnet rechtlichen Bedenken.
5
Der Zeitraum von rund zehn Jahren, über den sich die fünf Taten zum Nachteil von vier verschiedenen Opfern verteilen, kann nicht bei jeder Einzeltat als strafschärfender Gesichtspunkt gewertet werden. Die Strafkammer hat auch außer Betracht gelassen, dass die anfänglichen Taten lange zurückliegen und zwischen den Einzeltaten zum Teil erhebliche zeitliche Abstände liegen.
6
Auch die Konfrontation des Angeklagten mit Missbrauchsvorwürfen des Zeugen K. kann nicht, erst recht nicht für alle Fälle in gleicher Weise , eine derart erhebliche kriminelle Energie andeuten, dass deshalb in jedem Fall von einer Strafrahmenverschiebung abzusehen wäre.
7
Die Strafkammer hat schließlich nicht berücksichtigt, dass die Taten, namentlich die als schwerste Einzeltat bewertete sexuelle Nötigung im Jahre 2001 oder 2002 zum Nachteil der Nebenklägerin Di. C. im Fall II.2.1. zur Zeit des Urteils bereits lange zurücklagen. Mag dies auch bei Missbrauchsdelikten mit anhaltenden psychischen Folgen für die Opfer von geringerem Gewicht sein als in anderen Deliktsbereichen, so wäre der erhebliche Zeitablauf zwischen Tat und Urteil hier doch als Gesichtspunkt für die Strafrahmenwahl und Strafzumessung zu erörtern gewesen.
8
Die Aufhebung des Strafausspruchs folgt nur aus Wertungsfehlern. Die zugehörigen Feststellungen sind rechtsfehlerfrei getroffen worden und können aufrecht erhalten werden. Ergänzende Feststellungen durch das neue Tatgericht sind möglich, soweit sie nicht in Widerspruch zu den bisherigen Feststellungen stehen. Fischer Roggenbuck Eschelbach Zeng Bartel

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 S t R 1 2 8 / 1 5
vom
29. September 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Untreue
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 29. September 2015 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 28. April 2014, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, im Strafausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Wirtschaftsstrafkammer zuständige andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Untreue in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 180 Tagessätzen zu jeweils 30 € verurteilt. Die hiergegen gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
Der Strafausspruch hat keinen Bestand, denn die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es bei der für die Bemessung der Strafen erforderlichen Gesamtwürdigung aller für die Wertung der Taten und des Täters in Betracht kommender Umstände wesentliche mildernde Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat.
3
Die Strafkammer hatte schon nicht im Blick, dass zwischen den abgeurteilten Taten und dem Urteil sieben bzw. neun Jahre vergangen sind und dass eine solch lange Zeitspanne zwischen Begehung der Tat und ihrer Aburteilung einen wesentlichen Strafmilderungsgrund darstellt (vgl. Senat, Urteil vom 20. Dezember 1995 - 2 StR 468/95, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Zeitablauf 1 mwN). Daneben hätte das Tatgericht hier strafmildernd zu bedenken gehabt, dass auch einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommt, wenn sie für den Angeklagten mit besonderen Belastungen verbunden ist (BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2009 - 3 StR 173/09, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 20; vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 142). Ein großer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Aburteilung sowie eine lange Verfahrensdauer und ihre nachteiligen Auswirkungen auf den Angeklagten stellen regelmäßig selbst dann gewichtige Milderungsgründe dar, wenn diese sachlich bedingt waren (BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2010 - 2 StR 344/10, NStZ 2011, 651 mwN).
4
Das Schweigen der Urteilsgründe hierzu legt nahe, dass das Tatgericht diese bestimmenden Milderungsgründe im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO in seiner Bedeutung verkannt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2011 - 5 StR 585/10, NStZ-RR 2011, 171).
5
Über den Strafausspruch ist daher neu zu befinden. Die ihm zugrunde liegenden Feststellungen sind rechtsfehlerfrei getroffen worden und können bestehen bleiben. Hierzu nicht in Widerspruch stehende ergänzende Feststellungen sind zulässig. Appl Eschelbach Ott Zeng Bartel

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 ARs 5/16
vom
10. Mai 2016
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
hier: Antwort auf den Anfragebeschluss des 3. Strafsenats
vom 29. Oktober 2015 – 3 StR 342/15
ECLI:DE:BGH:2016:100516B1ARS5.16.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Mai 2016 gemäߧ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG beschlossen:
Die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 1. Strafsenats, der an dieser festhält.

Gründe:

I.

1
Der 3. Strafsenat hat über die Revision eines Angeklagten zu entscheiden , der wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist. Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es zwischen 1990 und 1994 zu sexuellen Missbrauchstaten des Angeklagten zu Lasten seiner im März 1985 geborenen Tochter. Während der Taten erklärte er seiner Tochter, dies gehöre dazu und eine gute Tochter mache das so. Er schärfte ihr auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da ihm sonst Gefängnis drohe. Der 3. Strafsenat möchte das Urteil im gesamten Strafausspruch aufheben. Anlass hierzu gibt ihm die Wertung des Landgerichts, wonach zwar zugunsten des Angeklagten spreche, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen, dieser Umstand jedoch nicht in gleicher Weise wie bei anderen Straftaten berücksichtigt werden könne, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld geschehen und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde. Der anfragende Senat sieht hierin eine sachlich nicht gerechtfertigte Vermischung von Gesichtspunkten der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er beabsichtigt daher zu entscheiden: „Dem zeitlichenAbstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kin- des die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.“
2
Hieran sieht er sich jedoch durch entgegenstehende Rechtsprechung des 1. Strafsenats (Senat, Beschluss vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06) gehindert.

II.

3
An der in dem in Bezug genommenen Beschluss geäußerten Rechtsansicht hält der Senat grundsätzlich fest.
4
Der Senat hat damals ausgeführt, dass dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zukomme. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.
5
Der Senat hatte sich dabei auf eine frühere Entscheidung des anfragenden Senats (Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749) gestützt. Dem lag eine Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs der Tochter zugrunde. Einwänden gegen die Strafzumessung – insbesondere unter dem Aspekt der nicht ausreichenden Berücksichtigung des langen zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil – hat der anfragende Senat damals entgegengehalten, dass gerade dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei solchen Missbrauchsfällen nur eine eingeschränkte Bedeutung zukomme. Denn kindliche Opfer, insbesondere wenn sie vom im gleichen Familienverband lebenden eigenen Vater missbraucht werden, fänden häufig erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige. Dem entspreche, dass der Gesetzgeber mit der durch das 30. StrÄndG eingeführten Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB das Ruhen der Verjährung bei Straftaten nach §§ 176 bis 179 StGB bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres des Opfers angeordnet und damit zu erkennen gegeben habe, dass er solche Delikte auch noch nach längerem zeitlichen Abstand für verfolgungswürdig erachtet.

III.

6
Mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern strafmildernd auswirkt, kann nicht allgemein, sondern nur nach Lage des Einzelfalls beurteilt werden. Der Senat hält daran fest, dass das Tatgericht dabei die gesetzgeberische Wertung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB berücksichtigen darf.
7
1. Der Senat ist mit dem anfragenden Senat und der einhelligen Rechtsprechung der Ansicht, dass allein einem besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt – unabhängig von der Dauer des Strafverfahrens –, strafmildernde Wirkung zukommt (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1998 – 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f. und vom 29. September 2015 – 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7). Dies gilt grundsätzlich für alle Delikte (vgl. Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl., Rn. 746: „bei den meisten Delikten“), auch für die Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern; ausgenommen sind lediglich solche Delikte, bei denen nach der gesetzgeberischen Entscheidung nur das aus der Verwirklichung von objektivem und subjektivem Tatbestand abzuleitende Tatunrecht die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechtfertigt (BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041/88, 78/89, BVerfGE 86, 288, 310, 323).
8
2. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses gegenüber der Verfahrensdauer unabhängigen (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 29. September 2015 – 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7; vom 21. Dezember 1998 – 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 24. Juli 1991 – 5 StR 286/91, NStZ 1992, 78 und vom 29. November 1985 – 2 StR 596/85; NStZ 1986, 217) Strafzumessungsaspekts ist hingegen in der Rechtsprechung nicht eindeutig (vgl. zusammenfassende Darstellung bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie, 2015, S. 158; kritisch zur Behandlung durch die Rechtsprechung Frisch, 50 Jahre Bundesgerichtshof: Festgabe aus der Wissenschaft , 2000, Bd. 4, S. 269, 298).
9
a) Schon in einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone (Urteil vom 26. Oktober 1948 – StS 59/48, OGHSt 1, 119, 121) wird die lange Zeitspanne als Strafzumessungsaspekt anerkannt. Als Begründung der strafmildernden Wirkung wird darauf abgestellt, dass die Zeit schließlich auch schwere Wunden heile, und je weniger im Laufe der Zeit der Schaden empfunden werde, den jemand schuldhaft einem anderen zugefügt habe, umso geringer werde in der Regel das Sühnebedürfnis. Dieser Gedanke sei vom Gesetzgeber anerkannt, wie die Vorschriften über die Verjährung belegten. Konnte allerdings die Tat nicht durch deutsche Gerichte gesühnt werden, würden die Verletzungen sowohl durch das Opfer als auch durch die Allgemeinheit als un- verändert schmerzhaft empfunden, ihr Sühnebedürfnis bestehe ungemindert fort. Deswegen müsse diese Zeitspanne unberücksichtigt bleiben; der gesetzlich vorgesehene Ausschluss der Verjährung zeige, dass allein dies dem Gesetz entspreche (so auch OGH, Urteil vom 28. Juni 1949 – StS 16/49, OGHSt 2, 94, 98).
10
b) aa) Diesen Erwägungen hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen (BGH, Urteile vom 25. September 1952 – 4 StR 26/50 und vom 24. Januar 1952 – 4 StR 10/50). Dabei ist für die Frage der gerechten Sühne trotz Zeitablaufs die Sicht des Geschädigten gegenüber den Interessen der Allgemeinheit hervorgehoben worden. Habe er empfinden müssen, dass eine Sühne während dieses Zeitraums unmöglich war, so könne die heilende Wirkung des Zeitablaufs nicht eintreten (BGH, Urteil vom 27. November 1951 – 1 StR 303/51, BGHSt 2, 20, 22).
11
bb) In der Folge hat die Rechtsprechung die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs materiell mit einem geminderten Sühneanspruch (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, NStZ-RR 1998, 205) bzw. allgemein abnehmendem Strafbedürfnis (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90, NJW 1993, 3254) oder abnehmendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung begründet (BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 327/02 u.a., NJW 2003, 2225).
12
cc) Daneben ist aber in zunehmendem Umfang auf durch den Zeitablauf beeinflusste spezialpräventive Aspekte der Strafzumessung zur Begründung der strafmildernden Wirkung abgestellt worden. Jedenfalls dann, wenn der Täter sich während des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil straffrei verhalten habe, wirke dies strafmildernd (vgl. BGH, Urteil vom 19. Januar 1972 – 2 StR 607/71; Beschluss vom 6. September 1988 – 1 StR 473/88, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 3), bzw. erfordere dies eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, NStZ-RR 1998, 205; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 327/02 u.a., NJW 2003, 2225; BGH, Urteil vom 31. Oktober 1995 – 5 StR 470/94, NStZ-RR 1996, 120 und Beschluss vom 20. April 2005 – 5 StR 73/05 jeweils zu den Zwecken des Jugendstrafrechts entgegenstehenden Zeitablaufs). Auch sonstige, sich seit den Taten geänderte persönliche Umstände sind zur Gewichtung der strafmildernden Wirkung des Zeitablaufs herangezogen worden (BGH, Urteil vom 20. Dezember 1995 – 2 StR 468/95, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Zeitablauf 1: vorgerücktes Alter und angegriffener Gesundheitszustand).
13
dd) Vereinzelt ist der Belastung des Angeklagten durch den Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung strafmildernde Wirkung zuerkannt worden (BGH, Beschluss vom 24. Juli 1991 – 5 StR 286/91, NStZ 1992, 78).
14
3. Auch in der Literatur ist die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil anerkannt (Fischer, StGB, 63. Aufl., § 46 Rn. 61; MünchKommStGB/Miebach, 2. Aufl., § 46 Rn. 152). Soweit Erklärungsansätze hierfür unternommen werden, variieren diese, was auch durch abweichende strafzumessungstheoretische Fundamente bedingt ist. So wird darauf abgestellt , dass die Zeit schließlich auch schwere Wunden heile; mit ihrem Ablauf schwäche sich auch das Sühnebedürfnis ab und wandelten sich die präventiven Erfordernisse (Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181). Es wird auch argumentiert, dass die durch Zeitablauf eingetretene Entdramatisierung des deliktischen Geschehens und eine zwischenzeitliche soziale Bewährung des Täters als Strafmilderungsgründe in Betracht kommen (Streng, JR 2006, 256), der Zeitablauf den Normgeltungsschaden verringere (NK/Streng, StGB, 4. Aufl., § 46 Rn. 88), bzw. der Notwendigkeit der Wiederherstellung des Rechts eine gewisse zeitliche Dimension innewohne (Frisch aaO, S. 269, 299 f.; vgl. auch Stahl aaO, S. 159: Reaktionsbedürfnis) oder dass der Ablauf der Zeit Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lasse, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre, so etwa bei jahrelanger einwandfreier Führung und völliger Überwindung der Folgen der Tat durch den Verletzten (LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240).
15
4. Der Senat ist auf dem Boden dieser dargestellten Rechtsprechung ebenfalls der Ansicht, dass die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs bei hiervon unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Strafbedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne beruht. Daneben wird ein langer Zeitablauf aber auch besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände für die Strafzumessung auslösen.
16
Im Ergebnis entspricht dies auch der Sichtweise der dargestellten Stimmen aus der Wissenschaft, ohne dass es einer Auseinandersetzung mit den die unterschiedlichen Ausdrucksformen bedingenden Strafzumessungskonzepten bedürfte. Vor allem aber stimmt diese Sicht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben überein, wonach die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen muss. Strafe hat die Bestimmung , gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14, NJW 2016, 1149 mwN). Ihre Zumessung wird dementsprechend durch das Maß der Schuld und der Strafbedürftigkeit begrenzt (BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 1995 – 2 BvL 19/91 u.a., BVerfGE 92, 277, 326).
17
5. Die Anerkennung eines abnehmenden Strafbedürfnisses bzw. eines sich verringernden Sühneanspruchs in Folge von Zeitablauf führt aber zu der Notwendigkeit der individuellen Gewichtung dieses Faktors in Bezug auf die Bemessung der schuldangemessenen Strafe.
18
Inwieweit das Strafbedürfnis abnimmt bzw. sich das Sühnebedürfnis verringert , und in welchem Maße sich dadurch der Zeitablauf strafmildernd auswirkt , obliegt der Wertung des Tatgerichts. Denn diese Wertung ist Teil der Strafzumessung und damit grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen (vgl. hierzu nur BGH, Urteil vom 4. August 2015 – 1 StR 624/14, NJW 2015, 3047). Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Nur in diesem Rahmen kann eine Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. 1 StPO) vorliegen (BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349). Dies gilt auch für die Gewichtung des Zeitablaufs (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 – 5 StR 180/08, NStZRR 2008, 307).
19
6. Der Senat hält es nach diesen Maßgaben für rechtsfehlerfrei, wenn das Tatgericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls für die Bewertung der Abnahme des Strafbedürfnisses und der Minderung des Sühneanspruchs auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreift, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen sind. Der Ansicht des anfragenden Senats (zustimmend der 2. Strafsenat [Beschluss vom 6. April 2016 – 2 StR 219/15]), dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe, kann der Senat nicht teilen.
20
a) Die entsprechende Anknüpfung an die Verjährungsvorschriften entspricht der bisherigen Rechtsprechung auch jenseits der Entscheidungen des Senats vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06 und des anfragenden Senats vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99 zur Frage, wie sich der Zeitablauf bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auswirkt.
21
So findet sich der Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene Wertentscheidung bei der Gewichtung der Wirkung des Zeitablaufs schon in den oben unter III. 2. a) dargestellten Entscheidungen des OGH, auf die der Bundesgerichtshof ausdrücklich Bezug genommen hat. Aber auch in späteren Entscheidungen wurden die Wertungen der Verjährungsvorschriften vom Bundesgerichtshof entsprechend herangezogen. So ist ein Zeitraum zwischen Tat und Aburteilung, der fast an das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist heranreicht, als in der Regel wesentlicher Strafmilderungsgrund bewertet worden (BGH, Beschluss vom 22. Januar 1992 – 3 StR 440/91, NStZ 1992, 229). In einem Fall ist die tatrichterliche Gewichtung der Strafmilderung einer Zeitspanne zwischen Taten und Urteil deswegen für unzureichend erachtet worden, da der Zeitablauf an die absolute Verjährung heranreiche (BGH, Beschluss vom 26. Juli 1994 – 5 StR 113/94, StV 1995, 130). Hingegen ist dem Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung der Charakter eines bestimmenden Strafzumessungsgrundes in dem zu beurteilenden Fall aberkannt worden. Das wurde damit begründet, dass das Zeitmoment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30-jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund trete (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, StV 2011, 603).
22
Die Sicht auf die Verknüpfung in dem dargelegten Sinne wird auch vom Bundesverfassungsgericht geteilt, wenn es ausführt, dass der Gesetzgeber durch die Vorschrift des § 78 Abs. 2 StGB klar gestellt habe, dass er bei dem Delikt des Mordes selbst lange, zwischen Tatbegehung und Verurteilung liegende Zeiträume nicht als schuldmindernd bewertet wissen wolle und diese Zeitspannen auch das staatliche Interesse an der Strafverfolgung nicht beeinträchtigen (BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvR 750/06 u.a., NStZ 2006, 680, 682; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 21. Februar 2002 – 1 StR 538/01, StV 2002, 598). In einem Disziplinarverfahren hat es beanstandet, dass das Oberlandesgericht den Zeitablauf von sieben Jahren seit der letzten Disziplinarmaßnahme nicht zugleich mildernd in Rechnung gestellt habe, denn immerhin sei damit die Verjährungsfrist mittelschwerer Straftaten überschritten (BVerfG, Beschluss vom 12. August 2015 – 2 BvR 2646/13).
23
b) Die in der dargestellten Rechtsprechung zum Ausdruck gekommene Sicht auf die wertungsmäßig verwandte Gewichtung von nachlassendem Strafbedürfnis bzw. vermindertem Sühneanspruch als Strafzumessungsgesichtspunkt und als Ausgangspunkt für die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Länge der Verjährungsfrist, teilt der Senat. Zwar haben die Verjährungsvorschriften zum Teil eine andere Zielrichtung (vgl. hierzu im anfragenden Beschluss Rn. 8), letztlich aber kommt in ihnen auch zum Ausdruck, dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis gegenüber dem Täter infolge Zeitablaufs verneint (BGH, Urteil vom 17. Februar 1983 – 1 StR 813/82, MDR 1983, 590; zustimmend auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181; Hillenkamp, JR 1975, 133, 138; MünchKommStGB/Mitsch, 2. Aufl., § 78 Rn. 1; vgl. auch Frisch, aaO, S. 269, 300), mag man dies auch als Verfolgungsverzicht umschreiben (LK/Schmid, StGB, 12. Aufl., Vor § 78 Rn. 9). Nur vor dem Hintergrund, dass in der Länge der gesetzlich geregelten Verjährungsfristen eine Wertung des Straf- bedürfnisses trotz Zeitablaufs zum Ausdruck kommt, erklärt sich die Staffelung nach der Schwere des Delikts.
24
c) Die Bewertung des Zeitablaufs als strafmildernder Umstand ist genauso wie die Verjährungsvorschriften an der Frage des Erfordernisses von Strafe trotz Zeitablaufs orientiert, mag dies auch – wie oben unter III. 2. dargestellt – mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten umschrieben werden. Da es mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten geht (MünchKommStGB/Mitsch, 2. Aufl., Vor § 78 Rn. 2), ist revisionsrechtlich nichts dagegen einzuwenden, wenn das Tatgericht, welches die strafmindernde Wirkung gewichten muss, die gesetzgeberische Wertung aus dem Bereich der Verjährungsvorschriften in Bedacht nimmt. Dabei wird es jedoch die Umstände des Einzelfalls, insbesondere spezialpräventiv wirksame Aspekte, angemessen zu berücksichtigen haben.
25
d) Soweit eingewandt wird, der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen bestehe nicht darin, einer Verminderung von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 6. April 2016 – 2 StR 219/15, NStZRR 2016, 241), kann dies den Senat nicht zu einer anderen Ansicht bewegen. Denn die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs ist nicht per se quantitativ festgelegt, was freilich auch wenig Überzeugungskraft für sich hätte. Sie ist stattdessen – wie in der Darstellung unter III. 2. gezeigt – auf eine an den Strafzwecken orientierte Begründung zurückzuführen. Diese Erklärungen für die strafmildernde Wirkung – ohne dass man sich hierzu auf einen Begründungsansatz festlegen müsste – belegen aber, dass der Zeitablauf – genauso wenig wie andere Strafzumessungsaspekte (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 350 f.) – nicht stets gleich, quasi schematisch als für alle Delikte und unabhängig von Einzelfallumständen zu bemessen sein wird. Der Zeitablauf als Strafzumessungsfaktor ist so wie andere strafzumes- sungserhebliche Umstände vom Tatgericht zu werten und zu gewichten. Daher wird durch dessen Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung kein Strafzumessungsgrund vermindert. Vielmehr wird der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308) vom Tatgericht ausgefüllt. Dass dies bei Taten, die in längeren Fristen verjähren als andere Taten, zu einer demgegenüber geringeren Gewichtung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf führen mag (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, StV 2011, 603), hängt mit dem naturgemäß auf Wertungsprozessen beruhenden Strafzumessungsvorgang zusammen. Die Einbeziehung der verjährungsrechtlichen Regelungen in die strafmildernde Bewertung des Zeitablaufs führt deswegen nicht zu einer Verminderung feststehender, schematisch bestimmbarer Größen.
26
7. Zu den Verjährungsvorschriften, an denen sich das Tatgericht unter angemessener Berücksichtigung der Lage des Einzelfalls für die Bewertung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf orientieren darf, zählt auch die Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Gesetzgeber hat durch diese Vorschrift zu erkennen gegeben, dass er die dort aufgezählten Delikte auch noch nach längerem zeitlichen Abstand für verfolgungswürdig erachtet (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 29. Juni 1992, BT-Drucks. 12/2975, S. 4; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308). Seine Wertung, bei Katalogtaten des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ruhe die Verjährung mittlerweile bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers, ist mit guten Gründen vielfach kritisiert worden (vgl. nur Fischer, StGB, 63. Aufl., § 78b Rn. 3d). Dennoch ist diese Wertung verfassungskonform (vgl. zu früheren Fassungen BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2000 – 2 BvR 104/00, NJW 2000, 1554 mwN) und mithin von den Gerichten zu akzeptieren. Deshalb ist die Einbeziehung dieses Gesichtspunkts durch das Tatgericht bei der ihm oblie- genden Gewichtung eines Strafzumessungsfaktors revisionsrechtlich jedenfalls nicht zu beanstanden.
27
Dies erfährt Bestätigung durch die Gründe, die den Gesetzgeber zu der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bewogen haben. So ist im Gesetzentwurf ausgeführt, dass die Taten häufig erst später bekannt werden, wenn diese bereits viele Jahre zurückliegen. Die Taten werden überwiegend von Familienangehörigen begangen und die kindlichen oder jugendlichen Opfer bzw. ihre Vertrauenspersonen werden häufig unter Druck gesetzt oder auf andere Weise dahin beeinflusst, die Übergriffe zu verschweigen (Begründung des Gesetzentwurfs vom 29. Juni 1992, BT-Drucks. 12/2975, S. 4; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308). Damit ist aber eine Situation umschrieben, die für die Gewichtung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf im Hinblick auf dessen Legitimation als Reaktion auf nachlassendes Strafbedürfnis und verminderten Sühneanspruch Relevanz entfalten kann. Denn die strukturell unterlegene, dabei für grundlegende Bedürfnisse auf den Täter angewiesene Position des Opfers kann dazu führen, dass der Zeitablauf die Wunden nicht in dem Maße heilt, wie bei anderen Taten (vgl. auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181). Dies kann dazu führen, dass Sühneanspruch und damit das Strafbedürfnis der Allgemeinheit durch Zeitablauf nicht in dem Maße gemindert werden (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1951 – 1 StR303/51, BGHSt 2, 20, 22), wie bei einer von der Ausnutzung der gegenüber dem kindlichen Opfer überlegenen Stellung im Familienverbund losgelösten Tat.
28
In dem dem Anfragebeschluss zugrundeliegenden Urteil ist die Verknüpfung mit den Verjährungsvorschriften – soweit ersichtlich – nicht pauschal herangezogen worden. Vielmehr ist dies anhand der Umstände des Einzelfalls be- gründet worden, dass nämlich die späte Anzeige durch die Begehung der Taten im familiären Umfeld mitbedingt gewesen sei. Dies findet seine Stütze in dem mitgeteilten Sachverhalt, wonach das Opfer durch das Inaussichtstellen eines vermeintlichen Übels davon abgehalten worden ist, von den Taten zu erzählen.
29
Der Senat erachtet es – anders als der anfragende Senat – für nicht aussagekräftig, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten nicht den ersichtlichen Willen kundgetan hat, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren. Die Bewertung des Zeitablaufs für die Strafzumessung in Ansehung der Verjährungsvorschriften war schon vor Änderung der Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Rechtsprechung angelegt. Dies beruht darauf, dass Verjährung und strafmildernde Berücksichtigung des Zeitablaufs Reaktionen auf dasselbe – lediglich unterschiedlich stark ausgeprägte – Phänomen darstellen. Der Rückgriff auf gesetzgeberische Wertungen wurzelt in dieser Parallelität und nicht in einem gesetzgeberischen Willensakt. Raum Cirener Radtke Mosbacher Bär

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert
worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter
näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil
der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Miebach,
Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kolz und Becker am
17. Januar 2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

Gründe:


I.

1
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
2
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Re- vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet es die Revisionsführerin als sachlichrechtlichen Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche Mindestmaß unterschreitet.
3
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb abgeschlossenen Gebäude-, Inventar - und Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
4
Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt, dass ohne Berücksichtigung dieser Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei. Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
5
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten gebildet.
6
2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch aufzuheben.
7
a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden, dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des Landge- richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne Berücksichtigung der Verzögerung auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
8
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die gebotene Kompensation für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen , dass auf die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
9
b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3. Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3. Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran anknüpfenden Folge- regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er möchte daher dieses Modell generell anwenden und demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
10
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007, 3294).
11
3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.

II.

12
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG sind gegeben.
13
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des 3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen ; die Gründe hierfür hat der Große Senat an dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs ergäbe.

III.

14
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des Vorlegungsbeschlusses.
15
Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer Kompensation dieses Verstoßes , die nicht nur mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem nationalen deutschen Straf- und Strafprozess- recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben. Deren Überschreitung könnte aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation zur Verfügung stünde , die die Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB unberührt lässt. Eine solche liegt mit der Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
16
Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge, die für die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung belässt sie der unrechts- und schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion. Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
17
Im Einzelnen:
18
1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte. Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2. Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
19
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft) entlassen zu werden. Regelungen darüber , welche sonstigen Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben , auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
20
2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit gewähre , reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen (BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w. N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur deren Einstellung gemäß § 153 StPO führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt 24, 239, 242 f.).
21
Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden und -schärfenden Aspekte selbständig , auch neben dem schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
22
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
23
a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./. Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm. Kühne) in zwei gegen die dortigen Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der Beschwerdeführer erachtet , dass diesen die Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine Überprüfung der Berücksichtigung der Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche, soweit dieses schließlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S. 382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen an die den Beschwerdeführern zu gewährende Kompensation zu stellen gewesen wären, um den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die Entscheidung nicht.
24
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerieten sie in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG - Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
25
Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert , aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe, erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003, 2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
26
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin präzisiert , dass es nicht genüge, die Verletzung des Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG - Kammer - NStZ 1997, 591).
27
c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze durch die Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses ) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl. BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV 2002, 598).
28
3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
29
a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen. So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht , wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239, 242). Ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von der ge- setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
30
In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
31
Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar mildesten Fall noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl. Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden muss, sei es in der Form eines „Härteausgleichs“ (s. für den Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt 31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275 f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.; StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von § 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
32
b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK für den Ausgleich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
33
aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7. August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei ist auch das Verständnis zu berücksichtigen , das sie in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
34
Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm. Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes bewirken können.
35
Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die Kompensation für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007, 254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159; Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254; Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f. m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese Umstände für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294 f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV 2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht schleppend geführten Zivilprozesses oder einem Bürger , der an einem verzögerten Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
36
Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im Großteil der Fälle dazu führen, dass der gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen, die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben (s. oben a).
37
bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an eine hinreichende Kompensation stellen.
38
Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 - Ver-waltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005, 475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren ). Dies legt es nahe, dass aus der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende Feststellung selbst getroffen hätten.
39
Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m. w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26. Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
40
Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen Opportunitätsgrundsätzen) je nach den Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO: EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
41
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s. dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR 1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487, 494; Italien: s. näher Ress in Festschrift Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003, 2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März 2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht enthält demgegenüber keine Regelungen , die es den Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.
42
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206; s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60 StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im Erkenntnisverfahren vorzu- nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
43
4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das Vollstreckungsmodell.
44
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die nach den Maßstäben des § 46 StGB zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe maßgeblich etwa für die Fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis 3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60 StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§ 79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung, die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen (§§ 53, 54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
45
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) - ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229, 230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen.
46
b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S. 351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270, 271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH wistra 2004, 470).
47
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann, künftig den durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation - für die Gesamtstrafe.
48
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die Kompensation ausschließlich an die - für die Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
49
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und daher „grundsätzlich“ als Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen - bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl. dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts- und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders wäre es auch kaum erklärbar, dass das Bundesverfassungs- gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt, dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen seitens der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sind, im Urteil dadurch Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Genüge getan wie durch die bezifferte Reduzierung der Strafe.
50
6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte - gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken (s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen ; denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des neuen Modells.
51
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö- gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
52
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt, ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
53
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit größerer Flexibilität für die Reststrafenaussetzung).

IV.

54
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen auszurichten:
55
1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
56
Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastun- gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
57
In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen, welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.
58
2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist - wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
59
Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden (vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung berufene Gericht hat dann festzulegen , in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben. Hirsch Rissing-vanSaan Basdorf Maatz Miebach Wahl Bode Kuckein Gerhardt Kolz Becker

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt.

(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.

(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist

1.
dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind,
2.
zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind,
3.
zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind,
4.
fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
5.
drei Jahre bei den übrigen Taten.

(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.

Die Verjährung beginnt, sobald die Tat beendet ist. Tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später ein, so beginnt die Verjährung mit diesem Zeitpunkt.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Verjährung wird unterbrochen durch

1.
die erste Vernehmung des Beschuldigten, die Bekanntgabe, daß gegen ihn das Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, oder die Anordnung dieser Vernehmung oder Bekanntgabe,
2.
jede richterliche Vernehmung des Beschuldigten oder deren Anordnung,
3.
jede Beauftragung eines Sachverständigen durch den Richter oder Staatsanwalt, wenn vorher der Beschuldigte vernommen oder ihm die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben worden ist,
4.
jede richterliche Beschlagnahme- oder Durchsuchungsanordnung und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten,
5.
den Haftbefehl, den Unterbringungsbefehl, den Vorführungsbefehl und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten,
6.
die Erhebung der öffentlichen Klage,
7.
die Eröffnung des Hauptverfahrens,
8.
jede Anberaumung einer Hauptverhandlung,
9.
den Strafbefehl oder eine andere dem Urteil entsprechende Entscheidung,
10.
die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Abwesenheit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens oder im Verfahren gegen Abwesende zur Ermittlung des Aufenthalts des Angeschuldigten oder zur Sicherung von Beweisen ergeht,
11.
die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens zur Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten ergeht, oder
12.
jedes richterliche Ersuchen, eine Untersuchungshandlung im Ausland vorzunehmen.
Im Sicherungsverfahren und im selbständigen Verfahren wird die Verjährung durch die dem Satz 1 entsprechenden Handlungen zur Durchführung des Sicherungsverfahrens oder des selbständigen Verfahrens unterbrochen.

(2) Die Verjährung ist bei einer schriftlichen Anordnung oder Entscheidung in dem Zeitpunkt unterbrochen, in dem die Anordnung oder Entscheidung abgefasst wird. Ist das Dokument nicht alsbald nach der Abfassung in den Geschäftsgang gelangt, so ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem es tatsächlich in den Geschäftsgang gegeben worden ist.

(3) Nach jeder Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem. Die Verfolgung ist jedoch spätestens verjährt, wenn seit dem in § 78a bezeichneten Zeitpunkt das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist und, wenn die Verjährungsfrist nach besonderen Gesetzen kürzer ist als drei Jahre, mindestens drei Jahre verstrichen sind. § 78b bleibt unberührt.

(4) Die Unterbrechung wirkt nur gegenüber demjenigen, auf den sich die Handlung bezieht.

(5) Wird ein Gesetz, das bei der Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert und verkürzt sich hierdurch die Frist der Verjährung, so bleiben Unterbrechungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts vorgenommen worden sind, wirksam, auch wenn im Zeitpunkt der Unterbrechung die Verfolgung nach dem neuen Recht bereits verjährt gewesen wäre.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt.

(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.

(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist

1.
dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind,
2.
zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind,
3.
zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind,
4.
fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
5.
drei Jahre bei den übrigen Taten.

(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
StGB § 2 Abs. 3; § 78 Abs. 3 Nr. 3 und 4; § 179 F: 10. März 1987 und 1. Juli
1997
Bei der Prüfung des milderen Rechts ist die Frage der Verjährung jedenfalls
dann zu berücksichtigen, wenn ein Gesetz infolge der Umwandlung eines Qualifikationstatbestandes
in ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall
bei gleichem Strafrahmen den Eintritt der Verjährung zur Folge hat.
BGH, Beschluß vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05 - LG Limburg (Lahn)

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 122/05
vom
7. Juni 2005
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u. a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 7. Juni 2005 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Limburg (Lahn) vom 22. November 2004 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall 3 der Urteilsgründe wegen sexuellen Mißbrauchs Widerstandsunfähiger verurteilt worden ist; insoweit werden die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse auferlegt,
b) das genannte Urteil im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten mit der Maßgabe aufgehoben, daß eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, zu treffen ist. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in zwei Fällen und wegen sexuellen Mißbrauchs Widerstandsunfähiger unter Einbeziehung der Strafen aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Limburg vom 17. Juli 2000 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs
Monaten und wegen sexuellen Mißbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Es hat ferner gegen den Angeklagten ein lebenslanges Berufsverbot als Arzt und Psychotherapeut verhängt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlußformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. 1. Im Fall 3 der Urteilsgründe hat nach den Feststellungen der seinerzeit als Arzt und Psychotherapeut tätige Angeklagte an einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Jahre 1995 mit einer Patientin S., welche zum Tatzeitpunkt infolge einer schweren reaktiven Depression nicht in der Lage war, gegenüber dem sexuellen Ansinnen des Angeklagten einen Widerstandswillen zu bilden, den außerehelichen Beischlaf vollzogen. Das Landgericht hat der Verurteilung den zur Tatzeit geltenden § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB in der Fassung vom 10. März 1987 zugrunde gelegt, weil spätere Gesetzesfassungen nach einem Gesamtvergleich bezogen auf den konkreten Einzelfall nicht milder seien (§ 2 Abs. 3 und Abs. 1 StGB). Zwar stelle der vom Angeklagten vollzogene Beischlaf in der Fassung des § 179 StGB vom 1. Juli 1997 im Gegensatz zum Tatzeitrecht keine echte Qualifikation mehr dar, sondern sei lediglich noch als durch ein Regelbeispiel beschriebener besonders schwerer Fall ausgestaltet (§ 179 Abs. 3, 4 i.V.m. § 177 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB). Der Strafrahmen sei jedoch identisch, denn die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels werde im konkreten Fall auch unter Berücksichtigung der erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht durch andere Strafzumessungsfaktoren in der Art und Weise kompensiert, daß auf den normalen Strafrahmen zurückzugreifen sei. Die Fassung vom 1. Juli 1997 stelle sich auch im Hinblick auf eine hieraus folgende etwaige Verjährung nicht
auf eine hieraus folgende etwaige Verjährung nicht als milderes Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB dar. Zwar wäre unter Zugrundelegung des § 179 StGB in der Fassung vom 1. Juli 1997 gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 4 StGB die Tat zwischenzeitlich verjährt, da bei der Bestimmung der anzuwendenden Verjährungsfrist nicht mehr die für besonders schwere Fälle geltende Strafdrohung des § 179 Abs. 3 StGB zugrunde zu legen wäre, sondern diejenige des Grundtatbestandes des Absatzes 1. Bei konkreter Betrachtung sei dieses Gesetz jedoch nicht das mildere, weil bereits vor Eintritt der Verjährung unter Zugrundelegung des § 179 StGB in der Fassung vom 1. Juli 1997 dieser durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 erneut geändert worden sei. Nach der Fassung vom 26. Januar 1998 sei der Vollzug des Beischlafs wieder ein Qualifikationstatbestand (§ 179 Abs. 4 Nr. 1 StGB), so daß nicht mehr die fünfjährige Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB, sondern die zwanzigjährige nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB anzuwenden wäre. Während der gesamten Geltungsdauer des § 179 StGB in der Fassung vom 1. Juli 1997 wäre die Tat niemals verjährt gewesen, so daß insoweit kein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten vorliege, welches zu seinen Gunsten zu berücksichtigen wäre. 2. Diese Rechtsauffassung trifft nicht zu. Wird die Verjährungsfrist geändert, gilt das neue Recht mangels einer besonderen Übergangsregelung auch für bereits begangene Taten (Jähnke in LK 11. Aufl. vor § 78 Rdn. 11). Der Eintritt der Verjährung führt lediglich zu einem Verfahrenshindernis, weil er nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das "Ob" der Verfolgung berührt (vgl. auch BGHSt 46, 310, 317 für das Strafantragserfordernis). Insoweit betreffen die Verjährungsregeln lediglich die Verfolgbarkeit einer Tat; sie haben damit in erster Linie einen verfahrensrechtlichen Bezug (vgl. BVerfG NStZ 2000, 251). Verjährungsrechtliche Fragen sind
chen Bezug (vgl. BVerfG NStZ 2000, 251). Verjährungsrechtliche Fragen sind daher grundsätzlich nach den allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen zu behandeln und deshalb anhand der gesetzlichen Regelungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt der Entscheidung gelten. Der Tatrichter hat stets das für ihn am Gerichtsort aktuell geltende Verfahrensrecht anzuwenden. Bereits aufgehobene oder abgeänderte Verfahrensregelungen finden grundsätzlich nur Anwendung , wenn der Gesetzgeber dies ausdrücklich regelt (vgl. BGH, Beschluß vom 22. Februar 2005 – KRB 28/04). Anders sieht die Rechtslage jedoch aus, wenn eine Verlängerung der Verjährungsfrist auf einer nachträglichen Verschärfung der bei der Berechnung zugrundezulegenden Höchststrafen beruht (§ 78 Abs. 3 StGB). Eine Verschärfung der Strafdrohung muß nach § 2 Abs. 3 StGB außer Betracht bleiben, entsprechend bleibt es auch hinsichtlich der Verjährung bei der Anknüpfung an die mildere Strafdrohung (vgl. BGHR StGB § 78 Abs. 3 Fristablauf 2 m.w.N.; BGH GA 1954, 22; BGH bei Dallinger MDR 1954, 335; BGH, Beschluß vom 13. November 2002 – 4 StR 438/02; Dreher NJW 1962, 2209, 2210; Jähnke in LK 11. Aufl. vor § 78 Rdn. 11; Gribbohm in LK 11. Aufl. § 2 Rdn. 8; Rudolphi in SKStGB [Oktober 1998] § 78 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben StGB 26. Aufl. § 78 Rdn. 11; Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl. § 2 Rdn. 7 und § 78 Rdn. 5 a; vgl. auch BGHR StGB § 78 b Abs. 4 Strafdrohung 2; StGB § 129 a Verjährung 1; OLG Saarbrücken NJW 1974, 1009, 1010; anders RGSt 75, 52, 54; Jagusch in LK 8. Aufl. § 67 Anm. 3; Herlan GA 1955, 255). Die Verjährung richtet sich nach dem günstigeren Recht der Tatzeit, wenn bei Zugrundelegung des zur Tatzeit geltenden sachlichen Rechts die Strafverfolgung auch nach den zur Zeit der Aburteilung geltenden Verjährungsregeln verjährt ist. Dies gilt entsprechend auch dann, wenn die Strafdrohung nur durch ein Zwischengesetz gemildert worden ist (BGHSt 39, 353, 370).
Die Verjährung knüpft an den Strafrahmen des Grundtatbestandes an, Strafdrohungen für besonders schwere oder minder schwere Fälle bleiben außer Betracht (§ 78 Abs. 4 StGB). Wird – wie hier § 179 StGB in der Fassung vom 1. Juli 1997 – ein Qualifikationstatbestand zu einem Regelbeispiel umgewandelt , kann dies daher trotz möglicherweise gleichbleibenden Strafrahmens für einen Regelfall eine Verkürzung der Verjährungsfrist zur Folge haben. Wird die Strafdrohung anschließend, vor Eintritt der Verjährung, wieder verschärft, indem erneut ein Qualifikationstatbestand geschaffen wird, ist nach den Grundsätzen des § 2 Abs. 3 StGB die Strafe dem mildesten Gesetz zu entnehmen , welches auch für die Frage der Verjährung maßgeblich ist. Die Geltung einer kürzeren Verjährungsfrist folgt in diesen Fällen nicht schon aus Art. 309 Abs. 3 EGStGB, wonach die Verjährungsfristen des bisherigen Rechts für Altfälle dann fortgelten, wenn sie kürzer sind. Aus dieser Regelung läßt sich nicht ableiten, daß in jedem Fall die dem Täter günstigste Verjährungsregelung eingreift. Diese Vorschrift, die ersichtlich im Zuge der damaligen Reform der Verjährungsregelungen mögliche Unsicherheiten zugunsten der Täter lösen wollte, ist nicht verallgemeinerungsfähig. Das mildeste Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB ist dasjenige, das bei einem Gesamtvergleich im konkreten Einzelfall nach dessen besonderen Umständen die dem Täter günstigste Beurteilung zuläßt. Für den Vergleich kommt nur materielles Recht in Betracht; das vom Gesetzgeber jederzeit änderbare Verfahrensrecht wie etwa ein Strafantragserfordernis bleibt außen vor, jedenfalls soweit sich die Auswirkungen nicht aus der zu berücksichtigenden materiellen Strafdrohung ergeben. Auch wenn der Tatrichter im konkreten Fall die Indizwirkung eines Regelbeispiels nicht für widerlegt ansieht, stellt sich ein Vergehenstatbestand dann als milderes Gesetz gegenüber einem Qualifikationstatbestand mit derselben Strafdrohung dar, wenn er eine kürzere Verjäh-
rung zur Folge hat. In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß als mildestes Gesetz dasjenige anzusehen ist, das den Wegfall der Strafdrohung zur Folge hat (BGH NStZ 1992, 535, 536). Günstiger als bei einer noch so milden Bestrafung stellt sich der Täter aber auch, wenn die Tat wegen Verjährung nicht mehr verfolgbar ist. Daß ein Gesetz, welches den Eintritt der Verjährung zur Folge hat, für den Täter günstiger und damit milder im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB ist, hat der Bundesgerichtshof auch in seiner Rechtsprechung zur Verjährung von DDR-Alttaten zugrundegelegt. Der Bundesgerichtshof hat in diesen Fällen den Umstand, daß die Taten nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland verjährt waren, nur deshalb nicht bei der Bestimmung des milderen Gesetzes berücksichtigt , weil Art. 315 a Satz 1 EGStGB für die Frage der Verfolgungsverjährung die Regelung des Art. 315 Abs. 1 EGStGB verdrängt, wonach auf DDR-Alttaten grundsätzlich das mildere Recht anzuwenden ist (BGHSt 39, 353, 358; 40, 113, 115). Art. 315 a Satz 1 EGStGB enthält zur Verjährungsfrage eine spezielle Regelung, wonach sich die Verjährung allein danach richtet, ob sie nach dem Recht der DDR bis zum Wirksamwerden des Beitritts eingetreten war. Bei der Prüfung, welches Recht das mildere sei, hat der Bundesgerichtshof deshalb die Verjährungsfrage ausgeklammert (BGHSt 40, 48, 56). 3. Die Tat 3 der Urteilsgründe ist deshalb entgegen der Auffassung des Landgerichts verjährt. Das mildeste Gesetz ist im vorliegenden Fall § 179 StGB in der Fassung vom 1. Juli 1997. Nach § 78 Abs. 2 Nr. 4 StGB folgt aus der Strafdrohung dieses Tatbestandes eine nur fünfjährige Verjährungsfrist, welche bei Einleitung des Strafverfahrens Anfang 2003 abgelaufen war. Dies hat die Einstellung des Verfahrens in diesem Fall zur Folge. Der Senat schließt aus, daß eine neue Hauptverhandlung zu Feststellungen führen könnte, die eine Verurteilung wegen Vergewaltigung tragen würden. Die Verfahrenseinstellung im Fall 3 der Urteilsgründe führt zur Aufhebung der ersten Gesamtfreiheitsstra-
fe. Der Senat schließt weiterhin aus, daß die übrigen Einzelstrafen und die zweite Gesamtfreiheitsstrafe sowie die Maßregel von dem Rechtsfehler beeinflußt worden sind. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, nach § 354 Abs. 1 b Satz 1 StPO zu entscheiden. Die nachträgliche Gesamtstrafenbildung aus den nunmehr rechtskräftigen Einzelstrafen und den Einzelstrafen aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Limburg vom 17. Juli 2000 obliegt danach dem nach § 462 a Abs. 3 StPO zuständigen Gericht. Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß im Nachverfahren nach §§ 460, 462 StPO eine Herabsetzung der Gesamtfreiheitsstrafe erfolgt, hat die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels das für das Nachverfahren zuständige Gericht zusammen mit der abschließenden Sachentscheidung zu treffen (BGH wistra 2005, 187). Bode Otten Rothfuß Roggenbuck Appl

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 565/03
vom
29. September 2004
in der Strafsache
gegen
1.
2.
3.
wegen Untreue u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. September 2004 beschlossen
:
1. Dem Angeklagten U. wird auf seine Kosten Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist
zur Ergänzung der Verfahrensrüge nach § 244 Abs.3 Satz 2
StPO gegen das Urteil des Landgerichts München II vom
1. April 2003 gewährt.
2. Auf die Revisionen der Angeklagten U. und B. wird
das vorbezeichnete Urteil

a) in den Fällen II. 11 Nrn. 1, 2, 78 bis 80 der Urteilsgründe
aufgehoben; insoweit wird das Verfahren eingestellt;

b) in den Schuldsprüchen dahin geändert, daß der Angeklagte
U. der Untreue in 132 Fällen und der Angeklagte
B. der Untreue in 57 Fällen und der Beihilfe zur Untreue
in 75 Fällen schuldig sind.
3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten U. und
B. sowie die Revision des Angeklagten L. werden
verworfen.
4. Im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens
und die notwendigen Auslagen der Angeklagten U. und
B. der Staatskasse zur Last; im übrigen haben die Angeklagten
die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten U. wegen Untreue in 137 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren, den Angeklagten B. wegen Untreue in 60 Fällen sowie Beihilfe zur Untreue in 77 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten und den Angeklagten L. wegen Beihilfe zur Untreue in 112 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dagegen wenden sich sämtliche Angeklagten mit der Sachbeschwerde und Verfahrensrügen. Die Revisionen der Angeklagten U. und B. haben den aus der Beschlußformel ersichtlichen geringfügigen Teilerfolg; im übrigen sind die Revisionen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Dem Angeklagten U. war - unbeschadet der Zulässigkeit der Rüge nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO (vgl. BGHSt 42, 365) - Wiedereinsetzung zur Ergänzung dieser Verfahrensrüge zu gewähren. Zwar kann bei bereits formgerecht begründeter Revision Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung von Verfahrensrügen nicht gewährt werden (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 1, 3, 9; BGH, Beschluß vom 16. September 1994 - 3 StR 397/94). Ausnahmen von diesem Grundsatz sind jedoch zugelassen worden (vgl. BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 6, 11,12; BGH, Beschluß vom 13. September 2000 - 3 StR 342/00). Ein solcher Fall liegt hier vor, weil die Rüge vor Ablauf der Frist erhoben war und lediglich infolge eines Versehens einzelne Seiten des im Rahmen der Verfahrensrüge mitzuteilenden Beweisantrags nicht übermittelt worden sind.
2. Hinsichtlich der Fälle II. 11 Nrn. 1, 2, 78 bis 80 der Urteilsgründe (Tatzeiten 3. Januar bis 1. März 1994) besteht das Verfahrenshindernis der Verjährung. Der Beschluß des Amtsgerichts Memmingen vom 2. Dezember 1998, mit dem gemäß §§ 100a, 100b StPO die Überwachung des Fernmeldeverkehrs angeordnet wurde, hat die Verjährung nicht zu unterbrechen vermocht. Eine solche Maßnahme steht der Anordnung einer Durchsuchung oder Beschlagnahme nach § 78c Abs.1 Satz 1 Nr.4 StGB nicht gleich. Die Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung sind Ausnahmeregelungen; eine Analogie ist unzulässig (vgl. BGHSt 28, 381, 382). Da die Verjährung erst durch den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluß des Amtsgerichts Memmingen vom 8. März 1999 unterbrochen wurde, waren die vor dem 8. März 1994 begangenen Taten verjährt. Insoweit war das Verfahren einzustellen. Dies zieht den Wegfall der für diese Taten verhängten Einzelstrafen sowie die Änderung der Schuldsprüche nach sich.
3. Die Gesamtstrafen können bestehen bleiben. Schon angesichts der Vielzahl und der Höhe der verbleibenden Einzelstrafen erscheinen dem Senat die verhängten Gesamtstrafen angemessen (§ 354 Abs.1a und Abs. 1b Satz 3 StPO), zumal auch verjährte Taten bei der Strafzumessung berücksichtigt werden dürfen (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Vorleben 11, BGHR StGB § 54 Serienstraftaten

2).


Zu den Rügen der Verletzung von § 261 StPO und von § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO sowie den insoweit erhobenen materiell-rechtlichen Beanstandungen bemerkt der Senat ergänzend:

a) Das Landgericht konnte die eingeführten Urkunden abweichend von deren Wortlaut würdigen. Der mit den Urkunden erweckte Anschein eines Rechtsgrundes für die Zahlungen war Teil des Täuschungssystems. Würde jede vom Wortlaut solcher Urkunden abweichende Feststellung einen Verstoß gegen § 261 StPO begründen, so ließen sich kaum noch rechtsfehlerfreie Feststellungen zu Verschleierungshandlungen treffen.

b) Für eine Schadensberechnung mittels Vermögensvergleichs mit den zu Verschleierungszwecken fingierten und daher tatsächlich nicht geschuldeten Leistungen ist kein Raum. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, daß einziges Ziel des mit besonders hoher krimineller Energie organisierten Gesellschafts- und Vertragsgeflechts die Bereicherung der Angeklagten U. und B. durch die eingenommenen Mitgliedsbeiträge war (vgl. nur UA S. 46- 47).
Angesichts dessen lag die Absicht einer Steuerersparnis erke nnbar fern.
Nack Wahl Kolz Hebenstreit Elf

(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt.

(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.

(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist

1.
dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind,
2.
zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind,
3.
zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind,
4.
fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
5.
drei Jahre bei den übrigen Taten.

(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 643/10
vom
7. Juni 2011
in der Strafsache
gegen
wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 7. Juni 2011 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. April 2002 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten am 5. April 2002 wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.
2
Im Rahmen seiner Revision hat der Angeklagte mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, dass er vor seiner polizeilichen Vernehmung nicht gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt worden sei.
3
Nach einer ersten Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet durch Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 29. Januar 2003 – 5 StR 475/02 – und der Aufhebung dieses Beschlusses sowie Zurückverweisung der Sache durch das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 19. September 2006 (2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499) wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision mit Beschluss vom 25. September 2007 (veröffentlicht in BGHSt 52, 48) erneut verworfen, allerdings mit der Maßgabe, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
4
Auf die gegen diese Entscheidung wiederum erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 8. Juli 2010 (2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207) auch die zweite Revisionsentscheidung wegen eines Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Strafsenat des Bundesgerichtshofs zurückverwiesen.
5
Danach hat nunmehr der Senat über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.

II.

6
Diese Entscheidung kann im Beschlusswege ergehen. Nach Aufhebung auch des zweiten die Revision des Angeklagten verwerfenden Beschlusses des 5. Strafsenats ist das Verfahren erneut in den Stand zurückversetzt worden, den es vor der ersten Revisionsentscheidung vom 29. Januar 2003 hatte. Die allein noch inmitten stehende Rechtsfrage nach den Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist durch die Vorgaben nunmehr zweier bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen klar umgrenzt; der Generalbundesanwalt und der Verteidiger des Angeklagten haben zu ihr nochmals ausführlich schriftlich Stellung genommen.
7
Die Rechtsfrage ist nach Auffassung des Senats auch zweifelsfrei zu beantworten. Die Durchführung der Hauptverhandlung lässt keine neuen Erkenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art erwarten, die das gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober2000 – 5StR 414/99, BGHR StPO § 349 Abs. 2 Verwerfung 6; zur Bedeutung der Revisionshauptverhandlung vgl. Wohlers JZ 2011, 78, 80).

III.

8
Die Revision erzielt lediglich wegen einer während des Revisionsverfahrens eingetretenen Verfahrensverzögerung einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
9
1. Die vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen sowie die Sachrüge dringen nicht durch. Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK geltend gemacht wird.
10
a) Der Senat sieht mit Blick auf die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG) davon ab, die Rüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, obwohl die Revision verschweigt, dass der Angeklagte sich am 20. November 2001 – nach Konsultation seines Verteidigers – erneut zur Sache eingelassen und die Richtigkeit seiner früheren Angaben bestätigt hat (Gerichtsakten Bl. 619-621). Diesem Umstand kommt, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt, entscheidungserhebliche Bedeutung für die Frage nach einem Verwertungsverbot zu.
11
b) Die Rüge ist unbegründet. Allerdings liegt eine Gesetzesverletzung darin, dass der Angeklagte, der türkischer Staatsangehöriger ist, nach seiner Festnahme nicht durch die Polizeibeamten gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK über seine Rechte belehrt worden ist (vgl. jetzt auch § 114b Abs. 2 Satz 3 StPO).
12
aa) Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen, dem die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei beigetreten sind, steht in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes, das deutsche Behörden und Gerichte wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567, zur Parallele bei der MRK). Nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes haben deutsche Gerichte dabei auch die Judikate der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a., Rn. 89 ff.). Sie haben – ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung – normative Leitfunktion (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502).
13
bb) Nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK obliegt die Belehrungspflicht den zuständigen Behörden des Empfangsstaates und damit auch den festnehmenden Polizeibeamten, sofern sie Kenntnis von der ausländischen Staatsangehörigkeit erlangen oder Anhaltspunkte für eine solche bestehen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, unter Bezugnahme auf IGH, Avena and other Mexican Nationals , Mexico v. United States of America, Judgement of 31 March 2004, ICJ Re- ports 2004, p. 12, No. 88: „there is […] a duty upon the arresting authorities to give that information to an arrested person as soon as it is realized that the per- son is a foreign national, or once there are grounds to think that the person is probably a foreign national“).
14
c) Der Geltendmachung des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK steht nicht entgegen, dass der Angeklagte keinen spezifisch auf die Verletzung des Art. 36 WÜK abstellenden Widerspruch erhoben, sondern der Verwertung seiner Angaben in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 durch zeugenschaftliche Vernehmung der Verhörspersonen mit Blick auf die nicht durchgreifende Beanstandung eines Verstoßes gegen §§ 136, 137 StPO widersprochen hat. Der 1. Strafsenat hat allerdings mit Beschluss vom 11. September 2007 (1 StR 273/07, BGHSt 52, 38) die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelte „Wider- spruchslösung“ auch auf den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK angewandt und generell verlangt, dass die den Prüfungsumfang für das Tatgericht begrenzende Begründung des Widerspruchs erkennen lässt, dass die Angriffsrichtung des Widerspruchs gerade auf eine Verletzung von Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK abzielt.
15
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem jener Entscheidung zugrunde liegenden jedoch dadurch, dass hier eine Belehrung auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht erfolgt ist. Nach den maßgeblich zu beachtenden Grundsätzen des Internationalen Gerichtshofs im LaGrand-Urteil muss eine umfassende Überprüfung und Neubewertung von Schuld- und Strafausspruch unter Berücksichtigung des Konventionsverstoßes möglich sein (IGH, LaGrand, Germany v. United States of America, Judgement of 27 June 2001, ICJ Reports 2001, p. 466, No. 128 [nichtamtliche deutsche Übersetzung in EuGRZ 2001, 287]: „review and reconsideration of the conviction and sentence by ta- king account of the violation of the rights set forth in that Convention”). Diese Überprüfung darf nicht unter Berufung auf das Fehlen nach nationalem Pro- zessrecht erforderlicher Einwände ausgeschlossen werden (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90, zur US-amerikanischen „procedural default rule“), weshalb nach dem Internationalen Gerichtshof ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 2 WÜK jedenfalls dann vorliegt, wenn die Belehrung über die Rechte nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK – wie hier – solange nicht erfolgte, wie die Einwände nach nationalem Prozessrecht hätten erhoben werden müssen (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90 f.; IGH, „Avena“, aaO, No. 112 f., 134).
16
d) Das Fehlen der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK führt im vorliegenden Fall nicht zu einem Verwertungsverbot, weil dem Angeklagten hierdurch im weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen ist.
17
aa) Allerdings ist die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht von vornherein ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 209 f.; anders – gegen die Möglichkeit eines Verwertungsverbotes – noch BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3StR 318/07, BGHSt 52, 110, 114; offen gelassen in BGH, Beschluss vom 11. September 2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38, 41): Nach der Rechtspre- chung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ist vielmehr im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen aus dem Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK im weiteren Verfahrensverlauf tatsächlich ein Nachteil ent- standen ist („actual prejudice“, IGH, „Avena“, aaO, No. 121 ff.). Dieser Recht- sprechung ist – was im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung möglich ist (BVerfG, Beschlüsse vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, und vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210) – dadurch Rechnung zu tragen, dass die vom Bundesgerichtshof für nicht speziell geregelte Beweisverwertungsverbote entwickelte Abwägungslehre zur Anwendung gebracht wird. Es hat eine Abwägung zwischen dem durch den Verfahrensverstoß bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates andererseits stattzufinden , wobei auf den Schutzzweck der verletzten Norm ebenso abzustellen ist wie auf die Umstände, Hintergründe und Auswirkungen der Rechtsverletzung im Einzelfall (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210; vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2010 – 1 StR 251/10; s. auch Gless/Peters StV 2011, 369, 376; Paulus/Müller StV 2009, 495, 498 ff.).
18
bb) Die hieran ausgerichtete Abwägung führt im Ergebnis nicht zur Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. November 2001.
19
(1) Zweck der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist die Verwirklichung des Rechts des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502 f. unter Bezugnahme auf IGH, „LaGrand“ aaO und „Avena“ aaO). Im Zentrum der konsularischen Unterstützung steht die Vermittlung anwaltlichen Beistandes (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503: Überschneidung der Belehrung über das Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers mit der Funktion der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 WÜK, mit Hilfe des Konsulats einen Rechtsbeistand für den Beschuldigten zu beauftragen; Kreß GA 2007, 296, 305; Esser JR 2008, 271, 274; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 573/09, zum Inhalt der Hilfe für im Ausland inhaftierte deutsche Staatsangehörige durch deutsche Konsularbeamte nach § 7 KonsG). Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht vorgesehen ist, dass der Konsular- beamte selbst anwaltliche Aktivitäten entfaltet (IGH, „Avena“, aaO, No. 85: „It is not envisaged, either in Article 36, paragraph 1, or elsewhere in the Conven- tion, that consular functions entail a consular officer himself or herself acting as the legal representative or more directly engaging in the criminal justice process“ ; anders offenbar Gless/Peters aaO S. 372). Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK schützt dabei nicht speziell die Aussagefreiheit des Beschuldigten (ebenso Kreß aaO, S. 304), sondern allgemein das Recht auf effektive Verteidigung (so auch Esser aaO, S. 275); dies ergibt sich schon daraus, dass nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht verlangt, dass die Belehrung der ersten Vernehmung des Beschuldigten in jedem Fall vorausgehen muss (IGH, „Av- ena“, aaO, No. 87: „The court considers that the provision in Article 36, paragraph 1 (b), that the receiving State authorities „shall inform the person concerned without delay of his rights“ cannot be interpreted to signify that the pro- vision of such information must necessarily precede any interrogation, so that the commencement of interrogation before the information is given would be a breach of Article 36”; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503).
20
(2) Vor dem Hintergrund dieses Schutzzwecks ist zunächst in die Abwägung einzustellen, dass der Angeklagte – was ihn freilich nicht vom persönlichen Schutzbereich des Art. 36 Abs. 1 WÜK ausnimmt (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503; BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110) – in Deutschland geboren wurde und aufwuchs und nach den Feststellungen im Urteil keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten und keine Sozialisationsdefizite hatte, sondern insgesamt integriert in Deutschland lebte. Eine wegen ausländerspezifischer Verteidigungsdefizite konkret erhöhte Schutzbedürftigkeit des Angeklagten ist danach nicht erkennbar (vgl. dazu auch Esser aaO).
21
(3) Der – anlässlich seiner Festnahme sowohl von den Ermittlungsbeamten als auch dem Haftrichter mehrfach über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrte – Angeklagte war über seine Verteidigungsmöglichkeiten orientiert. Das zeigt sich unter anderem darin, dass er auch ohne die Belehrung über die Möglichkeit konsularischen Beistands in der Lage war, seine prozessualen Rechte – insbesondere sein Recht zu schweigen – wahrzunehmen. So hat er vor dem Ermittlungsrichter eine Aussage unter Hinweis darauf verweigert , zunächst einen Rechtsanwalt sprechen zu wollen, um dessen Beauftragung er im Folgenden seine Familie gebeten hat. Seine Einlassung in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 erfolgte, nachdem er ausführlich über sein Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers belehrt worden war.
22
(4) Am 20. November 2001, als der Angeklagte zwar noch immer nicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt, wohl aber verteidigt war,also – wenngleich mit einiger Verzögerung – der Zustand hergestellt war, den sicherzustellen Hauptzweck des Art. 36 Abs. 1 WÜK ist, hat der Angeklagte die Angaben aus seiner ersten polizeilichen Vernehmung bestätigt (vgl. auch Esser aaO; Kreß aaO S. 305). Die Verteidigervollmacht für Rechtsanwalt T. hatte der Angeklagte bereits am 2. November 2001 in der JVA Hannover unterzeichnet.
23
(5) Die Polizeibeamten unterließen weder bei der Festnahme noch im Vorfeld der Vernehmung vom 1. November 2000 die Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK unter bewusster Umgehung dieser Vorschrift (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 4 StR 455/08, BGHSt 53, 112; Beschlüsse vom 18. Oktober 2005 – 1 StR 114/05, NStZ 2006, 236, und vom 19. Oktober 2005 – 1 StR 117/05, NStZ-RR 2006, 181); nach damaliger in Deutschland verbreiteter Rechtsauffassung (vgl. BGH, Beschluss vom 7. No- vember 2001 – 5 StR 116/01, BGHR WÜK Art. 36 Unterrichtung 1) war nicht die Polizei, sondern der in §§ 115, 115 a, 128 StPO genannte Richter die für die Belehrung „zuständige Behörde“ im Sinne des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK. Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK durch den Ermittlungsrichter hat der Angeklagte in der Revisionsbegründung schon nicht behauptet. Solches ist auch nicht erkennbar: Die ermittlungsrichterliche Vernehmung musste ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts Lörrach vom 21. Oktober 2001 abgebrochen werden, da der Angeklagte „wegen eines heftigen Gefühlsausbruchs (krampfartiges Weinen) nicht in der Lage war, den Termin fortzusetzen.“
24
(6) Schließlich kommt dem öffentlichen Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung angesichts der Schwere der hier inmitten stehenden Straftat – eines Kapitalverbrechens – besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 – 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238, 248).
25
e) Dass das Urteil in sonstiger Weise auf der unterbliebenen Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK beruht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 m.w.N.), kann der Senat aus den bereits in die Abwägung eingestellten Gesichtspunkten zu den Umständen und Auswirkungen der Rechtsverletzung ausschließen. Für ein Beruhen ist nichts ersichtlich, und die Revision trägt hierzu auch nichts vor.
26
2. Von der verhängten Freiheitsstrafe sind sechs Monate für vollstreckt zu erklären.
27
a) Allerdings kommt eine Kompensation des Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nach der sog. „Vollstre- ckungslösung“ (vgl. BGH – Großer Senat fürStrafsachen –, Beschluss vom 17. Januar 2008, BGHSt 52, 124) nicht in Betracht.
28
Die Entscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007, für den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK eine Kompensation zu gewähren , bindet den Senat nicht; das Bundesverfassungsgericht hat diese Revisionsentscheidung in vollem Umfang aufgehoben (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 211), also keine Teilrechtskraft herbeigeführt (vgl. dazu BGH, Urteil vom 27. August 2009 – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Beschluss vom 21. Dezember 2010 – 2 StR 344/10). Der Senat neigt der Auffassung des 3. Strafsenats aus dem Urteil vom 20. Dezember 2007 (3 StR 318/07, BGHSt 52, 110, 118; vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 – 2 StR 489/08) zu, dass eine solche Kompensation generell ausscheidet. Dies braucht der Senat aber nicht zu entscheiden. Für eine Kompensation fehlt vorliegend bereits deshalb ein Anknüpfungspunkt, weil die Abwägung zur Frage nach einem Beweisverwertungsverbot und die Prüfung zum Beruhen im Übrigen ergeben haben, dass dem Angeklagten im konkreten Fall ein Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht entstanden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210 m.w.N.).
29
b) Eine Kompensation nach der „Vollstreckungslösung“ ist jedoch für eine – von Amts wegen zu beachtende (Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 9c m.w.N.) – der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung nach Erlass des tatrichterlichen Urteils zu gewähren.
30
aa) Eine solche sieht der Senat für den Zeitraum ab der zweiten Revisionsentscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007 als gegeben an. Dabei kann der Senat offen lassen, ob und inwieweit grundsätzlich die Dauer des – vorliegend ohne offensichtliche Verzögerung durchgeführten (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208) – Rechtsmittelverfahrens sowie die Dauer eines Verfassungsbeschwerdever- fahrens bei der Bestimmung der für die Beurteilung einer Verzögerung maßgeblichen Verfahrensdauer mit einzubeziehen sind (zum Verfassungsbeschwerdeverfahren vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Verfahrensverzögerung daraus, dass trotz der vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 19. September 2006 dargelegten Anforderungen bei der Prüfung der Folgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK der Bundesgerichtshof die Reichweite des Gebotes zur Beachtung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs erneut in einer die Grundrechte des Angeklagten beeinträchtigenden Weise unbeachtet gelassen hat. Diesen Umstand hat auch der Angeklagte in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 hervorgehoben. Die dadurch eingetretene Verzögerung des Verfahrens, die sich über das neuerliche Verfassungsbeschwerdeverfahren und das nach Aufhebung und Zurückverweisung erforderliche weitere Revisionsverfahren vor dem Senat erstreckt, begründet daher einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 MRK (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 4 StR 537/08, StV 2009, 241, zur überlangen Verfahrensdauer bei zweimaliger Aufhebung des landgerichtlichen Urteils durch den Bundesgerichtshof).
31
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Kompensation nicht mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen, sondern hat nach den Umständen des Einzelfalles grundsätzlich einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu betragen (vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08, StV 2008, 633 m.w.N.). Danach ist vorliegend eine Kompensation von sechs Monaten insbesondere angesichts einer Verzögerung von etwa vier Jahren , die der Angeklagte nach seiner Entlassung aus der Haft am 10. Juni 2008 weitgehend in Freiheit verbracht hat, sowie angesichts der bei der Beurteilung der Verfahrensverzögerung zu berücksichtigenden besonderen Rolle des Bundesverfassungsgerichts im innerstaatlichen Rechtssystem (EGMR, Urteile vom 22. Januar 2009 – 45749/06 und 51115/06, StV 2009, 561, 562, und vom 25. Februar 2000 – 29357/95, NJW 2001, 211) an sich deutlich überhöht. An einer Kompensation in geringerem Umfang sieht sich der Senat jedoch durch das Verbot der reformatio in peius gehindert. Zwar gilt das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO für den Fall der Aufhebung einer Revisionsentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar; § 79 Abs. 1 BVerfGG sieht jedoch die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens gegen ein rechtskräftiges Urteil vor, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Zur Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens verweist § 79 Abs. 1 BVerfGG auf die Vorschriften der StPO, mithin auch auf das Schlechterstellungsverbot des § 373 Abs. 2 Satz 1 StPO. Wenn dieses Verbot aber schon dort gilt, wo das Bundesverfassungsgericht die dem Strafurteil die Grundlage entziehende Entscheidung in einem anderen Verfahren trifft, so muss es erst recht zum Tragen kommen, wenn das Bundesverfassungsgericht die fachgerichtliche Entscheidung unmittelbar aufhebt.
32
Das Verbot der reformatio in peius hindert den Senat nicht, eine Kompensation für den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nunmehr zu versagen. Es verhindert lediglich eine dem Angeklagten nachteilige Änderung in Art und Höhe der Rechtsfolgen, nicht jedoch eine Änderung der diesen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung.
33
c) Eine neben die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung tretende Berücksichtigung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit bei der Strafzumessung und infolge dessen die Aufhebung des Strafausspruchs ist vorliegend nicht geboten.
34
aa) Allerdings hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, StV 2009, 638) in einem Fall, in dem eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von etwa drei Jahren im Revisionsverfahren durch Verlust der Akten aufgetreten war, die Sache nicht nur wegen einer vom Tatrichter vorzunehmenden Kompensation zurückverwiesen, sondern auch im – für sich genommen nicht rechtsfehlerhaften – Strafausspruch aufgehoben, weil der lange Zeitraum zwischen Tat und Urteil wegen der konkreten Belastungen für den Angeklagten bereits im Rahmen der Straffindung zu berücksichtigen sei. Mit Beschlüssen vom 15. März 2011 – 1 StR 260/09 und 1 StR 429/09 – hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der durch ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 GVG bestimmten, nicht rechtsstaatswidrig verzögerten Dauer des Revisionsverfahrens einen bestimmenden Strafzumessungsgrund erblickt und die vom Tatrichter rechtsfehlerfrei bemessenen Einzelstrafen wie auch die Gesamtstrafe aufgehoben.
35
bb) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob er dieser – im Hinblick auf § 337 StPO nicht unbedenklichen – Auffassung folgt. Der vorliegend inmitten stehende Sachverhalt weicht von den den genannten Entscheidungen zugrunde liegenden Fallgestaltungen in wesentlichen Punkten erheblich ab. Zum einen betreffen jene Entscheidungen Fälle, in denen die Verzögerung im Rahmen des Revisionsverfahrens auftraten, während vorliegend die beiden – besonders zu beurteilenden (vgl. oben III. 2. b) bb)) – Verfassungsbeschwerdeverfahren etwa zwei Drittel der Verfahrensdauer ausmachen. In diesen Zeiträumen schwebte das Verfahren jeweils zunächst nicht mehr, sondern war rechtskräftig abgeschlossen, was u.a. im Hinblick auf die Haftsituation des insoweit nicht den Beschränkungen der Untersuchungshaft unterworfenen Ange- klagten von Belang ist. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die – von der Strafzumessung im engeren Sinne zu unterscheidende, aber mit ihr verschränkte (so auch BGH, Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, aaO) – Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu hoch bemessen ist. Nach Auffassung des Senats tritt daher das Zeitmoment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund. Keinesfalls handelt es sich bei der hier gegebenen besonderen Sachlage um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund.
36
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO. Angesichts des nur geringen Teilerfolges der Revision erscheint es nicht unbillig, den Angeklagten mit den vollen Kosten des Revisionsverfahrens zu belasten.
Ernemann Roggenbuck Cierniak Mutzbauer Bender

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Verjährung wird unterbrochen durch

1.
die erste Vernehmung des Beschuldigten, die Bekanntgabe, daß gegen ihn das Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, oder die Anordnung dieser Vernehmung oder Bekanntgabe,
2.
jede richterliche Vernehmung des Beschuldigten oder deren Anordnung,
3.
jede Beauftragung eines Sachverständigen durch den Richter oder Staatsanwalt, wenn vorher der Beschuldigte vernommen oder ihm die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben worden ist,
4.
jede richterliche Beschlagnahme- oder Durchsuchungsanordnung und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten,
5.
den Haftbefehl, den Unterbringungsbefehl, den Vorführungsbefehl und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten,
6.
die Erhebung der öffentlichen Klage,
7.
die Eröffnung des Hauptverfahrens,
8.
jede Anberaumung einer Hauptverhandlung,
9.
den Strafbefehl oder eine andere dem Urteil entsprechende Entscheidung,
10.
die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Abwesenheit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens oder im Verfahren gegen Abwesende zur Ermittlung des Aufenthalts des Angeschuldigten oder zur Sicherung von Beweisen ergeht,
11.
die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens zur Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten ergeht, oder
12.
jedes richterliche Ersuchen, eine Untersuchungshandlung im Ausland vorzunehmen.
Im Sicherungsverfahren und im selbständigen Verfahren wird die Verjährung durch die dem Satz 1 entsprechenden Handlungen zur Durchführung des Sicherungsverfahrens oder des selbständigen Verfahrens unterbrochen.

(2) Die Verjährung ist bei einer schriftlichen Anordnung oder Entscheidung in dem Zeitpunkt unterbrochen, in dem die Anordnung oder Entscheidung abgefasst wird. Ist das Dokument nicht alsbald nach der Abfassung in den Geschäftsgang gelangt, so ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem es tatsächlich in den Geschäftsgang gegeben worden ist.

(3) Nach jeder Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem. Die Verfolgung ist jedoch spätestens verjährt, wenn seit dem in § 78a bezeichneten Zeitpunkt das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist und, wenn die Verjährungsfrist nach besonderen Gesetzen kürzer ist als drei Jahre, mindestens drei Jahre verstrichen sind. § 78b bleibt unberührt.

(4) Die Unterbrechung wirkt nur gegenüber demjenigen, auf den sich die Handlung bezieht.

(5) Wird ein Gesetz, das bei der Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert und verkürzt sich hierdurch die Frist der Verjährung, so bleiben Unterbrechungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts vorgenommen worden sind, wirksam, auch wenn im Zeitpunkt der Unterbrechung die Verfolgung nach dem neuen Recht bereits verjährt gewesen wäre.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt.

(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.

(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist

1.
dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind,
2.
zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind,
3.
zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind,
4.
fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
5.
drei Jahre bei den übrigen Taten.

(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

(1) Über den Antrag entscheidet das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre.

(2) Die dem Antrag stattgebende Entscheidung unterliegt keiner Anfechtung.

(3) Gegen die den Antrag verwerfende Entscheidung ist sofortige Beschwerde zulässig.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 285/06
vom
29. August 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Strafvereitelung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. August 2006 beschlossen
:
1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag nach Versäumung
der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des
Landgerichts München II vom 19. Dezember 2005 Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand gewährt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.
2. Die Beschlüsse des Landgerichts München II vom 13. April
und 2. Mai 2006, mit denen die Revision des Angeklagten gegen
das vorbezeichnete Urteil als unzulässig verworfen worden
ist, werden aufgehoben.
3. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil
wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu
tragen.
G r ü n d e :
I .
1 Hinsichtlich der Wiedereinsetzung und der Aufhebung der Verwerfungsbeschlüsse
verweist der Senat auf die Ausführungen der Generalbundesanwältin
in ihrem Antrag vom 12. Juni 2006.
II.
2 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Strafvereitelung zur Freiheitsstrafe
von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf eine Verfahrensrüge
und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet
im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Insbesondere auch die von der
Kammer vorgenommene Strafzumessung ist frei von Rechtsfehlern.
3 1. Nach den Urteilsfeststellungen hatte der Mitangeklagte F. in der
Nacht vom 28. auf den 29. Juni 2004 H. mit mehreren Hammerschlägen
auf den Kopf getötet und dessen Geldbörse an sich genommen. Der
Angeklagte sowie die Mitangeklagten B. und M. kamen noch in der
Tatnacht überein, zu Gunsten des F. einen alkoholbedingten Treppensturz
vorzutäuschen. Als dem Angeklagten Bedenken kamen, drohte M.
ihm, wenn er „etwas“ sage, werde er „einen Kopf kürzer“ gemacht. In der
Folgezeit berichteten der Angeklagte und B. gegenüber der Polizei dementsprechend
von einem Treppensturz, während M. wahrheitswidrig angab
, nichts mitbekommen zu haben. Das Tötungsdelikt blieb deshalb zunächst
unentdeckt. In der Nacht vom 30. auf den 31. August 2004 töteten die Mitangeklagten
F. und Br. sodann gemeinschaftlich E. , indem sie
ihm die Kehle durchschnitten; anschließend nahmen sie auch dessen Geldbörse
an sich.
4 Die Kammer hat bei der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt,
dass es zu einem zweiten Raubmord kam. Denn das weitere Tötungsdelikt hat
sie auch als Folge der Strafvereitelungstaten - kollusiv begangen durch Vortäuschen
eines Unfalls - gewertet. Das Urteil führt hierzu aus (bezüglich M.
): Wäre „der Mord an H. nicht vertuscht worden, wäre E. mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch am Leben“; und (bezüglich
des Angeklagten und Batov): „Der durch die Strafvereitelung verursachte ‚Schaden
’, dass es zu einem zweiten Mord unter Beteiligung desselben Täters gekommen
war, konnte durch das spätere Abrücken von der Darstellung als Unfall
nicht wieder gut gemacht werden“ (UA S. 67).
5 2. Gegen die Wertung der Kammer bestehen keine Bedenken. Nach
§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB können verschuldete Auswirkungen der Tat bei der
Strafzumessung berücksichtigt werden. Insoweit kommt es darauf an, ob die
Tatfolgen voraussehbar waren (vgl. BGH NStZ 2005, 156, 157; Tröndle/Fischer,
StGB 53. Aufl. § 46 Rdn. 34). Nicht erforderlich ist, dass der Angeklagte sie in
allen Einzelheiten voraussehen konnte; es genügt, dass sie in ihrer Art und ihrem
Gewicht im Wesentlichen erkennbar waren (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2
Tatauswirkungen 3, 4; BGH, Beschluss vom 6. Mai 1998 - 2 StR 638/97 - Umdr.
S. 4).
6 Aus den Urteilsfeststellungen ergibt sich, dass für den Angeklagten die
Gefahr einer weiteren schweren Gewalttat nicht außerhalb des Vorhersehbaren
lag. Schon das Tatbild des ersten Mordes an H. ließ es hier ohne weiteres
für möglich erscheinen, dass sich eine solche oder ähnliche Tat wiederholen
könnte. F. hatte H. in Anwesenheit von Br. getötet, ohne
dass es, wie der Angeklagte selbst wahrgenommen hatte, zuvor zu einem Streit
oder einer ernsthaften Auseinandersetzung gekommen war (UA S. 29 f.). Der
Angeklagte konnte ersichtlich nicht davon ausgehen, dass die Ursache für die
Tat - etwa im Sinne einer Beziehungstat - gerade in der Person des H.
begründet war. Vielmehr war ihm bewusst, dass F. ein finanzielles Motiv
hatte. Vor dem Hintergrund, dass F. und Br. am Monatsende üblicherweise
in Geldnot waren (UA S. 48), antwortete der Angeklagte bei einer polizeilichen
Vernehmung auf die Frage, was er über die Todesfälle denke: „Die
haben damals mitgekriegt, dass der (H. ) eine Riesennachzah-
lung bekommen hat und dann war´s Ende des Monats“ (UA S. 33). Darüber
hinaus ist den Urteilsfeststellungen zu entnehmen, dass der Angeklagte F.
und Br. auch tatsächlich für gefährlich hielt. Dies folgt aus den Angaben
des Angeklagten zu den Gründen, weswegen er F. anfänglich entlastet
habe. Nach den Urteilsfeststellungen äußerte er sich im Ermittlungsverfahren
und in der Hauptverhandlung insbesondere wie folgt: Er sei doch nicht „lebensmüde“
; er habe keine Lust, ein Messer in den Rücken zu bekommen; „die
Russen“ würden zusammen halten (UA S. 24). Daher ergab sich die Möglichkeit
einer weiteren schweren Gewalttat für den Angeklagten zum einen aus der
Gefährlichkeit des F. , zum anderen daraus, dass Anlässe für weitere Taten
abzusehen waren; denn der Beweggrund für die erste Tat, die Geldnot,
pflegte am Monatsende regelmäßig wiederzukehren.
7 Das Prinzip der Selbstverantwortung schließt die Würdigung der Tatfolge
hier nicht aus (in vergleichbarem Sinne mit Blick auf die Schutzrichtung der verletzten
Strafvorschrift G. Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 325
m.w.N.), sodass es darauf, dass der zweite Raubmord auf einem autonomen
Willensentschluss von F. und Br. beruhte, für die Strafzumessung
nicht ankommt.
Wahl Boetticher Kolz
Hebenstreit Elf

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.