Bundessozialgericht Beschluss, 09. Nov. 2010 - B 2 U 221/10 B

bei uns veröffentlicht am09.11.2010

Tenor

Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Mai 2010 (L 3 U 153/09) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist, ob der Verkehrsunfall des Klägers vom 5.9.2005 als Arbeitsunfall festzustellen ist.

2

Der Kläger war Mitarbeiter des Bauhofs einer Gemeinde. Er erlitt am 5.9.2005 auf dem Weg von der Arbeitsstelle nach Hause gegen 15.50 Uhr einen Verkehrsunfall. Dabei zog er sich ua eine Fraktur der Halswirbelsäule zu. Er wurde am Unfalltag gegen 20.30 Uhr stationär im Krankenhaus aufgenommen. Dabei wurde eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,5 Promille festgestellt. Die Beklagte hat die Feststellung eines Arbeitsunfalls abgelehnt (Bescheid vom 23.3.2006, Widerspruchsbescheid vom 10.7.2006). Das SG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 16.3.2009). Die Berufung des Klägers ist erfolgreich gewesen. Das LSG hat ua festgestellt, dass der Verkehrsunfall vom 5.9.2005 ein Arbeitsunfall ist. Den von der Beklagten hilfsweise gestellten Antrag, ein Sachverständigengutachten unter stationären Bedingungen zum Thema "Fahruntauglichkeit infolge bestehender Alkoholerkrankung" einzuholen, hat das LSG abgelehnt.

3

Die Beklagte hat Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG eingelegt. Sie macht als Verfahrensfehler geltend, das LSG habe ohne hinreichende Gründe ihren Beweisantrag abgelehnt. Der Kläger tritt der Beschwerde entgegen.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG sowie Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg.

5

Der von der Beklagten formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) liegt vor.

6

Das LSG hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) verletzt, indem es zur Frage der absoluten Fahruntüchtigkeit des Klägers nicht das von der Beklagten bis zuletzt beantragte Sachverständigengutachten eingeholt hat (1.). Auf diesem Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung beruhen (2.).

7

1. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hilfsweise den Antrag gestellt: " …ein verkehrsmedizinisch-psychologisches Sachverständigengutachten unter stationären Bedingungen zum Thema 'Fahruntauglichkeit infolge bestehender Alkoholerkrankung' einzuholen, z.B. in der Fachklinik Enzensberg, zum Beweisthema 'absolute Fahruntauglichkeit des Klägers zum Unfallzeitpunkt wegen der bestehenden Alkoholkrankheit' …".

8

Das LSG hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, das Gutachten könne eine zeitnahe Bestimmung der BAK nicht ersetzen. Nach den vorliegenden "Beweisanzeichen" sei der Beweis nicht erbracht. Die Beklagte trage die Folgen der Nichterweislichkeit absoluter Fahruntüchtigkeit.

9

Die Begründung des LSG für die Ablehnung des Beweisantrags, das Gutachten könne die zeitnahe Bestimmung nicht ersetzen, reicht nicht aus, den Beweisantrag abzulehnen. Das LSG hat festgestellt, dass beim Kläger eine Alkoholerkrankung bestand und er sich im Unfallzeitpunkt als Führer eines Kraftfahrzeugs auf einem versicherten Weg befand. Der sachliche Zusammenhang mit dem nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weg wäre ausgeschlossen, wenn er zum Unfallzeitpunkt absolut oder relativ fahruntüchtig gewesen wäre. Zwar sei aufgrund bestehender Alkoholerkrankung nicht auszuschließen, dass der Kläger im Unfallzeitpunkt fahruntüchtig war, der Nachweis des alkoholbedingten Leistungsabfalls sei aber nicht erbracht.

10

Das LSG hätte sich ausgehend von dieser Rechtsauffassung gedrängt sehen müssen, dem Beweisantrag zu folgen und Beweis über die Frage zu erheben, ob sich das umstrittene Vorliegen absoluter Fahruntauglichkeit durch die beantragte Begutachtung - ggf unter stationären Bedingungen - klären lässt. Denn die Entscheidung des LSG steht oder fällt mit der Frage, ob der Kläger infolge der Alkoholkrankheit im Unfallzeitpunkt absolut fahruntüchtig war.

11

Die Beklagte hat einen auf den Nachweis dieser Umstände gerichteten Beweisantrag gestellt und bis zuletzt aufrechterhalten. Die Beklagte hat ein Beweismittel bezeichnet, mit dem die zu klärende Frage möglicherweise hätte weiter aufgeklärt werden können. Ein Sachverständigengutachten ist einerseits ein geeignetes Beweismittel, um von einer später gemessene BAK auf diejenige im Unfallzeitpunkt zurückzurechnen (Möglichkeit der Rückrechnung vorausgesetzt in: BGH vom 25.5.2007 - 1 StR 126/07 - NStZ 2007, 639; zu den Methoden der Rückrechnung BGH vom 15.6.1988 - IVa ZR 8/87 - VersR 1988, 950 ; BGHSt 25, 246 , 250 f). Auch lässt sich ohne Einholung medizinischen Sachverstands nicht ausschließen, dass die konkret beim Kläger vorliegende Art der Alkoholerkrankung dem Sachverständigen einen Rückschluss auf die Fahrtauglichkeit oder -untauglichkeit im Unfallzeitpunkt erlaubt.

12

Das LSG hat keine hinreichenden Gründe für die Ablehnung des Beweisantrags der Beklagten benannt. Weder bestehen an der Geeignetheit des Beweismittels Zweifel, noch kann die Gesamtbetrachtung aller "Beweisanzeichen" die Ablehnung begründen, da die sog Beweisanzeichen nur bei der Feststellung der relativen Fahruntüchtigkeit erheblich sind. Auf deren Nachweis zielte der Beweisantrag nicht ab. Wenn aber eine absolute Fahruntüchtigkeit des Klägers "in Betracht kommt", ist nicht hinreichend begründet, weshalb das LSG den beantragten, geeigneten und erreichbaren Sachverständigenbeweis nicht erhoben hat.

13

2. Die angefochtene Entscheidung des LSG kann auf dem Verfahrensmangel - wie die Beklagte gezeigt hat - beruhen. Hätte das LSG den Sachverhalt durch Einholung eines Sachverständigengutachtens weiter aufgeklärt, wären möglicherweise die von der Beklagten aufgezeigten Erkenntnisse gewonnen worden, was zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung hätte führen können.

14

Danach liegen die Voraussetzungen vor, unter denen nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG die Revision zuzulassen ist. Zugleich ist der Weg nach § 160a Abs 5 SGG eröffnet. Der Senat kann das angefochtene Urteil durch Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (vgl auch BSG vom 20.7.2005 - B 9a VG 7/05 B).

15

Von dieser Möglichkeit macht der Senat Gebrauch. Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um Tatsachenfeststellungen zur Bewertung der Fahrtüchtigkeit im Zeitpunkt des Unfalls geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache. Das LSG wird Gelegenheit haben, die Beweiserhebung zum Bestehen absoluter Fahruntüchtigkeit nachzuholen und auch prüfen müssen, ob ein Sachverständiger Rückschlüsse von einer später genommenen Blutprobe auf die BAK zum Zeitpunkt eines bestimmten Ereignisses zu ziehen vermag.

16

Das LSG hat auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden.

Urteilsbesprechung zu Bundessozialgericht Beschluss, 09. Nov. 2010 - B 2 U 221/10 B

Urteilsbesprechungen zu Bundessozialgericht Beschluss, 09. Nov. 2010 - B 2 U 221/10 B

Referenzen - Gesetze

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160a


(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 103


Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.
Bundessozialgericht Beschluss, 09. Nov. 2010 - B 2 U 221/10 B zitiert 6 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

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Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 8 Arbeitsunfall


(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem G

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Bundesgerichtshof Urteil, 25. Mai 2007 - 1 StR 126/07

bei uns veröffentlicht am 25.05.2007

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 126/07 vom 25. Mai 2007 in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Mai 2007, an der teilgenommen haben: Vorsi

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Wird die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt, besteht Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte.

(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch

1.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
2.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
a)
Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder
b)
mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
2a.
das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort, an dem Kinder von Versicherten nach Nummer 2 Buchstabe a fremder Obhut anvertraut werden, wenn die versicherte Tätigkeit an dem Ort des gemeinsamen Haushalts ausgeübt wird,
3.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,
4.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben,
5.
das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.

(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 126/07
vom
25. Mai 2007
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Mai 2007,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Boetticher,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Nebenklägervertreter,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 2. November 2006 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts Konstanz zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.
2
Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten Revision eingelegt, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt. Sie erstrebt eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

II.


3
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
4
Am Tattag war der Angeklagte, ein syrischer Staatsangehöriger, 20 Jahre und fünf Monate alt. Am Abend des 16. August 2005 feierte er in einer Gaststätte in Villingen-Schwenningen u.a. mit dem Zeugen M. einen Geburtstag. Gegen 20.00 Uhr zog er an einem Joint. Er trank Whiskey, Wodka und Rotwein. Nach Mitternacht ließ er sich und den Zeugen M. von dem Zeugen E. zu einer Tankstelle chauffieren. Alle drei verließen das Fahrzeug und holten sich am Nachtschalter etwas zu essen und alkoholfreie Getränke. Danach standen sie am Rande der Anlage und unterhielten sich. Kurz vor 1.54 Uhr kam der damals 24-jährige B. H. - der Nebenkläger - auf sie zu. Er hatte zuvor in einer anderen Gruppe in derselben Gaststätte gezecht. Er schrie den Angeklagten, der ihm bis dahin unbekannt war, ohne jeden Anlass mit Ausdrücken wie "Arsch, kleiner Pisser, Stinker, Fixer" an und schubste ihn mehrfach weg. Obwohl der Angeklagte die beträchtliche Alkoholisierung des Nebenklägers erkannte - dieser hatte eine Blutalkoholkonzentration von etwas mehr als 2,53 Promille - stieß er gegen den Angreifer und gewann die Oberhand. Er schlug ihm so heftig mit der Faust ins Gesicht, dass dieser zu Boden ging und mit dem Hinterkopf auf einen Randstein aufschlug. Der Angeklagte trat dann mehrfach mit den Füßen, an denen er festes Schuhwerk trug, auf den Kopf, in das Gesicht und in die Bauchgegend des am Boden Liegenden ein. Seinen beiden Begleitern gelang es schließlich, den Angeklagten vom Opfer wegzuziehen. Momente später stand der Nebenkläger, der nun am Kopf blutete, auf und ging schwankend auf den Angeklagten zu. Dieser konnte sich aus der Umklammerung seiner Begleiter losreißen. Seine Wut steigerte sich. Er war jetzt entschlossen , seinen Kontrahenten zu töten. Er sprang mit dem Ruf "Ich bring Dich um" oder "Ich schlag Dich tot" auf ihn zu und streckte ihn mit mindestens einem Faustschlag ins Gesicht zu Boden. Das Opfer fiel mit dem Hinterkopf mit solcher Wucht auf eine Betonplatte, dass ein Bersten des Schädels zu hören war.
Es blieb bewusstlos liegen. Der Angeklagte schrie weiter mehrfach herum und wollte erneut auf den Nebenkläger eintreten, was seine beiden Begleiter unter großer Kraftanstrengung verhindern konnten.
5
Als der Angeklagte nach der Tat darauf hingewiesen wurde, dass die Tankstelle über eine Videoüberwachungsanlage verfüge, flüchtete er in die nähere Umgebung, bevor er festgenommen werden konnte. Die Auswertung der Videoüberwachung war allerdings unergiebig.
6
Das Opfer erlitt u.a. ein Schädelhirntrauma, eine Schädelfraktur mit Schädelbasisfraktur und eine Hörminderung beiderseits. Es befand sich in Lebensgefahr und konnte nur durch eine äußerst zeitnahe Notoperation gerettet werden. Sein Hörvermögen ist dauerhaft rechts um 60 % und links um 80 % vermindert.
7
Die dem Angeklagten entnommene Blutprobe ergab bei Rückrechnung auf die Tatzeit eine maximale Blutalkoholkonzentration von 1,74 Promille. Sie wies außerdem ein positives Ergebnis hinsichtlich von Cannabinoiden auf.
8
2. Auf Grund dieser Feststellungen bejaht die Jugendkammer für den ersten Angriff einen Körperverletzungsvorsatz, der auch die Qualifikationsmerkmale des gefährlichen Werkzeugs (festes Schuhwerk) und der lebensgefährdenden Behandlung umfasst (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB). Sie nimmt - sachverständig beraten - an, zu Beginn der Auseinandersetzung sei die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auf Grund eines Zusammenwirkens verschiedener Alkoholika und des Konsums von Cannabis erheblich vermindert gewesen (§ 21 StGB). Ab dem Zeitpunkt, in dem der Nebenkläger nach dem Niederschlag wieder aufstand - beim zweiten Angriff -, geht sie zwar vom Tötungsvorsatz des Angeklagten aus, gelangt aber zu der Überzeugung, dass nunmehr seine Steuerungsfähigkeit nicht ausschließbar völlig aufgehoben war (§ 20 StGB). Die Überzeugung begründet sie damit, der Angeklagte habe sich in diesen Zustand gesteigert auf Grund der durch die tätliche Auseinandersetzung eingetretenen Erregung und auf Grund der durch die Beleidigungen angestachelten Wut.
9
Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung zur Sache eingelassen , aber teilweise Erinnerungslücken geltend gemacht, was die Kammer ihm abnimmt. Sie ist davon überzeugt, das Motiv seines Handelns war Wut.

III.

10
1. Die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
11
Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Sie ist etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt sind. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen nahe liegende Schlussfolgerung nicht gezogen ist, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr., BGH NStZ-RR 2003, 371; BGH NStZ 2004, 35, 36 m.w.N.).
12
Die Kammer hätte einen Tötungsvorsatz des Angeklagten schon zu Beginn der tätlichen Auseinandersetzung in ihre Erwägungen einbeziehen müssen. Insoweit ist die Beweiswürdigung lückenhaft.
13
Äußerst gefährliche Gewalthandlungen legen trotz der hohen Hemmschwelle hinsichtlich der Tötung eines Menschen die Annahme von zumindest bedingtem Tötungsvorsatz nahe (st. Rspr., BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz bedingter 3, 33, 38 jeweils m.w.N.). Der Täter handelt bereits dann mit bedingtem Vorsatz, wenn er den Erfolgseintritt als nur möglich und nicht ganz fern liegend erkennt, gleichwohl sein gefährliches Handeln fortsetzt und einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Das gefährliche Handeln des Angeklagten, nachdem er seinen Gegner erstmals zu Boden gestreckt hatte, nämlich das mehrfache Eintreten mit festem Schuhwerk auf den Kopf, in das Gesicht und in die Bauchgegend des wehrlosen Opfers, ist hier ein gewichtiges Beweisanzeichen für einen bedingten Tötungsvorsatz. Auch der Tatsache, dass er nicht freiwillig von seinem Opfer abließ, sondern schon im ersten Teilakt durch seine Begleiter weggezogen werden musste, kann ein hoher Indizwert für die innere Einstellung des Angeklagten gegenüber der Tötung seines Opfers zukommen. Das gewollte weitere Tun legt es nahe, dass ihm die Folgen seiner Tat - der mögliche Tod des Opfers - zumindest gleichgültig waren. Dies würde für die Annahme von bedingtem Vorsatz genügen (BGHSt 40, 304, 306; BGH, Urt. vom 30. August 2006 - 2 StR 198/06) und war deshalb erörterungsbedürftig.
14
Wenn die Kammer für den ersten Teilakt eine gefährliche Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung bejaht, so geht sie davon aus, dass die Tat in der Vorstellung des Angeklagten auf eine Lebensgefährdung "angelegt" war (BGHSt 36, 262, 265). Demnach erkannte der Angeklagte trotz seiner Wut und seiner sonstigen psychischen Verfassung - Einfluss von Alkohol und Cannabis - die Lebensgefährlic hkeit seiner Tritte. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte dennoch darauf vertrauen konnte, der Nebenkläger werde nicht zu Tode kommen, hat das Landgericht nicht festgestellt.
15
2. Schon die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ist nicht frei von Rechtsfehlern.
16
Die Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der erfolgte Konsum von Cannabis die Wirkungen des getrunkenen Alkohols so erheblich zu einer explosiven Mischung verstärkt hat, dass zu Beginn der Begehung der Straftat der gefährlichen Körperverletzung das Steuerungsvermögen des Angeklagten erheblich vermindert gewesen sei. Dem hat sich die Kammer angeschlossen (UA S. 9). Die Ausführungen lassen besorgen, dass dem Tatrichter nicht bewusst war, dass es sich bei der Frage, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit "erheblich" im Sinne von § 21 StGB ist, um eine Rechtsfrage handelt, die der Tatrichter - ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen - in eigener Verantwortung zu entscheiden hat (st. Rspr., BGHSt 43, 66, 77 m.w.N.). Dabei fließen normative Überlegungen ein. Dies lässt das Urteil nicht erkennen.
17
3. Eine nicht ausschließbare Schuldunfähigkeit des Angeklagten ab dem Zeitpunkt, in dem der Nebenkläger wieder aufstand, ist nicht tragfähig begründet. Die Ausführungen hierzu sind widersprüchlich und unklar. Die Annahme der Steigerung von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit in einen Zustand des völligen Ausschlusses ist nicht nachvollziehbar.
18
Nach dem festgestellten objektiven Tatgeschehen erfolgten die Beleidigungen durch das Opfer vor dem ersten Faustschlag des Angeklagten (UA S. 4). Nach der Überzeugung der Kammer geriet er dadurch in Wut, sodass die Wut das Motiv seines gesamten Handelns war (UA S. 10, 11). Weitere Beleidi- gungen hat das Landgericht nicht festgestellt. Somit können Beleidigungen seine Wut oder Erregung nicht weiter gesteigert haben (UA S. 9). Das gilt auch für den Verlauf der tätlichen Auseinandersetzung, den die Kammer hier widersprüchlich zu den getroffenen Feststellungen heranzieht. Der Angeklagte hat sich entgegen UA S. 9 nach den Fußtritten nicht freiwillig vom Opfer zurückgezogen , sondern wurde durch seine Begleiter zurückgezogen (UA S. 4). Das Verhalten des Angeklagten legt eher einen anhaltenden Willen nahe, den Nebenkläger endgültig auszuschalten.
19
4. Danach war das Urteil auf die Sachrüge der Staatsanwaltschaft wegen der den Angeklagten begünstigenden Rechtsfehler aufzuheben. Nach den bisherigen Feststellungen liegt es nicht fern, dass es sich um ein einheitliches Tatgeschehen mit durchgängigem Tötungsvorsatz handelt. Die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit drängt sich jedenfalls unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht auf.
20
Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten sind nicht erkennbar geworden (§ 301 StPO). Nack Wahl Boetticher Hebenstreit Elf

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.