Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juli 2006 - X ZR 22/05

bei uns veröffentlicht am12.07.2006
vorgehend
Amtsgericht Hannover, 542 C 302/04, 26.05.2004
Landgericht Hannover, 19 S 56/04, 06.01.2005

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
X ZR 22/05
vom
12. Juli 2006
in dem Rechtsstreit
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juli 2006 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den Richter Scharen, die Richterinnen
Ambrosius und Mühlens und den Richter Prof. Dr. Meier-Beck

beschlossen:
Der Senat beabsichtigt, die Revision der Kläger gegen das Urteil der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 6. Januar 2005 durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme bis 18. August 2006.

Gründe:


1
1. Die Kläger machen Ansprüche aus einem Luftbeförderungsvertrag (Charterflug) geltend. Der Kläger zu 1 buchte bei der Beklagten für sich und seine Familie, die Kläger zu 2-5, einen Hin- und Rückflug von H. nach I. . Der Rückflug sollte am 10. August 2002 um 1.00 Uhr stattfinden. Die Kläger wurden erst um 10.00 Uhr nach H. befördert. Sie beanspruchen jeweils die Mindestausgleichssumme (je 150,-- €) nach Art. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr , Amtsblatt Nr. L 036 vom 8. Februar 1991, S. 5, die sie zumindest für entsprechend anwendbar halten, sowie nach Art. 6 dieser Verordnung je- weils 20,-- € für nichtgelieferte Mahlzeiten und Erfrischungen, insgesamt 200,-- € für nichterbrachte Hotelleistung und 5,60 € für ein Telefongespräch aus dem Wartebereich. Auf die sich hieraus ergebende Gesamtsumme rechnen sie eine vorgerichtliche Zahlung der Beklagten in Höhe von 350,-- € an.
2
Das Amtsgericht hat die sich hiernach ergebende Klageforderung abgewiesen , die Berufung der Kläger ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, der die Beklagte entgegentritt, verfolgen die Kläger ihr Zahlungsbegehren weiter.
3
2. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
4
Die Revision leitet die Notwendigkeit einer Entscheidung des Revisionsgerichts aus der Frage ab, ob die Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr - im Folgenden: VO Nr. 295/91 - auch auf den vorliegenden Fall (entsprechend) anwendbar ist. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass der gebuchte Charterflug erst Stunden später stattfand.
5
Die VO Nr. 295/91 wurde durch die am 17. Februar 2005 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (im Folgenden: VO Nr. 261/2004) aufgehoben und ersetzt. Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage betrifft somit eine Vorschrift, die im Zeitpunkt der Entscheidung über die Revision nicht mehr gilt. Es ist allgemein anerkannt, dass eine Rechtsfrage, die Übergangsrecht oder auslaufendes Recht betrifft, in aller Regel keine grundsätzliche Bedeutung hat (BGH, Beschl. v. 12.11.2002 - XI ZB 15/02; BVerwG, Beschl. v. 20.12.1995 - 6 B 35.95, ZUM 1996, 898). Anderes gilt nur dann, wenn die Klärung für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist. Die Revisionskläger haben keine Anhaltspunkte für eine erhebliche Anzahl von Altfällen dargetan; diese sind auch sonst nicht ersichtlich.
6
3. Die Revision hat auch keine Aussicht auf Erfolg.
7
a) Die VO Nr. 295/91, die als Gemeinschaftsrecht unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gilt und der in ihrem Anwendungsbereich, der sich nach dem Wortlaut bestimmt, Vorrang vor dem nationalen Recht zukommt (Art. 249 Abs. 2 EGV n.F., Art. 189 Abs. 2 EGV a.F.; BVerfGE 73, 378), beinhaltet nach Art. 1 eine Mindestregelung für den Fall, dass Fluggäste auf einem überbuchten Linienflug nicht befördert werden, obwohl sie hierfür einen gültigen Flugschein mit bestätigter Buchung vorweisen können. Eine "Nichtbeförderung" bzw. ein "Zurückweisen" i.S. Art. 2 a liegt deshalb nur vor, wenn ein Fluggast oder einzelne Fluggäste von der Teilnahme an einem durchgeführten Flug ausgeschlossen worden sind, weil dessen Kapazität beschränkt ist. Hier handelt es sich nicht um einen solchen Fall, sondern um einen Fall der Verspätung oder Annullierung (vgl. zur Abgrenzung Schmied, NJW 2006, 1841, 1842). Der von den Klägern gebuchte Flug fand neun Stunden später und mit einem anderen als dem zunächst vorgesehenen Flugzeug statt.
8
Eine analoge Anwendung der VO Nr. 295/91 auf Fälle der vorliegenden Art kommt nicht in Betracht. Nach ihrem eindeutigen Wortlaut und dem ihrer vorangestellten Begründungserwägungen soll die VO Nr. 295/91 einen Mindestausgleich gerade für die Unzuträglichkeiten schaffen, die durch Überbuchungen entstehen können. Mit Verspätung oder Annullierung befassen sich weder die verordneten Regelungen noch die Erwägungsgründe.

9
Entgegen der Auffassung der Revision kann etwas anderes auch nicht aus der am 17. Februar 2005, also erst nach dem zu beurteilenden Sachverhalt , in Kraft getretenen und daher hier nicht anwendbaren Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und Annullierung oder großer Verspätung von Flügen, Amtsblatt Nr. L 046 vom 17. Februar 2004, S. 1 (im Folgenden: VO Nr. 261/2004) hergeleitet werden. In Erwägungsgrund 3 dieser Verordnung hat der Verordnungsgeber vielmehr deutlich gemacht, dass Annullierungen und Verspätungen von der älteren Verordnung nicht umfasst waren und darin der Grund für die Neuregelung lag. Aus Erwägungsgrund 5 der VO Nr. 261/2004 ergibt sich zudem als Auffassung des Verordnungsgebers, dass die ältere Verordnung Nr. 295/91 nicht den Schutz von Fluggästen im Charterflugverkehr umfasste. Zu Recht hat das Berufungsgericht deshalb Ansprüche aus Art. 4 und 6 der VO Nr. 295/91 verneint.
10
b) Auch eine andere Rechtsgrundlage rechtfertigt die Zahlungsklage nicht. Ein allein in Betracht zu ziehender Schadensersatzanspruch scheitert bereits daran, dass die Kläger einen erstattungsfähigen Schaden nicht dargelegt haben. Pauschale Ausgleichszahlungen - hier 150,-- € pro Person - kennen weder das Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 12. Oktober 1929 (Warschauer Abkommen, RGBl. 1933 II 1039), das am 10. August 2002 noch anwendbar war, weil das (ersetzende) Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Abkommen, BGBl. 2004 II 458) erst später in Kraft getreten ist, noch das Bürgerliche Gesetzbuch. Auch fiktive Beträge für Übernachtung und nicht eingenommene Mahlzeiten sind hiernach nicht erstattungsfähig. Die Klä- ger könnten deshalb allenfalls 5,60 € Telefonkosten verlangen. Ein derartiger Schaden ist aber durch den außergerichtlich gezahlten Betrag von 350,-- € bereits abgegolten. Weitere Vermögenseinbußen sind nicht geltend gemacht.
Melullis Scharen Ambrosius
Mühlens Meier-Beck
Vorinstanzen:
AG Hannover, Entscheidung vom 26.05.2004 - 542 C 302/04 -
LG Hannover, Entscheidung vom 06.01.2005 - 19 S 56/04 -

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juli 2006 - X ZR 22/05

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
XI ZB 15/02
vom
12. November 2002
in dem Rechtsstreit
Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. November 2002
durch den Vorsitzenden Richter Nobbe, die Richter Dr. Müller,
Dr. Joeres, Dr. Wassermann und die Richterin Mayen

beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluß des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 3. Juni 2002 wird auf Kosten des Beklagten als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 10.735,95

Gründe:


Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 ZPO statthaft (vgl. BGH, Beschluß vom 29. Mai 2002 - V ZB 11/02, WM 2002, 1567). Die Rechtsbeschwerde ist aber nicht zulässig, da es an den Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO fehlt.
1. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt der Sache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zu. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Sache, wenn sie eine entscheidungserhebliche , klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann
(BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2002 - V ZR 75/02, WM 2002, 1811 und - V ZB 16/02, WM 2002, 1896, 1897). So liegen die Dinge hier nicht.

a) Entgegen der Auffassung des Beklagten hat die Rechtsbeschwerde nicht deshalb grundsätzliche Bedeutung, weil im Hinblick auf die am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Zivilprozeßreform die parallele Geltung von altem und neuem Recht in jeder Anwaltskanzlei eine grundlegende Umstellung der Organisation der Fristenbearbeitung und -kontrolle erfordere. Die parallele Geltung der bis zum 31. Dezember 2001 für die Berufung maßgeblichen Vorschriften und derjenigen, die am 1. Januar 2002 in Kraft getreten sind, beschränkt sich auf einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum. Es ist allgemein anerkannt, daß eine Rechtsfrage , die Übergangsrecht oder auslaufendes Recht betrifft, in aller Regel keine grundsätzliche Bedeutung hat (BGH, Beschluß vom 24. Oktober 1991 - III ZR 78/90, WM 1992, 362, 363 f.; Musielak/Ball, ZPO 3. Aufl. § 543 Rdn. 5; MünchKomm/Wenzel, ZPO 2. Aufl. § 546 Rdn. 36; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO 21. Aufl. § 546 Rdn. 7; BVerwG NVwZ-RR 1996, 712 für § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Dies gilt nur dann nicht, wenn die Klärung noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist, wofür der Beschwerdeführer darlegungspflichtig ist und was nur bejaht werden kann, wenn Anhaltspunkte für eine erhebliche Zahl von Altfällen dargetan und ersichtlich sind (so BVerwG aaO m.w.Nachw.). Das ist hier nicht der Fall.

b) Ob die vom Beklagten angesprochene mündliche Einzelanweisung geeignet war, die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu vermeiden (vgl. hierzu auch BGH, Beschluß vom 9. Januar 2001 - VIII ZB 26/00, NJW-RR 2001, 782, 783) und ob die Erteilung einer solchen Ein-
zelanweisung überhaupt hinreichend glaubhaft gemacht worden ist, sind Fragen der Würdigung des Einzelfalls und offensichtlich nicht von grundsätzlicher Bedeutung.

c) Bereits geklärt ist, daß eine besonders auffällige Häufung von Mängeln im Zusammenhang mit der Wahrung der Berufungsbegründungsfrist , die entweder Bedenken gegen die ordnungsgemäße Ausbildung , Erprobung und Überwachung der Büroangestellten oder Schlüsse auf die Unvollständigkeit der organisatorischen Anweisungen des Anwalts rechtfertigt, für ein Organisationsverschulden des Berufungsanwalts sprechen kann (BGH, Beschluß vom 18. Dezember 1997 - III ZB 41/97, BGHR ZPO § 233 Büropersonal 11). Ob eine solche auffällige Häufung von Mängeln im Zusammenhang mit der Wahrung der Berufungsbegründungsfrist zu verzeichnen ist, ist wiederum eine Frage des Einzelfalls.
2. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Daß das Berufungsgericht von einer Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs abgewichen wäre, hat der Beklagte nicht geltend gemacht. Ebenso fehlt es an konkreten Angaben zur "symptomatischen Bedeutung" des behaupteten Rechtsfehlers (vgl. Senat, Beschluß vom 1. Oktober 2002 - XI ZR 71/02, Umdr. S. 8).
Nobbe Müller Joeres
Wassermann Mayen