Bundesgerichtshof Urteil, 17. Dez. 2008 - 1 StR 552/08

bei uns veröffentlicht am17.12.2008

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 552/08
vom
17. Dezember 2008
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 17. Dezember
2008, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl
als Vorsitzender Richter
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Jäger,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Passau vom 1. Juli 2008 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf, seine im Jahre 1987 geborene Stieftochter O. - die Nebenklägerin - im Jahre 1992, im Mai/Juni 1996 sowie zwischen Ende 1996 und Mai 1997 sexuell missbraucht zu haben, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen von der Nebenklägerin eingelegte Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
2
Der Senat muss offen lassen, ob der Freispruch in der Sache rechtsfehlerfrei erfolgt ist, da ihm insoweit eine Nachprüfung nicht möglich ist. Das angefochtene Urteil wird nämlich schon den Anforderungen an die Begründungspflicht bei einem freisprechenden Urteil nicht gerecht. Spricht das Tatgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei, so muss es in den Urteilsgründen den Anklagevorwurf, die hierzu getroffenen Feststellungen, die we- sentlichen Beweisgründe und seine rechtlichen Erwägungen mitteilen (MeyerGoßner , StPO 51. Aufl. § 267 Rdn. 33 m.w.N.). Diese Mindestvoraussetzungen sind nicht erfüllt. Das Urteil leidet an mehreren Darstellungs- und Erörterungsmängeln , die dem Senat eine Prüfung auf Rechtsfehler verwehren.
3
1. Die Urteilsgründe geben bereits nicht die einzelnen Anklagevorwürfe in den wesentlichen Einzelheiten der vorgeworfenen Tathandlungen wieder, sondern setzen sie als bekannt voraus. Eine Bezugnahme auf die Anklagepunkte ist jedoch insoweit nicht zulässig. Das Urteil muss aus sich heraus verständlich sein (vgl. BGHSt 37, 21, 22).
4
2. Die Urteilsgründe enthalten keine Feststellungen zum Werdegang und zur Persönlichkeit des Angeklagten. Zu solchen Feststellungen ist das Tatgericht verpflichtet, wenn diese - z.B. bei einschlägigen Vorverurteilungen - für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können (vgl. BGH, Urt. vom 23. Juli 2008 - 2 StR 150/08). Einschlägige Vorverurteilungen stehen hier im Raum.
5
3. Feststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen waren der Strafkammer zwar nicht möglich, weil sie zu der Auffassung gelangte, dass nach der Beweisaufnahme nichts blieb, was zu den Tatvorwürfen zu ihrer Überzeugung als erwiesen hätte festgestellt werden können. In diesem Falle hätte sie jedoch die hierfür maßgeblichen Gründe so darlegen müssen, dass das Revisionsgericht prüfen kann, ob der den Entscheidungsgegenstand bildende Sachverhalt erschöpfend gewürdigt ist (vgl. BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 7). Hieran fehlt es in mehrfacher Hinsicht:
6
Die Kammer teilt schon im Ausgangspunkt nicht die Aussage der Belastungszeugin in ihrer Entstehung und nach ihrem wesentlichen Inhalt mit. Dies war hier erforderlich, weil Aussage gegen Aussage stand und die Entscheidung allein davon abhing, welcher Person die Kammer Glauben schenkt. Ihrer Pflicht konnte die Kammer sich nicht dadurch entziehen, dass sie einige Argumente gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage angeführt hat. Denn diese stellen nur einen Ausschnitt aus der gebotenen Gesamtwürdigung dar. Eine umfassende Nachprüfung der Überzeugungsbildung ist so nicht möglich.
7
Tagebuchaufzeichnungen der Belastungszeugin, die für die Beweiswürdigung von zentraler Bedeutung waren, werden im Urteil nicht wiedergegeben, sondern nur unter Bezugnahme auf den Akteninhalt bewertet. Eine Verweisung auf Schriften ist in den Urteilsgründen nicht statthaft (vgl. BGH bei Becker NStZRR 2003, 99).
8
Ein weiterer durchgreifender Mangel liegt darin, dass die Strafkammer den Inhalt des erstatteten Glaubwürdigkeitsgutachtens nicht mitteilt, obwohl dieses im Gegensatz zur Kammer zu dem Ergebnis kommt, dass "mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Erlebnisfundiertheit der Bekundungen von O. L. auszugehen" sei. Zwar ist das Gericht nicht gehindert, eine von dem Sachverständigengutachten abweichende eigene Beurteilung der Aussagekonstanz und der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Belastungszeugen vorzunehmen ; denn das Tatgericht ist im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung stets zu einer eigenen Beurteilung verpflichtet (vgl. BGHR StPO § 261 Sachverständiger 9; BGH, Beschl. vom 16. September 2008 - 3 StR 302/08). Will es jedoch eine Frage, zu deren Beantwortung es sachverständige Hilfe für erforderlich gehalten hat, in Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss es die Ausführungen des Sachverständigen in nachprüfbarer Weise wiedergeben.
Es muss sich außerdem mit ihnen konkret auseinandersetzen und seine abweichende Auffassung tragfähig und nachvollziehbar begründen (BGH aaO). Auch dies lässt die angefochtene Entscheidung vermissen. Wahl Kolz Hebenstreit Elf Jäger

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 17. Dez. 2008 - 1 StR 552/08

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 17. Dez. 2008 - 1 StR 552/08

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 267 Urteilsgründe


(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese
Bundesgerichtshof Urteil, 17. Dez. 2008 - 1 StR 552/08 zitiert 3 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 267 Urteilsgründe


(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese

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(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.

(2) Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden.

(3) Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz Milderungen von dem Vorliegen minder schwerer Fälle abhängig, so müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb diese Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint werden; dies gilt entsprechend für die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen des § 47 des Strafgesetzbuches. Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird aber gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen, so gilt Satz 2 entsprechend. Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden ist; dies gilt entsprechend für die Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist auch dies in den Urteilsgründen anzugeben.

(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.

(5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.

(6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, eine Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht vorbehalten worden ist. Ist die Fahrerlaubnis nicht entzogen oder eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet worden, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam, so müssen die Urteilsgründe stets ergeben, weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 302/08
vom
16. September 2008
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 16. September 2008
gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 17. März 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung zur Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachbeschwerde Erfolg. Eines Eingehens auf die verfahrensrechtlichen Beanstandungen bedarf es daher nicht.
2
Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
3
Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift unter anderem Folgendes ausgeführt: "… Zwar hat sich die Kammer eingehend mit der Glaubwürdigkeit des Geschädigten und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage auseinandergesetzt (UA S. 13 ff.) und dabei ein etwaiges Motiv, den Angeklagten zu Unrecht zu belasten, erörtert und ausgeschlossen (UA S. 13). Insbesondere hat sie die Möglichkeit berücksichtigt, dass das Tatopfer - von seiner Stiefmutter nach einem häuslichen Entweichen zur Rede gestellt - erst durch deren konkrete Nachfrage spontan auf das Thema des sexuellen Missbrauchs und die Idee einer Falschaussage gebracht worden sein könnte, um hierdurch von seinem Fehlverhalten abzulenken (UA S. 15, 23 f.). Jedoch hat das Landgericht in diesem Zusammenhang unterlassen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich das Opfer aus oben genannter Motivation … bereits während seines unerlaubten Fernbleibens von zu Hause eine falsche Verdächtigung des Angeklagten ausgedacht haben könnte. Eine solche Erörterung hätte sich aufgedrängt, weil nach den getroffenen Feststellungen der Geschädigte seiner Stiefmutter erzählte, dass er in der Zeit seiner unerlaubten Abwesenheit im April 2004 mit seinem Bruder 'beim Angeklagten in Stadthagen gewesen sei' (UA. 10). Diese Aussage steht im Widerspruch zu der Feststellung, dass der Angeklagte Deutschland bereits im Juli 2003 verlassen habe und erst im Jahre 2007 zurückgekehrt sei. Wenn somit die nahe liegende Möglichkeit besteht, dass der Geschädigte seine Stiefmutter bzgl. seines Aufenthalts bei dem Angeklagten angelogen hat, erscheint es nicht fern liegend, dass er dies auch hinsichtlich der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat getan hat. …"
4
Dem verschließt sich der Senat nicht, zumal die Beweiswürdigung in einem weiteren Punkt durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt:
5
Obwohl die Tatschilderung des Nebenklägers in der Hauptverhandlung auch zum Kerngeschehen in zahlreichen Punkten von seinen früheren Angaben abwich, hat das Landgericht - im Widerspruch zum Gutachten der psychologischen Sachverständigen - im Ergebnis eine ausreichende Aussagekonstanz angenommen und ist auf dieser Grundlage zur Überzeugung von der uneinge- schränkten Glaubhaftigkeit der Angaben des Nebenklägers gelangt. Zwar ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht eine von dem Gutachten der Sachverständigen abweichende eigene Beurteilung der Aussagekonstanz und der Glaubhaftigkeit der Angaben des Nebenklägers vorgenommen hat; denn der Tatrichter ist im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung stets zu einer eigenen Beurteilung verpflichtet (vgl. Schoreit in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 31 m. w. N.). Weicht der Tatrichter mit seiner Beurteilung von einem Sachverständigengutachten ab, muss er sich jedoch konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinander setzen und seine Auffassung tragfähig sowie nachvollziehbar begründen, um zu belegen, dass er mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen (vgl. Schoreit aaO § 261 Rdn. 33; BGH, Urt. vom 12. Juni 2001 - 1 StR 190/01; BGH NStZ 2000, 550 m. w. N.). Dies ist im gegebenen Fall nicht in ausreichender Weise geschehen. So hat der Nebenkläger in der Hauptverhandlung bekundet, er und der Angeklagte hätten nebeneinander gesessen und ferngesehen, wobei der Angeklagte ihn am ganzen Körper angefasst habe, während er ein solches Geschehen bei seiner polizeilichen Vernehmung nicht angegeben hatte. Die Begründung des Landgerichts für eine gleichwohl ausreichende Aussagekonstanz, es sei "gut denkbar", dass das Kind bei einem anderweitigen Besuch beim Angeklagten von diesem einmal am ganzen Körper angefasst worden ist, stellt die durch nichts begründete Annahme eines weiteren Missbrauchsgeschehens dar und erweist sich somit als bloße Vermutung. Auch die Würdigung der unterschiedlichen Angaben des Kindes zu den Umständen des Einsatzes von Creme durch den Angeklagten, "möglicherweise" habe der Zeuge erst in der Hauptverhandlung erinnert, dass die Cremedose auf der Ablage im Wohnzimmer stand und "denkbar wäre auch", dass ihm dies erst bei seinen Besuchen nach dem eigentlichen Vorfall aufgefallen ist, vermag - unabhängig davon, dass nur ein weiterer Besuch nach der Tat festgestellt worden ist - die erhebliche Differenz zwischen den stark unterschiedlichen Angaben des Nebenklägers zu diesem Teil des Kerngeschehens nicht tragfähig zu erklären. Dies gilt in gleicher Weise für die Beweiswürdigung des Landgerichts hinsichtlich der weiteren divergierenden Bekundungen des Kindes zur Wahrnehmung des Penis des Angeklagten und zu während der Missbrauchshandlung verspürten Schmerzen.
6
Die Sache bedarf daher in vollem Umfang der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter. Dieser wird angesichts der Weigerung des Nebenklägers, an der Exploration durch die bisherige Sachverständige mitzuwirken , Anlass haben zu bedenken, ob wegen Herkunft und Geschlechts des Nebenklägers möglicherweise ein neuer und zwar männlicher (psychologischer) Sachverständiger günstigere Explorationsmöglichkeiten haben könnte und somit die bessere persönliche Eignung aufweist. Die Auswahl eines anderen Sachverständigen könnte unter den gegebenen Umständen auch die Aufklärungspflicht gebieten (vgl. Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. § 73 Rdn. 7). Becker Miebach Sost-Scheible Hubert Schäfer