BGH IV ZR 385/15

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:270917UIVZR385.15.0
bei uns veröffentlicht am27.09.2017
vorgehend
Landgericht Magdeburg, 11 O 1516/13, 06.06.2014
Oberlandesgericht Naumburg, 4 U 43/14, 09.07.2015

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 9. Juli 2015 aufgehoben und wie folgt geändert:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg vom 6. Juni 2014 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten der Rechtsmittelverfahren.

Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf bis 35.000 € festgesetzt.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um Rechtsschutz für ein sozialgerichtliches Klageverfahren.

2

Die Klägerin, ein mit Veranstaltungslogistik befasstes Unternehmen, unterhielt bei der Beklagten bis zum 1. Oktober 2006 eine Versicherung über "Kompakt-Rechtsschutz für Unternehmen und freie Berufe", die "Sozialgerichts-Rechtsschutz" einschloss und der "Allgemeine Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 2000/Stand 01.04.2001)" zugrunde lagen. Deren § 4 lautete auszugsweise wie folgt:

"§ 4 Voraussetzung für den Anspruch auf Rechtsschutz

Soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, gilt:

(1) Anspruch auf Rechtsschutz besteht nach Eintritt eines Rechtsschutzfalles

...

(3) Es besteht kein Rechtsschutz, wenn

...

b) der Anspruch auf Rechtsschutz erstmals später als drei Jahre nach Beendigung des Versicherungsschutzes für den betroffenen Gegenstand der Versicherung geltend gemacht wird. ..."

3

Nachdem die Deutsche Rentenversicherung Bund (im Folgenden: DRV Bund) 2010 bei der Klägerin eine Beitragsüberwachung durchgeführt hatte, setzte sie mit Bescheid vom 23. Dezember 2011 gegen die Klägerin für den Zeitraum von Januar 2006 bis Dezember 2009 Nachforderungen zur Sozialversicherung (einschließlich Säumniszuschlägen) in Gesamthöhe von ca. 2,7 Mio. € fest. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Bescheid vom 26. April 2012, der Klägerin zugestellt am 2. Mai 2012, zurück.

4

Nachdem die Klägerin beim Sozialgericht mit Schriftsatz vom 4. Juni 2012 Klage gegen den Nachforderungsbescheid erhoben hatte, ersuchte sie die Beklagte mit anwaltlichem Schreiben vom 6. Juni 2012 für das sozialgerichtliche Verfahren erster Instanz um eine Deckungszusage, welche die Beklagte am 7. Juni 2012 verweigerte.

5

Die Klägerin begehrt - soweit im Revisionsverfahren noch von Belang - die Feststellung, die Beklagte habe ihr Versicherungsschutz für das sozialgerichtliche Verfahren zu gewähren, ferner die Erstattung bereits verauslagter Gerichtskosten in Höhe von 21.018 € nebst Zinsen.

6

Nach Auffassung der Beklagten ist der Rechtsschutzfall erst mit Erlass des Nachforderungsbescheides der DRV Bund - mithin nicht mehr in versicherter Zeit - eingetreten. Jedenfalls aber habe die Klägerin die Frist des § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 versäumt.

7

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat ihr auf die Berufung der Klägerin im Wesentlichen stattgegeben. Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

8

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

9

I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Entscheidung in VersR 2016, 790 veröffentlicht ist, ist der Rechtsschutzfall in versicherter Zeit eingetreten. Der dafür maßgebliche Verstoß gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften liege im Nichtabführen der Sozialversicherungsbeiträge durch die Klägerin und nicht erst im Erlass des Nachforderungsbescheides durch die DRV Bund, denn das der Klägerin angelastete Verhalten gebe dem Rechtsverstoß sein charakteristisches Gepräge und umschreibe entscheidend den Verfahrensgegenstand der sozialgerichtlichen Auseinandersetzung.

10

Dass nur die Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen von Januar bis September 2006 in den versicherten Zeitraum falle, stehe der Rechtsschutzverpflichtung der Beklagten nicht entgegen, da es insoweit lediglich auf den zeitlich ersten, noch in die versicherte Zeit fallenden Verstoß ankomme.

11

Die Ausschlussfrist des § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 habe die Klägerin nicht schuldhaft versäumt, weshalb sich die Beklagte nicht auf den Fristablauf berufen könne. Der in § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 verwendete Begriff des Geltendmachens des Anspruches auf Rechtsschutz setze eine vollständige und wahrheitsgemäße Unterrichtung über sämtliche Umstände des Rechtsschutzfalles unter Angabe von Beweismitteln voraus, die es dem Versicherer erlaube, eine abschließende Prüfung und Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren vorzunehmen. Dies sei hier frühestens nach Zurückweisung des Widerspruchs der Klägerin durch die DRV Bund denkbar, da zuvor weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit eines sozialgerichtlichen Verfahrens bestanden habe. Der Klägerin sei nach Erlass des Widerspruchsbescheides für die Frage, ob sie Klage erheben wolle, eine angemessene, der einmonatigen sozialgerichtlichen Klagefrist entsprechende Prüfungszeit zuzüglich einer weiteren Frist von zumindest zehn Tagen für die Abfassung eines auf Rechtsschutz gerichteten Schreibens an die Beklagte zuzubilligen gewesen, die die Klägerin gewahrt habe.

12

II. Das hält rechtlicher Nachprüfung jedenfalls in einem entscheidenden Punkt nicht stand.

13

Offen bleiben kann, ob der maßgebliche Zeitpunkt für den Eintritt des Versicherungsfalles im Berufungsurteil zutreffend bestimmt ist. Denn selbst wenn man mit dem Berufungsgericht annimmt, der Versicherungsfall sei in versicherter Zeit eingetreten, steht der Rechtsschutzverpflichtung der Beklagten entgegen, dass die Klägerin die in § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 geregelte dreijährige Ausschlussfrist für die Geltendmachung ihres Rechtsschutzanspruches versäumt und dies nicht ausreichend entschuldigt hat.

14

1. Nach § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 besteht kein Versicherungsschutz, wenn der Anspruch auf Rechtsschutz erstmals später als drei Jahre nach Beendigung des Versicherungsschutzes für den betroffenen Gegenstand der Versicherung geltend gemacht wird. Das ist hier der Fall, denn der Rechtsschutzversicherungsvertrag endete zum 1. Oktober 2006, das an die Beklagte gerichtete Rechtsschutzbegehren der Klägerin datiert auf den 6. Juni 2012.

15

a) Im Ansatz noch zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, die Beklagte könne den Ablauf dieser Ausschlussfrist nicht einwenden, wenn die Klägerin an dem Fristversäumnis kein Verschulden treffe (vgl. zu § 4 Abs. 4 ARB 75: Senatsurteil vom 15. April 1992 - IV ZR 198/91, VersR 1992, 819 unter II 1 [juris Rn. 19] m.w.N.).

16

b) Fraglich und in der Senatsrechtsprechung noch ungeklärt ist allerdings, ob die nach § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 zur Fristwahrung geforderte Geltendmachung des Rechtsschutzanspruches mehr verlangt als eine bloße Meldung des Versicherungsfalles, ob sie insbesondere - wie das Berufungsgericht und die Revisionserwiderung meinen - die Mitteilung aller Umstände und Beweismittel erfordert, die dem Versicherer eine Prüfung seiner Leistungsfähigkeit ermöglichen (vgl. einerseits Harbauer/Maier, Rechtsschutzversicherung 8. Aufl. § 4 ARB 2000 Rn. 153; Looschelders/Paffenholz in Looschelders/Paffenholz, ARB § 4 ARB 2010 Rn. 119; Bultmann in Terbille/Höra, Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht 3. Aufl. § 27 Rn. 321; Bauer, NJW 2003, 1491; Wendt, r+s 2008, 221, 225; andererseits LG München I VersR 2009, 674, 675; HK-VVG/Münkel, 3. Aufl. § 4 ARB 2010 Rn. 19; Armbrüster in Prölss/Martin, 29. Aufl. § 4 ARB 2010 Rn. 142; Plote in van Bühren/Plote, ARB 3. Aufl. § 4 ARB 2010 Rn. 57; Obarowski in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 37 Rn. 468). Zweifelhaft ist weiter, ob es den Versicherungsnehmer auch entschuldigt, wenn die fristgemäße Geltendmachung des Rechtsschutzanspruches daran scheitert, dass seine Voraussetzungen - wie hier - bis zum Fristablauf noch gar nicht entstanden sind.

17

c) Nimmt man mit dem Berufungsgericht an, die Klägerin sei bis zur Zustellung des Widerspruchsbescheides der DRV Bund schuldlos daran gehindert gewesen, den Anspruch auf Rechtsschutz in der von § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 geforderten Weise geltend zu machen, stellt sich schließlich die Frage, ob ihr - wie das Berufungsgericht meint - nach Wegfall des Hindernisses eine analog zur sozialgerichtlichen Klagefrist auf einen Monat zu bemessende Überlegungsfrist zuzubilligen wäre oder ob aus dem Erfordernis, die versäumte Handlung nach Wegfall des Hindernisses für die Fristwahrung unverzüglich nachzuholen, eine deutlich kürzere Überlegungszeit abzuleiten wäre.

18

Der Senat hat bereits zur 15-Monatsfrist für die Geltendmachung einer Invalidität in der Unfallversicherung entschieden, dass nach einer entschuldbaren Fristversäumung für den Versicherungsnehmer keine neue Frist zu laufen beginnt, sondern er die Invalidität nach Wegfall des Entschuldigungsgrundes unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, geltend machen muss (Senatsurteile vom 13. März 2002 - IV ZR 40/01, VersR 2002, 698 unter 3 b; vom 5. Juli 1995 - IV ZR 43/93, BGHZ 130, 171, 175). Es spricht viel dafür, dies auch auf die Ausschlussfrist des § 4 Abs. 3 Buchst. b ARB 2000 zu übertragen (Harbauer/Maier, Rechtsschutzversicherung 8. Aufl. § 4 ARB 2000 Rn. 151; Looschelders/Paffenholz in Looschelders/Paffenholz, ARB § 4 ARB 2010 Rn. 117; Plote in van Bühren/Plote, ARB 3. Aufl. § 4 ARB 2010 Rn. 58; Obarowski in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 37 Rn. 469; vgl. auch OLG Karlsruhe NJW-RR 2013, 1120, 1123 zu § 4 Abs. 4 ARB 75), weil es - wie auch die Revision beanstandet - insofern auf gesetzliche Fristen, etwa die sozialgerichtliche Klagefrist, die im Versicherungsverhältnis der Parteien nicht gelten, nicht ankommen kann.

19

2. Die vorstehenden Fragen müssen im Streitfall allerdings nicht geklärt werden. Denn das Berufungsgericht hat der Klägerin jedenfalls zu Unrecht eine zusätzliche Frist für die Abfassung ihres Rechtsschutzersuchens zugebilligt und erst wegen deren Wahrung ein Verschulden der Klägerin verneint.

20

a) Die tatrichterliche Beurteilung der Verschuldensfrage unterliegt im Revisionsverfahren unter anderem der Prüfung, ob der Berufungsentscheidung zutreffende Grundsätze zugrunde gelegt worden sind (vgl. Senatsurteil vom 11. Juni 2014 - IV ZR 400/12, VersR 2014, 951 Rn. 21).

21

b) Das ist hier nicht der Fall. Der vom Berufungsgericht angenommene Hinderungsgrund für die Geltendmachung des Rechtsschutzanspruches war spätestens mit der Zustellung des Widerspruchsbescheides an die Klägerin am 2. Mai 2012 entfallen. Insofern kommt es - anders als die Revisionserwiderung meint - nicht auf den Entschluss der Klägerin zur Klageerhebung und die Klageeinreichung selbst an, da die Erteilung der Deckungszusage es nicht erfordert, dass das sozialgerichtliche Verfahren bereits in die Wege geleitet ist.

22

Das ergibt sich auch aus § 17 Abs. 4 Satz 2 ARB 2000. Nach dieser Klausel trägt der Versicherer dann, wenn der Versicherungsnehmer bereits vor der Bestätigung des Umfangs des Rechtsschutzes Maßnahmen zur Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen ergreift und hierdurch Kosten entstehen, nur diejenigen Kosten, die bei einer Rechtsschutzbestätigung vor Einleitung dieser Maßnahmen entstanden wären. Daraus ergibt sich für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer, dass die Bedingungen davon ausgehen, dass die Rechtsschutzbestätigung im Regelfall erfolgt, bevor der Versicherungsnehmer Maßnahmen zur Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen ergreift.

23

Selbst wenn man der Klägerin unter Zurückstellung der vorstehend erläuterten Bedenken danach - analog zur Klagefrist des sozialgerichtlichen Verfahrens - noch eine Überlegungsfrist von einem Monat zubilligen wollte, hat sie diese verstreichen lassen. Das Berufungsgericht ist nur deshalb zu einer Entschuldigung des Fristversäumnisses gelangt, weil es der Klägerin ohne nähere Begründung und zu Unrecht noch eine weitere Frist von "zumindest zehn Tagen" für die Abfassung des Rechtsschutzersuchens an die Beklagte zugebilligt hat. Bei richtiger Betrachtung hat die Klägerin nicht unverzüglich gehandelt.

24

Denn jedenfalls für die weitere Frist bestand kein Anlass und kein Rechtsgrund. Vielmehr wäre die der Klägerin gewährte Überlegungsfrist von einem Monat in jedem Falle ausreichend gewesen, um sich nicht nur zur Geltendmachung des Rechtsschutzanspruches zu entschließen, sondern dies auch zu formulieren, ohne dass es hierfür noch einer gesonderten Frist für die Abfassung des Rechtsschutzersuchens bedurft hätte. Der Rechtsordnung ist es ohnehin fremd, Ausschlussfristen für die Abgabe rechtsgeschäftlicher Erklärungen um gesonderte Fristen zur Formulierung dieser Erklärungen zu ergänzen. Dass die Klägerin ab der Zu-stellung des Widerspruchsbescheides noch fünf Wochen wartete, bis sie ihr Rechtsschutzbegehren der Beklagten erstmals antrug, entbehrt deshalb einer ausreichenden Entschuldigung.

Felsch  

        

Harsdorf-Gebhardt  

        

Dr. Karczewski

        

Dr. Bußmann  

        

Dr. Götz  

        

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Bundesgerichtshof Urteil, 13. März 2002 - IV ZR 40/01

bei uns veröffentlicht am 13.03.2002

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL IV ZR 40/01 Verkündet am: 13. März 2002 Heinekamp Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja _

Bundesgerichtshof Urteil, 11. Juni 2014 - IV ZR 400/12

bei uns veröffentlicht am 11.06.2014

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL IV ZR400/12 Verkündet am: 11. Juni 2014 Heinekamp Justizhauptsekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja AVB Vertrauensschadenversicher

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 40/01 Verkündet am:
13. März 2002
Heinekamp
Justizobersekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
_____________________
Die Verjährung von Ansprüchen auf Invaliditätsleistungen aus einer Unfallversicherung
kann grundsätzlich nicht beginnen, bevor der Versicherungsnehmer die
nach den Versicherungsbedingungen für den Eintritt der Fälligkeit erforderlichen
Mitwirkungshandlungen vorgenommen hat.
Ein früherer Verjährungsbeginn kommt - abgesehen von einer vorherigen Leistungsablehnung
des Versicherers - nur in Betracht, wenn der Versicherungsnehmer
diese Mitwirkung treuwidrig unterläßt.
BGH, Urteil vom 13. März 2002 - IV ZR 40/01 - OLG Hamm
LG Dortmund
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden
Richter Terno, den Richter Dr. Schlichting, die Richterin
Ambrosius und die Richter Wendt und Felsch auf die mündliche Verhandlung
vom 13. März 2002

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. November 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung , auch über die Kosten des Revisionsverfahrens , an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger verlangt von der Beklagten Invaliditätsentschädigung aus einer Unfallversicherung, der die Allgemeinen UnfallversicherungsBedingungen 1961 (AUB 61) zugrunde liegen.
Am 6. März 1993 erlitt der Kläger bei einem Verkehrsunfall u.a. ein Schädelhirntrauma zweiten Grades. Im ärztlichen Erstbericht vom 7. April 1993 wurde festgestellt, daß der Unfall voraussichtlich eine dau-

ernde Beeinträchtigung (Invalidität) hinterlassen werde. Die Schwester des Klägers zeigte der Beklagten den Unfall am 23. März 1993 an. Im Anschluß an die stationären Klinikaufenthalte des Klägers rechnete die Beklagte mit Schreiben vom 20. August 1993 Krankenhaustagegeld und Genesungsgeld ab und wies zugleich darauf hin, daß ein Dauerschaden innerhalb von 15 Monaten ab dem Unfalltag geltend gemacht werden müsse.
Im Juli 1998 wurde für den Kläger ein Betreuungsverfahren eingeleitet. Das in diesem Verfahren eingeholte ärztliche Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß er infolge einer auf den Unfall zurückzuführenden hirnorganischen Schädigung als geschäftsunfähig anzusehen sei. Am 17. September 1998 wurde dem Kläger u.a. für Vermögensangelegenheiten ein Betreuer bestellt. Der von diesem beauftragte Rechtsanwalt machte mit Schreiben vom 23. November 1998 Invaliditätsleistungen geltend. Die Beklagte lehnte diese mit Schreiben vom 12. Februar 1999 ab, weil die 15-monatige Frist des § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 nicht eingehalten worden sei; der Kläger habe Invalidität nicht rechtzeitig geltend gemacht. Nachfolgend berief sie sich auch auf Verjährung.
Mit der am 15. Dezember 1999 zunächst über einen Teil des geltend gemachten Anspruchs eingereichten, mit der Berufungsbegründung am 5. September 2000 auf die volle Invaliditätsleistung von 300.000 DM erweiterten Klage beruft sich der Kläger darauf, er sei seit dem Unfall geschäftsunfähig beziehungsweise ohne Verschulden nicht in der Lage gewesen, den Anspruch geltend zu machen.

In beiden Vorinstanzen ist die Klage ohne Erfolg geblieben, weil der Anspruch gemäû § 12 Abs. 1 VVG verjährt sei. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:


Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Nach Ansicht des Berufungsgerichts kann dahinstehen, ob mit dem Anwaltsschreiben vom 23. November 1998 die Invalidität des Klägers noch fristgerecht geltend gemacht worden sei. Der Anspruch auf Invaliditätsleistung sei gemäû § 12 Abs. 1 VVG verjährt. Gehe man zugunsten des Klägers davon aus, daû die Invaliditätsleistung erst zu dem Zeitpunkt habe verlangt werden können, in dem auch der Grad der Invalidität festgestanden habe - nach Auffassung des Berufungsgerichts drei Jahre nach dem Unfall -, so habe der Lauf der zweijährigen Verjährungsfrist gemäû § 12 Abs. 1 Satz 2 VVG am 31. Dezember 1996 begonnen und grundsätzlich mit dem 31. Dezember 1998 geendet. Da der Kläger nach dem im Betreuungsverfahren eingeholten Gutachten zu diesem Zeitpunkt geschäftsunfähig gewesen sei und der Mangel seiner Vertretung erst am 17. September 1998 geendet habe, habe sich die Verjährungsfrist gemäû § 206 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. bis zum 17. März 1999 verlängert. Auûerdem sei die Verjährung von der Anmeldung des Anspruchs auf Invaliditätsleistung bis zur Leistungsablehnung der Beklag-

ten am 12. Februar 1999 gemäû § 12 Abs. 2 VVG gehemmt und damit jedenfalls Ende Juni 1999 vollendet gewesen. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
2. Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag verjähren gemäû § 12 Abs. 1 VVG in zwei Jahren. Nach Satz 2 dieser Vorschrift beginnt die Verjährung mit Schluû des Jahres, in welchem die Leistung verlangt werden kann. Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung nicht auf die Entstehung, sondern auf die Fälligkeit des Anspruchs an. Es muû also Klage auf sofortige Leistung erhoben werden können (vgl. nur BGH, Urteile vom 10. Mai 1983 - IVa ZR 74/81 - VersR 1983, 673 unter II; vom 14. April 1999 - IV ZR 197/98 - VersR 1999, 706 unter 2 a und zuletzt vom 27. Februar 2002 - IV ZR 238/00 - unter 1 b, zur Veröffentlichung vorgesehen, jeweils m.w.N.). Werden Leistungen, die ein Versicherer aus Anlaû eines Versicherungsfalls schuldet, zu unterschiedlichen Zeiten fällig, so laufen für die einzelnen Teilleistungen auch unterschiedliche Verjährungsfristen (Senatsurteil vom 14. April 1999 aaO).

a) Geldleistungen des Versicherers sind gemäû § 11 Abs. 1 VVG mit Beendigung der zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistung des Versicherers nötigen Erhebungen fällig. Diese Vorschrift ist in zulässiger Weise (§ 15 a VVG) durch die §§ 11 und 13 Abs. 1 AUB 61 modifiziert worden (vgl. BGH, Urteile vom 4. November 1987 - IVa ZR 141/86 - VersR 1987, 1235 unter 3 und - zu § 11 AUB 88 - vom 22. März 2000 - IV ZR 233/99 - VersR 2000, 753 unter 2 c). Gemäû § 13 Abs. 1 AUB 61 wird die Entschädigung zwei Wochen nach ihrer Feststellung gemäû §§ 11 und 12 AUB 61 gezahlt. Die Feststellung des

Versicherers erfolgt, soweit Invaliditätsentschädigung beansprucht wird, innerhalb von drei Monaten nach Eingang der vom Anspruchsteller gemäû § 11 Satz 2 AUB 61 beizubringenden Unterlagen. Somit hängen der Eintritt der Fälligkeit und damit auch der Verjährungsbeginn - wenn der Versicherer nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt die Leistung endgültig und umfassend abgelehnt hatte (vgl. Senatsurteil vom 27. Februar 2002 aaO unter 1 b) - von bestimmten vorausgehenden Handlungen des Anspruchstellers ab. Ein früherer Verjährungsbeginn in Fällen, in denen diese Mitwirkung unterbleibt, ergibt sich weder aus den vereinbarten Versicherungsbedingungen noch aus den gesetzlichen Verjährungsvorschriften. Die Verjährung kann deshalb grundsätzlich nicht vor den Mitwirkungshandlungen des Anspruchstellers zu laufen beginnen, selbst wenn diese über einen längeren Zeitraum hinweg nicht vorgenommen werden.
aa) Für die Auffassung des Berufungsgerichts, es sei darauf abzuheben , wann der Kläger die Invaliditätsleistung spätestens hätte verlangen können, gibt es keine Rechtsgrundlage; zudem bliebe unklar, wonach sich der hierfür maûgebliche Zeitpunkt bestimmen soll. Ebensowenig geht es an, die Verjährung - etwa in Anlehnung an die für die Nichtausübung eines Kündigungs- oder Anfechtungsrechts geltenden Bestimmungen der §§ 199, 200 BGB a.F. - bereits mit der Möglichkeit beginnen zu lassen, die erforderlichen Unterlagen einzureichen. Denn dadurch würde beim zögernden Anspruchsteller der Verjährungsbeginn in einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Weise vorverlegt (vgl. Senatsurteil vom 4. November 1987 aaO unter II 3). Schlieûlich kann nicht auf ein etwaiges Verschulden des Versicherungsnehmers abgestellt werden.

Andernfalls würde ein dem Gesetz in diesem Zusammenhang fremdes Merkmal eingeführt, das auch nicht verläûlich genug die Feststellung des maûgeblichen Zeitpunkts gestatten würde (BGH, Urteile vom 4. November 1987 aaO VersR 1987, 1235 unter 3 und vom 19. Januar 1994 - IV ZR 117/93 - VersR 1994, 337 unter 2 c). Eine Vorverlegung des Verjährungsbeginns kann nur in Betracht kommen, wenn der Versicherungsnehmer durch das Unterlassen seiner "Mitwirkung" gegen die allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben verstöût (§§ 162 Abs. 1, 242 BGB; vgl. Römer in Römer/Langheid, VVG § 12 Rdn. 11). Die Darlegungs - und Beweislast für einen solchen Verstoû trägt der Versicherer, der sich auf die Einrede der Verjährung beruft (vgl. Römer aaO).
bb) Diese Abhängigkeit der Fälligkeit eines Leistungsanspruchs und damit des Verjährungsbeginns von einer vorausgehenden Handlung des Gläubigers ist keine Besonderheit des Versicherungsvertragsrechts. Auch in anderen Fällen entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, daû die Verjährung ohne die an sich vorgesehene Handlung des Gläubigers grundsätzlich, also abgesehen von einem treuwidrigen Verhalten, nicht beginnen kann (vgl. zur vereinbarten "Zahlung gegen Dokumente" beim Kaufvertrag BGHZ 55, 340, 343 f.; zur Schluûrechnung des Auftragnehmers beim VOB-Werkvertrag Urteile vom 24. Mai 1971 - VII ZR 155/70 - NJW 1971, 1455 unter 2 d und vom 16. Juni 1977 - VII ZR 66/76 - WM 1977, 1053 unter 2; zur Honorarschluûrechnung des Architekten Urteile vom 19. Juni 1986 - VII ZR 221/85 - WM 1986, 1388 unter 2 und vom 11. November 1999 - VII ZR 73/99 - WM 2000, 675 unter II 3 a; zur Heizkostenrechnung des Vermieters BGHZ 113, 188, 195 ff.). Denn es gibt gerade keinen allgemei-

nen Grundsatz, daû bei Ansprüchen mit einer von der Disposition des Gläubigers abhängenden Fälligkeit die Verjährung schon in dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Gläubiger die Fälligkeit herbeiführen kann (BGH, Urteil vom 8. Juli 1981 - VIII ZR 222/80 - NJW 1982, 930 unter II 2 b bb; BGHZ 113, 188, 195 sowie Urteil vom 11. November 1999 aaO WM 2000, 675 unter II 3 a (3)).

b) Der Kläger hat die Invaliditätsleistung erstmals mit Schreiben vom 23. November 1998 geltend gemacht. Die Beklagte hat die Leistung mit Schreiben vom 12. Februar 1999 abgelehnt. Folglich konnte die Verjährung gemäû § 12 Abs. 1 Satz 2 VVG nicht vor Ablauf des Jahres 1999 beginnen. Ein treuwidriges Verhalten des Klägers ist den bisherigen Feststellungen nicht zu entnehmen. Die verspätete Geltendmachung der Invalidität allein genügt hierfür nicht. Treuwidrigkeit scheidet von vornherein aus, wenn er tatsächlich unfallbedingt gehindert war, die zur Feststellung der Leistungspflicht der Beklagten erforderlichen Handlungen vorzunehmen. Bei dieser Sachlage ist der - für die Revision zu unterstellende - Leistungsanspruch des Klägers nicht verjährt. Vielmehr haben die Klage und die Klageerweiterung im zweiten Rechtszug die Verjährung gemäû § 209 Abs. 1 BGB a.F. unterbrochen.
3. Das Berufungsurteil erweist sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig (§ 563 ZPO a.F.).

a) Vom Eintritt der am 7. April 1993 ärztlich festgestellten unfallbedingten Invalidität des Klägers innerhalb eines Jahres seit dem Un-

falltag gemäû § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 ist nach seinem zwar bestrittenen, aber unter Beweis gestellten Vortrag für die Revision auszugehen.

b) Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht die Versäumung der 15-monatigen Frist zur Geltendmachung der Invalidität gemäû § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 entgegen. Die Frist ist eine Ausschluûfrist, deren Versäumen unbeachtlich bleibt, wenn der Versicherungsnehmer ausreichend entschuldigt ist (BGHZ 130, 171, 173 f.; Senatsurteil vom 19. November 1997 - IV ZR 348/96 - VersR 1998, 175 unter 2 b cc). Es kommt daher auf die streitige und unter Beweis gestellte Behauptung des Klägers an, er sei seit dem Unfall geschäftsunfähig beziehungsweise unverschuldet nicht in der Lage gewesen, den Anspruch geltend zu machen.
Daû seine Schwester, die der Beklagten den Unfall gemeldet hatte , nicht auch die Invalidität des Klägers geltend gemacht hat, ist ihm nicht zuzurechnen. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, die Schwester als seine Vertreterin oder Repräsentantin anzusehen (zum Repräsentantenbegriff vgl. Senatsurteil vom 10. Juli 1996 - IV ZR 287/95 - VersR 1996, 1229 unter 2 b m.w.N.).
Allerdings beginnt bei entschuldbarer Fristversäumung keine neue Frist. Vielmehr muû der Versicherungsnehmer die Geltendmachung der Invalidität nach Wegfall des Entschuldigungsgrundes unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, nachholen (BGHZ 130, 171, 175). Der von dem Kläger behauptete Entschuldigungsgrund war spätestens mit der Bestellung des Betreuers am 17. September 1998 behoben. Zwar wurde

die Invalidität erst mit Anwaltsschreiben vom 23. November 1998 geltend gemacht. Das ist jedoch entgegen der Revisionserwiderung den bisher festgestellten Umständen nach noch als unverzüglich anzusehen. Denn der Betreuer musste sich erst einarbeiten, was nach den beigezogenen Betreuungsakten nicht ohne Schwierigkeiten möglich war.
4. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, den Beweisangeboten des Klägers zum bedingungsgemäûen Eintritt der Invalidität sowie zur Entschuldigung der Überschreitung der Geltendmachungsfrist gemäû § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen.
Terno Dr. Schlichting Ambrosius
Wendt Felsch
21
b) Der Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterfällt dabei jedoch die Frage, ob das Berufungsgericht die für ein etwaiges Verschulden maßgeblichen Umstände vollständig gewürdigt und ob es der Prüfung fehlenden Verschuldens zutreffende Grundsätze zugrunde gelegt hat. Beides ist im Streitfall zu verneinen.