Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2013 - 5 StR 461/12

bei uns veröffentlicht am09.01.2013

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 461/12

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 9. Januar 2013
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. Januar
2013, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Raum,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Dölp,
Richter Bellay
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin
Amtsrätin
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. Dezember 2011 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Seine Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, bleibt ohne Erfolg.
2
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben. Der näheren Erörterung bedarf nur die Verfahrensrüge, dass es an einer ordnungsgemäßen Feststellung des Abschlusses des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO fehle und die Protokolle von überwachten Telefongesprächen , auf die das Landgericht seine Überzeugung von Art und Umfang der Tatbeteiligung des Angeklagten stützt, sowie zwei Gutachten über Menge und Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel in den Fällen 3 und 7 der Urteilsgründe somit nicht wirksam in die Hauptverhandlung eingeführt worden seien (§ 261 StPO).
3
1. Der Verfahrensrüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
4
Im Hauptverhandlungstermin vom 9. November 2011 ordnete die Vorsitzende der Strafkammer hinsichtlich zweier Gutachten über Menge und Wirkstoffgehalt sichergestellter Betäubungsmittel sowie mehrerer weiterer Urkunden das Selbstleseverfahren an. Ferner ordnete die Vorsitzende im Termin vom 16. November 2011 bezüglich einer Vielzahl von Wortprotokollen überwachter Telefongespräche ebenfalls das Selbstleseverfahren an. Der Verteidiger des Beschwerdeführers erhob hiergegen Widerspruch und beantragte die Entscheidung des Gerichts. Nachdem die Vorsitzende die Selbstleseanordnung im Termin vom 22. November 2011 um ein weiteres Telefonprotokoll ergänzt hatte, begründete der Verteidiger seinen Widerspruch im Termin vom 28. November 2011. Am selben Hauptverhandlungstag wurden die Selbstleseanordnungen nebst Ergänzungen durch Gerichtsbeschluss bestätigt. Im Fortsetzungstermin vom 7. Dezember 2011 wurde Folgendes protokolliert: „Es wurde festgestellt, dass die Schöffen und die Berufsrichter Kenntnis genommen haben von den jeweiligen Selbstleseanordnungen und die Verteidiger, Angeklagten und Vertreterin der Staatsanwaltschaft Gele- genheit zur Kenntnisnahme hatten.“ Weitere Feststellungen zur Kenntnis- nahme der in den Anordnungen bezeichneten Urkunden erfolgten ebenso wenig wie eine Verlesung der Urkunden. Deren Inhalt wurde lediglich hinsichtlich einiger Telefonate durch Abspielen und Übersetzung durch den Sprachsachverständigen, im Übrigen aber nicht auf andere Weise in die Hauptverhandlung eingeführt.
5
2. Eine Verletzung des § 261 StPO i.V.m. § 249 Abs. 2 Satz 1 und 3 StPO liegt nicht vor. Durch die protokollierte Feststellung der Vorsitzenden sind die von den Selbstleseanordnungen umfassten Urkunden wirksam zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht worden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20, und vom 20. Juli 2010 – 3 StR 76/10, BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren

6).


6
Allerdings ist ausweislich des Wortlauts des Hauptverhandlungsprotokolls lediglich hinsichtlich der Selbstleseanordnungen, nicht aber des Wortlauts der von diesen betroffenen Urkunden die Kenntnisnahme der Richter und die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch die übrigen Verfahrensbeteiligten festgestellt worden. Eine von der Staatsanwaltschaft beantragte Protokollberichtigung ist nicht zustande gekommen, weil die Protokollführerin sich nicht an die Vorgänge in der Hauptverhandlung erinnern konnte. Damit bleibt hinsichtlich des Wortlauts der Feststellung der Vorsitzenden der Protokollinhalt für die revisionsgerichtliche Prüfung maßgeblich. Neben der – hier gescheiterten – ordnungsgemäßen Protokollberichtigung kommt eine freibeweisliche – und damit an geringere Anforderungen als in dem die Verfahrenswahrheit sichernden Protokollberichtigungsverfahren geknüpfte – Aufklärung des tatgerichtlichen Verfahrensablaufs nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2010 – 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31, vom 22. Dezember 2010 – 2 StR 386/10, StV 2011, 267 mwN, und vom 30. September 2009 – 2 StR 280/09, StV 2010, 225). Ein Fall krasser Widersprüchlichkeit oder offenkundiger Fehler- oder Lückenhaftigkeit des Protokolls, der insoweit unter Umständen eine Ausnahme zuließe (vgl. BGH aaO), liegt schon deshalb nicht vor, weil die inhaltliche Fehlerhaftigkeit der protokollierten Äußerung nicht nur auf einen Protokollierungsfehler, sondern ebenso auf ein Formulierungsversehen der Vorsitzenden zurückzuführen sein kann. Im letzteren Fall würde das Protokoll indes die Vorgänge in der Hauptverhandlung zutreffend wiedergeben. Ein freibeweislicher Rückgriff auf die der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft beigefügten dienstlichen Erklärungen der Vorsitzenden und der Berichterstatterin scheidet in diesem Zusammenhang aus den vorgenannten Gründen aus.
7
Wenngleich somit davon auszugehen ist, dass die gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in das Protokoll aufgenommene Feststellung der Vorsitzenden ihrem Wortlaut nach nicht die Einhaltung der in § 249 Abs. 2 StPO geregelten Verfahrensweise wiedergibt, liegt dennoch im Ergebnis ein ordnungsgemäßer Abschluss des Selbstleseverfahrens vor. Als gerichtliche Prozesserklärung ist die protokollierte Feststellung der Vorsitzenden nach allgemeinen Regeln der Auslegung zugänglich, bei der es nicht allein auf den Wortlaut, sondern vor allem auf den erkennbar gemeinten Sinn ankommt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2010 – 3 StR 76/10, BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren 6, und vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20; Urteil vom 11. Oktober 2012 – 1 StR 213/10 Rn. 23 ff.; Pfeiffer/Hannich in KK, StPO, 6. Aufl., Einleitung Rn. 125, 128; Roxin /Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl., § 22 B II 1; vgl. ferner zur Auslegung des Protokollinhalts: Jahn, ZWH 2012, 386).
8
Danach war aber für alle Verfahrensbeteiligten klar ersichtlich, dass die Vorsitzende durch ihre in das Protokoll aufgenommene Erklärung die Kenntnisnahme der Berufsrichter und der Schöffen von den in den Selbstleseanordnungen bezeichneten Urkunden und die entsprechende Gelegenheit zur Kenntnisnahme der übrigen Verfahrensbeteiligten feststellen wollte. Dies folgt zum einen aus der prozessualen Sinnlosigkeit der Protokollierung einer Kenntnisnahme von Selbstleseanordnungen, die an früheren Hauptverhandlungstagen erfolgt und ihrerseits in das Protokoll aufgenommen worden waren, womit den diesbezüglichen gesetzlichen Anforderungen des § 249 Abs. 2 StPO Genüge getan ist und woraus sich im Übrigen bereits die Kenntnisnahme der Verfahrensbeteiligten von diesen Anordnungen ergibt. Zum anderen lässt der bisherige Verfahrensablauf – die Anordnung des Selbstleseverfahrens bezüglich zahlreicher Urkunden am 9. und 16. November 2011 mit Ergänzung am 22. November 2011 sowie die zeitgleiche Verteilung der diese Urkunden enthaltenden Ordner – erkennen, dass die Vorsitzende im Termin vom 7. Dezember 2011 beabsichtigte, die von den Selbstleseanordnungen erfassten Urkunden durch die Feststellung der Kenntnisnahme der Richter von den einzuführenden Urkunden bzw. der Gelegenheit zur Kenntnisnahme der übrigen Verfahrensbeteiligten zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen und somit das Selbstleseverfahren abzuschließen. Zudem liegt angesichts des Wortlauts der protokollierten Äußerung „dass die Schöffen und die Berufsrichter Kenntnis genommen haben von den jeweiligen Selbstleseanordnungen und die Verteidiger, Angeklagten und Ver- treterin der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Kenntnisnahme hatten“ ein Formulierungsversehen in Form einer Auslassung auf der Hand. Gemeint waren – für alle Verfahrensbeteiligten offensichtlich erkennbar – nicht die Selbstleseanordnungen, sondern die in den Selbstleseanordnungen bezeichneten Urkunden. Im Ergebnis fehlt es somit trotz des Formulierungsoder Protokollierungsversehens nicht an einer ordnungsgemäßen Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO.
Basdorf Raum Schneider Dölp Bellay

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2013 - 5 StR 461/12

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2013 - 5 StR 461/12

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 249 Führung des Urkundenbeweises durch Verlesung; Selbstleseverfahren


(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind. (2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen
Bundesgerichtshof Urteil, 09. Jan. 2013 - 5 StR 461/12 zitiert 3 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 249 Führung des Urkundenbeweises durch Verlesung; Selbstleseverfahren


(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind. (2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen

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(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 131/10
vom
14. September 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am
14. September 2010 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 8. September 2009
a) aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. b) und d) sowie M. b) und c) verurteilt worden ist,
b) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte schuldig ist - des Betruges in 26 Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, - des Betruges in 63 Fällen, davon in zehn Fällen in jeweils zwei tateinheitlichen Fällen, - des versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in acht Fällen und - des versuchten Betruges in sechs Fällen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in 26 Fällen, wegen Betruges in 74 Fällen, wegen versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in acht Fällen und wegen versuchten Betruges in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Außerdem hat es ihm die berufliche Tätigkeit auf den Gebieten der Frauenheilkunde und der Geburtshilfe sowie der plastischen Chirurgie für die Dauer von drei Jahren untersagt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten , mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet , hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Das Landgericht hat 11 Fälle, in denen Patientinnen eine vom Angeklagten jeweils in betrügerischer Absicht gestellte Arztrechnung über in Wahrheit nicht erbrachte Leistungen bei zwei verschiedenen Abrechnungsstellen - der Beihilfestelle und der privaten Krankenversicherung - zur jeweils anteiligen Begleichung einreichten, als jeweils zwei zueinander in Tatmehrheit stehende Fälle des Betruges, davon in einem Fall in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, bewertet. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
3
Bei mehreren Tatbeteiligten ist die Frage der Handlungseinheit oder -mehrheit für jeden Beteiligten nach der Art seines Tatbeitrages selbstständig zu ermitteln. Bei Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft sind selbstständige Betrugstaten der unmittelbar gegenüber den Geschädigten Handelnden beim Mittäter oder Hintermann, dessen Handlung sich in nur einer Tätigkeit erschöpft , als eine einheitliche Tat anzusehen (BGH, Beschluss vom 17. Juni 2004 - 3 StR 344/03, NJW 2004, 2840, 2841; Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07, NStZ 2008, 352 f.; Fischer, StGB, 57. Aufl., Vor § 52 Rn. 34 mwN). Das Einreichen der falschen Rechnung durch die Patientinnen bei zwei unterschiedlichen Kostenträgern stellt sich damit für den Angeklagten, der jeweils nur eine unrichtige Rechnung ausstellte, als eine einheitliche Tat dar.
4
Dies führt zur Aufhebung des Urteils wegen Betruges in 11 Fällen und zum Wegfall der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen von zwei mal einem Jahr und zwei Monaten in den Fällen V. b) und M. c) sowie von neun mal einem Jahr in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. d) und M. b). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert.
5
Trotz des Wegfalls von 11 Einzelstrafen hat die Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten Bestand. Der Senat kann im Hinblick auf die verbleibenden 103 Einzelfreiheitsstrafen in Höhe von zwei mal einem Jahr und sechs Monaten, 10 mal einem Jahr und vier Monaten, 47 mal einem Jahr und zwei Monaten, 30 mal einem Jahr, acht mal 10 Monaten und sechs mal acht Monaten ausschließen, dass das Landgericht auf eine niedrigere Gesamtstrafe erkannt hätte, wenn es die weggefallenen Einzelstrafen nicht in die Gesamtstrafenbildung mit einbezogen hätte.
6
2. Im verbleibenden Umfang der Verurteilung hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO).
7
Nicht durchgreifend ist insbesondere die Verfahrensbeanstandung, das Landgericht habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 StPO Feststellungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien (s.a. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10 - zu einer inhaltsgleichen Rüge). Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
8
Im Zuge der Beweisaufnahme zu 13 Fällen betreffend insgesamt acht Patientinnen hat der Strafkammervorsitzende hinsichtlich jeweils mehrerer Urkunden protokolliert, dass diese verlesen wurden, dass die Verlesung gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO im Selbstleseverfahren erfolgte und dass der Angeklagte , der Verteidiger sowie die Vertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Kenntnisnahme erhielten. Im weiteren Verlauf hat er - jeweils nach Unterbrechung der Hauptverhandlung - zu Protokoll die Feststellung getroffen, die Schöffen und die Berufsrichter hätten von den jeweiligen schriftlichen Unterlagen "Kenntnis genommen".
9
Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die Richter und Schöffen "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den Richtern nicht zur Kenntnis genommen worden sei.
10
Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang. Im Einzelnen:
11
Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - neben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 StPO) werden, dass die Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus , dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweiskräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Protokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) aus eigener Wahrnehmung bestätigen.
12
Das Selbstleseverfahren hat den Kern des Urkundenbeweises - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die Richter und Schöffen - aber gerade aus der Hauptverhandlung herausverlagert. Damit ist es dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von vornherein nicht möglich zu bestätigen, dass diese tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts anderes gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden Richter und Schöffen präsent ist; aber selbst wenn er - ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unterliegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungsvoll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden Richter und Schöffen verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen.
13
Durch die Einführung des Selbstleseverfahrens hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem Urkundsbeweis nach § 249 Abs. 1 StPO keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen der Verlesung - insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen.
14
Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die Schöffen und Berufsrichter im Wege des Selbstleseverfahrens nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat (KK-Diemer, 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 StPO beweiskräftig belegter - Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens gezogen werden.
15
Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO vielmehr eine andere Funktion zu. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbesondere gerichtskundiger , außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind (Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 273 Rn. 7 mwN).
16
Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch die Schöffen und Berufsrichter auszulegen sein dürften (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei Becker, NStZ-RR 2004, 225, 227 Nr. 9; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, StV 2010, 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.
Becker von Lienen Sost-Scheible Schäfer Mayer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 76/10
vom
20. Juli 2010
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
___________________________________
Zum Umfang der Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3
BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10 - LG Wuppertal
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Betruges
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 20. Juli 2010 gemäß
§ 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 5. November 2009 werden verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten M. K. wegen Betruges in drei Fällen unter Einbeziehung weiterer Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen ; den Angeklagten J. K. hat es wegen Betruges in vier Fällen und wegen versuchten Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die dagegen gerichteten Revisionen der Angeklagten bleiben ohne Erfolg, da die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
2
Näherer Erörterung bedarf nur die von beiden Angeklagten erhobene Verfahrensbeanstandung, das Landgericht habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 StPO Feststellungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde :
3
Im Verlauf der Hauptverhandlung hat der Strafkammervorsitzende bezüglich mehrerer Urkunden das Selbstleseverfahren angeordnet. Betreffend ein Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth hat er am darauf folgenden Hauptverhandlungstermin zu Protokoll die Feststellung getroffen, dass das Selbstleseverfahren beendet ist, die Mitglieder der Kammer "von dem Urteil" Kenntnis genommen haben und die übrigen Prozessbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Betreffend eine Reihe von Urkunden zu Geldbewegungen sowie zu Haftabwesenheitszeiten des Angeklagten M. K. hat der Vorsitzende zu Protokoll festgestellt, dass die Kammer "von den Urkunden", für die in der letzten Hauptverhandlung das Selbstleseverfahren angeordnet worden ist, Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hierzu hatten. Hinsichtlich mehrerer amtsgerichtlicher Urteile hat er zu Protokoll festgestellt, dass das Selbstleseverfahren beendet ist und die Kammer "von den Urteilen" Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hatten , hiervon Kenntnis zu nehmen.
4
Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die Richter und Schöffen "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den Richtern nicht zur Kenntnis genommen worden sei.
5
Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang. Im Einzelnen:
6
Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - neben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 StPO) werden, dass die Richter und Schöffen tatsächlich von Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus , dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweiskräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Protokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) aus eigener Wahrnehmung bestätigen.
7
Das Selbstleseverfahren hat den Kern des Urkundenbeweises - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die Richter und Schöffen - aber gerade aus der Hauptverhandlung herausverlagert. Damit ist es dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von vornherein nicht möglich zu bestätigen, dass die Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts anderes gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden Richter und die Schöffen präsent ist; aber selbst wenn er - ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unterliegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungsvoll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden Richter und der Schöffen verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen.
8
Durch die Einführung des Selbstleseverfahrens hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem Urkundenbeweis nach § 249 Abs. 1 StPO keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen der Verlesung - insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen.
9
Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die Richter und Schöffen im Wege des Selbstleseverfahrens nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat (KKDiemer , 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 StPO beweiskräftig belegter - Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens gezogen werden.
10
Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO vielmehr eine andere Funktion zu. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, be- darf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbes. gerichtskundiger , außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind (Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. Meyer -Goßner, aaO, § 273 Rn. 7 mwN).
11
Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch Richter und Schöffen auszulegen sein dürften (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei Becker, NStZ-RR 2004, 225, 227 Nr. 9; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, StV 2010, 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.
12
Keiner Entscheidung bedarf, wie wegen der fehlenden Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO für seine inhaltliche Richtigkeit eine Rüge zu behandeln wäre, entgegen der protokollierten Feststellung hätten die Richter oder Schöffen tatsächlich gar nicht vom Wortlaut der fraglichen Schriftstücke Kenntnis genommen; denn eine solche Rüge ist hier nicht erhoben.
VRiBGH Becker ist wegen Urlaubs Pfister RiBGH von Lienen ist wegen Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert. an der Unterschriftsleistung gehindert. Pfister Pfister Hubert Schäfer

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
Mangelhaft protokolliertes Selbstleseverfahren.
BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09
LGHamburg-

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 28. Januar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Januar 2010

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten O. wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Oktober 2008, soweit es diesen Angeklagten betrifft, gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in Tateinheit mit Beihilfe zur Untreue unter Einbeziehung der durch Urteil des Landgerichts Lübeck vom 14. Dezember 2004 verhängten Einzelstrafen und Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Auf die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe hat das Landgericht für erbrachte Bewährungsauflagen drei Monate angerechnet. Das Landgericht hat den Angeklagten ferner wegen Beihilfe zur Untreue in zwei Fällen zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts und beanstandet das Verfahren. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
2
1. Gegenstand der Verurteilung sind Kreditaufnahmen im Interesse des Angeklagten für Grundstücksgeschäfte zum Nachteil des Kreditgebers, der V. L. (Elbe) eG, im Fall 1. tateinheitlich mit einem als Betrug ausgeurteilten Verkauf eines Grundstücks. Das Landgericht hat seine Beweise in großem Umfang durch Urkunden im Selbstleseverfahren erhoben (vgl. auch Senatsbeschluss vom heutigen Tage hinsichtlich des Mitangeklagten Ba. O. ). Die vom Angeklagten wegen Verletzung der § 249 Abs. 2 Satz 1 und 3, § 261 StPO erhobene Inbegriffsrüge greift hinsichtlich zahlreicher Urkunden aus der „Urkundenliste 3“ durch.
3
2. Der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer hat in der Hauptverhandlung vom 1. Juli 2008 angeordnet, dass mit den Tatvorwürfen gegen den Angeklagten im Zusammenhang stehende 162 Urkunden der Urkundenliste 3 gemäß § 249 Abs. 2 StPO im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Das Hauptverhandlungsprotokoll enthält keinen Eintrag über den Abschluss des Selbstleseverfahrens. Eine nach Eingang der Revisionsbegründung vom Vorsitzenden erstrebte Berichtigung des Protokolls hinsichtlich des von ihm sicher erinnerten, indes nicht protokollierten Abschlusses des Selbstleseverfahrens am 8. Juli 2008 kam nicht zustande, weil sich die Protokollführerin daran nicht mehr erinnert hat (S. 2 der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden vom 3. März 2009; Sachakte Bl. 8723).
4
3. Bei dieser Sachlage bleibt das unberichtigt gebliebene Protokoll für die Entscheidung des Senats maßgeblich (BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren 2; BGH wistra 2010, 31, 32). Es ist davon auszugehen, dass nicht, wie für eine Verwertung der Urkunden gemäß § 261 StPO erforderlich, in der Hauptverhandlung festgestellt worden ist, dass Berufsrichter und Schöffen von dem Wortlaut der 162 Urkunden der Urkundenliste 3 Kenntnis genommen haben. Eine Widersprüchlichkeit des Protokolls, die gestattet hätte , hiervon nach Freibeweis abzuweichen, liegt nicht vor. Hierzu brauchte insbesondere die Revision nichts Weitergehendes vorzutragen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
5
a) Das vom Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs in BGHSt 51, 298 im Wege verfassungsgerichtlich gebilligter Rechtsfortbildung (BVerfG NJW 2009, 1469) eingeführte Protokollberichtigungsverfahren, das geeignet ist, einer auf den Inhalt des Protokolls gegründeten Verfahrensrüge nach Revisionseinlegung die Erfolgsaussicht zu entziehen, hätte auch die hier vom Vorsitzenden erstrebte Protokollberichtigung hinsichtlich des Abschlusses des Selbstleseverfahrens erfasst. Leitsätze und Gründe des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen und der dessen Rechtsauffassung billigende Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts enthalten keine Einschränkungen auf bestimmte Fallkonstellationen. Der Große Senat stellt vielmehr auf die Vorteile des neuen Protokollberichtigungsverfahrens ab (aaO S. 308 Tz. 37), wozu gerade auch eine Begrenzung der bisherigen immer stärker ausgeweiteten Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls gehöre, der – jedenfalls in Grenzfällen – hinreichend klare und verlässliche Konturen fehlen (aaO S. 313 f. Tz. 56). Ferner sei eine Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung unter dem Aspekt, die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften über die Protokollführung anzuhalten , nicht geboten (aaO S. 314 Tz. 57). Diese Erwägungen gelten ersichtlich für alle Varianten einer Protokollberichtigung. Der – nicht tragend geäußerten – Rechtsauffassung des 2. Strafsenats, eine Protokollberichtigung sei hinsichtlich des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 StPO ausgeschlossen (NJW 2009, 2836, 2837, zur Aufnahme in BGHSt bestimmt), ist lediglich zu entnehmen, dass die als Abschluss des Selbstleseverfahrens vorgeschriebene Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Urkunden auf diesem Wege nicht nachholbar ist. Hinsichtlich der tatsächlich erfolgten entsprechenden Feststellung des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung, die lediglich versehentlich nicht protokolliert wurde, bleibt die Protokollberichtigung zulässig.
6
b) Der Senat entnimmt dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen (BGHSt aaO) eine substantielle Änderung des Strafverfahrensrechts dahingehend, dass Protokollmängel in erster Linie im Protokollberichtigungsverfahren zu beseitigen sind (vgl. auch BVerfG aaO S. 1472). So hat der Große Senat betont, dass auch die Revisionsgerichte dem Prinzip der Wahr- heit verpflichtet seien und ihrer Kognition den wahren Sachverhalt zugrunde zu legen haben (aaO S. 309 Tz. 42). Dessen Ermittlung setze besonders hohe Anforderungen an die Sorgfalt bei der hier infrage stehenden Berichtigung voraus (aaO S. 315 Tz. 59), wobei eine rechtlich verbindliche Form der Protokollberichtigung (aaO S. 316 f. Tz. 61 bis 65) eine zusätzliche Gewähr für die Richtigkeit der nachträglichen Änderung der Sitzungsniederschrift biete , was der Sicherung der Effektivität des Rechtsmittels der Revision diene (aaO S. 315 Tz. 60). Grundlage der Berichtigung sei die sichere Erinnerung der Urkundspersonen (aaO S. 316 Tz. 62; vgl. auch BVerfG aaO S. 1471).
7
Aus diesen grundlegenden Erwägungen hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zwar nicht den Schluss gezogen, dass aus der Lückenhaftigkeit des Protokolls dessen teilweise gegebene Unverbindlichkeit – mit der Folge möglichen Freibeweisverfahrens über den Verfahrensablauf unter geringeren Anforderungen als im die Verfahrenswahrheit sichernden Protokollberichtigungsverfahren (vgl. BGH StV 2004, 297, 298 m.w.N.) – nicht weiter gefolgert werden könne (vgl. BGH GS aaO S. 313 f. Tz. 56; BGH wistra 2010, 31, 32 und BGH, Beschluss vom 11. November 2009 – 5 StR 460/08 Tz. 6; vgl. auch BVerfG NJW 2009, 1469, 1471 f.). Indes hat der Strafkammervorsitzende hier zu Recht das Protokollberichtigungsverfahren nach Eingang einer hierauf bezogenen Revisionsbegründung durch Nachfrage bei der verantwortlichen Protokollführerin eingeleitet; es ist wegen Erinnerungsmangels dieser Urkundsperson nicht weiter durchführbar. Daneben dürfte eine offensichtliche Lückenhaftigkeit des Protokolls, die abweichende Feststellungen im Freibeweisverfahren zuließe, nunmehr lediglich in Fällen krasser Widersprüchlichkeit des Protokollinhalts in sich angenommen werden.
8
Die Grundlage und die Erfolgsaussicht der Verfahrensrüge des Angeklagten sind – vor der Entscheidung des Revisionsgerichts – einem neu geschaffenen Zwischenverfahren unter Beteiligung des Angeklagten überantwortet (vgl. BGH GS aaO S. 316 f. Tz. 61 bis 65). Es kann dabei keinen Un- terschied machen, ob die Position des Angeklagten in diesem Verfahren durch einen die Protokollberichtigung ablehnenden Gerichtsbeschluss oder bereits dadurch bestätigt worden ist, dass – wie hier – schon die weitere Durchführung des Berichtigungsverfahrens wegen fehlender Erinnerung einer Urkundsperson an den im Protokoll vermissten Verfahrensvorgang scheitert. Damit ist für das Revisionsgericht der unveränderte Protokollinhalt grundsätzlich verbindlich. Nur die Gründe einer Berichtigungsentscheidung – nicht aber deren Versagung – unterlägen im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Prüfung durch das Revisionsgericht (BGH GS aaO S. 317 Tz. 65). Für eine weitergehende Schmälerung der Position des Angeklagten im Protokollberichtigungsverfahren besteht keine Rechtfertigung (vgl. BVerfG NJW 2009, 1469, 1470, 1472).
9
c) Zwar hat das Landgericht zwei von Verteidigern gestellte Beweisanträge mit Beschlüssen vom 7. August 2008 mit dem Hinweis auf die Einführung der Urkunden, deren Verlesung begehrt worden ist, zurückgewiesen. Dieser Umstand begründet im Fall gescheiterter Protokollberichtigung – wie hier – aber keine offensichtliche Lücke des Protokolls, die das Revisionsgericht berechtigt, im Freibeweisverfahren auf dienstliche Erklärungen der Berufsrichter und Schöffen hinsichtlich des Abschlusses des Selbstleseverfahrens zurückzugreifen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2009 – 5 StR 460/08 Tz. 6 m.w.N.). Das Landgericht nimmt in den Beschlüssen nämlich nicht auf ein tatsächliches – indes nicht protokolliertes – Verfahrensgeschehen Bezug, sondern auf seine eigene Wertung, dass das Selbstleseverfahren durchgeführt worden sei. Dies beinhaltet wegen der Zweistufigkeit jenes Verfahrens aber noch keinen Hinweis im Ausmaß der Offensichtlichkeit auch auf den tatsächlich erklärten Abschluss des Selbstleseverfahrens (vgl. auch BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren 2). Nach alledem war die Revision auch nicht etwa verpflichtet, diese Vorgänge vorzutragen (vgl. BVerfGE 112, 185, 213).
10
4. Auf dem zulässig gerügten Verfahrensverstoß beruht auch das angefochtene Urteil.
11
a) Das Landgericht hat seine Überzeugung auf Urkunden gestützt, die es – schon nach dem Inhalt des Urteils – aufgrund des Selbstleseverfahrens eingeführt hat (vgl. BGH NStZ 2004, 279). So führt das Landgericht zum Fall 2 beweiswürdigend aus: „Die Feststellungen der Kammer zum Verkauf der Grundstücke in Hannover und Ahrensburg und zu der Einbindung des Angeklagten O. in die Finanzierung W. s werden demgegenüber von den glaubhaften Angaben des Zeugen W. , die durch den Inhalt von im Wege der Selbstlesung eingeführten Urkunden bestätigt werden, getragen“ (UA S. 291). „… die Angaben des Zeugen W. werden durch den Inhalt der im Wege der Selbstlesung eingeführten Urkunden bestätigt. Hiernach hat der Zeuge W. den Kreditantrag bei der V. L. erst am 25.10.2004 und damit nach Abschluss des Kaufvertrages unterschrieben“ (UA S. 292). „In Bezug auf den Anlass der Darlehensvereinbarung zwischen W. und dem Angeklagten im Oktober 2005 werden die Angaben W. s durch die Kontostände der GGS und O. s, die über die Selbstlesung der Kontounterlagen zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht worden sind, bestätigt. Hiernach wurde der Vertrag just in dem Moment abgeschlossen , in dem O. einen unabweisbaren Liquiditätsbedarf hatte“ (UA S. 293).
12
b) Das Landgericht hat ferner Urkunden verwertet, zu denen es beweiswürdigend festgestellt hat, dass diese nicht im Wege des Vorhalts und der Erklärung der vernommenen Person hierzu eingeführt worden sein können (vgl. BGHR StPO § 249 Abs. 1 Verlesung, unterbliebene 1). Hierbei handelt es sich um die Urkunden Nr. 57, 58 und 96 der Urkundenliste Nr. 3, die die Kontenentwicklungen des Mitangeklagten P. und des Grundstückskäufers B. – den Fall 1 betreffend – zum Gegenstand haben. Das Landgericht hat hierzu im Zusammenhang mit einer Täuschungshandlung zum Nachteil B. s ausgeführt: „… Hinsichtlich der tatsächlich erzielten monatlichen Einnahmen aus den erworbenen Grundstücken hat der Angeklagte P. zunächst ohne nähere Erläuterung lediglich pauschal angegeben , diese hätten tatsächlich bei 15.000 € gelegen und dementsprechend die monatliche Belastung aus der Darlehensaufnahme abgedeckt. Auf Vorhalt der Kontounterlagen P. s und B. s, denen zufolge keine entsprechenden Einnahmen erzielt wurden und P. stattdessen monatlich 7.500 €, die aus anderen Quellen stammten, an B. überwies, hat der Angeklagte P. erklärt, hierüber nichts zu wissen. Nach kurzer Überlegung hat er dann ergänzt, er habe hinsichtlich der Mieteinnahmen einfach ‚keine Erinnerung mehr’“ (UA S. 274). „Dafür, dass B. s Irrtum über die Ertragskraft des Grundstücks durch die geschilderten Äußerungen P. s verursacht wurde, spricht auch, dass P. zunächst auch in seiner Einlassung behauptet hat, aus dem Grundstück tatsächliche monatliche Einnahmen in Höhe von 15.000 € erzielt zu haben. Erst auf Vorhalt der entgegenstehenden Kontounterlagen hat der Angeklagte dann wenig überzeugend erklärt, doch keine genaue Erinnerung mehr zu haben. Dafür, dass P. zumindest nach dem Kaufvertragsschluss sehr wohl noch in Erinnerung hatte , den Geschädigten B. mit angeblich zu erzielenden Einnahmen in Höhe von 15.000 € in die Irre geführt zu haben, sprechen vor allem auch seine in der Folge des Vertragsschlusses vorgenommenen monatlichen Überweisungen in Höhe von jeweils 7.500 €, durch die bei B. die Fehlvorstellung erzeugt wurde, alles sei in Ordnung“ (UA S. 286).
13
Gleiches gilt für einen Kreditantrag des Zeugen B. vom 11. November 2004 (Urkunde Nr. 99). Hierzu hat das Landgericht ausgeführt : „Gegen die Glaubhaftigkeit der entscheidenden Angaben B. s sprach auch nicht, dass er nach Unterzeichnung des notariellen Kaufvertrages am 01.11.2004 an der weiteren Durchführung des Kaufvertrages mitwirkte , insbesondere, indem er am 11.11.2004 zu einem Banktermin bei der V. L. erschien, um einen Kreditantrag zu unterzeichnen, und indem er darüber hinaus auch einer späteren Änderung des notariellen Vertrages im Hinblick auf die Übernahme von Grundpfandrechten zustimmte.
Zwar hat der Zeuge B. auf den Vorhalt dieses Verhaltens nach Ansicht der Kammer wenig überzeugend und ausweichend geantwortet. Hinsichtlich seiner Unterschrift bei der Bank hat er ohne weitere Begründung erklärt, seiner Ansicht nach noch keinen verbindlichen Kreditantrag gestellt zu haben. Zur Änderung des notariellen Vertrages hat er monoton geäußert, er habe zugestimmt, um seine Ruhe zu haben“ (UA S. 288).
14
Hinsichtlich der Bewilligung und Valutierung einer Grundschuld über 2 Mio. € hat das Landgericht (UA S. 138, 141 und 184) einen Vermögensnachteil der Kreditgeberin betreffende Wertungen getroffen und hierzu (UA S. 275) beweiswürdigend ausgeführt: „O. s Behauptung, er sei hinsichtlich des P. -Kredites von Beginn an von einer ordnungsgemäßen Sicherung ausgegangen, lässt sich nicht mit den von ihm nicht in Abrede genommenen objektiven Umständen vereinbaren, wonach die Bewilligung der Grundschuld in Höhe von 2 Mio. € auf dem Grundstück Hannover-Ahlem durch die P. (August 2004) erst nach Beginn der Valutierung (Juli 2004) erfolgte, bzw. der Antrag auf Eintragung der Grundschuld sogar erst drei Monate danach gestellt wurde und keine Sicherungszweckerklärung in Bezug auf den P. -Kredit vorlag. Der Angeklagte hat hierzu gar keine Stellung genommen und sich stereotyp darauf zurückgezogen, als Kreditnehmer sei die Besicherung letztlich nicht seine Sache gewesen“. Hieraus folgt, dass weder P. noch der Angeklagte insoweit Erklärungen abgegeben haben.
15
c) Durch den Revisionsvortrag (Schriftsatz des Verteidigers Rechtsanwalt L. S. 183 bis 218) ist ferner bewiesen, dass im Fall 3 die Unterzeichnung eines vorausgefüllten Überweisungsformulars über die volle Kreditsumme in Höhe von 800.000 € durch N. nur durch Verwertung dieser Urkunde belegt sein kann. Die hierzu in der Hauptverhandlung – übereinstimmend nach Revisionsvortrag und Urteil – vernommene Verhörsperson konnte Gegenteiliges nicht bekundet haben, weil N. in jener Vernehmung keine Erinnerung an die Höhe des überwiesenen Betrages hatte. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt: „Neben der Unterzeich- nung des Kreditantrags leistete N. auf Geheiß O. am s 14.03.2005 noch eine zweite Unterschrift, die für das Gelingen von O. s Plan von entscheidender Bedeutung war: N. unterschrieb ein vorausgefülltes Überweisungsformular über die volle Kreditsumme in Höhe von 800.000 €, demzufolge die V. L. angewiesen wurde, den Geldbetrag – im Widerspruch zu den im Kaufvertrag vereinbarten Modalitäten – direkt auf das bei der V. L. eingerichtete Konto der A. O. zu transferieren“ (UA S. 198).
16
d) Das Landgericht hat zur Bonität des Angeklagten, der von ihm beherrschten Gesellschaften G. und P. und zur Einkommenssituation des Angeklagten Feststellungen getroffen und hierbei auf den Einkommensteuerbescheid 1998, der einer „näheren Analyse“ unterzogen worden sei (UA S. 114), abgestellt und ferner auf – wie die Revision vorträgt – umfassende Einkommensteuererklärungen (UA S. 136). Die Vermögenslage der Gesellschaften des Angeklagten wird hinsichtlich zahlreicher Einzelheiten „ausweislich“ deren Jahresabschlüsse für die Jahre 2002 und 2003 dargestellt (UA S. 136 f.). Diese komplexen Urkunden sind schon – jenseits des Revisionsvortrags, dass sie niemandem vorgehalten worden seien – für eine Einführung in die Hauptverhandlung durch Erklärung auf einen Vorhalt ungeeignet (vgl. BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren 2 m.w.N.).
17
e) Das Landgericht hat schließlich auch in seiner Gesamtwürdigung dem Urkundenbeweis einen hohen Wert zugemessen (UA S. 302). Der Senat sieht sich deshalb – im Gegensatz zur Auffassung des Generalbundesanwalts – gehindert, ein Beruhen des Urteils auf – weitgehend dem Urteil selbst zu entnehmenden – Schlüssen aus Urkunden auszuschließen, deren Einführung in die Hauptverhandlung an verfahrensrechtlichen Defiziten krankte (vgl. BGH NJW 2009, 2836, 2837).
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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 280/09
vom
30. September 2009
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 30. September 2009
gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 9. Januar 2009 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "sexueller Nötigung - Vergewaltigung -" zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten mit Bewährung verurteilt; von dem Vorwurf einer weiteren Vergewaltigung hat es ihn freigesprochen.
2
Hiergegen wendet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg; auf die Sachrüge kommt es daher nicht an.
3
Mit Recht beanstandet der Beschwerdeführer das durchgeführte Selbstleseverfahren (§§ 261, 249 Abs. 2 StPO).
4
Der Vorsitzende der Jugendschutzkammer hat am ersten Hauptverhandlungstag die Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO für eine Vielzahl von zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten ausgetauschten SMS-Nachrichten angeordnet und den Schöffen diese Kurznachrichten in Kopie zur Verfügung gestellt. Am zweiten Hauptverhandlungstag hat der Vorsitzende lediglich festgestellt, dass die SMS-Nachrichten den Schöffen im Wege des Selbstleseverfahrens zur Kenntnis gelangt sind. Bis zum Abschluss der Hauptverhandlung findet sich dagegen kein Eintrag im Protokoll, dass auch die Berufsrichter vom Wortlaut der Nachrichten Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten.
5
Macht das Tatgericht von der Möglichkeit des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO Gebrauch, müssen sowohl die Berufsrichter als auch die Schöffen vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis nehmen, diese also tatsächlich gelesen haben. Eine Differenzierung hinsichtlich der Vorgehensweise zwischen Berufsrichtern und Schöffen ist unzulässig (BGH NStZ 2001, 161; 2005, 160; vgl. insoweit auch KK-Diemer, StPO 6. Aufl. § 249 Rdn. 36, 39). Die übrigen Beteiligten müssen Gelegenheit zur Kenntnisnahme vom Wortlaut gehabt haben. Der Vorsitzende muss gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die Feststellung über die Kenntnisnahme sowie die Gelegenheit hierzu in das Protokoll aufnehmen. Dabei handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne des § 273 StPO (vgl. BGH NStZ 2000, 47; 2001, 161; 2005, 160; StV 2000, 603, 604). Der Nachweis hierüber kann somit nur durch das Protokoll geführt werden (§ 274 StPO).
6
Wurde die Feststellung der Kenntnisnahme durch die Richter sowie der Gelegenheit hierzu für die übrigen Verfahrensbeteiligten nicht protokolliert, ist somit aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls davon auszugehen, dass das Beweismittel nicht zur Kenntnis gelangt ist bzw. die Gelegenheit hierzu nicht eingeräumt worden ist (vgl. BGH NStZ 2005, 160; NJW 2009, 2836). Dem Revisionsgericht ist damit verwehrt, hierzu freibeweisliche Ermittlungen anzustellen. Die Beweiskraft des - hier auch nach Erhebung der Verfahrensrüge nicht berichtigten (vgl. dazu auch BGH NJW 2009, 2836) - Protokolls kann nur bei offenkundiger Fehler- oder Lückenhaftigkeit entfallen; solches ist hier nicht ersichtlich. Eine Lückenhaftigkeit ergibt sich nicht etwa schon daraus, dass die Anordnung des Selbstleseverfahrens, nicht aber die nach § 249 Abs. 2 StPO notwendige Feststellung über dessen erfolgreiche Durchführung vermerkt ist. Denn die Anordnung des Selbstleseverfahrens lässt keinen Schluss auf die weitere Beachtung des Verfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO zu (vgl. BGH NStZ 2000, 47 m.w.N.).
7
Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Verurteilung des Angeklagten auf dem aufgezeigten Verfahrensverstoß beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Landgericht hat sich sowohl bei der Überführung des die Tat bestreitenden Angeklagten als auch bei der Frage, ob es sich um eine Jugendverfehlung handele , auf die den gewechselten Kurznachrichten entnommene Ankündigung des Angeklagten gestützt, mit dem Opfer auch gegen dessen Willen geschlechtlich zu verkehren. Der Inhalt der im Urteil auf 12 Seiten wiedergegebenen SMSNachrichten konnte nicht im Wege des Vorhalts in die Hauptverhandlung eingeführt werden (vgl. BGH NStZ 2001, 161; BGHR StPO § 249 Abs. 1 Verlesung, unterbliebene 1).
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(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 76/10
vom
20. Juli 2010
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
___________________________________
Zum Umfang der Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3
BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10 - LG Wuppertal
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Betruges
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 20. Juli 2010 gemäß
§ 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 5. November 2009 werden verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten M. K. wegen Betruges in drei Fällen unter Einbeziehung weiterer Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen ; den Angeklagten J. K. hat es wegen Betruges in vier Fällen und wegen versuchten Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die dagegen gerichteten Revisionen der Angeklagten bleiben ohne Erfolg, da die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
2
Näherer Erörterung bedarf nur die von beiden Angeklagten erhobene Verfahrensbeanstandung, das Landgericht habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 StPO Feststellungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde :
3
Im Verlauf der Hauptverhandlung hat der Strafkammervorsitzende bezüglich mehrerer Urkunden das Selbstleseverfahren angeordnet. Betreffend ein Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth hat er am darauf folgenden Hauptverhandlungstermin zu Protokoll die Feststellung getroffen, dass das Selbstleseverfahren beendet ist, die Mitglieder der Kammer "von dem Urteil" Kenntnis genommen haben und die übrigen Prozessbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Betreffend eine Reihe von Urkunden zu Geldbewegungen sowie zu Haftabwesenheitszeiten des Angeklagten M. K. hat der Vorsitzende zu Protokoll festgestellt, dass die Kammer "von den Urkunden", für die in der letzten Hauptverhandlung das Selbstleseverfahren angeordnet worden ist, Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hierzu hatten. Hinsichtlich mehrerer amtsgerichtlicher Urteile hat er zu Protokoll festgestellt, dass das Selbstleseverfahren beendet ist und die Kammer "von den Urteilen" Kenntnis genommen hat und die übrigen Prozessbeteiligten Gelegenheit hatten , hiervon Kenntnis zu nehmen.
4
Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die Richter und Schöffen "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den Richtern nicht zur Kenntnis genommen worden sei.
5
Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang. Im Einzelnen:
6
Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - neben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 StPO) werden, dass die Richter und Schöffen tatsächlich von Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus , dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweiskräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Protokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) aus eigener Wahrnehmung bestätigen.
7
Das Selbstleseverfahren hat den Kern des Urkundenbeweises - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die Richter und Schöffen - aber gerade aus der Hauptverhandlung herausverlagert. Damit ist es dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von vornherein nicht möglich zu bestätigen, dass die Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts anderes gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden Richter und die Schöffen präsent ist; aber selbst wenn er - ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unterliegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungsvoll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden Richter und der Schöffen verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen.
8
Durch die Einführung des Selbstleseverfahrens hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem Urkundenbeweis nach § 249 Abs. 1 StPO keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen der Verlesung - insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen.
9
Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die Richter und Schöffen im Wege des Selbstleseverfahrens nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat (KKDiemer , 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 StPO beweiskräftig belegter - Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens gezogen werden.
10
Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO vielmehr eine andere Funktion zu. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, be- darf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbes. gerichtskundiger , außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind (Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. Meyer -Goßner, aaO, § 273 Rn. 7 mwN).
11
Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch Richter und Schöffen auszulegen sein dürften (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei Becker, NStZ-RR 2004, 225, 227 Nr. 9; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, StV 2010, 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.
12
Keiner Entscheidung bedarf, wie wegen der fehlenden Beweiskraft des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO für seine inhaltliche Richtigkeit eine Rüge zu behandeln wäre, entgegen der protokollierten Feststellung hätten die Richter oder Schöffen tatsächlich gar nicht vom Wortlaut der fraglichen Schriftstücke Kenntnis genommen; denn eine solche Rüge ist hier nicht erhoben.
VRiBGH Becker ist wegen Urlaubs Pfister RiBGH von Lienen ist wegen Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert. an der Unterschriftsleistung gehindert. Pfister Pfister Hubert Schäfer

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 131/10
vom
14. September 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am
14. September 2010 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 8. September 2009
a) aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. b) und d) sowie M. b) und c) verurteilt worden ist,
b) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte schuldig ist - des Betruges in 26 Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, - des Betruges in 63 Fällen, davon in zehn Fällen in jeweils zwei tateinheitlichen Fällen, - des versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in acht Fällen und - des versuchten Betruges in sechs Fällen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in 26 Fällen, wegen Betruges in 74 Fällen, wegen versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in acht Fällen und wegen versuchten Betruges in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Außerdem hat es ihm die berufliche Tätigkeit auf den Gebieten der Frauenheilkunde und der Geburtshilfe sowie der plastischen Chirurgie für die Dauer von drei Jahren untersagt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten , mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet , hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Das Landgericht hat 11 Fälle, in denen Patientinnen eine vom Angeklagten jeweils in betrügerischer Absicht gestellte Arztrechnung über in Wahrheit nicht erbrachte Leistungen bei zwei verschiedenen Abrechnungsstellen - der Beihilfestelle und der privaten Krankenversicherung - zur jeweils anteiligen Begleichung einreichten, als jeweils zwei zueinander in Tatmehrheit stehende Fälle des Betruges, davon in einem Fall in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, bewertet. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
3
Bei mehreren Tatbeteiligten ist die Frage der Handlungseinheit oder -mehrheit für jeden Beteiligten nach der Art seines Tatbeitrages selbstständig zu ermitteln. Bei Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft sind selbstständige Betrugstaten der unmittelbar gegenüber den Geschädigten Handelnden beim Mittäter oder Hintermann, dessen Handlung sich in nur einer Tätigkeit erschöpft , als eine einheitliche Tat anzusehen (BGH, Beschluss vom 17. Juni 2004 - 3 StR 344/03, NJW 2004, 2840, 2841; Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07, NStZ 2008, 352 f.; Fischer, StGB, 57. Aufl., Vor § 52 Rn. 34 mwN). Das Einreichen der falschen Rechnung durch die Patientinnen bei zwei unterschiedlichen Kostenträgern stellt sich damit für den Angeklagten, der jeweils nur eine unrichtige Rechnung ausstellte, als eine einheitliche Tat dar.
4
Dies führt zur Aufhebung des Urteils wegen Betruges in 11 Fällen und zum Wegfall der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen von zwei mal einem Jahr und zwei Monaten in den Fällen V. b) und M. c) sowie von neun mal einem Jahr in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. d) und M. b). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert.
5
Trotz des Wegfalls von 11 Einzelstrafen hat die Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten Bestand. Der Senat kann im Hinblick auf die verbleibenden 103 Einzelfreiheitsstrafen in Höhe von zwei mal einem Jahr und sechs Monaten, 10 mal einem Jahr und vier Monaten, 47 mal einem Jahr und zwei Monaten, 30 mal einem Jahr, acht mal 10 Monaten und sechs mal acht Monaten ausschließen, dass das Landgericht auf eine niedrigere Gesamtstrafe erkannt hätte, wenn es die weggefallenen Einzelstrafen nicht in die Gesamtstrafenbildung mit einbezogen hätte.
6
2. Im verbleibenden Umfang der Verurteilung hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO).
7
Nicht durchgreifend ist insbesondere die Verfahrensbeanstandung, das Landgericht habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 StPO Feststellungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien (s.a. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10 - zu einer inhaltsgleichen Rüge). Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
8
Im Zuge der Beweisaufnahme zu 13 Fällen betreffend insgesamt acht Patientinnen hat der Strafkammervorsitzende hinsichtlich jeweils mehrerer Urkunden protokolliert, dass diese verlesen wurden, dass die Verlesung gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO im Selbstleseverfahren erfolgte und dass der Angeklagte , der Verteidiger sowie die Vertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Kenntnisnahme erhielten. Im weiteren Verlauf hat er - jeweils nach Unterbrechung der Hauptverhandlung - zu Protokoll die Feststellung getroffen, die Schöffen und die Berufsrichter hätten von den jeweiligen schriftlichen Unterlagen "Kenntnis genommen".
9
Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die Richter und Schöffen "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den Richtern nicht zur Kenntnis genommen worden sei.
10
Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang. Im Einzelnen:
11
Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - neben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 StPO) werden, dass die Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus , dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweiskräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Protokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) aus eigener Wahrnehmung bestätigen.
12
Das Selbstleseverfahren hat den Kern des Urkundenbeweises - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die Richter und Schöffen - aber gerade aus der Hauptverhandlung herausverlagert. Damit ist es dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von vornherein nicht möglich zu bestätigen, dass diese tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts anderes gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden Richter und Schöffen präsent ist; aber selbst wenn er - ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unterliegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungsvoll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden Richter und Schöffen verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen.
13
Durch die Einführung des Selbstleseverfahrens hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem Urkundsbeweis nach § 249 Abs. 1 StPO keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen der Verlesung - insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen.
14
Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die Schöffen und Berufsrichter im Wege des Selbstleseverfahrens nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat (KK-Diemer, 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 StPO beweiskräftig belegter - Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens gezogen werden.
15
Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO vielmehr eine andere Funktion zu. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbesondere gerichtskundiger , außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind (Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 273 Rn. 7 mwN).
16
Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch die Schöffen und Berufsrichter auszulegen sein dürften (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei Becker, NStZ-RR 2004, 225, 227 Nr. 9; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, StV 2010, 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.
Becker von Lienen Sost-Scheible Schäfer Mayer
23
Die Verfahrensrüge, § 261 StPO sei verletzt, weil das Landgericht den Inhalt der im Urteil als „verlesen“ wiedergegebenen Lieferlisten und-scheine (UA S. 11 bis 108) nicht in zulässiger Form in die Hauptverhandlung eingeführt habe, dringt - ungeachtet der Frage ihrer Zulässigkeit - in der Sache nicht durch.

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.