Bundesgerichtshof Urteil, 14. Jan. 2016 - 4 StR 437/15
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 14. Januar 2016, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible,
Richterin am Bundesgerichtshof Roggenbuck, Richter am Bundesgerichtshof Dr. Franke, Dr. Mutzbauer, Bender als beisitzende Richter,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt – in der Verhandlung – als Pflichtverteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Die Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hatte die Angeklagte mit Urteil vom 19. August 2014 wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Einzel- strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Essen „vom 6. Dezember 2012“ (rich- tig: 6. März 2012) und der Strafe aus dem Urteil des Landgerichts Essen vom 1. Februar 2013 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Ferner hatte es sie wegen Diebstahls in zwei Fällen und wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, sie im Übrigen freigesprochen und die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt sowie den teilweisen Vorwegvollzug der Strafe angeordnet. Dieses Urteil hat der Senat mit Beschluss vom 28. Januar 2015 hinsichtlich der Verurteilung wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten und im Maßregelausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
- 2
- Nunmehr hat das Landgericht Essen die Angeklagte wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung „unter Einbeziehung der rechtskräftig verhängten Einzelstrafen aus der Verurteilung des Landgerichts Essen vom 19.08.2014“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
- 3
- 1. Schuld- und Strafausspruch wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung weisen keinen die Angeklagte beschwerenden Rechtsfehler auf (§ 349 Abs. 2 StPO).
- 4
- 2. Auch der Ausspruch über die Gesamtstrafe hat Bestand. Er ist zwar fehlerhaft, die Angeklagte ist hierdurch aber nicht beschwert.
- 5
- Die im Ersturteil des Landgerichts Essen vom 19. August 2014 verhängten Einzelstrafen (zwei Mal drei und einmal zwei Monate für am 13. und am 26. Februar 2013 begangene Taten), aus denen die Strafkammer dort die zweite Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten gebildet hatte, durfte das Landgericht im angefochtenen Urteil zwar nicht einbeziehen (vgl. zu der auch deshalb fehlerhaften, weil nicht nach § 55, sondern nach § 54 StGB vorzunehmenden Gesamtstrafenbildung: Fischer, StGB, 63. Aufl., § 55 Rn. 5 mwN). Denn insofern kam dem Urteil des Landgerichts Essen vom 1. Februar 2013 weiterhin Zäsurwirkung zu, da – worauf der Generalbundesanwalt in anderem Zusammenhang zutreffend abstellt – nach Aufhebung und Zurückverweisung für eine schon im ersten Urteil nach § 55 StGB gesamtstrafenfähige Entscheidung die Vollstreckungssituation im Zeitpunkt der früheren tatrichterlichen Entscheidung maßgeblich ist (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 3. Juni 2015 – 4 StR 176/15; Fischer, aaO, § 55 Rn. 6a). Es ist deshalb ohne Bedeutung, dass die Angeklagte die im Urteil des Landgerichts Essen vom 1. Februar 2013 verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten inzwischen vollständig verbüßt hat (UA S. 7).
- 6
- Die Beschwer eines Angeklagten durch die unterlassene Einbeziehung von Einzelstrafen kann aber entfallen, wenn eine Zäsurwirkung für eine einzubeziehende Verurteilung hätte beachtet werden müssen und deshalb mehrere Gesamtstrafen zu bilden gewesen wären (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. April 2006 – 2 StR 63/06, NStZ-RR 2006, 232). Das ist hier der Fall.
- 7
- Denn für die wegen der mit Urteil des Landgerichts Essen vom 1. Februar 2013 abgeurteilten schweren räuberischen Erpressung verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und die nunmehr wegen der versuchten gefährlichen Körperverletzung festgesetzte Freiheitsstrafe von drei Monaten könnte allenfalls eine (nachträgliche) Gesamtstrafe von zwei Jahren und einem oder zwei Monaten verhängt werden. Zudem würde die im Ersturteil des Landgerichts Essen vom 19. August 2014 verhängte zweite Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten fortbestehen, da mit den ihr zugrunde liegenden Einzelstrafen wegen der erst nach dem 1. Februar 2013 begangenen Taten keine Gesamtstrafenbildung nach § 55 Abs. 1 StGB möglich wäre. Ferner würde die Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Essen vom 6. März 2012 zwar nicht „wieder aufleben“, obwohl die dort verhängten Einzelstrafen fehler- haft – weil eine Gesamtstrafenlage nach § 55 Abs. 1 StGB mit der am 5. Oktober 2012 begangenen schweren räuberischen Erpressung tatsächlich nicht bestand – in die Entscheidung des Landgerichts Essen vom 1. Februar 2013 einbezogen worden waren; vielmehr hätte das Landgericht insofern selbst eine neue weitere Gesamtfreiheitsstrafe aus den dortigen Einzelstrafen von zwei Mal vier Monaten bilden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2000 – 5 StR 651/99, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Strafen, einbezogene 7; zur Korrektur einer solchen fehlerhaften Gesamtstrafenbildung auch: OLG Hamm, Beschluss vom 26. September 2013 – III-3 Ws 254/13 u.a., NStZ-RR 2014, 75). Diese könnte jedoch nur fünf bis sieben Monate betragen. Damit würden bei richtiger Gesamtstrafenbildung mindestens zwei Jahre und ein Monat, sechs Monate sowie fünf Monate verhängt werden müssen bzw. fortbestehen. Die nunmehr bestehenden bzw. verhängten Gesamtstrafen von zwei Jahren und vier Monaten sowie sieben Monaten beschweren die Angeklagte daher nicht.
- 8
- 3. Auch die Nichtanordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat Bestand.
- 9
- Zwar kann das Revisionsgericht auf eine zulässig erhobene und die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht ausdrücklich vom Angriff ausnehmende Revision des Angeklagten das Urteil aufheben (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 – 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362 f.), ohne dass es auf eine Beschwer des Angeklagten ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 2009 – 3 StR 458/08, BGHR StGB § 64 Ablehnung 11 mwN). Jedoch ist die Wertung des Landgerichts, die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt biete keine hinreichende Erfolgsaussicht, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Mutzbauer Bender
Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 14. Jan. 2016 - 4 StR 437/15
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Bundesgerichtshof Urteil, 14. Jan. 2016 - 4 StR 437/15 zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).
(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
(1) Ist eine der Einzelstrafen eine lebenslange Freiheitsstrafe, so wird als Gesamtstrafe auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt. In allen übrigen Fällen wird die Gesamtstrafe durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe, bei Strafen verschiedener Art durch Erhöhung der ihrer Art nach schwersten Strafe gebildet. Dabei werden die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend gewürdigt.
(2) Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen. Sie darf bei zeitigen Freiheitsstrafen fünfzehn Jahre und bei Geldstrafe siebenhundertzwanzig Tagessätze nicht übersteigen.
(3) Ist eine Gesamtstrafe aus Freiheits- und Geldstrafe zu bilden, so entspricht bei der Bestimmung der Summe der Einzelstrafen ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe.
(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.
(2) Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), auf die in der früheren Entscheidung erkannt war, sind aufrechtzuerhalten, soweit sie nicht durch die neue Entscheidung gegenstandslos werden.
BUNDESGERICHTSHOF
(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.
(2) Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), auf die in der früheren Entscheidung erkannt war, sind aufrechtzuerhalten, soweit sie nicht durch die neue Entscheidung gegenstandslos werden.
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beschlossen:
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat den Beschwerdeführer wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung, Diebstahls in vier Fällen und versuchten Diebstahls in zwei Fällen unter Einbeziehung anderweits rechtskräftig verhängter Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine Revision ist zum Schuldspruch und zu den Einzelstrafaussprüchen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Sie führt jedoch mit der Sachrüge zur Aufhebung des Gesamtstrafausspruchs.
Allerdings sind die Ausgangsüberlegungen des Tatrichters bei Anwendung des § 55 Abs. 1 StGB zunächst weitgehend nicht zu beanstanden. So hat er rechtsfehlerfrei die verhängten Einzelstrafen mit den rechtskräftigen Einzelstrafen aus dem nach Begehung der Taten ergangenen Urteil des Amtsgerichts Neubrandenburg vom 18. Juni 1997 (Zäsur im Sinne des § 55 Abs. 1 StGB) und aus vier späteren rechtskräftigen Vorverurteilungen, die ebenfalls Taten vor der genannten Zäsur betrafen, auf eine Gesamtfreiheitsstrafe zurückgeführt. Da alle jene Taten erst in den Jahren 1996 und 1997 begangen worden waren, hat der Tatrichter mit Recht die Einzelstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Neubrandenburg vom 23. Februar 1995 und vom 12. August 1997 nicht in die Gesamtstrafe einbezogen, weil die mit jenen Urteilen abgeurteilten Taten bereits vor Februar 1995, der durch das erstgenannte dieser Urteile begründeten weiteren früheren (ersten) Zäsur, begangen worden waren (BGHSt 44, 179, 180 f. m.w.N.). Zutreffend hat sich der Tatrichter zu dieser Einbeziehung auch durch die Rechtskraft der letzten Vorverurteilung durch das Landgericht Neubrandenburg vom 11. Dezember 1998 nicht veranlaßt gesehen, obgleich in dessen Gesamtfreiheitsstrafe (sechs Jahre und sechs Monate) neben den auch hier einbezogenen weiteren Einzelstrafen aus vier früheren Vorverurteilungen rechtsfehlerhaft auch die Einzelstrafen aus den die erste Zäsur betreffenden Vorverurteilungen einbezogen worden waren. Die Rechtskraft einer fehlerhaften Gesamtstrafbildung steht bei weiterer nachträglicher Gesamtstrafbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB der nunmehr gebotenen Korrektur nicht entgegen (BGHSt 35, 243; BGHR StGB § 55 Abs. 1 - Einbeziehung 3 sowie § 55 Abs. 1 Satz 1 - Strafen, einbezogene 4; Stree in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl. § 55 Rdn. 17 m.w.N.).
Diese zulässige und notwendige Korrektur berechtigte den Tatrichter aber nicht, die vom Landgericht Neubrandenburg rechtskräftig aufgehobene Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Neubrandenburg vom 12. August 1997 (zwei Jahre und vier Monate), welche die weiteren fälschlich einbezogenen Einzelstrafen für die Taten vor der ersten Zäsur betroffen hatte , „wieder aufleben” zu lassen. Diese Gesamtstrafe hatte ihre Wirkung durch das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Neubrandenburg endgültig eingebüßt. Der Tatrichter hätte insoweit selbst eine neue weitere Gesamtfreiheitsstrafe bilden müssen; er wäre freilich nicht gehindert gewesen, sie wieder in gleicher Höhe festzusetzen (BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 - Strafen, einbezogene 2 a.E., insoweit in BGHSt 35, 243 nicht abgedruckt).
Schon weil der Tatrichter insoweit keine eigenen Strafzumessungserwägungen angestellt und weder die vor der ersten Zäsur begangenen Taten hinreichend konkret bezeichnet noch die hierfür verhängten Einzelstrafen mitgeteilt hat (vgl. BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 - Strafen, einbezogene 1), sieht sich der Senat nicht in der Lage, etwa von sich aus auf eine solche weitere (erste) Gesamtfreiheitsstrafe durchzuentscheiden. Vielmehr hebt er auch die hier verhängte (zweite) Gesamtfreiheitsstrafe auf, die für den Beschwerdeführer zusammen mit der alten, fälschlich als „wiederaufgelebt” angesehenen (ersten) Gesamtfreiheitsstrafe zu einer beträchtlichen Erhöhung der bisherigen Gesamtstrafenlast - um insgesamt drei Jahre und vier Monate - geführt hat. Dem neuen Tatrichter ist so Gelegenheit zu umfassender neuer Gesamtstrafabwägung gegeben. Hierbei werden der enge zeitliche Zusammenhang zwischen sämtlichen Taten, welche die Einzelstrafen der zweiten Gesamtstrafbildung betreffen, der beträchtliche zeitliche Abstand zwischen Tatbegehungen und endgültiger Sanktionierung, das verhältnismäßig niedrige Alter des Beschwerdeführers und die Höhe der Einsatzstrafe für die zweite Gesamtstrafe - drei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe aus der letzten Vorverurteilung - besonders zu beachten sein.
Die notwendigen Feststellungen zu Tatzeiten, Aburteilungsgegenständen und Einzelstrafhöhe für die nachzuholende, neu vorzunehmende erste Gesamtstrafbildung wird der neue Tatrichter zu treffen haben. Der Aufhebung bisheriger Feststellungen bedarf es hingegen nicht. Nach dem Ver- schlechterungsverbot gelten für den neuen Tatrichter für die erste Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre und vier Monate, für die zweite sieben Jahre und sechs Monate als Obergrenzen.
Harms Häger Basdorf Gerhardt Raum
(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.
(2) Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), auf die in der früheren Entscheidung erkannt war, sind aufrechtzuerhalten, soweit sie nicht durch die neue Entscheidung gegenstandslos werden.
Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.
BUNDESGERICHTSHOF
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung unter Einbeziehung von Strafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren sowie wegen banden- und gewerbsmäßigen Betrugs in sieben Fällen, davon in fünf Fällen jeweils in Tateinheit mit banden- und gewerbsmäßiger Urkundenfälschung, sowie wegen Urkundenfälschung zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die auf sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.
- 2
- Zum Schuld- und Strafausspruch hat die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
- 3
- Das Urteil kann jedoch keinen Bestand haben, soweit eine Entscheidung zur Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist. Nach den Feststellungen des Landgerichts nahm der Angeklagte seit 2003 bis zu seiner Festnahme im November 2007 Kokain zu sich und benötigte zuletzt pro Woche ca. vier bis fünf Gramm des Betäubungsmittels. Die abgeurteilten Straftaten beging der Angeklagte, um sich Drogen zu beschaffen und seine finanzielle Notlage zu verbessern. Dies drängte zu der Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gegeben sind.
- 4
- Über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss nach alledem - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246 a StPO) - neu verhandelt und entschieden werden. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte nicht gefährlich im Sinne dieser Vorschrift ist oder keine hinreichend konkrete Aussicht besteht, ihn durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt von seinem Hang zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren (§ 64 Satz 2 StGB), sind nicht ersichtlich.
- 5
- Der Generalbundesanwalt hat die Verwerfung der Revision des Angeklagten beantragt und im Hinblick auf die fehlende Entscheidung zu § 64 StGB ausgeführt, der Beschwerdeführer sei durch die Nichtanordnung der Maßregel nicht beschwert. Insoweit gilt Folgendes:
- 6
- Die Nichtanordnung der Maßregel nach § 64 StGB beschwert den Angeklagten nach bisheriger Rechtsprechung nicht. Dies führt zur Unzulässigkeit eines Rechtsmittels des Angeklagten, mit dem dieser allein die Nichtanordnung der Maßregel beanstandet (st. Rspr.; BGHSt 28, 327, 330; 37, 5, 7; 38, 4, 7; 38, 362, 363; BGH NStZ-RR 2008, 142). Dies hindert das Revisionsgericht indes nicht, auf eine zulässig erhobene - und die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht ausdrücklich vom Angriff ausnehmende (vgl. BGHSt 38, 362 f.) - Revision des Angeklagten das Urteil aufzuheben, wenn eine Prüfung der Maßregel unterblieben ist, obwohl die tatrichterlichen Feststellungen dazu gedrängt haben (st. Rspr.; BGHSt 37, 5; BGH, Beschl. vom 5. Februar 2002 - 1 StR 9/02; Beschl. vom 20. Februar 2008 - 2 StR 37/08; Beschl. vom 3. März 2008 - 3 StR 51/08; Beschl. vom 7. Oktober 2008 - 4 StR 257/08; Beschl. vom 13. November 2008 - 5 StR 507/08). Aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit ist das Revisionsgericht nicht gezwungen, auch bei solchen Rechtsfehlern einzugreifen, die den Angeklagten nicht beschweren. Die Berechtigung zu einem Eingriff ist dadurch nicht berührt. "Durch das Verschlechterungsverbot ist der Angeklagte nur davor geschützt, dass das Urteil in Art und Höhe der Strafe zu seinem Nachteil geändert wird. Eine Verschärfung im Schuldspruch muss er dagegen mit der Einlegung des Rechtsmittels in Kauf nehmen (BGHSt 21, 256, 260; BGH JZ 1978, 245). Ebenso wenig ist er davor bewahrt, dass in der Rechtsmittelinstanz oder nach Zurückverweisung die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt angeordnet wird (§ 331 Abs. 2, § 358 Abs. 2 Satz 2 [jetzt: Satz 3] StPO). Auch diese Folge nimmt er mit der Einlegung des Rechtsmittels in Kauf. Deshalb kann das Revisionsgericht, ohne dass es auf eine Beschwer des Angeklagten ankommt, auf die Sachrüge in den Rechtsfolgenausspruch eingreifen, sofern dieser keine Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt enthält" (BGHSt 37,
5).
- 7
- An dieser Möglichkeit des Revisionsgerichts hat die Novellierung der §§ 64, 67 StGB durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl I 1327) nichts geändert. Gegenteiliges kann auch dem Beschluss vom 22. Januar 2008 - 1 StR 607/07 - (juris - bei dem in NStZ 2008, 353 abgedruckten Beschluss vom selben Tag unter demselben Aktenzeichen handelt es sich um eine Parallelsache) nicht entnommen werden. Der 1. Strafsenat hat in dieser Sache der Revision des Angeklagten, mit der neben anderen Beanstandungen auch die Nichtanwendung des § 64 StGB gerügt worden war, den Erfolg versagt, weil "die Strafkammer bei der Prüfung und Verneinung der Notwendigkeit einer Unterbringung von zutreffenden Maßstäben ausgegangen ist" (BGH aaO). Auf eine Beschwer des Angeklagten kam es, nachdem die Prüfung einen Rechtsfehler gerade nicht erbracht hatte, nicht an.
- 8
- Der Senat kann ausschließen, dass der Tatrichter bei Anordnung der Unterbringung auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. Der Strafausspruch kann deshalb bestehen bleiben.
- 9
- Der neue Tatrichter wird im Falle der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 5 Satz 1 StGB über die Reihenfolge der Vollstreckung von Strafe und Maßregel zu befinden haben (vgl. BGH NStZ 2008, 28; NStZ-RR 2008, 74). Die Dreijahresgrenze des § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB ist auch überschritten, wenn - wie hier - zwei Gesamtstrafen gebildet worden sind, die nur zusammen mehr als drei Jah- re betragen. Bei Vorwegvollzug eines Teils der verhängten Freiheitsstrafe wird es für dessen Berechnung notwendig sein, die für den Angeklagten voraussichtlich erforderliche Therapiedauer zu bestimmen. Becker Miebach Pfister Sost-Scheible Hubert
Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.