Bundesgerichtshof Urteil, 12. Dez. 2012 - 5 StR 544/12

bei uns veröffentlicht am12.12.2012

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 544/12

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 12. Dezember 2012
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 12. Dezember
2012, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Schaal,
Richter Dölp,
Richter Prof. Dr. König,
Richter Bellay
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Nebenklägervertreter,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 25. Juni 2012 wird mit den Feststellungen aufgehoben
a) auf die Revision des Angeklagten, soweit er verurteilt worden ist,
b) auf die Revision des Nebenklägers, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und von weiteren acht Anklagevorwürfen freigesprochen. Es hat ihm das Verbot erteilt, für fünf Jahre „den Beruf des psychologischen Psychotherapeuten in Bezug auf Kinder und Jugendliche“ auszuüben. Die Revisionen des Angeklagten und des Nebenklägers haben jeweils mit der Sachrüge Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der als Psychologe tätige Angeklagte an zwei nicht genau bestimmbaren Tagen zwischen dem 1. Juni 2005 und November 2006 im Rahmen der im Wohnzimmer seiner Wohnung durchgeführten Therapiesitzungen an dem 1997 geborenen Nebenkläger den Analverkehr vollzogen. Die zugelassene Anklage warf dem Angeklagten acht weitere gleichgelagerte Taten zulasten des Nebenklägers im genannten Zeitraum vor. Obwohl das Landgericht davon überzeugt war, dass es anlässlich der Therapiesitzungen zu weiteren Missbrauchsfällen gekommen sei, hat es den Angeklagten hinsichtlich dieser Taten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil diese nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung nicht in der in der Anklageschrift beschriebenen Art und Weise und auch nicht im Wohnzimmer, sondern an anderen Tatorten, wie etwa dem Schlafzimmer, den Praxisräumen oder im Schwimmbad stattgefunden hätten (UA S. 22 f.).
3
2. Die Beweiswürdigung, aufgrund derer das Landgericht sowohl zu einer Verurteilung des Angeklagten als auch überwiegend zu Teilfreisprüchen gelangt ist, hält insgesamt sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
4
a) Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten. Das Landgericht stützt seine Überzeugung vom Tatgeschehen im Wesentlichen auf die Angaben des Nebenklägers, welche es durch vom Angeklagten verfasste E-Mails und die Angaben weiterer Zeugen gestützt sieht. Der Nebenkläger habe in der Hauptverhandlung nur die Vorfälle geschildert, die ihm erinnerlich gewesen seien, wobei er deutlich gemacht habe, dass es sehr häufig in Therapiesitzungen zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gekommen sei, die mit dem Einführen des erigierten Glieds in seinen Anus endeten; eine zeitliche, örtliche und quantitative Einordnung sei ihm jedoch schwer gefallen. Konkret habe er zwei Fälle des Analverkehrs auf dem Boden des Wohnzimmers in der Wohnung des Angeklagten geschildert. Darüber hinaus habe er abweichend von seinen Angaben im Ermittlungsverfahren einen Vorfall mit einem Sex-Spielzeug, eine Situation im Schwimmbad und Taten an weiteren Örtlichkeiten , namentlich in der Badewanne, im Schlafzimmer und in den Praxisräumen des Angeklagten geschildert. Das Landgericht hielt die Angaben für glaubhaft und „hinreichend“ konstant, „ohne dass innere Widersprüche aufgefallen wären“ (UA S. 7).
5
b) Die Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand. Die Beweiswürdigung entspricht nicht den Anforderungen, die in der vorliegenden Beweiskonstellation zu erfüllen sind. Hier ist die Aussage des einzigen Belastungszeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen; daher müssen die Urteilsgründe in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 5. November 1997 – 3 StR 558/97, BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3). Dies gilt insbesondere, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. BGH, Urteile vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159 mwN, und vom 10. Oktober 2012 – 5 StR 316/12).
6
Die Urteilsgründe enthalten keine geschlossene Darstellung der Aussage des Nebenklägers mit den zugehörigen Details, die eine „hinreichende Konsistenz“ (UA S. 7) überprüfbar und die angenommene Glaubhaftigkeit seiner Angaben einer revisionsgerichtlichen Kontrolle zugänglich machen. Sie legen vielmehr Abweichungen von der Erstaussage bei der Polizei dar, weil der Nebenkläger „neue Situationen, Tatörtlichkeiten und Vorgehensweisen des sexuellen Missbrauchs durch den Angeklagten geschildert hat, über die er bisher nicht berichtet hatte“ (UA S. 7). Gleiches gilt für die Überprüfung des angeführten „Detailreichtums“ (UA S. 12).Den Urteilsgründen ist hierzu nichts Näheres zu entnehmen. Ob deshalb das Aussageverhalten noch als detailreich und konstant sowie die Schilderungen des Nebenklägers in der Hauptverhandlung entsprechend der tatgerichtlichen Würdigung nicht als „Widersprüche“, sondern als „Weiterungen“ (UA S. 7) seiner Aussage zu ver- stehen sind, lässt sich anhand der inhaltlich viel zu knappen, weitgehend nur wertenden Ausführungen nicht zuverlässig überprüfen. Dies gilt vor allem deshalb, weil das Landgericht nach den Angaben des Nebenklägers nunmehr nicht mehr von zehn, sondern nur noch von zwei Fällen des Analverkehrs im Wohnzimmer des Angeklagten ausgegangen ist und sich im Übrigen aufgrund neu hervorgetretener Tatmodalitäten zu einer Verurteilung außer Stande sah.
7
c) Die Beweiswürdigung trägt auch die Teilfreisprüche nicht. Das Landgericht war zwar „davon überzeugt“ (UA S. 22), dass es im Tatzeitraum zu weiteren schweren Missbrauchsfällen des Nebenklägers durch den Angeklagten gekommen sei, sah sich jedoch aufgrund der abweichenden Aussage des Nebenklägers an einer Verurteilung gehindert.
8
Angesichts der unvollständigen Darstellung der Aussagen des Nebenklägers im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung ist dem Senat eine revisionsgerichtliche Überprüfung auch dahingehend verwehrt, ob – insbesondere angesichts der zum Teil eher geringfügig erscheinenden Abweichungen (Schlafzimmer statt Wohnzimmer) – das Landgericht dem Gebot der erschöpfenden Beweiswürdigung (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Februar 2012 – 5 StR 3/12, NStZ-RR 2012, 150, 151) ausreichend nachgekommen ist und danach selbst Mindestfeststellungen zu den weiteren angeklagten Taten (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 2004 – 5 StR 563/03, NStZ 2005, 113, und Beschlüsse vom 25. März 1994 – 3 StR 18/94, BGHR StGB § 176 Abs. 1 Mindestfeststellungen 4, sowie vom 27. März 1996 – 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 109 f.) nicht hat treffen können.
9
3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer tatgerichtlicher Würdigung. In Anbetracht des jugendlichen Alters des Hauptbelastungszeugen und der erst im Jahr 2010 offenbarten, mindestens sechs Jahre zurückliegenden Tatvorwürfe wird das neue Tatgericht ungeachtet belastender Beweismittel die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nachhaltig zu erwägen haben.
Basdorf Schaal Dölp König Bellay

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 12. Dez. 2012 - 5 StR 544/12

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 12. Dez. 2012 - 5 StR 544/12

Referenzen - Gesetze

Strafgesetzbuch - StGB | § 176 Sexueller Missbrauch von Kindern


(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer d
Bundesgerichtshof Urteil, 12. Dez. 2012 - 5 StR 544/12 zitiert 2 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 176 Sexueller Missbrauch von Kindern


(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer d

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Bundesgerichtshof Urteil, 10. Okt. 2012 - 5 StR 316/12

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5 StR 316/12 BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL vom 10. Oktober 2012 in der Strafsache gegen wegen Vergewaltigung u.a. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 10. Oktober 2012, an der teilgenommen haben: Vorsitze

Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Feb. 2012 - 5 StR 3/12

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5 StR 3/12 BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS vom 7. Februar 2012 in der Strafsache gegen wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. Februar 2012 beschlossen: Auf die Revision des Angeklag

Bundesgerichtshof Urteil, 03. Feb. 2004 - 5 StR 563/03

bei uns veröffentlicht am 03.02.2004

5 StR 563/03 BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL vom 3. Februar 2004 in der Strafsache gegen wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3. Februar 2004, an der teilgenommen
4 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Urteil, 12. Dez. 2012 - 5 StR 544/12.

Bundesgerichtshof Urteil, 09. Okt. 2019 - 5 StR 90/19

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 5 StR 90/19 (alt: 5 StR 358/16) vom 9. Oktober 2019 in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung u.a. ECLI:DE:BGH:2019:091019U5STR90.19.0 Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat

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Bundesgerichtshof Beschluss, 28. Juli 2015 - 4 StR 132/15

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 S t R 1 3 2 / 1 5 vom 28. Juli 2015 in der Strafsache gegen wegen Vergewaltigung u.a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 28. Juli 2015 gemä

Bundesgerichtshof Beschluss, 05. Apr. 2016 - 1 StR 53/16

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 53/16 vom 5. April 2016 in der Strafsache gegen wegen Vergewaltigung ECLI:DE:BGH:2016:050416B1STR53.16.0 Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. April 2016 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf d

Referenzen

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.

5 StR 316/12

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 10. Oktober 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung
vom 10. Oktober 2012, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Raum,
Richter Schaal,
Richter Prof. Dr. König,
Richter Bellay
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt K. ,
Rechtsanwalt S.
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. Februar 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist, sowie im Rechtsfolgenausspruch.
Auf die Revision des Angeklagten wird das genannte Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und der Nebenklägerin im Rahmen einer Adhäsionsentscheidung einen Schmerzensgeldbetrag zugesprochen. Vom Vorwurf, zwei weitere sexuelle Übergriffe begangen zu haben, hat es ihn freigesprochen. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich mit der Sachrüge gegen die den Freisprüchen zugrunde liegende Beweiswürdigung sowie gegen die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung. Die Revision des Angeklagten erhebt eine Ver- fahrensrüge und darüber hinaus die allgemeine Sachrüge. Beide Rechtsmittel haben Erfolg.
2
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen.
3
a) Der wegen eines Sexualdelikts vorbestrafte Angeklagte bot der Mutter der am 26. Januar 2005 geborenen Nebenklägerin Sc. an einem nicht näher feststellbaren Tag zwischen Juni 2009 und Sommer 2010 an, auf die Nebenklägerin, die in seiner Wohnung übernachten sollte, aufzupassen. Als die Nebenklägerin sich in seiner Obhut befand, zog er die Hose ihres Schlafanzugs herunter, legte sie mit dem Bauch auf einen Tisch und cremte ihren Anus ein. Gegen den Willen des sich wehrenden Kindes drang der Angeklagte mehrfach mit seinem Penis in dessen After ein.
4
Die Nebenklägerin, die noch mehrere Tage unter Schmerzen litt, erzählte ihrer Mutter am nächsten Morgen, was vorgefallen war. Diese untersuchte die Nebenklägerin, konnte aber keine Verletzungen an der Vagina und dem After ihres Kindes entdecken. Sie schenkte der Schilderung ihrer Tochter zwar keinen Glauben; gleichwohl brach sie den Kontakt zum Angeklagten ab. Eine Anzeige bei der Polizei erstattete sie nicht. Zu Ermittlungen kam es erst, als die Nebenklägerin sich am 12. März 2011 gegenüber einer Freundin ihrer Mutter weinend offenbarte, die anschließend die Polizei verständigte.
5
Die Jugendkammer stützt die Verurteilung des die Tat bestreitenden Angeklagten im Wesentlichen auf die von ihr als glaubwürdig bewertete Aus- sage der Nebenklägerin. Ihr sei nicht zuzutrauen, „eine derartige Aussage- konstanz mit Realkennzeichen durch alle Vernehmungen zu halten, wenn sie nicht erlebnisbasiert“ sei (UA S. 17). Soweit die Nebenklägerin der Freundin ihrer Mutter am 12. März 2011 nur von einem vaginalen Geschlechtsverkehr erzählt hatte, stelle dies die Erlebnisbasiertheit ihrer Aussage nicht in Frage, weil – entsprechend den Ausführungen der sachverständigen Zeugin DiplomPsychologin G. – zu berücksichtigen sei, „dass die körperliche Wahr- nehmung einer Fünfjährigen hinsichtlich After und Vagina noch wenig ausgeprägt sei und die Abweichung daher aus Sicht der Geschädigten nicht das Kerngeschehen“ betreffe (UA S. 19). Des Weiteren sei der Umstand, dass die Nebenklägerin in ihrer polizeilichen Vernehmung den Tisch neben der Couch, in der Hauptverhandlung hingegen den Küchentisch als genaue Tatörtlichkeit angegeben habe, als nicht wesentliche Abweichung anzusehen. Diese Abweichung könne als vergleichsweise nebensächliche Einzelheit einerseits dem Alter der Nebenklägerin sowie dem relativ lange zurückliegenden Tatzeitraum, andererseits dem ungenauen Frageverhalten des Vernehmungsbeamten geschuldet sein.
6
b) Die zugelassene Anklage warf dem Angeklagten darüber hinaus vor, die Nebenklägerin in seiner Wohnung im gleichen Zeitraum ein weiteres Mal anal auf dem Tisch und einmal vaginal auf der Couch mit seinem Geschlechtsteil penetriert zu haben.
7
Die Jugendkammer hat den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil sie diese Taten „nicht zweifelsfrei feststellen“ konnte. In einer – gesondert – vorgenommenen Beweiswürdigung führt sie aus: „Bei der Überprüfung der Entstehung der Aussage sowie nach den Glaubwürdigkeitskriterien und Realkennzeichen“ sei sie zwar überzeugt, dass es weitere Vorfälle gegeben habe (UA S. 32); die Analyse der Aussagequalität der Nebenklägerin ergebe aber trotz anzunehmender umfassender Aussagetüchtigkeit und Beruhen ihrer Angaben auf einem wahren Erlebnishintergrund keine hinreichende Konstanz (UA S. 33). Zu Gunsten des Angeklagten könne die Jugendkammer daher nur das zugrunde legen, was die Nebenklägerin konstant ausgesagt habe und darüber hinaus mit den übrigen Zeugenaussagen in Übereinstimmung zu bringen sei.
8
Die Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung, wonach der Analverkehr auf der Couch und der Geschlechtsverkehr auf dem Tisch stattgefunden haben, weiche zum einen erheblich von ihren Angaben im Ermittlungsverfahren ab. Darüber hinaus habe die Nebenklägerin erstmals in der Hauptverhandlung angegeben, dass ein Vaginalverkehr auch auf der Couch in der Wohnung ihrer Mutter vorgefallen sei, als diese einkaufen gewesen sei. Diese Aussage der Nebenklägerin sei mit ihren Angaben im Ermittlungsverfahren nicht in Einklang zu bringen. Darüber hinaus habe ihre Mutter in Abrede gestellt, die Nebenklägerin in ihrer Wohnung jemals mit dem Angeklagten allein gelassen zu haben; zudem habe diese nur einmal beim Angeklagten in dessen Wohnung übernachtet.
9
c) Das Landgericht hat des Weiteren zwei weitere Anklagevorwürfe, wonach der Angeklagte im gleichen Zeitraum in seiner Wohnung jeweils den Oralverkehr an der Nebenklägerin auf einem Tisch vollzogen habe, auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
10
2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält insgesamt rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
11
a) Die gegen die Freisprüche gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen , wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich darauf , ob diesem Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (BGH, Urteile vom 2. Dezember 2005 – 5 StR 119/05, NJW 2006, 925, 928, insoweit in BGHSt 50, 299 nicht abgedruckt, und vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401). Solche Rechtsfehler liegen hier vor.
12
In den Freispruchsfällen ist bereits ein unauflösbarer Widerspruch darin zu sehen, dass die Jugendkammer einerseits überzeugt ist, dass die Aussage der Nebenklägerin zu weiteren sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf einem wahren Erlebnishintergrund basiert und es deshalb solche Übergriffe gegeben hat. Andererseits spricht sie den Angaben der Nebenklägerin mit Blick auf deren widersprüchliche Schilderungen und daraus abgeleitete Defizite der Aussagekonstanz die Glaubhaftigkeit ab und zieht zudem nicht abschließend bewertete Zeugenaussagen heran, dass es zu weiteren Vorfällen – entgegen der Aussage der Nebenklägerin – keine Gelegenheit gegeben habe. Diese Wertungen sind miteinander nicht in Einklang zu bringen.
13
Darüber hinaus ermöglichen die Darlegungen des Landgerichts nicht die revisionsrechtliche Überprüfung, ob es die festgestellten Abweichungen in den Angaben der Nebenklägerin zutreffend bewertet hat. Es fehlt insoweit an einer hinreichenden Darstellung und Analyse der Aussageentstehung und -entwicklung. Ebenso wenig ist dargelegt, woraus sich die Erlebnisbezogenheit weiterer sexueller Übergriffe aus den Schilderungen der Nebenklägerin ergibt.
14
Hinsichtlich der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung verweist der Senat auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts. Für den Fall erneuter Verurteilung des Angeklagten in dem bisherigen Verurteilungsfall darf der von der Staatsanwaltschaft nicht angefochtene (Einzel-) Strafausspruch nicht erhöht werden.
15
b) Die Revision des Angeklagten dringt ebenfalls mit der Sachrüge durch, weil sich die Beweiswürdigung auch zu seinen Lasten als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweist. Auf die Verfahrensrüge kommt es daher nicht mehr an.
16
In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht, muss sich das Tatgericht bewusst sein, dass die Aussage des einzigen Belastungszeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten besitzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände in seine Überlegungen einbezogen hat. Dies gilt insbesondere, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f. mwN). Dann muss das Tatgericht jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben. Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
17
Die Jugendkammer setzt sich im Rahmen der besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung nicht damit auseinander, welche Auswirkungen die bei der Nebenklägerin zu den Freispruchsfällen festgestellten Aussagedefizite auf den Verurteilungsfall haben. Vielmehr steht die Beweiswürdigung zu dem als erwiesen angesehenen Fall und zu den als nicht erwiesen angesehenen Fällen nahezu beziehungslos nebeneinander (vgl. BGH, Urteil vom 12. August 2010 – 2 StR 185/10, und Beschluss vom 4. Mai 2011 – 5 StR 126/11). Hinzu kommt, dass der erstmals in der Hauptverhandlung von der Nebenklägerin geschilderte sexuelle Übergriff des Angeklagten in der Wohnung der Mutter des Tatopfers auch im Verurteilungsfall in die Glaubwürdigkeitsprüfung hätte einbezogen werden müssen. Ebenso hätte es der Erörterung bedurft , ob die gemäß § 154 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung eingestellten Fälle des Oralverkehrs an der Nebenklägerin erweislich waren oder ob auch insoweit Glaubwürdigkeitsdefizite vorgelegen haben, die im Rahmen einer kritischen Gesamtwürdigung die Aussage der Nebenklägerin in Frage stellen könnten.
18
3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens vor der erneuten Hauptverhandlung wird nicht fernliegen. Die Aufhebung des Schuldspruchs entzieht der Adhäsionsentscheidung die Grundlage.
Basdorf Raum Schaal
König Bellay
5 StR 3/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 7. Februar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. Februar 2012

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 5. April 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die Revision des Angeklagten führt – wie auch vom Generalbundesanwalt beantragt – zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
2
1. Verfahrensgegenstand ist nach dem hierfür maßgeblichen Eröffnungsbeschluss vom 16. September 2010 die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vom 29. Juli 2010. Diese umfasste 184 Sexualdelikte zum Nachteil der Tochter des Angeklagten im Zeitraum vom 11. April 1998 bis 1. August 2005 und ferner 19 im Tatzeitraum Oktober 1998 bis März 2002 angelastete Missbrauchshandlungen (gegenseitiger Oralverkehr ) zum Nachteil des am 27. Oktober 1990 geborenen Nebenklägers B. . Das Landgericht hat seiner Verurteilung je zwei Fälle des Oralverkehrs in einem Gartenzelt (Fall 1: Frühjahr 1999 bis 26. Juni 2001; Fall 5: 28. Juni 2001 bis 31. März 2002) und im Wohnzimmer des Angeklagten (Fall 2: Oktober 1998 bis 26. Juni 2001; Fall 4: 28. Juni 2001 bis 31. März 2002) sowie einen Zungenkuss in den Sommerschulferien 2001 (Fall 3: 28. Juni bis 8. August 2001) – sämtlich Taten zum Nachteil des Nebenklägers – zugrunde gelegt.
3
Den Freispruch hinsichtlich der sich auf die Tochter des Angeklagten beziehenden Vorwürfe hat das Landgericht mit dem nicht ausschließbaren Vorliegen von Falschbelastungsmotiven dieser Zeugin begründet (UA S. 69 ff.). Hinsichtlich der den Nebenkläger B. betreffenden Fälle hat das Landgericht ausgeführt: „Aufgrund einer Gesamtschau dieser Indizien hat sich die Kammer davon überzeugt, dass die den Angeklagten belastenden Aussagen des Zeugen B. auf realem Erleben beruhen und hinreichend zuverlässig sind, um darauf eine Verurteilung in den unter Heranziehung des Zweifelssatzes festgestellten Mindestfällen zu stützen. Da der Zeuge B. den von ihm gefilmten Oralverkehr nicht mit hinreichender Sicherheit dem Anklagezeitraum zuordnen konnte und sonstige Beweismittel nicht zur Verfügung standen, blieb diese Handlung dabei außer Betracht, § 264 Abs. 1 StPO“ (UA S. 40).
4
2. Hierin liegt – im Gegensatz zur Auffassung des Generalbundesanwalts – eine Begründung von Freispruchsfällen hinsichtlich des Nebenklägers B. . Diese beantwortet indes die naheliegende Frage nicht direkt, aus welchen Gründen das Landgericht notwendigerweise weitergehenden – jedenfalls früheren – Angaben des Nebenklägers nicht gefolgt ist. Dies führt in der Regel wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der erschöpfenden Beweiswürdigung zur Aufhebung der Verurteilung (vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 1993 – 5 StR 689/92, NJW 1993, 2451; BGH, Beschluss vom 22. April 1997 – 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; BGH, Beschluss vom 21. April 1999 – 5 StR 634/98). Hiervon wird eine Ausnahme erwogen, falls dem Belastungszeugen lediglich eine zeitliche Einord- nung der übrigen Tatvorwürfe nicht gelungen ist (vgl. BGH, Urteil vom 8. Februar 2000 – 5 StR 461/99). Ob dies hier der Fall sein kann, bleibt unklar. Das Landgericht hat Taten in den Jahren 1998 und 1999 als möglich angenommen, obwohl hierfür sich widersprechende Angaben des Nebenklägers vorlagen (UA S. 5, 17, 21).
5
3. Die Beweiswürdigung des Landgerichts beruht darüber hinaus auf rechtsfehlerhaften Erwägungen (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abge- druckt).
6
a) Das Landgericht hat hinsichtlich der Tatzeit März 2001 bis Ende März 2002 einer von der Zeugin W. – nicht aber vom Nebenkläger – bekundeten Rasur des Angeklagten in seinem Intimbereich – wahrgenommen bei vier bis fünfmaligem Geschlechtsverkehr im Monat mit dem Angeklagten (UA S. 9, 19) – die Beweisbedeutung abgesprochen. Die Annahme, es widerspreche der Lebenserfahrung, dass sich Zeugen nach mehreren Jahren an derartige Randdetails sowie deren zeitliche Einordnung noch lückenlos und absolut zuverlässig erinnern, ist indes sachlich unvertretbar. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass sich Zeugen nicht an lange zurückliegende Geschehnisse erinnern (vgl. BGH, Beschluss vom 14. September 2004 – 4StR 309/04, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 23). Dies gilt umso mehr, als der erinnerte Umstand hier auch für weitere Intimpartnerinnen des Angeklagten von Bedeutung war. So hatten die Ehefrau des Angeklagten für einen Zeitraum davor (UA S. 8) und die Verlobte des Angeklagten ab 2005 (UA S. 9) ebenfalls bekundet, der Angeklagte habe seine Schambehaarung rasiert.
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b) Das Landgericht hat ferner eine von anderen Zeugen geschilderte und als glaubhaft bewertete Abnormität des Penis des Angeklagten nicht in die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Nebenklägers einbezogen (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 1960 – 4 StR 31/60, BGHSt 14, 162, 164). Das Landgericht hat hierzu festgestellt, dass der Angeklagte in den Jahren 1993 bis 1997 mit S. (UA S. 30 f.) und danach mit dessen Bruder Se. (UA S. 33 ff.) Oralverkehr ausgeübt hatte. Diesen Zeugen war aufgefallen, dass der Penis des Angeklagten – wegen einer von einem Sachverständigen festgestellten Vorhautverengung und Verkürzung des Vorhautbändchens – dabei immer „etwas krumm“ oder „eher krumm“ gewesen ist.
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c) Soweit das Landgericht einen Aussagewechsel des Nebenklägers (Zungenkuss anstatt Oralverkehr im Fall 3) durch eine von der Tochter des Angeklagten beeinflusste Erinnerungsbildung verursacht sieht (UA S. 27) – was im Übrigen schon wegen der vom Landgericht betonten Bedeutung des Oralverkehrs für die Aussagemotivation des Nebenklägers bedenklich erscheint –, hätten die sich aus diesem Umstand ableitbaren Qualitätsmängel in der Aussage des Nebenklägers für die Glaubhaftigkeit von dessen Aussage im Übrigen bedacht werden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2006 – 5 StR 236/06, StraFo 2006, 411; BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 170, 172).
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4. Die Sache bedarf demnach neuer Aufklärung und Bewertung.
Basdorf Raum Brause Schneider Bellay
5 StR 563/03

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 3. Februar 2004
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3. Februar
2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richter Basdorf,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin H
als Verteidigerin,
Rechtsanwalt He
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 11. Juli 2003 aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen II 2 und 3 der Urteilsgründe verurteilt worden ist. Insoweit wird das Verfahren – auf Kosten der Staatskasse – eingestellt. Der Gesamtstrafausspruch entfällt.
In die Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO werden zwei weitere der angeklagten Fälle 2 bis 147 einbezogen.
Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen. Er ist wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
2. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das genannte Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.
Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die verbleibenden Kosten der Revisionen – an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Diese hat auch über die Aussetzung der Vollstreckung der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung zu entscheiden, sofern keine neue Gesamtfreiheitsstrafe verhängt wird.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes und zweier Fälle des sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten zu drei Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Von drei Anklagevorwürfen – 283 weitere Fälle wurden gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt – hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. Das Urteil hat auf die Revisionen der Nebenklägerin und des Angeklagten nur teilweise Bestand.
1. Die Revision des Angeklagten, der die allgemeine Sachrüge erhoben hat, bleibt allerdings ohne Erfolg, soweit der Beschwerdeführer im Fall II 1 der Urteilsgründe wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes zu einer (Einzel-)Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden ist.

a) Mit rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung hat sich das Landgericht von der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage der Nebenklägerin, der am 22. Dezember 1978 geborenen leiblichen Tochter des Angeklagten, überzeugt. Danach hat dieser zwischen Anfang 1990 und Mitte 1999 in einer Vielzahl von Fällen – wahrscheinlich mehrere Hundert – den Beischlaf mit der Nebenklägerin vollzogen.

b) Rechtsfehlerfrei ausgeurteilt als Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB a.F. ist der Initialfall, begangen zum Nachteil der damals elfjährigen Tochter in einer zur Wohnung des Bruders des Angeklagten in Berlin-Neukölln gehörenden Außentoilette. Die Tat ist nicht verjährt, da die Verjährung – bei zehnjähriger Verjährungsfrist (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB) – bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres der Nebenklägerin (Dezember 1996) geruht hat (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB).

c) Strafrahmenwahl (§ 176 Abs. 3 StGB a.F.) und Einzelstrafbemessung – unter Abzug von vier Monaten mit Rücksicht auf eine rechtsstaatswid- rige Verfahrensverzögerung – lassen einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht erkennen. Auch hätte bei der Schwere des Vergehens gegen den nicht geständigen Angeklagten keine noch mildere Strafe verhängt werden dürfen, wenn weitere Schuldsprüche nicht erfolgt wären.
2. Hinsichtlich der beiden weiteren Schuldsprüche wegen – rechtsfehlerfrei festgestellter – zwischen Anfang 1993 und November 1994 begangener jeweils tateinheitlicher Vergehen nach § 173 Abs. 1 und § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist das Verfahren einzustellen. Diese Taten sind verjährt. Bereits zum Zeitpunkt der ersten verjährungsunterbrechenden Handlung – Anordnung der Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens an den Angeklagten am 9. November 2000 (Bl. 75 / Bd. I d.A.; § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB) – war die fünfjährige Verjährungsfrist (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) abgelaufen; bei Urteilsverkündung war zudem möglicherweise – und daher zugunsten des Angeklagten anzunehmen – absolute Verjährung (§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB) eingetreten. Die Ruhensvorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB gilt für die insoweit abgeurteilten Vergehen (noch) nicht (vgl. jedoch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl I 3007). Da die Staatsanwaltschaft die Verjährungsproblematik bereits bei Anklageerhebung zutreffend beurteilt und die Zeit zwischen dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin und dem 9. November 1995 von der Anklage der Tatserie ausgenommen hat, fehlt es zudem insoweit am Erfordernis der Anklageerhebung.
Die in diesem Umfang gebotene Urteilsaufhebung und Einstellung des Verfahrens entzieht zugleich dem Gesamtstrafausspruch die Grundlage.
Zur Klarstellung und Erschöpfung der Anklage bezieht der Senat auf Antrag des Generalbundesanwalts zwei weitere Fälle der Anklage (aus den Fällen 2 bis 147) in die in der Hauptverhandlung vor dem Tatgericht vorgenommene weitgehende Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ein; die unterbliebene Einstellung dieser beiden Fälle beruhte gleichermaßen auf der rechtsfehlerhaften Beurteilung der Verjährung und des Anklageumfangs.
3. Der Teilfreispruch, auf den die Nebenklägerin ihr Rechtsmittel beschränkt hat, hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsfeststellungen (UA S. 6, 7 f., 14 f.) ist zu entnehmen, daß das Tatgericht aufgrund der als glaubhaft angesehenen Angaben der Nebenklägerin an folgendem nicht gezweifelt hat: Der Angeklagte vollzog in einem zur Familienwohnung in Berlin-Neukölln gehörenden Toilettenraum im Sommer 1991 – und zwar wiederholt, nach dem Einzug am 1. August 1991 etwa zweimal wöchentlich – den Beischlaf mit der damals zwölfjährigen Nebenklägerin; gleiches tat er – mehrfach – mit seiner damals 13-jährigen Tochter an Wochenenden im Sommer 1992 im Gebüsch an einem bestimmten Spielplatz in Berlin-Kreuzberg; schließlich vollzog er zwischen einer am 23. November 1995 erfolgten gynäkologischen Behandlung seiner damals 16-jährigen Tochter und Anfang Dezember 1995 – wiederholt , mindestens viermal – wiederum in der Familienwohnung mit ihr den Beischlaf. Das Landgericht hat den Angeklagten gleichwohl von den Anklagevorwürfen zweier weiterer Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB a.F. und eines – wegen der späteren Tatzeit nicht verjährten – tateinheitlichen Vergehens nach § 173 Abs. 1 und § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB freigesprochen. Es sah sich an einer Verurteilung gehindert, da sich in keinem der drei Fälle die konkret abzuurteilende Tat aufgrund ihrer Verwechselbarkeit mit den jeweiligen Wiederholungsfällen „hinreichend bestimmen“ lasse. Diese Beurteilung erweist sich als rechtsfehlerhaft.
Das Tatgericht hat mit seinen Erwägungen die Möglichkeit, bei der Beurteilung von Serienstraftaten der hier zur Überprüfung stehenden Art eine Verurteilung auf Mindestfeststellungen zu stützen, vernachlässigt. Damit hat es sich seiner hieraus folgenden Verpflichtung entzogen, zur Ausschöpfung einer – wie hier – ordnungsgemäß erhobenen Anklage solcher Taten derartige Mindestfeststellungen auch zu treffen. Dabei ist hier schon im Vorfeld durch Zusammenwirken von Tatgericht und Staatsanwaltschaft in Anwendung des § 154 Abs. 2 StPO mit der Reduzierung der Anzahl innerhalb der jeweils zeitlich und räumlich zu differenzierenden Teilserien auf jeweils (mindestens ) nur noch eine zur möglichen Aburteilung gestellte Tat höchste Vorsicht geübt worden (vgl. ähnlich BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 5; vor § 1 / Serienstraftaten – Kindesmißbrauch 4; vgl. zur Methodik auch BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 6 und 8; StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 6 und 7 sowie Sachdarstellung 9). Das vom Landgericht rechtsfehlerhaft zur Begründung der Freisprechung herangezogene Argument, ungeachtet sicherer tatrichterlicher Überzeugung an der Begehung (mindestens ) einer näher konkretisierten und damit ausreichend individualisierten Tat mangele es an deren Unterscheidbarkeit von anderen gleichermaßen individualisierten Taten, mag nach rechtskräftiger Aburteilung bereits einer derartigen Tat aus der konkreten Tatserie zur Vermeidung doppelter Bestrafung , möglicherweise auch schon bei anderweitiger Rechtshängigkeit, einer Verurteilung entgegenstehen. Derartige Probleme ergaben sich hier deshalb nicht, weil der Angeklagte bislang unbestraft ist und auch nicht weitergehend belangt wird.
Die Möglichkeit, auf der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen in den drei Fällen auf die Verhängung von Schuldsprüchen durchzuerkennen, ist dem Senat aus grundsätzlichen Erwägungen versagt, da dem bestreitenden Angeklagten, der die Freisprüche nicht anfechten konnte, hierdurch insoweit eine Instanz genommen würde (BGHSt 48, 77, 99 m.w.N.). Die Gleichartigkeit der Tatvorwürfe mit den Verurteilungsfällen und die im wesentlichen identische Beweisgrundlage rechtfertigen nicht die Annahme eines Ausnahmefalles.
Über die Vorwürfe muß daher ein neues Tatgericht entscheiden, das auch nicht an die zu jenen Fällen bislang getroffenen – den weiteren rechtsfehlerfreien Schuldspruch indes nicht tragenden – Feststellungen gebunden ist, die der Angeklagte nicht angreifen konnte und die daher ebenfalls der Aufhebung unterliegen (§ 353 Abs. 2 StPO).
Im Verurteilungsfalle wird das neue Tatgericht mit der im angefochte- nen Urteil nunmehr rechtskräftig verhängten (Einzel-)Strafe eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben. Sollte es indes in diesen Fällen zu keiner Verurteilung kommen, wird ihm die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung jener rechtskräftig verhängten zweijährigen Freiheitsstrafe gemäß § 56 Abs. 2 StGB obliegen.
Harms Häger Basdorf Gerhardt Raum

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.