Bundesgerichtshof Beschluss, 15. Nov. 2018 - V ZB 251/17

bei uns veröffentlicht am15.11.2018
vorgehend
Amtsgericht Wuppertal, 902 XIV (B) 9/17, 09.10.2017
Landgericht Wuppertal, 9 T 186/17, 01.12.2017

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 251/17
vom
15. November 2018
in der Abschiebungshaftsache
ECLI:DE:BGH:2018:151118BVZB251.17.0

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. November 2018 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterin Weinland und die Richter Dr. Kazele, Dr. Göbel und Dr. Hamdorf

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 9. Oktober 2017 und der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal vom 1. Dezember 2017 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Kreis Düren auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:


I.


1
Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste im Jahre 2014 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Das Asylverfahren wurde im Jahre 2016 eingestellt, und dem Betroffenen wurde die Abschiebung ange- droht. Von März bis September 2017 war er unbekannten Aufenthalts; am 8. Oktober 2017 wurde er festgenommen.
2
Mit Beschluss vom 9. Oktober 2017 hat das Amtsgericht Haft zur Sicherung der Abschiebung nach Algerien bis zum 9. Januar 2018 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 1. Dezember 2017 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene, der am 22. Dezember 2017 aus der Haft entlassen wurde, die Feststellung, durch die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II.


3
Nach Auffassung des Beschwerdegerichts liegt der Haftanordnung ein zulässiger Haftantrag zugrunde. Die Behörde habe insbesondere dargelegt, was im konkreten Fall zur Durchführung der Abschiebung zu veranlassen gewesen sei und welche Zeit das in Anspruch nehmen werde. Der Haftantrag sei auch begründet, denn es liege der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 1 und 2 AufenthG vor.

III.


4
Die mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG statthafte (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG) und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Der Betroffene ist durch den die Haft anordnenden Beschluss des Amtsgerichts und die Beschwerdeentscheidung in seinen Rechten verletzt. Es fehlt bereits an einem zulässigen Haftantrag.
5
1. Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2015 - V ZB 79/15, InfAuslR 2016, 108 Rn. 15 mwN; Beschluss vom 20. September 2018 - V ZB 164/17, juris Rn. 4).
6
2. Dem entsprach der Haftantrag der beteiligten Behörde nicht.
7
a) Sie musste in dem Antrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG insbesondere darlegen, auf welcher Grundlage die Abschiebung erfolgen sollte, welche Schritte hierfür erforderlich waren und welchen Zeitraum diese jeweils in Anspruch nahmen (vgl. Senat, Beschluss vom 15. Oktober 2015 - V ZB 82/14, juris Rn. 7 mwN). Besteht mit dem Zielstaat, in den der Betroffene abgeschoben werden soll, ein Rückübernahmeabkommen (hier das Protokoll zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Identifizierung und die Rücknahme i.d.F. der Bekanntmachung vom 4. Dezember 2003, BGBl. II 2004 S. 16, nachfolgend: deutsch-algerisches Pro- tokoll), sind die nach diesem durchzuführenden entscheidenden Schritte in dem Haftantrag darzustellen (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 9; Beschluss vom 16. Juni 2016 - V ZB 12/15, InfAuslR 2016, 429 Rn. 9; Beschluss vom 27. September 2017 - V ZB 29/17, InfAuslR 2018, 139 Rn. 6); ggf. ist darzulegen, warum abweichend hiervon verfahren werden soll.
8
b) Daran fehlt es. Die beteiligte Behörde hat in dem Haftantrag zwar ausgeführt, dass die Beschaffung eines Passersatzes nach Auskunft der Zentralen Ausländerbehörde Köln im vorliegenden Fall drei Monate in Anspruch nehme. Ein ausgefüllter Passersatzpapierantrag nebst Fingerabdrücken liege vor. Parallel werde die Flugbuchung durchgeführt, die aufgrund der erforderlichen Sicherheitsbegleitung nach Auskunft der Zentralen Ausländerbehörde ca. acht Wochen in Anspruch nehmen werde.
9
aa) Damit werden die erforderlichen Schritte für eine Abschiebung nach Algerien aber nicht dargestellt. Das deutsch-algerische Protokoll über die Identifizierung und Rückübernahme wird nicht erwähnt, und es werden keine Angaben zu dem darin vorgesehenen Verfahren gemacht. Selbst wenn die Behörde nicht vorhatte, nach dem deutsch-algerischen Protokoll zu verfahren, weil ihr durch die Zentrale Ausländerbehörde das jeweils tagesaktuelle Verfahren für die Beschaffung des Passersatzpapiers vorgegeben wird, wäre jedenfalls dies darzulegen und zu erläutern gewesen. Ohne solche Angaben ist es dem Richter und dem Betroffenen nicht möglich, die Rechtmäßigkeit der beantragten Haft, insbesondere die notwendige Haftdauer (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), zu prüfen (Senat, Beschluss vom 27. September 2017 - V ZB 29/17, InfAuslR 2018, 139 Rn. 8).
10
bb) Die in dem Haftantrag enthaltenen Angaben wären auch dann nicht ausreichend, wenn die beteiligte Behörde davon ausgegangen sein sollte, dass für die Beschaffung des Passersatzes kein weiterer Schritt mehr erforderlich und nur noch die Übersendung des Dokuments durch die algerischen Behörden abzuwarten war. Zwar wäre in einem solchen Fall die Darlegung der nach dem Rückübernahmeprotokoll erforderlichen - bereits absolvierten - Schritte entbehrlich. Es wäre in dem Haftantrag dann aber zumindest darzulegen gewesen, dass auf Seiten der deutschen Behörden nichts weiter zu veranlassen und nur noch die Reaktion der ausländischen Behörden abzuwarten ist. Dies ist dem Antrag der beteiligten Behörde nicht zu entnehmen.
11
3. Der Mangel des Haftantrags ist nicht nachträglich geheilt worden. Weder hat die Behörde ihre Darlegungen ergänzt noch haben das Amtsgericht oder das Beschwerdegericht das Vorliegen der an sich seitens der Behörde nach § 417 Abs. 2 FamFG vorzutragenden Tatsachen aufgrund eigener Ermittlungen von Amts wegen (§ 26 FamFG) festgestellt (vgl. zu dieser Möglichkeit Senat, Beschluss vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 22).
12
4. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 AufenthG).
Stresemann Weinland Kazele
Göbel Hamdorf

Vorinstanzen:
AG Wuppertal, Entscheidung vom 09.10.2017 - 902 XIV (B) 9/17 (B) -
LG Wuppertal, Entscheidung vom 01.12.2017 - 9 T 186/17 -

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 15. Nov. 2018 - V ZB 251/17

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Tenor Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Lübeck, 7. Zivilkammer, vom 27. Mai 2013 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Haftanordnung des Amtsgerichts

Referenzen

(1) Ausländer ist jeder, der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist.

(2) Erwerbstätigkeit ist die selbständige Tätigkeit, die Beschäftigung im Sinne von § 7 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und die Tätigkeit als Beamter.

(3) Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Nicht als Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gilt der Bezug von:

1.
Kindergeld,
2.
Kinderzuschlag,
3.
Erziehungsgeld,
4.
Elterngeld,
5.
Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch, dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz,
6.
öffentlichen Mitteln, die auf Beitragsleistungen beruhen oder die gewährt werden, um den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen und
7.
Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz.
Ist der Ausländer in einer gesetzlichen Krankenversicherung krankenversichert, hat er ausreichenden Krankenversicherungsschutz. Bei der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug werden Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen berücksichtigt. Der Lebensunterhalt gilt für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 16a bis 16c, 16e sowie 16f mit Ausnahme der Teilnehmer an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen, als gesichert, wenn der Ausländer über monatliche Mittel in Höhe des monatlichen Bedarfs, der nach den §§ 13 und 13a Abs. 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bestimmt wird, verfügt. Der Lebensunterhalt gilt für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 16d, 16f Absatz 1 für Teilnehmer an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen, sowie § 17 als gesichert, wenn Mittel entsprechend Satz 5 zuzüglich eines Aufschlages um 10 Prozent zur Verfügung stehen. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gibt die Mindestbeträge nach Satz 5 für jedes Kalenderjahr jeweils bis zum 31. August des Vorjahres im Bundesanzeiger bekannt.

(4) Als ausreichender Wohnraum wird nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung genügt. Der Wohnraum ist nicht ausreichend, wenn er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hinsichtlich Beschaffenheit und Belegung nicht genügt. Kinder bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres werden bei der Berechnung des für die Familienunterbringung ausreichenden Wohnraumes nicht mitgezählt.

(5) Schengen-Staaten sind die Staaten, in denen folgende Rechtsakte in vollem Umfang Anwendung finden:

1.
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 19),
2.
die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 77 vom 23.3.2016, S. 1) und
3.
die Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 vom 15.9.2009, S. 1).

(6) Vorübergehender Schutz im Sinne dieses Gesetzes ist die Aufenthaltsgewährung in Anwendung der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 212 S. 12).

(7) Langfristig Aufenthaltsberechtigter ist ein Ausländer, dem in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Rechtsstellung nach Artikel 2 Buchstabe b der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. EU 2004 Nr. L 16 S. 44), die zuletzt durch die Richtlinie 2011/51/EU (ABl. L 132 vom 19.5.2011, S. 1) geändert worden ist, verliehen und nicht entzogen wurde.

(8) Langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU ist der einem langfristig Aufenthaltsberechtigten durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellte Aufenthaltstitel nach Artikel 8 der Richtlinie 2003/109/EG.

(9) Einfache deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten Nr. R (98) 6 vom 17. März 1998 zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen – GER).

(10) Hinreichende deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau A 2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

(11) Ausreichende deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

(11a) Gute deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau B2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

(12) Die deutsche Sprache beherrscht ein Ausländer, wenn seine Sprachkenntnisse dem Niveau C 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen.

(12a) Eine qualifizierte Berufsausbildung im Sinne dieses Gesetzes liegt vor, wenn es sich um eine Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf handelt, für den nach bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften eine Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren festgelegt ist.

(12b) Eine qualifizierte Beschäftigung im Sinne dieses Gesetzes liegt vor, wenn zu ihrer Ausübung Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich sind, die in einem Studium oder einer qualifizierten Berufsausbildung erworben werden.

(12c) Bildungseinrichtungen im Sinne dieses Gesetzes sind

1.
Ausbildungsbetriebe bei einer betrieblichen Berufsaus- oder Weiterbildung,
2.
Schulen, Hochschulen sowie Einrichtungen der Berufsbildung oder der sonstigen Aus- und Weiterbildung.

(13) International Schutzberechtigter ist ein Ausländer, der internationalen Schutz genießt im Sinne der

1.
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30.9.2004, S. 12) oder
2.
Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9).

(14) Soweit Artikel 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31), der die Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung betrifft, maßgeblich ist, gelten § 62 Absatz 3a für die widerlegliche Vermutung einer Fluchtgefahr im Sinne von Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und § 62 Absatz 3b Nummer 1 bis 5 als objektive Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr im Sinne von Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 entsprechend; im Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 bleibt Artikel 28 Absatz 2 im Übrigen maßgeblich. Ferner kann ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vorliegen, wenn

1.
der Ausländer einen Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will,
2.
der Ausländer zuvor mehrfach einen Asylantrag in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 gestellt und den jeweiligen anderen Mitgliedstaat der Asylantragstellung wieder verlassen hat, ohne den Ausgang des dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz abzuwarten.
Die für den Antrag auf Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung zuständige Behörde kann einen Ausländer ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn
a)
der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 oder 2 besteht,
b)
die richterliche Entscheidung über die Anordnung der Überstellungshaft nicht vorher eingeholt werden kann und
c)
der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Überstellungshaft entziehen will.
Der Ausländer ist unverzüglich dem Richter zur Entscheidung über die Anordnung der Überstellungshaft vorzuführen. Auf das Verfahren auf Anordnung von Haft zur Überstellung nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 finden die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend Anwendung, soweit das Verfahren in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 nicht abweichend geregelt ist.

(1) Hat sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt, spricht das Beschwerdegericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat.

(2) Ein berechtigtes Interesse liegt in der Regel vor, wenn

1.
schwerwiegende Grundrechtseingriffe vorliegen oder
2.
eine Wiederholung konkret zu erwarten ist.

(3) Hat der Verfahrensbeistand oder der Verfahrenspfleger die Beschwerde eingelegt, gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend.

(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat.

(2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(3) Die Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss des Beschwerdegerichts ist ohne Zulassung statthaft in

1.
Betreuungssachen zur Bestellung eines Betreuers, zur Aufhebung einer Betreuung, zur Anordnung oder Aufhebung eines Einwilligungsvorbehalts,
2.
Unterbringungssachen und Verfahren nach § 151 Nr. 6 und 7 sowie
3.
Freiheitsentziehungssachen.
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 gilt dies nur, wenn sich die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss richtet, der die Unterbringungsmaßnahme oder die Freiheitsentziehung anordnet. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 ist die Rechtsbeschwerde abweichend von Satz 2 auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss in den in § 417 Absatz 2 Satz 2 Nummer 5 genannten Verfahren richtet.

(4) Gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests findet die Rechtsbeschwerde nicht statt.

(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen.

(2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:

1.
die Identität des Betroffenen,
2.
den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen,
3.
die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung,
4.
die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung sowie
5.
in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung.
Die Behörde soll in Verfahren der Abschiebungshaft mit der Antragstellung die Akte des Betroffenen vorlegen.

(3) Tatsachen nach Absatz 2 Satz 2 können bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz ergänzt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 79/15
vom
22. Oktober 2015
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
WÜK Art. 36
Die versäumte oder fehlerhafte Belehrung nach Art. 36 WÜK oder vergleichbaren
bilateralen Abkommen führt nur dann zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung, wenn
das Verfahren ohne den Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können
(Aufgabe von Senat, Beschluss vom 18. November 2010
- V ZB 165/10, FGPrax 2011, 99).
BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2015 - V ZB 79/15 - LG Kassel
AG Kassel
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Oktober 2015 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Prof. Dr. SchmidtRäntsch
und Weinland, den Richter Dr. Göbel und die Richterin Haberkamp

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Kassel vom 4. Mai 2015 und der Beschluss des Landgerichts Kassel - 3. Zivilkammer - vom 13. Mai 2015 den Betroffenen bis zum 27. Mai 2015 in seinen Rechten verletzt haben. Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Land Hessen auferlegt. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

I.

1
Der Betroffene reiste am 15. Januar 2014 unerlaubt aus Italien nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Eine Recherche in dem europäischen Asylantragsregister EURODAC ergab, dass er schon ein Jahr zuvor in Italien einen Asylantrag gestellt hatte. Deshalb richteten die deutschen Behörden am 21. März 2014 ein Rücküberstellungsersuchen an Italien, auf welches die italienischen Behörden bis zum 5. April 2014 nicht antworteten. Der Betroffene versuchte seine Rücküberstellung nach Italien mit Eilanträgen bei den Verwal- tungsgerichten zu verhindern, was ihm nicht gelang. Am 29. Juli 2014 brach das zuständige Bundesamt das Rücküberstellungsverfahren ab, nachdem es von den italienischen Behörden erfahren hatte, dass der Betroffene in Italien über subsidiären Schutzstatus verfüge und ihm daher ein Aufenthaltsrecht in Italien zustehe. Es stellte mit Bescheid vom 15. August 2014 fest, dass dem Betroffenen in Deutschland kein Asyl zusteht, und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Ein Versuch, die Abschiebung am 27. März 2015 zu vollziehen, scheiterte daran, dass der Betroffene zunächst nicht anzutreffen war, sich später seiner Abschiebung nach Italien widersetzte und ein Flug für einen Polizeibeamten , der ihn nach Italien begleitete, nicht gebucht war. Er erhielt eine Duldung und wurde, als er sich am 4. Mai 2015 erneut wegen der Verlängerung der Duldung bei der zuständigen Behörde meldete, festgenommen.
2
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 4. Mai 2015 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 15. Juni 2015 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 13. Mai 2015 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich dieser mit der Rechtsbeschwerde, nach seiner Entlassung aus der Haft am 28. Mai 2015 mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haft festzustellen.

II.

3
Das Beschwerdegericht hält die Haftordnung für rechtmäßig. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Hafthindernisse bestünden nicht. Der Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG liege vor, weil sich der Betroffene dem ersten Abschiebungsversuch entzogen habe.

III.

4
Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Haftanordnung ist rechtswidrig und verletzt den Betroffenen in seinen Rechten.
5
1. Das ergibt sich allerdings entgegen der Ansicht des Betroffenen nicht schon daraus, dass § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG als Grund für die Anordnung von Haft bei Anordnung und während der Dauer der Haft nicht anwendbar war.
6
a) Es ist zwar richtig, dass die Anordnung von Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2015 (ABl. EU Nr. L 180 S. 31 - Dublin-III-Verordnung) vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) am 1. August 2015 nur auf die Haftgründe nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG gestützt werden konnte, nicht dagegen auf die Haftgründe nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und der damals geltenden Nr. 5 AufenthG (Senat, Beschlüsse vom 26. Juni 2014 - V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 23, 31 und vom 22. Oktober 2014 - V ZB 124/14, NVwZ 2015, 607 Rn. 11 f.). Es spricht manches dafür, dass das auch für den Haftgrund nach § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG gilt, auf den die Haftanordnung hier gestützt ist. Das muss aber nicht entschieden werden.
7
b) Gegen den Betroffenen ist Haft nicht zur Sicherung seiner Rücküberstellung nach Italien gemäß der Dublin-III-Verordnung, sondern zur Sicherung seiner Abschiebung dorthin angeordnet worden. Auf eine Abschiebung war § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in der seinerzeit geltenden Fassung uneingeschränkt anwendbar.
8
aa) Zunächst kam allerdings keine Abschiebung, sondern nur eine Rücküberstellung in Betracht, weil nicht das deutsche Bundesamt über den Asylan- trag des Betroffenen zu entscheiden hatte, sondern die italienischen Behörden. Italien hatte ihm nämlich Schutz gewährt und war deshalb nach Art. 12 DublinIII -Verordnung für die Bearbeitung auch dieses Antrags zuständig. Im weiteren Verlauf des Rücküberstellungsverfahrens soll die Zuständigkeit aber auf das deutsche Bundesamt übergegangen sein, möglicherweise deshalb, weil die Frist für den Vollzug der Rücküberstellung nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-IIIVerordnung verstrichen war. Dann wäre über den Asylantrag nach deutschem Asylrecht zu entscheiden und dieser als unzulässig zurückzuweisen gewesen. Denn ein Asylsuchender, dem - wie hier dem Betroffenen - in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union Schutz gewährt worden ist, hat keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland; sein Antrag ist unzulässig (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13, BVerwGE 150, 29 Rn. 29).
9
bb) Ein Betroffener, dem in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Asyl gewährt und dessen weiterer Asylantrag in Deutschland als unzulässig zurückgewiesen worden ist, ist nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in diesen Mitgliedstaat abzuschieben, wenn die Durchführung sichergestellt ist. Denn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind nach § 26a Abs. 2 AsylVfG sichere Drittstaaten. Zur Sicherung einer solchen Abschiebung kann Haft unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG angeordnet werden. Das strebte die beteiligte Behörde an.
10
2. Die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung folgt auch nicht aus einem etwaigen Fehler bei der gebotenen Belehrung - hier - nach Art. 36 WÜK und vergleichbaren Vorschriften bilateraler Abkommen.
11
a) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats führten solche Verstöße zwar ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung (Beschlüsse vom 18. November 2010 - V ZB 165/10, FGPrax 2011, 99 Rn. 4, vom 14. Juli 2011 - V ZB 275/10, FGPrax 2011, 257 Rn. 6 und vom 30. Oktober 2013 - V ZB 33/13, juris Rn. 6). Daran hält der Senat aber nicht mehr fest.
12
b) Nach der neueren Rechtsprechung des Senats führt eine Verletzung von Verteidigungsrechten (insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör) nur dann zur Beendigung der Haft bzw. zur Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (näher Senat, Beschluss vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 10 [rechtliches Gehör] und vom 4. Dezember 2014 - V ZB 87/14, InfAuslR 2015, 146 Rn. 5 [Belehrung über den Rechtsmittelverzicht]). Diese Änderung der Rechtsprechung beruht auf dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 10. September 2013 (Rs. C-383/13 - PPU - G. und R., ECLI:EU:C:2013:533). Danach darf das nationale Gericht die Anordnung von Haft zur Sicherung einer Abschiebung nach Art. 15 der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. Nr. L 348, S. 98) wegen eines Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nur dann aufheben, wenn es der Ansicht ist, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (EuGH, aaO, Rn. 45). Die von dem Gerichtshof aufgestellten Grundsätze gelten nicht nur für die Haft zur Sicherung der Abschiebung, sondern auch für die Haft zur Beendigung eines illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, weil sie eine unterschiedliche Behandlung der Verletzung von Verteidigungsrechten nicht erlauben (Senat, Beschluss vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 11). Zu den Verteidigungsrechten gehört die Belehrung nach Art. 36 WÜK und vergleichbaren Regelungen, die dem Betroffenen die Möglichkeit bieten soll, seinen Heimatstaat um Hilfe zu bitten.
Auch ein Verstoß gegen die Pflicht zu dieser Belehrung führt zur Rechtswidrigkeit der Haft nur, wenn das Verfahren bei pflichtgemäßem Vorgehen zu einem anderen Ergebnis hätten führen können. Das hat der Betroffene darzulegen.
13
c) Daran fehlt es hier. Der Betroffene hat zwar einen Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 WÜK gerügt. Er hat aber nicht dargelegt, dass das Verfahren bei Beachtung der Regelung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Deshalb führt ein etwaiger Verstoß gegen die Belehrungspflicht nicht zur Rechtswidrigkeit der Haft.
14
3. Die Haftanordnung war aber rechtswidrig, weil der Haftantrag unzulässig war.
15
a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., Senat, Beschlüsse vom 15. Januar 2015 - V ZB 165/13, juris Rn. 5, vom 9. Oktober 2014 - V ZB 127/13, FGPrax 2015, 39 Rn. 6, vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 15, vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, InfAuslR 2012, 328 Rn. 10, vom 6. Dezember 2012 - V ZB 118/12, juris Rn. 4 und vom 31. Januar 2013 - V ZB 20/12, FGPrax 2013, 130 Rn. 15).

16
b) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag der beteiligten Behörde nicht gerecht.
17
aa) Sie hat darin zwar dargelegt, dass die Rückkehr des Betroffenen nach Italien im Wege der Rücküberstellung nach der Dublin-III-Verordnung betrieben , das Verfahren dann aber als Abschiebung nach Italien fortgesetzt worden ist. Weshalb es zu diesem Wechsel des Verfahrens kam, hat sie nicht erläutert. Darauf kam es aber entscheidend an.
18
bb) Welche Haftgründe in Betracht kamen, hing seinerzeit davon ab, ob die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Asylantrag schon auf die deutschen Behörden übergangen war oder noch bei den italienischen Behörden lag. Im ersten Fall wäre das Rücküberstellungsverfahren beendet gewesen. Zur Sicherung der Abschiebung hätte dann uneingeschränkt auf die Haftgründe nach § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zurückgegriffen werden können. War die Zuständigkeit dagegen noch nicht auf die deutschen Behörden übergangen, war das Rücküberstellungsverfahren nach der Dublin-III-Verordnung noch nicht beendet. Haft hätte dann nur nach Maßgabe von Art. 28 Abs. 2 der Dublin-IIIVerordnung angeordnet werden dürfen. Danach setzte die Haft eine erhebliche Fluchtgefahr voraus, deren Gründe nach Art. 2 Buchstabe n der Verordnung durch die Mitgliedstaaten gesetzlich festzulegen sind. Dieser Vorgabe genügte § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG seinerzeit nur mit Einschränkungen, weshalb die Haft zur Sicherung einer Rücküberstellung, wie eingangs dargelegt, seinerzeit nicht auf alle Haftgründe nach dieser Vorschrift gestützt werden konnte. Ohne eine Angabe zu dem Wechsel der Zuständigkeit ließ sich nicht feststellen, welchem Regime die Haftanordnung unterlag.
19
cc) Diese entscheidende Angabe fehlte in dem Haftantrag. Sie ist von der beteiligten Behörde im weiteren Verfahren nicht nachgeholt und von dem Beschwerdegericht auch nicht, was möglich gewesen wäre (Senat, Beschluss vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 23), selbst festgestellt worden. Deshalb durften weder die Haft noch ihre Fortdauer angeordnet werden.

IV.

20
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG. Stresemann Schmidt-Räntsch Weinland Göbel Haberkamp
Vorinstanzen:
AG Kassel, Entscheidung vom 04.05.2015 - 700 XIV 316/15 B -
LG Kassel, Entscheidung vom 13.05.2015 - 3 T 246/15 -

(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen.

(2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:

1.
die Identität des Betroffenen,
2.
den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen,
3.
die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung,
4.
die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung sowie
5.
in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung.
Die Behörde soll in Verfahren der Abschiebungshaft mit der Antragstellung die Akte des Betroffenen vorlegen.

(3) Tatsachen nach Absatz 2 Satz 2 können bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz ergänzt werden.

7
b) Dieser Fehler der beteiligten Behörde ändert aber an der Zulässigkeit des von ihr gestellten Haftantrages nichts. Die beteiligte Behörde musste in dem Antrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG darlegen, auf welcher Grundlage die Abschiebung erfolgen sollte, welche Schritte hierfür erforderlich waren und welchen Zeitraum sie jeweils in Anspruch nahmen (Senat, Beschluss vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 16). Dem hat die beteiligte Behörde entsprochen. Sie hat dargelegt, dass sie die Abschiebung auf der Grundlage der Richtlinie 2003/110/EG durchführen wollte. Sie hat das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Verfahren zutreffend beschrieben. Das trifft entgegen der Auffassung des Betroffenen auch für die Darlegung der beteiligten Behörde zu, zuerst den Flugschein beschaffen und erst dann das Ersuchen stellen zu wollen. Denn diese Vorgehensweise wird in den nach der Richtlinie zu verwendenden Formularen vorausgesetzt. Ob die der Beschreibung der beteiligten Behörde zugrundeliegende Annahme zutrifft, die Rückführung des Betroffenen habe nach der Richtlinie zu erfolgen, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern eine Frage der Begründetheit des Haftantrags (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Dezember 2013 - V ZB 214/12, juris Rn. 9).
6
2. Dem entsprach der Haftantrag der beteiligten Behörde nicht. Sie musste in dem Antrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG insbesondere darle- gen, auf welcher Grundlage die Abschiebung erfolgen sollte, welche Schritte hierfür erforderlich waren und welchen Zeitraum diese jeweils in Anspruch nahmen (Senat, Beschluss vom 15. Oktober 2015 - V ZB 82/14, juris Rn. 7 mwN). Besteht mit dem Zielstaat, in den der Betroffene abgeschoben werden soll, ein Rückübernahmeabkommen (hier das Protokoll zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Identifizierung und die Rücknahme i.d.F. der Bekanntmachung vom 4. Dezember 2003, BGBl. II 2004 S. 16, nachfolgend: deutsch-algerisches Protokoll), sind die nach diesem durchzuführenden entscheidenden Schritte in dem Haftantrag darzustellen (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 30/13, juris Rn. 10; Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 9; Beschluss vom 16. Juni 2016 - V ZB 12/15, InfAuslR 2016, 429 Rn. 9); ggf. ist darzulegen, warum abweichend hiervon verfahren werden soll.

(1) Die Abschiebungshaft ist unzulässig, wenn der Zweck der Haft durch ein milderes Mittel erreicht werden kann. Die Inhaftnahme ist auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist.

(2) Ein Ausländer ist zur Vorbereitung der Ausweisung oder der Abschiebungsanordnung nach § 58a auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen, wenn über die Ausweisung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a nicht sofort entschieden werden kann und die Abschiebung ohne die Inhaftnahme wesentlich erschwert oder vereitelt würde (Vorbereitungshaft). Die Dauer der Vorbereitungshaft soll sechs Wochen nicht überschreiten. Im Falle der Ausweisung bedarf es für die Fortdauer der Haft bis zum Ablauf der angeordneten Haftdauer keiner erneuten richterlichen Anordnung.

(3) Ein Ausländer ist zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen (Sicherungshaft), wenn

1.
Fluchtgefahr besteht,
2.
der Ausländer auf Grund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist oder
3.
eine Abschiebungsanordnung nach § 58a ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann.
Von der Anordnung der Sicherungshaft nach Satz 1 Nummer 2 kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn der Ausländer glaubhaft macht, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will. Die Sicherungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann; bei einem Ausländer, bei dem ein Fall des § 54 Absatz 1 Nummer 1 bis 1b oder Absatz 2 Nummer 1 oder 3 vorliegt und auf den nicht das Jugendstrafrecht angewendet wurde oder anzuwenden wäre, gilt abweichend ein Zeitraum von sechs Monaten. Abweichend von Satz 3 ist die Sicherungshaft bei einem Ausländer, von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, auch dann zulässig, wenn die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.

(3a) Fluchtgefahr im Sinne von Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 wird widerleglich vermutet, wenn

1.
der Ausländer gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität täuscht oder in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise und in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt hat, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität,
2.
der Ausländer unentschuldigt zur Durchführung einer Anhörung oder ärztlichen Untersuchung nach § 82 Absatz 4 Satz 1 nicht an dem von der Ausländerbehörde angegebenen Ort angetroffen wurde, sofern der Ausländer bei der Ankündigung des Termins auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle des Nichtantreffens hingewiesen wurde,
3.
die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist,
4.
der Ausländer sich entgegen § 11 Absatz 1 Satz 2 im Bundesgebiet aufhält und er keine Betretenserlaubnis nach § 11 Absatz 8 besitzt,
5.
der Ausländer sich bereits in der Vergangenheit der Abschiebung entzogen hat oder
6.
der Ausländer ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will.

(3b) Konkrete Anhaltspunkte für Fluchtgefahr im Sinne von Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 können sein:

1.
der Ausländer hat gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise getäuscht und hat die Angabe nicht selbst berichtigt, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität,
2.
der Ausländer hat zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge, insbesondere an einen Dritten für dessen Handlung nach § 96, aufgewandt, die nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren,
3.
von dem Ausländer geht eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus,
4.
der Ausländer ist wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden,
5.
der Ausländer hat die Passbeschaffungspflicht nach § 60b Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 2 und 6 nicht erfüllt oder der Ausländer hat andere als die in Absatz 3a Nummer 2 genannten gesetzlichen Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität, insbesondere die ihm nach § 48 Absatz 3 Satz 1 obliegenden Mitwirkungshandlungen, verweigert oder unterlassen und wurde vorher auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle der Nichterfüllung der Passersatzbeschaffungspflicht nach § 60b Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 2 und 6 oder der Verweigerung oder Unterlassung der Mitwirkungshandlung hingewiesen,
6.
der Ausländer hat nach Ablauf der Ausreisefrist wiederholt gegen eine Pflicht nach § 61 Absatz 1 Satz 1, Absatz 1a, 1c Satz 1 Nummer 3 oder Satz 2 verstoßen oder eine zur Sicherung und Durchsetzung der Ausreisepflicht verhängte Auflage nach § 61 Absatz 1e nicht erfüllt,
7.
der Ausländer, der erlaubt eingereist und vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist, ist dem behördlichen Zugriff entzogen, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend aufhält.

(4) Die Sicherungshaft kann bis zu sechs Monaten angeordnet werden. Sie kann in Fällen, in denen die Abschiebung aus von dem Ausländer zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, um höchstens zwölf Monate verlängert werden. Eine Verlängerung um höchstens zwölf Monate ist auch möglich, soweit die Haft auf der Grundlage des Absatzes 3 Satz 1 Nummer 3 angeordnet worden ist und sich die Übermittlung der für die Abschiebung erforderlichen Unterlagen oder Dokumente durch den zur Aufnahme verpflichteten oder bereiten Drittstaat verzögert. Die Gesamtdauer der Sicherungshaft darf 18 Monate nicht überschreiten. Eine Vorbereitungshaft ist auf die Gesamtdauer der Sicherungshaft anzurechnen.

(4a) Ist die Abschiebung gescheitert, bleibt die Anordnung bis zum Ablauf der Anordnungsfrist unberührt, sofern die Voraussetzungen für die Haftanordnung unverändert fortbestehen.

(5) Die für den Haftantrag zuständige Behörde kann einen Ausländer ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn

1.
der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Absatz 3 Satz 1 besteht,
2.
die richterliche Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft nicht vorher eingeholt werden kann und
3.
der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Sicherungshaft entziehen will.
Der Ausländer ist unverzüglich dem Richter zur Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft vorzuführen.

(6) Ein Ausländer kann auf richterliche Anordnung zum Zwecke der Abschiebung für die Dauer von längstens 14 Tagen zur Durchführung einer Anordnung nach § 82 Absatz 4 Satz 1, bei den Vertretungen oder ermächtigten Bediensteten des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, persönlich zu erscheinen, oder eine ärztliche Untersuchung zur Feststellung seiner Reisefähigkeit durchführen zu lassen, in Haft genommen werden, wenn er

1.
einer solchen erstmaligen Anordnung oder
2.
einer Anordnung nach § 82 Absatz 4 Satz 1, zu einem Termin bei der zuständigen Behörde persönlich zu erscheinen,
unentschuldigt ferngeblieben ist und der Ausländer zuvor auf die Möglichkeit einer Inhaftnahme hingewiesen wurde (Mitwirkungshaft). Eine Verlängerung der Mitwirkungshaft ist nicht möglich. Eine Mitwirkungshaft ist auf die Gesamtdauer der Sicherungshaft anzurechnen. § 62a Absatz 1 findet entsprechende Anwendung.

6
2. Dem entsprach der Haftantrag der beteiligten Behörde nicht. Sie musste in dem Antrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG insbesondere darle- gen, auf welcher Grundlage die Abschiebung erfolgen sollte, welche Schritte hierfür erforderlich waren und welchen Zeitraum diese jeweils in Anspruch nahmen (Senat, Beschluss vom 15. Oktober 2015 - V ZB 82/14, juris Rn. 7 mwN). Besteht mit dem Zielstaat, in den der Betroffene abgeschoben werden soll, ein Rückübernahmeabkommen (hier das Protokoll zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien über die Identifizierung und die Rücknahme i.d.F. der Bekanntmachung vom 4. Dezember 2003, BGBl. II 2004 S. 16, nachfolgend: deutsch-algerisches Protokoll), sind die nach diesem durchzuführenden entscheidenden Schritte in dem Haftantrag darzustellen (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 30/13, juris Rn. 10; Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 9; Beschluss vom 16. Juni 2016 - V ZB 12/15, InfAuslR 2016, 429 Rn. 9); ggf. ist darzulegen, warum abweichend hiervon verfahren werden soll.

(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen.

(2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:

1.
die Identität des Betroffenen,
2.
den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen,
3.
die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung,
4.
die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung sowie
5.
in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung.
Die Behörde soll in Verfahren der Abschiebungshaft mit der Antragstellung die Akte des Betroffenen vorlegen.

(3) Tatsachen nach Absatz 2 Satz 2 können bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz ergänzt werden.

Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Lübeck, 7. Zivilkammer, vom 27. Mai 2013 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Haftanordnung des Amtsgerichts Oldenburg in Holstein vom 26. September 2012 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste am 24. September 2012 ohne gültige Papiere mit einem Zugticket für eine Fahrt von A.      nach K.         in das Bundesgebiet ein. Er wurde erstmals von Beamten der Bundespolizei in B.       aufgegriffen. Eine EURODAC Anfrage ergab zwei Treffer für Großbritannien (aus dem Jahr 2006) und Italien (aus dem Jahr 2010). Der Betroffene gab an, dass er in den für seinen Schutzantrag zuständigen Mitgliedstaat zurückreisen werde. Die Beamten stellten für den Betroffenen eine Anlaufbescheinigung für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Br.          aus und besorgten dem Betroffenen mit dessen Mitteln eine Bahnfahrkarte dorthin.

2

Der Betroffene setzte jedoch am Folgetag seine Bahnfahrt in Richtung D.      fort. Er wurde in P.       erneut von Beamten der Bundespolizei (der beteiligten Behörde) aufgegriffen. Die beteiligte Behörde beantragte bei dem Amtsgericht für die Dauer von zwei Monaten die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung nach Italien oder Großbritannien mit der Angabe, dass diese gemäß der VO (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-Verordnung) für dessen Schutzantrag zuständig seien.

3

Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 26. September 2012 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 25. November 2012 angeordnet. Der Betroffene hat hiergegen Beschwerde eingelegt und nach seiner Überstellung nach Italien am 5. November 2012 beantragt, die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung für die Haftzeit vom 26. September 2012 bis zum 5. November 2012 festzustellen. Das Beschwerdegericht hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, dass die Haftanordnung den Betroffenen nicht in seinem Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt habe. Zwar sei der Haftantrag der beteiligten Behörde dem Betroffenen nicht ausgehändigt, sondern erst unmittelbar vor seiner Anhörung mündlich eröffnet worden. Das habe hier aber deshalb ausgereicht, weil der Betroffene auf Grund seiner am Tag zuvor erfolgten Festnahme in B.         zu den Haftvoraussetzungen im engeren Sinne auskunftsfähig gewesen sei. Der Betroffene habe nicht nur gewusst, dass er sich illegal im Bundesgebiet aufhalte; er habe zudem - da er nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, sich freiwillig bei dem Bundesamt zu stellen - mit der Anordnung von Haft im Falle seines erneuten Aufgreifens im Bundesgebiet rechnen müssen.

5

Die Voraussetzungen für die Anordnung von Zurückschiebungshaft nach § 57 Abs. 2, § 62 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG hätten vorgelegen. Ob sich eine andere Beurteilung nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG auf Grund der Erklärung des Betroffenen in der Beschwerdebegründung ergeben hätte, er sei in der Haft zu der Überzeugung gelangt, dass er sich den Behörden zur Rückkehr nach Italien zur Verfügung halten müsse, könne dahinstehen, da das allenfalls für die Zukunft hätte berücksichtigt werden können.

III.

6

Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

7

1. Im Ergebnis ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, dass gegen den Betroffenen Zurückschiebungshaft nach § 57 Abs. 2 i.V.m. § 62 AufenthG zur Überstellung nach Italien gemäß Art. 19, 20 Dublin-II-Verordnung (zur Übergangsvorschrift des Art. 49 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung - VO [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013, ABl. Nr. L 180, S. 31 - Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - V ZB 31/14, zur Veröffentlichung vorgesehen) schon deshalb nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil dem Betroffenen vor dem Beginn seiner Anhörung nach § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG eine Abschrift des Haftantrags der beteiligten Behörde nicht ausgehändigt worden war.

8

a) Das Vorgehen des Haftrichters verletzte allerdings den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Der Haftrichter darf - auch wenn der Betroffene zu den Angaben im Haftantrag auskunftsfähig ist - sich nicht darauf beschränken, den Inhalt des Haftantrags mündlich vorzutragen. Dem Betroffenen ist in jedem Fall eine Ablichtung des Haftantrags zu übergeben, der erforderlichenfalls mündlich übersetzt werden muss; beides ist in dem Anhörungsprotokoll oder an einer anderen Aktenstelle zu vermerken (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2012 - V ZB 284/11, FGPrax 2012, 227 Rn. 9; Beschluss vom 10. Oktober 2013 - V ZB 127/12, FGPrax 2014, 39 Rn. 5). Die Aushändigung des Haftantrags soll sicherstellen, dass sich der Betroffene zu sämtlichen (tatsächlichen und rechtlichen) Angaben der die Haft beantragenden Behörde äußern kann (Senat, Beschluss vom 21. Juli 2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257 Rn. 8; Beschluss vom 6. Dezember 2012 - V ZB 224/11, FGPrax 2013, 87 Rn. 13). Der Betroffene, der zumeist schon auf Grund der Situation nicht in der Lage sein wird, einen ihm nur mündlich übermittelten Haftantrag zu erfassen, muss im weiteren Verlauf der Anhörung in ein Exemplar des Haftantrags einsehen und dieses gegebenenfalls später einem Rechtsanwalt vorlegen können (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2012 - V ZB 281/11, FGPrax 2012, 227 Rn. 9; Beschluss vom 30. Oktober 2013 - V ZB 6/13, juris Rn. 5). Die Aushändigung des Haftantrags soll dem Betroffenen - insbesondere bei einem nicht einfach gelagerten Sachverhalt, von dessen Vorliegen hier auch das Beschwerdegericht ausgeht - ermöglichen, sich gegenüber dem Haftantrag der Behörde zu verteidigen (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 16; Beschluss vom 26. April 2012 - V ZB 17/12, juris Rn. 5).

9

b) Die unterbliebene Aushändigung des Haftantrags führt allerdings nur dann zu einer Aufhebung der Haftanordnung (bzw. nach einer Erledigung der Hauptsache zur Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit), wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Soweit der Senat dies bisher anders gesehen hat (u.a. Beschluss vom 30. März 2012 - V ZB 59/12, juris Rn. 10 ff.; Beschluss vom 30. Oktober 2013 - V ZB 9/13, FGPrax 2014, 43 Rn. 10 mwN), hält er daran nicht fest.

10

Ausschlaggebend dafür ist eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union für die Fälle der Inhaftnahme zum Zweck der Abschiebung nach Art. 15 der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. Nr. L 348, S. 98). Nach dessen Urteil vom 10. September 2013 (C - 383/13 - PPU, veröffentlicht u.a. in BayVBl. 2014, 140 ff.) muss bei einer richterlichen Kontrolle der von dem Drittstaatsangehörigen gerügten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei Entscheidungen zur Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung nach Art. 15 der Rückführungsrichtlinie anhand der speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles geprüft werden, ob der Verfahrensfehler dem Betroffenen tatsächlich die Möglichkeit genommen hat, sich in solchem Maß besser zu verteidigen, dass das Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (EuGH, aaO, Rn. 44). Ein nationales Gericht, das mit der Rechtmäßigkeit einer im Verwaltungsverfahren unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beschlossenen Verlängerung einer Haftmaßnahme betraut ist, darf die Haftmaßnahme nur dann aufheben, wenn es der Ansicht ist, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (EuGH, aaO, Rn. 45).

11

Die Entscheidung betrifft zwar einen Fall aus einem Mitgliedstaat (Niederlande), in dem die Abschiebungshaft nach Art. 15 Abs. 2 Satz 3 Buchstabe a der Rückführungsrichtlinie durch eine Verwaltungsbehörde angeordnet und danach durch ein Gericht überprüft wird, also nicht wie in Deutschland bereits durch das Gericht angeordnet wird. Gegenstand der Entscheidung des Gerichtshofs ist zudem die Haft zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung durch Abschiebung (Art. 3 Abs. 3, 5 der Rückführungsrichtlinie) und nicht - wie hier - die Anordnung von Zurückschiebungshaft zur Sicherung der Überstellung des Ausländers in einen anderen Mitgliedstaat nach Art. 16 ff. Dublin-II-Verordnung. Die von dem Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Grundsätze erlauben aber keine unterschiedliche Behandlung der Verletzung von Verteidigungsrechten, wenn es um eine Anordnung von Haft zur Beendigung eines illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union geht. Entscheidend ist, dass nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine Verletzung von Verteidigungsrechten (insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör) nicht automatisch, sondern nur dann zur Beendigung der Haft führt, wenn das Verfahren auch zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

12

Die Wirkung, die der Senat der fehlenden Aushändigung des Haftantrags bislang beigemessen hat, lässt sich auch nicht mit Art. 4 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie rechtfertigen. Danach dürfen die Mitgliedsstaaten Vorschriften beibehalten oder erlassen, die - wie das Erfordernis der Aushändigung des Haftantrags oder die Begründungsanforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG - für die Personen, auf die Richtlinie Anwendung findet, günstiger sind. Vorschriften der Mitgliedstaaten (hier über die Mitteilung des Haftantrags nach § 23 Abs. 2 FamFG) und ihre Auslegung müssen aber mit der Richtlinie in Einklang stehen und dürfen die effektive Durchführung von Rückführungen nicht gefährden. Das lässt sich jedoch nicht gewährleisten, wenn die unterbliebene Aushändigung des Haftantrags ohne weiteres zur Rechtswidrigkeit und damit auch dann nach § 426 FamFG zur Aufhebung einer angeordneten Zurückschiebungshaft führt, wenn die Vermeidung dieses Fehlers nicht zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.

13

c) Dass der Betroffene - wenn ihm der Haftantrag bereits vor seiner Anhörung durch das Amtsgericht ausgehändigt worden wäre - tatsächliche oder rechtliche Umstände mit der Folge vorgebracht hätte, dass die Haftanordnung nicht ergangen oder von dem Beschwerdegericht aufgehoben worden wäre, wird von der Rechtsbeschwerde nicht aufgezeigt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der Verstoß gegen den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör durch die Nichtaushändigung des Haftantrags führt danach hier nicht zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung (vgl. EuGH, aaO Rn. 39).

14

2. a) Der Feststellungsantrag hat jedoch aus einem anderen Grund Erfolg. Die Zurückschiebungshaft gegen den Betroffenen nach § 57 Abs. 2 i.V.m. § 62 AufenthG und mit Art.19, 20 Dublin-II-Verordnung hätte nämlich deshalb nicht angeordnet werden dürfen, weil es an einem zulässigen Haftantrag fehlte.

15

aa) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., Senat, Beschlüsse vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, InfAuslR 2012, 328 Rn. 10; vom 6. Dezember 2012 - V ZB 118/12, juris Rn. 4; vom 31. Januar 2013 - V ZB 20/12, FGPrax 2013, 130 Rn. 15, jeweils mwN).

16

bb) In Haftanträgen zur Sicherung einer Zurückschiebung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union auf der Grundlage eines Aufnahme oder Wiederaufnahmeersuchens nach Art. 16 ff. der Dublin-II-Verordnung muss ausgeführt werden, dass und weshalb der Zielstaat (hier Großbritannien oder Italien) nach der Verordnung zur Rücknahme verpflichtet ist (Senat, Beschluss vom 31. Mai 2012 - V ZB 167/11, NJW 2012, 2448 Rn. 10; Beschluss vom 28. Februar 2013 - V ZB 138/12, FGPrax 2013, 132, 133 Rn. 10). Hierzu muss die Behörde auch angeben, in welchem Verfahren die Überstellung erfolgen und in welcher Reihenfolge bei den in Betracht kommenden Staaten nachgefragt werden soll. Dass die Entscheidung darüber nicht bei der beteiligten Behörde, sondern bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liegt, macht solche Darlegungen nicht entbehrlich. Notfalls muss die Behörde zunächst den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG beantragen und den Antrag auf Anordnung ordentlicher Sicherungshaft bis zum Eingang der Unterrichtung durch das Bundesamt zurückstellen (Senat, Beschluss vom 28. Februar 2013 - V ZB 138/12, FGPrax 2013, 132 Rn. 11).

17

cc) Der Haftantrag der beteiligten Behörde vom 25. September 2012 entspricht - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - diesen Anforderungen nicht. In ihm ist nur davon die Rede, dass auf Grund von zwei EURODAC-Treffern dem Betroffenen die Zurückschiebung nach Italien oder nach Großbritannien eröffnet worden sei. Ausführungen dazu, welcher Staat zunächst angefragt werden soll, und aus welchen Gründen dieser zur Zurücknahme des Betroffenen verpflichtet ist, fehlen jedoch.

18

b) Mängel in der Antragsbegründung wegen fehlender Angaben zur erforderlichen Haftdauer und zur Durchführbarkeit der Ab- oder Zurückschiebung (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 und 5 FamFG) führen zur Rechtswidrigkeit der auf Grund eines solchen Antrags erlassenen Haftanordnung.

19

aa) Dies ist eine Folge dessen, dass das Begründungserfordernis als eine Verfahrensgarantie im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ausgestaltet worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210 Rn. 19; Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 11). Diese Garantie dient nicht nur dem Zweck, dem Betroffenen eine bessere Verteidigung im Verfahren zu ermöglichen. Mit den besonderen Begründungsanforderungen will der Gesetzgeber vor allem erreichen, dass dem Gericht durch den Antrag selbst eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Einleitung weiterer Ermittlungen bzw. für seine Entscheidung zugänglich wird (Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags zum FGG-ReformG, BT-Drucks. 16/9733, S. 299; Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 Rn. 9; Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13). Die Begründung des Haftantrags ist nach Auffassung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags eine unverzichtbare Voraussetzung für die Einleitung weiterer Ermittlungen bzw. für die Entscheidung des Richters über den Haftantrag. Unvollständige, auch nicht auf richterliche Aufforderung ergänzte Haftanträge sind von dem Haftrichter als unzulässig zurückzuweisen (BT-Drucks. 16/9733, S. 299).

20

bb) Die in § 417 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 und 5 FamFG bestimmten Anforderungen an die Begründung sollen gewährleisten, dass die Haft nach § 62 AufenthG nur angeordnet wird, wenn die antragstellende Behörde das Vorliegen der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführbarkeit einer Ab- oder Zurückschiebung und für das Betreiben des Verfahrens darlegt, zu deren Sicherung der Richter die Haft anordnen soll. Das Begründungserfordernis sichert damit die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung nach § 62 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 4 AufenthG sowie Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie. Bedingung für die Inhaftnahme des Ausländers ist nach der Richtlinie nämlich nicht nur die Fluchtgefahr oder ein Umgehen oder eine Verhinderung der Abschiebung; die Haft muss zudem so kurz wie möglich sein und sich auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen beschränken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. Das Vorliegen dieser Umstände ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme (Art. 15 Abs. 2 Satz 4 Rückführungsrichtlinie) und für die Aufrechterhaltung einer einmal angeordneten Haft (Art. 15 Abs. 3 und 4 Rückführungsrichtlinie).

21

c) Die Mängel des Haftantrags können allerdings in dem gerichtlichen Verfahren mit Wirkung für die Zukunft geheilt werden. Das ist hier jedoch nicht geschehen.

22

aa) Eine Behebung der Mängel des Haftantrags kann zunächst dadurch geschehen, dass die Behörde von sich aus oder auf richterlichen Hinweis ihre Darlegungen ergänzt, dadurch die Lücken in ihrem Haftantrag schließt und der Betroffene dazu Stellung nehmen kann (Senat, Beschluss vom 3. Mai 2011 - V ZA 10/11, Rn. 11 juris; Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 Rn. 15).

23

Die Möglichkeiten zur Behebung des Mangels sind im Hinblick darauf, dass die Auslegung nationalstaatlicher Vorschriften die praktische Wirksamkeit der Rückführungsrichtlinie nicht infrage stellen darf (EuGH, Urteil vom 10. September 2013 - C-383/13 - PPU, Rn. 36, veröffentlicht u.a. in BayVBl. 2014, 140 ff.), dahin zu ergänzen, dass auch das Gericht das Vorliegen der an sich seitens der Behörde nach § 417 Abs. 2 FamFG vorzutragenden Tatsachen auf Grund eigener Ermittlungen von Amts wegen (§ 26 FamFG) in dem Beschluss feststellen kann. Damit wird dem Zweck des Begründungserfordernisses in § 417 Abs. 2 FamFG ebenfalls genügt. Die Begründung soll dem Haftrichter eine hinreichende Tatsachengrundlage verschaffen. Die Zurückweisung eines Haftantrags oder die Aufhebung einer bereits angeordneten Haft auch in den Fällen, in denen nach den eigenen Ermittlungen des Haftrichters die in § 417 Abs. 2 Nr. 4 und 5 FamFG von der Behörde darzulegenden Tatsachen vorliegen und sich danach die beantragte Haft als erforderlich und verhältnismäßig darstellt, ist dagegen nach dem Zweck des Begründungserfordernisses nicht gefordert und widerspricht dem bereits erwähnten Gebot (siehe oben 1. b)), die praktische Wirksamkeit der Rückführungsrichtlinie nicht durch eine zu enge Auslegung nationalstaatlicher Verfahrensvorschriften infrage zu stellen.

24

Die Behebung des Mangels durch den Haftrichter setzt jedoch voraus, dass dieser die Voraussetzungen zur Durchführbarkeit der Ab- oder Zurückschiebung des Ausländers und zu der dafür erforderlichen Haftdauer in seiner Entscheidung feststellt. Nur dann ist davon auszugehen, dass die Voraussetzungen tatsächlich vorgelegen haben, unter denen die Haft angeordnet werden darf. Fehlt es an solchen Feststellungen, verletzt eine dennoch ergehende Haftanordnung den Betroffenen in seinen Rechten.

25

bb) So verhält es sich hier, weil die Mängel des Haftantrags der beteiligten Behörde in dem gesamten Verfahren nicht behoben worden sind. Das Beschwerdegericht befasst sich in seiner Entscheidung nur mit der - seiner Meinung nach entbehrlichen - Aushändigung des Haftantrags, aber nicht mit dessen Inhalt. Das Amtsgericht hat lediglich ausgeführt, dass die Dauer der Haft deshalb nicht unverhältnismäßig sei, weil Abschiebungen nach Italien erfahrungsgemäß innerhalb von zwei Monaten vollzogen werden könnten. Feststellungen zu einer Verpflichtung Italiens, den Betroffenen wieder aufzunehmen, fehlen jedoch sowohl im Haftantrag als auch in dem die Haft anordnenden Beschluss.

26

cc) Die Haftanordnung stellt sich schließlich auch nicht deshalb im Nachhinein als rechtmäßig dar, weil die Zurückschiebung des Betroffenen innerhalb der von der beteiligten Behörde beantragten Frist durchgeführt wurde. Der Senat hat zwar entschieden, dass sich Prognosefehler des Gerichts nicht auswirken, wenn es in der angeordneten Haftzeit zu der Ab- oder Zurückschiebung kommt (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 19). Diese Rechtsprechung kann aber nicht auf Mängel des Haftantrags übertragen werden. Die Ordnungsmäßigkeit des Haftantrags ist eine Verfahrensgarantie, deren Beachtung von Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG gefordert ist (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 11; Beschluss vom 19. Januar 2012 - V ZB 70/11, juris Rn. 8; Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 162/12, InfAuslR 2014, 51 Rn. 9). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten, weil die Freiheitsentziehung nicht angeordnet werden darf, solange es an einer Darlegung der Behörde oder einer richterlichen Ermittlung der für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Freiheitsentziehung erforderlichen Tatsachen fehlt.

IV.

27

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, § 128 Abs. 3 Satz 2 KostO, Art. 5 EMRK. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 3 Satz 2, § 30 Abs. 2 KostO. Die Vorschriften der Kostenordnung sind hier auf Grund der Übergangsvorschrift in § 134 Abs. 1, 2 GNotKG noch anzuwenden.

Stresemann                        Lemke                        Schmidt-Räntsch

                       Czub                        Kazele

(1) Ein Visum kann zur Wahrung politischer Interessen des Bundes mit der Maßgabe erteilt werden, dass die Verlängerung des Visums und die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels nach Ablauf der Geltungsdauer des Visums sowie die Aufhebung und Änderung von Auflagen, Bedingungen und sonstigen Beschränkungen, die mit dem Visum verbunden sind, nur im Benehmen oder Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat oder der von ihm bestimmten Stelle vorgenommen werden dürfen.

(2) Die Bundesregierung kann Einzelweisungen zur Ausführung dieses Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen erteilen, wenn

1.
die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern,
2.
durch ausländerrechtliche Maßnahmen eines Landes erhebliche Interessen eines anderen Landes beeinträchtigt werden,
3.
eine Ausländerbehörde einen Ausländer ausweisen will, der zu den bei konsularischen und diplomatischen Vertretungen vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreiten Personen gehört.