Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 13. Okt. 2016 - L 3 R 330/14

ECLI:ECLI:DE:LSGST:2016:1013.L3R330.14.00
bei uns veröffentlicht am13.10.2016

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) streitig.

2

Die am ... 1956 geborene Klägerin absolvierte nach dem Abschluss der 10. Schulklasse ab dem 1. September 1972 erfolgreich eine Ausbildung zur Zootechnikerin für industrielle Geflügelproduktion und erwarb die Facharbeiterqualifikation als Zootechniker - Mechanisator der industriemäßigen Geflügelproduktion (Facharbeiterzeugnis vom 15. Juli 1974). Anschlie-ßend arbeitete sie im erlernten Beruf im Volkseigenen Betrieb (VEB) Frischeeierproduktion G. und war in die Lohngruppe 4 eingestuft. Von 1981 bis 1983 nahm sie nebenberuflich an zwei Tagen in der Woche an einer Qualifizierung teil und arbeitete seit dem 1. Juli 1982 als stellvertretende Meisterin im Bereich Produktion mit der Entlohnung nach der Lohngruppe 5. Am 25. Oktober 1983 erhielt sie die Urkunde als Meister der Geflügelproduktion. Eine weitere Änderung ihrer Entlohnung erfolgte nicht. Zusätzlich zu den bisher ausgeübten Tätigkeiten bestellte die Klägerin als Meisterin Futter für die Tiere und führte die Abrechnungen der Mitarbeiter durch. Überwiegend (sieben von acht Stunden) nahm die Klägerin körperlich schwere Arbeiten wahr. Sie ging durch den Stall und kontrollierte den Gesundheitszustand der Hühner und die Qualität der Eierschalen, säuberte die Ställe und stellte Futtersilos ein. Sie musste Eier in Paletten stapeln, in Container verladen und diese durch den Stall ziehen. Als Meisterin war die Klägerin nur noch alle zwei Tage mit der Säuberung der Ställe beschäftigt.

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Ausweislich der Angaben im Sozialversicherungsausweis der Klägerin war diese vom 16. Juni bis zum 9. Juli 1984 wegen eines Unfalls (Diagnose 927 ICD-8) mit Gehirnerschütterung und vom 16. bis zum 28. Juli 1985 wegen einer Grippeerkrankung sowie vom 30. Oktober bis zum 15. Dezember 1985 infolge einer Handquetschung (Diagnose Handgelenksversteifung 727 ICD-8) arbeitsunfähig. Der Betriebsarzt bescheinigte ihr am 10. Dezember 1985, dass sie für drei Wochen keine körperlich schweren Arbeiten mehr verrichten könne. Sie kündigte ihr Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen mit Schreiben vom 24. März zum 4. April 1986. Anschließen sind vom 5. April 1986 bis zum 31. Mai 1988 im Versicherungskonto der Klägerin keine versicherungsrechtlich beachtlichen Zeiten festgestellt. Sie war zu dieser Zeit zu Hause, hatte einen großen Garten und Nutztiere (Kaninchen). Vom 1. Juni 1988 bis zum 31. Dezember 1989 war die Klägerin im selben Betrieb zunächst als Mitarbeiterin im Bereich TWKD (Technischer Wach- und Kontrolldienst) beschäftigt. Sie war zu dieser Zeit als Pförtnerin tätig. Im Rahmen dessen musste sich auch die Lastkraftwagen vor und nach dem Beladen wiegen und die LKW-Waage säubern. Zum 1. Januar 1990 wechselte die Klägerin zur Poststelle und war nach Umwandlung des Betriebs in die L.-GmbH vom 1. September 1991 bis zur Betriebsschließung 1997 als Kommissionierin und Lagerarbeiterin tätig. Sie erhielt eine Vergütung nach der innerbetrieblichen Lohngruppe 5. Sie fuhr die verpackten Eier mit einer Rollpalette zur Abholstelle der LKW-Fahrer, betreute den Warenein- und -ausgang, bestellte u.a. Verpackungen und verkaufte Eier an Einzelhändler, Betriebsangehörige und Privatleute. Sie trug die Verantwortung für die tägliche Bestandsüberprüfung der Eier und Pappen. Für diese Tätigkeiten konnte sie von ihren Kenntnissen aufgrund ihrer erworbenen Ausbildung profitieren. Ab 1997 war die Klägerin arbeitslos.

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Am 5. Mai 2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte holte einen Befundbericht der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. H. vom 23. Juni 2010 und ein augenfachärztliches Gutachten des Facharztes für Augenheilkunde und Arbeitsmedizin Dr. M. vom 23. Juli 2010 ein. Dr. H. teilte als Diagnosen mit: hochgradige Sehschwäche, Weitsichtigkeit, Stabsichtigkeit, Alterssichtigkeit, Fehlbildung des Sehnervkopfes mit Sehnervschwund und Augenhochdruck. Die Klägerin könne aufgrund der Sehbehinderung nicht mehr im erlernten Beruf tätig sein. Dr. M. stellte eine Sehschwäche (Amblyopie I. II. Grades rechts), eine Visusherabsetzung beidseits bei hoher Übersichtigkeit (Hyperopie, Weitsichtigkeit), Stabsichtigkeit (Astigmatismus, Hornhautverkrümmung), ein "trockenes Auge", einen grünen Star sowie eine beginnende Linsentrübung jeweils beidseits und eine unklare periphere Gesichtsfeldeinschränkung beidseits fest. Es dränge sich der Verdacht der Aggravation auf, da zwischen den mitgeteilten Befunden von Dr. H. und den von ihm - Dr. M. - festgestellten gutachterlichen Befunden eine erhebliche Diskrepanz bestehe. So habe Dr. H. eine Sehschärfe rechts von 0,1 und links von 0,2 mitgeteilt. Er habe dagegen rechts eine Sehschärfe von 0,3 und links von 0,4 ermittelt. Auch hinsichtlich der Gesichtsfeldeinschränkungen lägen verschiedene Werte vor. Dr. H. habe eine Einengung von 20 Grad rechts und 30 Grad links mitgeteilt. Er - Dr. M. - habe jedoch eine Ge-sichtsfeldeinschränkung von 7 Grad rechts und 14 Grad links festgestellt. Die Klägerin habe sich während der Untersuchung sicherer bewegt, als dies bei dieser festgestellten Sehbe-hinderung zu erwarten gewesen wäre und bei der Kontrolluntersuchung zur Bestimmung der Gesichtsfeldeinschränkungen Angaben gemacht, die nicht den physiologischen Gesetzes entsprächen (Aggravationstest). Eine Abklärung in einer universitären Augenklinik sei daher erforderlich.

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Am 6. September 2010 befand sich die Klägerin in der Universitätsklinik und Poliklinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums H. in ambulanter Behandlung. Ausweislich des Befundberichtes vom 18. Oktober 2010 wurde bei der Klägerin eine Sehschärfe von 0,25 rechts und 0,2 links festgestellt. Sie leide unter unklaren Gesichtsausfällen. Sowohl im Goldmanngesichtsfeld als auch im 30-Grad-Gesichtsfeld habe sich eine starke zirkuläre Gesichtsfeldeinschränkung (kleiner 10 Grad) gezeigt. Die Gesichtsfeldangabe im ein- und zwei-Meter-Abstand entspreche jedoch nicht den physiologischen Gesetzen. Es bestehe der Verdacht auf eine Verarbeitungsstörung. Eine psychosomatische Weiterbehandlung werde empfohlen. Darüber hinaus klage die Klägerin auch über Kopfschmerzen. Insofern sei eine neurologische Abklärung erforderlich.

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Dr. M. stellte daraufhin abschließend mit gutachterlicher Stellungnahme vom 28. Oktober 2010 fest, dass sich die Diskrepanz zwischen den subjektiven Angaben und dem objektiven Befund bestätigt habe. Eine Opticusathropie (degenerative Erkrankung des Sehnerves) liege nicht vor. Klinisch bestünde kein Anhalt für eine Retinopathia pigmentosa (Netzhautdegeneration) und die Bestimmung des Gesichtsfeldes im 1- und 2-Meter-Abstand habe nicht den physiologischen Gesetzen entsprochen. Es könnten der Visus rechts mit 0,3 (entspräche einer Buchstabenhöhe von 3 mm, Normaldruck der Mitteldeutschen Zeitung betrage 2 mm) und links mit ca. 0,4 - 0,5, keine relevanten Gesichtsfeldausfälle, kein Binocularsehen in der Nähe und Ferne sowie keine Hemmung des rechten (amblyopen) Auges für das Gutachten zugrunde gelegt werden. Die Klägerin könne ihren letzten Beruf (in der Geflügelzucht) ausüben und auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig leichte Arbeiten mit mittleren Anforderungen an das Sehorgan, ohne Arbeiten mit Absturzrisiko oder an laufenden, nicht gesicherten Maschinen, ohne Arbeiten mit Tempomanie und Hektik, ohne Nachtschichtarbeit, ohne Führen eines PKW und ohne dauernde Bildschirmarbeit verrichten. Eine neurologisch/psychiatrische Vorstellung sei erforderlich. Durch das Tragen von Kontaktlinsen in Kombination mit den verordneten Augentropfen könne die Sehschärfe wesentlich verbessert werden.

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Die Beklagte veranlasste den prüfärztlichen Dienst zur Stellungnahme vom 1. November 2010 und lehnte mit Bescheid vom 3. November 2010 ohne weitere Ermittlungen den Rentenantrag ab. Bei der Klägerin bestehe ein Leistungsvermögen für täglich sechs Stunden und mehr für Arbeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Auch Berufsunfähigkeit liege nicht vor. Die von der Klägerin zuletzt rentenversicherungspflichtig unbefristet ausgeübte Beschäftigung als Kommissioniererin könne sie weiter mindestens sechs Stunden täglich ausüben. Den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 17. November 2010 begründete die Klägerin mit den fortgeschrittenen Sehbeeinträchtigungen. Sie sei kaum noch in der Lage, etwas zu lesen und traue sich nicht mehr auf die Straße. Auch nähmen die Unfälle im häuslichen Bereich zu. Sie schneide oder verbrenne sich häufig und stoße sich an Gegenständen, da sie diese nicht mehr erkennen könne. Eine berufliche Tätigkeit sei mit diesen Einschränkungen nicht möglich.

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Die Beklagte holte eine weitere prüfärztliche Stellungnahme vom 14. Februar 2011 ein und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2011 als unbegründet zurück. Die Klägerin verfüge über ein Leistungsvermögen für mindestens sechs Stunden täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten mit weiteren Funktionseinschränkungen. Sie könne ihren letzten Beruf als Kommissioniererin/Lagerarbeiterin noch mindestens sechs Stunden täglich ausüben. Der Beruf sei der Gruppe der Ungelernten zuzuordnen, so dass die Klägerin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Eine Verweisungstätigkeit müsse nicht genannt werden.

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Hiergegen hat sich die Klägerin mit der am 18. Juli 2011 beim Sozialgericht (SG) Halle erhobenen Klage gewandt. Sie leide an ophthalmologischen, neurologisch-psychiatrischen und bisweilen orthopädischen Leistungseinschränkungen. Dr. H. habe eine hochgradige Sehschwäche diagnostiziert und komme zu dem Ergebnis, dass der erlernte Beruf aufgrund der starken Sehbehinderung nicht mehr ausübbar sei. Es bestünden Zweifel an der Objektivität des Gutachters Dr. M., der ihr - der Klägerin - Aggravation unterstelle. Diese habe die Universitätsklinik für Augenheilkunde H. nicht bestätigt. Der Sachverhalt sei nicht ausermittelt, da die Universitätsklinik für Augenheilkunde H. und auch der Gutachter Dr. M. eine neurologisch-psychiatrische und eine psychosomatische Zusatzbegutachtung für erforderlich hielten, die nicht erfolgt seien. In der Beurteilung vom 23. Juli 2010 habe Dr. M. zunächst ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden festgestellt und ausgeführt, dass, soweit sich die Gesichtsfeldeinschränkungen bestätigen würden, "nur noch eine Tätigkeit in einer Arbeit für Sehbehinderte möglich" sei. In der zweiten gutachterlichen Stellungnahme vom 28. Oktober 2010 habe Dr. M. demgegenüber - trotz Bestätigung der Gesichtsfeldeinschränkungen durch die Universitätsklinik für Augenheilkunde H. - ein quantitatives Leistungsvermögen von über sechs Stunden festgestellt. Sie sei nicht in der Lage, eine Wegstrecke von 500 m in 20 Minuten viermal täglich zu bewältigen. Dr. H. habe insoweit festgestellt, dass beim Überqueren der Straße große Schwierigkeiten bestünden, Reisefähigkeit bestünde nur mit Begleitung. Ihr sei aufgrund ihrer langjährigen Erwerbslosigkeit der Teilzeitarbeitsmarkt faktisch verschlossen. Weder die Beklagte noch die Bundesagentur für Arbeit hätten ihr innerhalb der letzten Jahre einen ihrem Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz anbieten können. Zumindest bestünde ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung oder wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Auszugehen sei von einer Tätigkeit als Facharbeiterin (Mechanisator für Geflügelproduktion bzw. Zootechniker für industrielle Geflügelproduktion) und später als Meisterin. In diesem Hauptberuf habe sie bis 1988 gearbeitet und diesen gekündigt, weil sie mit der eingeschränkten Sehfähigkeit die Aufgaben im Rahmen der Geflügelproduktion nicht mehr habe wahrnehmen können. Die Kündigung sei vorrangig aus gesundheitlichen Gründen erfolgt. Sie habe zudem einen Arbeitsunfall erlitten und sich die rechte Hand gequetscht. Deswegen sei sie bis Mai 1988 beschäftigungslos zu Hause gewesen. Nachweise lägen ihr - bis auf den Eintrag im Sozialversicherungsausweis - nicht mehr vor. Anschließend habe sie im selben Betrieb als Sachbearbeiterin in der Poststelle gearbeitet. Soweit die Beklagte - unzutreffend - als Hauptberuf eine Tätigkeit als Kommissioniererin/Lagerarbeiterin annehme, könne sie diese Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Darüber hinaus sei sie bei Annahme des Hauptberufs als "Kommissioniererin/Lagerarbeiterin" in den Bereich der oberen Angelernten einzustufen. Eine konkret in Betracht kommende Verweisungstätigkeit habe die Beklagte nicht benannt.

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Das SG hat Befundberichte eingeholt. Die Fachärztin für Augenheilkunde Dr. H. hat unter dem 26. Oktober/2. November 2011 berichtet, seit Juni 2010 sei eine Verschlechterung eingetreten. Sie hat den Bericht des Radiologen Dr. R. vom 17. Mai 2010 beigefügt, der mitgeteilt hat, der Verdacht auf eine Optikusatrophie (degenerative Erkrankung des Sehnerves) habe sich bildmorphologisch nicht bestätigt.

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Das SG hat sodann den Facharzt für Augenheilkunde Prof. Dr. med. habil. S., stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde der M. H.-W., das Gutachten vom 4. Juli 2012 erstatten lassen. Der Gutachter hat auf seinem Fachgebiet eine angeborene Stab- und Weitsichtigkeit beider Augen, verbunden mit einem zwischen beiden Augen wechselnden Einwärtsschielen sowie einem feinschlägigen monokularen Augenzittern auf jedem Auge festgestellt. Im Übrigen seien eine beginnende Linsentrübung, eine Arteriosklerose der Netzhautgefäße sowie eine Altersweitsichtigkeit beider Augen zu berücksichtigen. Die allseitige beidäugige Einengung des Gesichtsfeldes könne durch diese Gesundheitsstörungen oder die vorliegenden krankhaften Veränderungen nicht belegt werden. Die angegebene allseitige Einengung des Gesichtsfeldes beider Augen sei sehr wahrscheinlich übertrieben dargestellt. Es liege eine Aggravation vor. Die Klägerin habe sich während des gesamten Untersuchungszeitraumes in verschiedenen Abteilungen der Poliklinik in für sie unbekannter Umgebung relativ sicher bewegt. Sie könne nur noch ausgewählte Berufe für drei bis unter sechs Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche mit weiteren qualitativen Einschränkungen verrichten. Auf bekannten und gesicherten Wegen sei sie in der Lage, vier Mal am Tag eine Wegstrecke von etwas mehr als 500 Meter jeweils innerhalb von 20 Minuten zu Fuß zu bewältigen. Hinsichtlich der Gesichtsfeldeinschränkung sei eine Aggravation zwar sehr wahrscheinlich, es jedoch müsse das Ergebnis der manuell-kinetischen Methode für die Bewertung hinzugezogen werden. Zudem sei ein psychologisches Zusatzgutachten einzuho-len.

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Anschließend hat das SG Halle den Facharzt für Neurologie/Psychiatrie, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Ärztlicher Leiter im Krankenhaus A. Dr. V. das Gutachten vom 4. Dezember 2012 erstatten lassen. Dr. V. hat in seinem Gutachten nach Untersuchung der Klägerin am 30. November 2012 als Diagnose auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet lediglich einen Spannungskopfschmerz mitgeteilt. Hieraus ergäbe sich keine Funktionsstörungen. Es lägen keine die Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Gesundheitsstörungen, Krankheiten oder Gebrechen auf neurologischem und psychiatrischem Gebiet vor. Die MRT-Aufnahmen des Schädels der Klägerin hätten einen altersentsprechenden Normalbefund aufgewiesen. Die Klägerin habe anlässlich der Untersuchung mitgeteilt, den Haushalt der pflegebedürftigen Mutter zu versorgen und diese morgens an- und abends auszuziehen. Sie wohne ca. 100 m von der Mutter entfernt. Zur Mutter gehe die Klägerin meist in Begleitung ihres Mannes, da eine Straße überquert werden müsse. Ihre Hausarbeit erledige sie selbst und koche für sich und ihren Mann Mittagessen. Nachmittags gehe sie für ein bis zwei Stunden mit ihrem Ehemann spazieren. Sie habe am Haus einen kleinen Garten und pflege dort ein Blumenbeet. Der Gutachter hat mitgeteilt, dass Anhaltspunkte für eine ausgeprägte Aggravation vorlägen. Bei der Verhaltensbeobachtung habe er festgestellt, dass das An- und Auskleiden und das Hantieren mit Gegenständen ungestört und mit zielgenauem Zufassen auch feinmotorischer Art geschähen. Die Klägerin habe den umfangreichen und mit kleiner Schrift verfassten Fragebogen (138 Fragen) in normalen Abstand entziffert und dafür einen durchschnittlichen Zeitumfang benötigt. Dies kontrastiere zum fingerperimetrischen Befund, der einem massiven Tunnelblick entsprechen würde. Insbesondere Gesichtsfeldprüfungen seien nicht ohne die subjektiven Angaben des Untersuchten möglich. Die dargestellten Einschränkungen folgten hier eher nicht den anatomischen Gegebenheiten, wie zum Beispiel einer halbseitigen oder quantenbegrenzten Einschränkung des Gesichtsfeldes, sondern der subjektiven Vorstellung von Einschränkungen des Gesichtsfeldes von Laien und damit im Sinne einer homogenen Gesichtsfeldeinschränkung. Auch bei der Prüfung der groben Kraft falle eine Mangelinnervation im Faustschluss bei vollkräftiger übriger Handmuskulatur und eine ungestörte Kraftentfaltung der übrigen Muskelgruppen an den oberen und unteren Extremitäten sowie eine ungestörte Muskeltrophik und ein regelrechter Muskeltonus auf. Die Klägerin sei in der Lage, sechs Stunden und mehr täglich an fünf Tagen in der Woche Arbeiten zu verrichten. Zusätzliche Pausen oder unübliche betriebliche Bedingungen seien nicht erforderlich. Die Gehfähigkeit der Klägerin sei nicht eingeschränkt. Sie sei in der Lage, zweimal täglich während der Hauptverkehrszeiten öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Einholung weiterer Fachgutachten sei nicht erforderlich.

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Dr. V. hat mit ergänzender Stellungnahme vom 25. Februar 2013 mitgeteilt, dass seine Mitarbeiterin die Klägerin beim Ausfüllen des Fragebogens beobachtet und ihn über die Art des Ausfüllens des Fragebogens durch die Klägerin informiert habe. Er selbst habe festge-stellt, dass die Klägerin hierfür eine durchschnittliche Zeit benötigt habe.

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Das SG hat Befundberichte von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. K. und der Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten/Allergologie Dr. R. eingeholt. Dr. K. hat in dem Befundbericht vom 31. März 2014 angegeben, die Klägerin letztmalig am 18. September 2012 untersucht zu haben. Die Klägerin leide unter einem Glaukom, einem Katarakt, einer Adipositas, einer Hypertonie, einer Tachykardie, einem Vitamin-D-Mangel, einer gemischten Hyperlipidämie, einer Sehstörung, einer vegetativen Dystonie sowie unter einem atopischen Ekzem. Dr. R. hat am 4. April 2014 mitgeteilt, die Klägerin zweimalig, letztmalig am 8. November 2011, behandelt und ein nummuläres Ekzem sowie einen Pigmentfleck diagnostiziert zu haben.

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Prof. Dr. S. hat mit ergänzender Stellungnahme vom 9. April 2014 ausgeführt, die angegebene hochgradige allseitige Einengung des Gesichtsfeldes beider Augen sei nicht glaubhaft. Er hat die nochmalige Untersuchung der Klägerin empfohlen, um diese in einem Gespräch "zur Aufgabe ihrer Abwehrhaltung zu bewegen".

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Das SG hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 die Klage abgewiesen. Zur Überzeugung der Kammer verfüge die Klägerin über ein Leistungsvermögen für sechs Stunden und mehr für leichte körperliche Tätigkeiten mit weiteren qualitativen Einschränkungen. Sie hat sich bei ihrer Entscheidung auf die Gutachten von Dr. M. vom 23. Juli 2010 sowie von Dr. V. vom 4. Dezember 2012 gestützt. Die Klägerin sei auch wegefähig. Es bestehe zudem kein Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Der bisherige Beruf der Klägerin sei der einer Lagerarbeiterin/Kommissioniererin und in die Stufe der Ungelernten einzuordnen. Die Klägerin könne daher auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden. Eine Lösung aus gesundheitlichen Gründen vom bisherigen Beruf hat die Kammer als nicht gegeben angesehen.

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Gegen das ihr am 25. Juni 2014 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18. Juli 2014 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Berufung eingelegt und ihren Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, insbesondere bei Berufsunfähigkeit weiterhin geltend gemacht. Prof. Dr. S. habe in seinem Gutachten vom 4. Juli 2012 festgestellt, dass ihr Leistungsvermögen bei bestehenden Gesichtsfeldeinschränkungen nur noch drei bis unter sechs Stunde betrage und Wegefähigkeit nicht vorliege. Zudem habe Prof. Dr. S. eine weitere Überprüfung der Einengung des Gesichtsfeldes mit der gutachterlich zwingenden manuell-kinetischen Methode (Goldmann-Perimeter, Testmarke III/4) für notwendig erachtet. Die weitere Sachverhaltsaufklärung habe das SG nicht durchgeführt und damit den Amtsermittlungsgrundsatz und die Grundsätze der richterlichen Beweiswürdigung verletzt. Zudem habe sie einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Ihre Tätigkeit als "Meisterin der Geflü-gelproduktion" habe sie aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Sie hat ein Kündigungs-schreiben vom 24. März 1986 vorgelegt, aus dem sich ergebe, dass die Kündigung aus gesundheitlichen Gründen erfolgt sei. Im Sozialversicherungsausweis sei vermerkt, dass sie im Sommer 1984 und nochmals im Dezember 1985 erkrankt gewesen sei und dann einen Schonarbeitsplatz benötigt habe. Demgegenüber habe das SG seine Entscheidung lediglich mit dem Umstand begründet, dass sie im Rentenantrag nicht angegeben habe, den Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben zu haben. Eine Verweisungstätigkeit habe die Beklagte nicht benannt.

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In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ihr Rechtsmittel auf den Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit beschränkt.

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Die Klägerin beantragt,

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das Urteil des SG H. vom 7. Mai 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 3. November 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2011 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. Mai 2010 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu bewilligen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

23

Sie hält das angefochtene Urteil des SG und ihren Bescheid für zutreffend. Eine gesundheit-liche Lösung von der Tätigkeit in der Geflügelproduktion sei mit den bisher vorliegenden Unterlagen nicht nachgewiesen. Nicht nachvollziehbar sei, wie die Klägerin mit der von ihr behaupteten Sehbeeinträchtigung und Handverletzung die Tätigkeit als Kommissioniere-rin/Lagerarbeiterin vollwertig habe ausüben können.

24

Der Senat hat Befundberichte des Facharztes u.a. für Allgemeinmedizin Dr. K. vom 24. April 2015 und der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. F. vom 20. Juli 2015 eingeholt. Dr. K. hat die Klägerin letztmalig am 21. August 2014 untersucht und eine sonstige degenerative Erkrankung des Nervensystems diagnostiziert. Dr. F. hat berichtet, hinsichtlich der Augenerkrankung sei seit 2010 keine wesentliche Änderung aufgetreten.

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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwal-tungsakte der Beklagten, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist unbegründet.

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Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil der Klägerin der im Berufungsverfahren weiter verfolgte Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht zusteht. Der ablehnende Bescheid der Beklagten ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin deshalb nicht in ihren Rechten (§§ 153 Abs. 2, 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

28

Nach § 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Nach § 240 Abs. 1 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung haben Anspruch auf eine solche Rente bei Erfüllung der sonstigen - für einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung maßgeblichen, insbesondere versicherungsrechtlichen - Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind.

29

Die Klägerin erfüllt die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie ist auch vor dem maßgebenden Stichtag, nämlich am ... 1956, geboren.

30

Sie ist aber nicht berufsunfähig. Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nach § 240 Abs. 2 Satz 4 SGB VI nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

31

Für die Frage, ob ein Versicherter berufsunfähig ist, ist sein "bisheriger Beruf" maßgeblich. Wenn er diesen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, ist die Zumutbarkeit einer anderen Tätigkeit zu prüfen. Bisheriger Beruf im Sinne des § 240 SGB VI ist grundsätzlich die zuletzt ausgeübte und auf Dauer angelegte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Diese muss also mit dem Ziel verrichtet werden, sie bis zur Erreichung der Altersgrenze auszuüben. Dieser Grundsatz gilt jedenfalls dann, wenn die Tätigkeit zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist (KassKomm-Gürtner § 240 SGB VI RdNr. 21 m.w.N).

32

Bisheriger Beruf der Klägerin ist der einer Kommissioniererin/Lagerarbeiterin gewesen. Diese versicherungspflichtige Tätigkeit hat sie zuletzt vom 1. September 1991 bis zur Betriebsschließung 1997 ausgeübt. Die Auffassung der Klägerin, bisheriger Beruf sei der eines Meisters der Geflügelproduktion, teilt der Senat nicht. Denn sie hat sich zur Überzeugung des Senats von ihrer Tätigkeit als Meister der Geflügelproduktion freiwillig gelöst. Eine berufliche Lösung ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) anzunehmen, wenn der Berufswechsel freiwillig erfolgt. Wurde die Arbeit dagegen gezwungenermaßen aufgegeben, ist zu unterscheiden: Waren dafür gesundheitliche Gründe verantwortlich, bleibt in der Regel der Berufsschutz erhalten, da sich insofern gerade das versicherte Risiko der gesetzlichen Rentenversicherung verwirklicht hat. Dabei müssen die gesundheitlichen Gründe nicht allein ursächlich gewesen sein; ausreichend ist, dass sie den Berufswechsel wesentlich mitverursacht haben. Lagen dagegen andere, insbesondere betriebliche Gründe vor, ist eine Lösung vom höherwertigen Beruf jedenfalls dann anzunehmen, wenn sich der Versicherte sofort oder im Laufe der Zeit mit dem Wechsel endgültig abgefunden hat. Dies muss nicht freiwillig sein, sondern kann auch unter dem Druck der Verhältnisse geschehen. Nur wenn sich der Versicherte mit der dauerhaften Ausübung des geringerwertigen Berufs deshalb abfindet, weil er zur Wiederaufnahme der früheren höherwertigen Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen außerstande ist, bleibt Berufsschutz erhalten (vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005 - B 5 RJ 27/04 R -, SGb 2005, 337 mit weiteren Nachweisen).

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Eine gesundheitsbedingte Lösung von dem Beruf eines Meisters der Geflügelproduktion hat die Klägerin zur Überzeugung des Senates nicht nachgewiesen. Für den entsprechenden Vortrag, sie habe den Berufswechsel aus gesundheitlichen Gründen veranlasst, ist die Klägerin beweisfällig geblieben. Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss im Weg des sogenannten Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Dies bedeutet, das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können. Es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalls begründeter Zweifel mehr bestehen. Von dem Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 - B 9 SB 1/11 R -, juris, RdNr. 46).

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Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht die dies nach dem im sozialgericht-lichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen von Berufsunfähigkeit trägt insoweit die Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (BSG, Urteil vom 23. Oktober 1996 - B 4 RA 1/96 -, juris).

35

Unter Berücksichtigung dieser Prämissen kann nicht mit an Sicherheit grenzender Wahr-scheinlichkeit festgestellt werden, dass die Klägerin ihre Tätigkeit als Meister der Geflügel-produktion 1986 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat. Nach den Angaben im Sozialversicherungsausweis der Klägerin war diese vom 16. Juni bis zum 9. Juli 1984 wegen einer Gehirnerschütterung nach einem Unfall und vom 30. Oktober bis zum 15. Dezember 1985 wegen einer Handgelenksquetschung arbeitsunfähig. Soweit die Klägerin - unter Hinweis auf ihre Angaben in dem Kündigungsschreiben vom 24. März 1986 - vorträgt, wegen der Augenerkrankung und der Handverletzung die Tätigkeit als Meisterin der Geflügelproduktion aufgegeben zu haben, ist eine unfreiwillige Lösung im Hinblick auf die weiter von der Klägerin verrichteten Tätigkeiten nicht nachgewiesen. Die Gesundheitsbeeinträchtigungen begründen nach Überzeugung des Senates keine gesundheitsbedingte Lösung vom Beruf eines Meisters im April 1986. Die Klägerin war nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung am 13. Oktober 2016 nach ihrer Kündigung zum 4. April 1986 noch in der Lage, ihren Garten zu versorgen und Nutztiere zu halten. Sie arbeitete anschließend im selben Betrieb und nahm weiterhin körperlich anstrengende Arbeiten wahr. Als Pförtnerin säuberte sie die LKW-Waage und während ihrer Tätigkeit als Kommissioniererin zog sie schwere Eierpaletten zur Abholstelle. Die eine besondere Qualifikation erfordernden Tätigkeiten, wie das Bestellen von Waren, die tägliche Bestandsaufnahme und die Kontrolle der Warenein- und -ausgänge, nahm die Klägerin auch als Kommissioniererin mehrere Jahre wahr. Damit ist eine gesundheitsbedingte Lösung vom Beruf einer Meisterin nicht nachgewiesen. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Betriebsarzt der Klägerin am 10. Dezember 1985 die Verrichtung von körperlich schweren Arbeiten für drei Wochen untersagte und ihr einen Schonarbeitsplatz verordnete, weil die zeitlich überschaubare Reduzierung des qualitativen Leistungsvermögens nicht die gesundheitsbedingte Lösung vom höherwertigen Beruf des Meisters der Geflügelproduktion begründet.

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Für den Berufsschutz ist daher die letzte Tätigkeit der Klägerin als Kommissioniere-rin/Lagerarbeiterin maßgebend. Die Klägerin ist den Anforderungen an diese Tätigkeit nach der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats nicht mehr gewachsen. Denn die Tätigkeit als Kommissioniererin/Lagerarbeiterin erfordert teilweise körperlich schwere Arbeiten (Bewegen von Rollpaletten zur Abholstelle) sowie die verantwortungsvolle, mit Übersicht und Aufmerksamkeit ausgeführte tägliche Warenbestandsüberprüfung. Beim Verkauf von Eiern an Einzelhändler, Betriebsangehörige und Privatleute findet Publikumsverkehr statt.

37

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme geht der Senat von folgendem Leistungsbild aus: Die Klägerin kann nur noch leichte körperliche Tätigkeiten mit Handhaben von Lasten von weniger als 10 kg in wechselnden Körperhaltungen (Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen) verrichten. Dabei sind folgende Einschränkungen zu berücksichtigen: kein Überkopf-arbeiten, keine Arbeiten in Wechsel- oder Nachtschicht, am Fließband, an rotierenden Maschinen mit besonderer Verletzungsgefahr, auf Leitern und Gerüsten, in einer unüber-sichtlichen Umgebung, mit erhöhter Unfallgefährdung, unter Akkord- und Zeitdruck, mit häufigem Publikumsverkehr, möglichst in geschlossenen Räumen, im Freien nur unter Witterungsschutz in vertrauter Umgebung ohne Unfallgefährdung, mit eingeschränkten Anforderungen an die Reaktionsfähigkeit, Übersicht und Aufmerksamkeit.

38

Dieses Leistungsbild ergibt sich für den Senat aufgrund eigener Urteilsbildung aus dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen in den vorangegangenen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, insbesondere aus dem Gutachten von Dr. M. vom 23. Juli 2010 nebst Ergänzung vom 28. Oktober 2010 und den vom SG eingeholten Gutachten von Prof. Dr. S. vom 4. Juli 2012 und von Dr. V. vom 4. Dezember 2012 sowie den ergänzenden Stellung-nahmen der Gutachter Dr. V. vom 25. Februar 2013 und Prof. Dr. S. vom 9. April 2014.

39

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bestehen bei der Klägerin vordergründig Gesund-heitsstörungen auf augenärztlichem Fachgebiet. Sie leidet an einer angeborenen Weit- und Stabsichtigkeit beider Augen (kombinierter hyperoper Astigmatismus) verbunden mit einem zwischen beiden Augen wechselnden Einwärtsschielen sowie einem feinschlägigen monoku-laren Augenzittern auf beiden Augen, einem "trockenen Auge", einer beginnenden Linsen-trübung jeweils beidseits (Grauer Star), einer Arteriosklerose der Netzhautgefäße und Altersweitsichtigkeit beider Augen sowie (anamnestisch) einem Grünen Star.

40

Aus diesen Gesundheitsstörungen ergibt sich die Herabsetzung der Sehschärfe beider Augen für Ferne und Nähe. Aufgrund der beginnenden Linsentrübung in Kombination mit der angeborenen Weit- und Stabsichtigkeit lassen sich die Schwankungen in den Sehschärfean-gaben der Klägerin erklären. Das Gesichtsfeld ist tatsächlich eingeengt und die Klägerin kann nicht mehr räumlich sehen (funktionelle Einäugigkeit). Eine allseitige beidäugige Einengung des Gesichtsfeldes kann durch die bei der Klägerin festgestellten Gesundheits-beeinträchtigungen jedoch nicht erklärt werden. Prof. Dr. S. teilt in seinem augenärztlichen Fachgutachten mit, dass die Klägerin die allseitige Einengung des Gesichtsfeldes beider Augen sehr wahrscheinlich übertrieben dargestellt hat. Dafür sprechen, dass bei einem regelrechten Ganzfeld-ERG beider Augen deutlich konzentrische Gesichtsfeldeinengungen ausgeschlossen sind, bei verdoppelter Prüfdistanz der Gesichtsfeldprüfung in ein und zwei Meter Entfernung die zu erwartende Verdopplung des linearen bei gleich bleibenden angulären Durchmesser nicht eintritt und sich die Klägerin während des gesamten Untersuchungs-zeitraums in verschiedenen Abteilungen der Poliklinik in für sie - weitgehend - unbekannter Umgebung relativ sicher bewegt hat. Soweit die Klägerin vorträgt, sie sei nicht aus sich heraus sicher aufgetreten und habe sich nur an dem vor ihr laufenden "weißen Kittel" orientiert, widersprechen diese Angaben den Angaben sämtlicher Gutachter. So haben Dr. V. wie auch Prof. Dr. S. und Dr. M. festgestellt, dass anlässlich der Untersuchungen das An- und Auskleiden und das Hantieren mit Gegenständen ungestört und mit zielgenauem Zufassen auch feinmotorischer Art geschehen seien. Die Klägerin hat den von Dr. V. verwendeten Fragebogen (138 Fragen mit sehr kleiner Schrift) selbstständig in durchschnittlichem Zeitumfang ausgefüllt. Auch der von der Klägerin geschilderte Tagesablauf bestätigt den von den Gutachtern Prof. Dr. S. und Dr. V. festgestellten Leistungsumfang. Die Klägerin arbeitet im Haushalt, kocht Essen und unternimmt mit ihrem Ehemann längere Spaziergänge. Sie versorgt täglich ihre in der Nähe wohnende Mutter, die sie auch allein besucht und erledigt deren Haushalt. Die vier vorgenommenen mitarbeitsabhängigen Gesichtsfeldprüfungen bei Dr. H., Dr. M., Prof. Dr. S. und Dr. V. sind sehr unterschiedlich ausgefallen, wobei die Kontrolluntersuchungen in ein und zwei Meter Abstand jeweils die Angaben der Klägerin nicht bestätigten. Zudem entsprechen die von der Klägerin geschilderten homogenen Gesichtsfeldeinengungen nicht den anatomischen Gegebenheiten (halbseitige oder quadran-tenbegrenzte Einschränkung des Gesichtsfeldes). Dr. V. hat keine organische Ursache für die von Prof. Dr. S. augenärztlich festgestellten Befunde mitgeteilt. Die Klägerin leidet an keiner psychiatrischen oder neurologischen Gesundheitsstörung. Der Gutachter Dr. V. hat lediglich einen Spannungskopfschmerz diagnostiziert, der die Fähigkeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, nicht beeinträchtigt. Die Klägerin verhält sich zweckgerichtet, ihr Verhalten ist der bewussten Steuerung nicht vollständig entglitten. Die Feststellungen von Dr. V. haben den von Prof. Dr. S. geäußerten Aggravationsverdacht bestätigt. Die von der Klägerin anlässlich der Untersuchung bei Dr. V. gezeigten Fähigkeiten beim An- und Auskleiden und mit gezieltem Greifen kontrastieren zum fingerperimetrischen Befund, bei dem der ins Gesichtsfeld wandernde Stift selbst bei mehrfachen Wiederholungen aus allen vier Richtungen stets erst in der Mittellinie wahrgenommen wurde. Der Gutachter Dr. V. hat weiter eine deutliche und konsequent reproduzierte Mangelinnervation im Faustschluss beidseits festgestellt, die sich neurologisch nicht bestätigen lässt. Auch die Angaben der Klägerin zum Tagesablauf und den im Alltag durchführbaren und nicht durchführbaren Aktivitäten lassen an manchen Stellen eine plausible Konsistenz vermissen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin bei der Untersuchung durch Dr. V. das kleinschriftige Schriftstück konzentriert bearbeitet hat, selbst jedoch angegeben hat, wegen der Sehstörungen seit einem Jahr keine Kreuzworträtsel mehr zu lösen. Das Verhalten bei der Untersuchung steht auch der Angabe entgegen, dass die Klägerin wegen der Sehstörung auf ständige Begleitung angewiesen sei. Ihre 100 m entfernt wohnende Mutter sucht sie zumindest gelegentlich alleine auf.

41

Darüber hinaus leidet die Klägerin unter einem Taubheitsgefühl im Handgelenksbereich, Einschlafstörungen, Stimmungsschwankungen, einer Rückzugsneigung und Reizbarkeit, einem Juckreiz wegen eines Ekzems am rechten Unterschenkel und tränenden Augen, die keine weitergehende quantitative Minderung des Leistungsvermögens verursachen.

42

Eine körperlich leichte Arbeit im Wechsel von Stehen, Gehen und Sitzen mit weiteren Leistungseinschränkungen ist zumutbar.

43

Auch die zuletzt von Dr. K. am 24. April 2015 und der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. F. erstatteten Berichte und die hierzu eingereichten ärztlichen Unterlagen weisen auf keine wesentliche Verschlechterung bzw. auf Gesundheitsstörungen in rentenberechtigendem Ausmaß hin.

44

Schließlich ist die Klägerin auch nicht aus gesundheitlichen Gründen gehindert, einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Denn es besteht kein Zweifel, dass die Klägerin viermal täglich Fußwege von mehr als 500 m in jeweils weniger als 20 Minuten zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen kann. Dies hat Dr. V. überzeugend festgestellt. Auch Prof. Dr. S. hat dies bestätigt und lediglich dahingehend eingeschränkt, dass der Weg bekannt und gesichert sein muss. Dies ist beim täglichen Arbeitsweg der Fall.

45

Damit ist die Klägerin nicht berufsunfähig. Auf welche Berufstätigkeiten ein Versicherter mit seinem fachlichen und gesundheitlichen Leistungsvermögen noch zumutbar verwiesen werden kann, beurteilt das BSG nach einem von ihm entwickelten Mehrstufenschema, das auch der Senat seinen Entscheidungen zugrunde legt. Dieses gliedert die Berufe hierarchisch in vier Gruppen mit verschiedenen Leitberufen. An oberster Stelle steht die Gruppe der Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion und der besonders qualifizierten Facharbeiter. Es folgen die Facharbeiter in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei bis drei Jahren, danach die angelernten Arbeiter mit einer Ausbildungszeit von bis zu zwei Jahren. Zuletzt folgen die so genannten Ungelernten, auch mit einer erforderlichen Einarbeitungs- oder Einweisungszeit von bis zu drei Monaten. Eine vom Versicherten sechsstündig ausübbare Tätigkeit ist ihm zumutbar im Sinne des § 240 SGB VI, wenn er irgendwelche Tätigkeiten der eigenen Qualifikationsstufe oder aber der nächst niedrigeren Stufe spätestens nach einer Einarbeitung und Einweisung von drei Monaten zum Erwerb der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vollwertig ausüben kann.

46

Dabei muss dem Versicherten allerdings grundsätzlich ein konkreter Verweisungsberuf benannt und zugeordnet werden können, anhand dessen sich die Zumutbarkeit seiner Ausübung beurteilen lässt. Kann ein anderer Beruf nicht konkret in Betracht gezogen werden, liegt bei der Unfähigkeit der Ausübung des bisherigen Berufs Berufsunfähigkeit vor. Eine Ausnahme vom Erfordernis der konkreten Benennung eines Verweisungsberufs besteht aber dann, wenn dem Versicherten fachlich-qualitativ ungelernte Tätigkeiten und jedenfalls leichte körperliche, seelische und geistige Belastungen zumutbar sind. Es gibt eine Vielzahl von ungelernten Berufen im inländischen Erwerbsleben. Sie stellen gerade keine besonderen Anforderungen an Kenntnisse, fachliche Fähigkeiten, Ausbildung und Berufserfahrung. Einem Versicherten ist die Ausübung einer ungelernten Arbeitstätigkeit grundsätzlich zuzumuten, wenn sein bisheriger Beruf entweder dem Leitberuf des angelernten Arbeiters oder dem des ungelernten Arbeiters zuzuordnen ist. Allerdings ist bei den angelernten Arbeitern weiter zu differenzieren: Angelernte mit einer Regelausbildungszeit von bis zu einem Jahr (sog. untere Angelernte) sind auf alle ungelernten Tätigkeiten verweisbar. Demgegenüber können Angelernte mit einer Regelausbildungszeit von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren (sog. obere Angelernte) nur auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, die sich durch bestimmte Qualitätsmerkmale auszeichnen. Daher sind für Angelernte des oberen Bereichs Verweisungstätigkeiten konkret zu benennen (KassKomm-Gürtner, § 240 SGB VI, RdNr. 93 f. m.w.N).

47

Der bisherige Beruf der Klägerin als Kommissioniererin/Lagerarbeiterin ist der Gruppe der unteren Angelernten zuzuordnen. Die Klägerin verfügt zwar über eine Qualifikation als Meisterin der Geflügelzucht. Sie hat zuletzt jedoch nicht nachweislich als Meisterin der Geflügelzucht gearbeitet. Einen schriftlichen Arbeitsvertrag, der den Umfang der arbeitsver-traglich geschuldeten Tätigkeit ab dem 1. September 1991 umschreibt und für den Senat maßgeblich zur Bestimmung der tatsächlich geleisteten Tätigkeit ist, hat die Klägerin für ihre Tätigkeit nicht einreichen können. Die Klägerin hat nicht nachgewiesen, arbeitsvertraglich Arbeiten geschuldet zu haben, die eine ein- bis zweijährige Ausbildung voraussetzten. Vielmehr hat sie in der mündlichen Verhandlung angegeben, Waren (Eierpaletten) für die Auslieferung zusammengestellt und für den Transport vorbereitet, den Warenein- und -ausgang betreut, Verpackungen bestellt und Eier an Einzelhändler, Betriebsangehörige und Privatleute verkauft zu haben. Soweit die Klägerin die im Rahmen ihrer Facharbeiterausbil-dung und Meisterqualifikation erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten hat einbringen können, müssen die Tätigkeiten, die eine besondere Qualifizierung begründen sollen, noch mindestens etwa 50 Prozent der Gesamttätigkeiten pro Tag ausmachen (vgl. Urteil des BSG vom 25. Januar 1994 - 4 RA 35/93 -, SozR 3 - 2000 § 1240 Nr. 41). Handelt es sich demgegenüber bei der ausgeübten Tätigkeit nur um einen kleineren Teilbereich einer besonders qualifizierten Tätigkeit, so scheidet die Zuordnung eines Versicherten in die Gruppe, die sich aufgrund der qualifizierten Tätigkeiten ergäbe, aus. Anhaltspunkte dafür, dass die ausweislich des Abschlusszeugnisses von 15. Juli 1974 erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten der Mechanisierung, Verhaltensweise/Tierbeobachtung, Fütterung, Hygiene/Desinfektion, Zucht/Reproduktion, industriemäßige Geflügelproduktion, Reinigung und Sicherung der Haltung und Maschinensystem einem prozentualen Anteil von über 50 Prozent der täglichen Arbeitszeit entsprochen haben, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

48

Die Wertigkeit der letzten zu berücksichtigenden Tätigkeit spiegelt sich auch in der verein-barten Vergütung mit der L.-M.-GmbH wieder. Nach ihren Angaben war keine tarifvertragliche Vergütung geschuldet. Ab dem 1. Januar 1992 erhielt sie - ausweislich der vorgelegten Veränderungsmitteilung des Arbeitsverhältnisses vom 24. Januar 1992 - als Angleichung nach der Einarbeitung als Kommissioniererin eine Vergütung nach der innerbetrieblichen Lohngruppe 5. Da sie erst zum 1. September 1991 die Tätigkeit als Kommissioniererin bei der L.-M.-GmbH aufnahm, betrug die Einarbeitungszeit lediglich vier Monate. Einen Nachweis einer höherwertigen Tätigkeit durch Vorlage weiterer Arbeitsverträge oder -zeugnisse hat die Klägerin nicht erbracht.

49

Als untere Angelernte ist die Klägerin auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, ohne dass es der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedarf. Insoweit hat für den Senat keine Veranlassung bestanden, weitere berufskundliche Ermitt-lungen durchzuführen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ihr Leistungsvermögen zum Erwerb von nicht nur geringfügigem Arbeitsentgelt sechs Stunden und mehr täglich zumindest für körperlich leichte Tätigkeiten einsetzen kann.

50

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

51

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


Urteilsbesprechung zu Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 13. Okt. 2016 - L 3 R 330/14

Urteilsbesprechungen zu Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 13. Okt. 2016 - L 3 R 330/14

Referenzen - Gesetze

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 13. Okt. 2016 - L 3 R 330/14 zitiert 8 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 43 Rente wegen Erwerbsminderung


(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind,2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 240 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit


(1) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die 1. vor dem 2. Januar 1961 geboren und2. berufsunfähigsind. (2) Berufsunfähig

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Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 13. Okt. 2016 - L 3 R 330/14 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 13. Okt. 2016 - L 3 R 330/14 zitiert 1 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundessozialgericht Urteil, 16. Feb. 2012 - B 9 SB 1/11 R

bei uns veröffentlicht am 16.02.2012

Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. März 2011 insoweit aufgehoben, als es die Feststellung eines Grades der Behinderung für die Zei

Referenzen

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1.
teilweise erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch
1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(4) Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:

1.
Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2.
Berücksichtigungszeiten,
3.
Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4.
Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.

(5) Eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.

(6) Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.

(1) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die

1.
vor dem 2. Januar 1961 geboren und
2.
berufsunfähig
sind.

(2) Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. März 2011 insoweit aufgehoben, als es die Feststellung eines Grades der Behinderung für die Zeit vom 4. Januar 1998 bis 31. Oktober 2000 betrifft.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 für die Zeit vom 4.1.1998 bis 20.1.2003 hat.

2

Der am 1.9.1943 geborene Kläger beantragte erstmals am 26.9.2002 die Feststellung eines GdB für die Zeit ab dem 4.1.1998. Zur Begründung erklärte er, er habe ein besonderes Interesse an der rückwirkenden Feststellung "wegen Rentenantragstellung zum 60. Lebensjahr sowie wg. Steuervergünstigung".

3

Mit Bescheid vom 21.3.2003 stellte das beklagte Land wegen eines operierten Bandscheibenschadens, Nervenwurzelreizerscheinungen sowie Schlaganfallfolgen für die Zeit vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 einen GdB von 20 und für die Zeit ab 21.1.2003 einen solchen von 40 fest. Auf den Widerspruch des Klägers, mit dem dieser die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrte, erteilte der Beklagte den Abhilfebescheid vom 22.7.2003. Darin erkannte er - insbesondere wegen der Folgen einer am 20.1.2003 erlittenen Hirnblutung - einen GdB von 80 sowie die Voraussetzungen der Merkzeichen G und B ab dem 21.1.2003 an. Auf den dagegen gerichteten "Widerspruch" des Klägers stellte der Beklagte durch Bescheid vom 4.11.2003 für die Zeit vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 einen GdB von 30 sowie eine "dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit" fest. Dagegen legte der Kläger erneut Widerspruch ein. Zugleich erklärte er sich mit den für die Zeit ab 21.1.2003 getroffenen Feststellungen einverstanden. Soweit der Widerspruch danach noch offen war, wies ihn der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 1.4.2004 zurück.

4

Mit seiner Klage hat der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 50 für die Zeit vom 4.1.1998 bis 20.1.2003 beansprucht. Nach Beweisaufnahme hat das Sozialgericht Stuttgart (SG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.12.2006). Hinsichtlich der Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 sei die Klage unzulässig, weil dem Kläger das nach ständiger Rechtsprechung für die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft geforderte besondere Rechtsschutzinteresse fehle. Hinsichtlich der Zeit vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 sei die Klage zwar zulässig, weil der Kläger insoweit ein besonderes Interesse an der Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft habe. Werde diese festgestellt, habe er ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf abschlagsfreie Rente. Die Klage sei indes unbegründet, da sich für die Zeit vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein höherer GdB als 30 nicht feststellen lasse.

5

Während des anschließenden Berufungsverfahrens hat der Beklagte mit Bescheid vom 12.1.2007 festgestellt, dass der GdB des Klägers ab 21.1.2003 90 betrage. Der Kläger hat weiterhin die Feststellung eines GdB von mindestens 50 für die Zeit vom 4.1.1998 bis 20.1.2003 beansprucht. Nach Beweisaufnahme hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) durch Urteil vom 23.3.2011 das Urteil des SG wie folgt geändert: Das beklagte Land ist unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 21.3.2003 in der Gestalt der Bescheide vom 22.7.2003 und 4.11.2003 sowie des Widerspruchsbescheides vom 1.4.2004 verpflichtet worden, bei dem Kläger für die Zeit vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 einen GdB von 40 festzustellen. Im Übrigen sind die Klage abgewiesen und die Berufung des Klägers zurückgewiesen worden. Diese Entscheidung hat das LSG wie folgt begründet:

6

Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage des Klägers betreffe die Zeit vom 4.1.1998 bis 20.1.2003. Soweit es sich um die Feststellung des GdB für diesen Zeitraum handele, sei keiner der erteilten Bescheide bestandskräftig geworden. Für die Zeit vom 4.1.1998 bis 30.10.2000 sei die Feststellung eines GdB abgelehnt, für die Zeit danach bis zum 20.1.2003 sei ein GdB von 30 festgestellt worden.

7

Hinsichtlich der GdB-Feststellung für die Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 sei die Klage unzulässig, weil dem Kläger insoweit das notwendige Interesse, das über das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis hinausgehe, fehle. Dass ein Antragsteller für die rückwirkende Feststellung seiner Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch ein besonderes Interesse geltend machen müsse, folge aus § 6 Abs 1 S 2 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV). In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass rentenrechtliche Vorteile, die mit der Anerkennung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch zusammenhingen, ein solches besonderes Interesse darstellten. Dagegen habe das Bundessozialgericht (BSG) bereits in seinem Urteil vom 29.5.1991 ausgeführt, dass steuerliche Vorteile kein solches Interesse begründeten. Zwar habe das BSG in einem Beschluss vom 11.10.2006 ausgeführt, es sei angesichts des Widerspruchs, den das Urteil vom 29.5.1991 in der Literatur gefunden habe, wieder klärungsbedürftig geworden, welche Qualität die Interessen eines Behinderten haben müssten, damit Feststellungen nach dem SGB IX auch rückwirkend getroffen werden könnten. Dieser Beschluss, der in einem Prozesskostenhilfeverfahren ergangen sei, habe die weitere Rechtsprechung der Sozialgerichte jedoch nicht beeinflusst. Hiernach liege kein ausreichendes besonderes Interesse vor, wenn die rückwirkende Feststellung eines GdB lediglich mit der Begründung begehrt werde, es könnten noch steuerrechtliche Freibeträge geltend gemacht werden. Dem sei zu folgen. Die besonderen Freibeträge nach den §§ 33 und 33b Einkommensteuergesetz (EStG) seien nur mittelbare Folge der Statusfeststellung eines bestimmten GdB. Da die Einkommensteuerpflicht die meisten Bundesbürger treffe, könne das Interesse an einer besonderen steuerlichen Gestaltung nur als allgemeines, aber nicht als besonderes Interesse verstanden werden.

8

Hingegen bestehe für die Zeit vom 27.9.2002 an schon deshalb ein Rechtsschutzbedürfnis, weil der Antrag des Klägers auf Feststellung seines GdB am 26.9.2002 beim Versorgungsamt eingegangen sei. Weitergehend seien für die Zeit ab November 2000 bis zum Eingang des Feststellungsantrages rentenrechtliche Vorteile des Klägers denkbar, und zwar im Hinblick auf den Stichtag 16.11.2000 in § 236a Abs 4 SGB VI. Für den demnach zulässigerweise streitigen Zeitraum vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 könne der Kläger die Feststellung eines GdB von 40 verlangen, jedoch nicht die Feststellung seiner Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch.

9

Diese Beurteilung ergebe sich aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme. Den Einzel-GdB für die psychischen Störungen entnehme der Senat im Wesentlichen dem Gutachten des Dr. V. Danach habe der Kläger an einer Anpassungsstörung mit leichter depressiver Reaktion gelitten, die auf der Grundlage der Nr 26.3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) als leichtere psychische Störung zu Recht mit einem GdB von 20 bewertet worden sei. Den davon abweichenden Schlussfolgerungen des Sachverständigen Dr. H. sei dagegen nicht zu folgen. Auf neurologischem Gebiet hätten ab November 2000 noch keine Behinderungen bestanden jedenfalls keine mit einem GdB von mehr als 10. Dr. V. habe den vorliegenden Unterlagen entnommen, dass zu keinem Zeitpunkt neurologische Beschwerden wie etwa Ausfallerscheinungen diagnostiziert worden seien. Zwar habe der Kläger schon vor Januar 2003, nämlich im Februar 2002, einen Schlaganfall erlitten. Jedoch habe dieser Anfall keine für mehr als sechs Monate andauernden neurologischen Folgen gehabt. Weiterhin folge der Senat den Einschätzungen Dr. V., dass für die Migräne des Klägers kein GdB von mehr als 10 anerkannt werden könne. Es handele sich um eine leichtere Verlaufsform mit durchschnittlich einem Anfall pro Monat (Nr 26.2 AHP). Die orthopädischen Beeinträchtigungen seien entsprechend dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. N. mit einem GdB von 20 zu bewerten, weil sie mittelgradige funktionelle Auswirkungen in (nur) einem Wirbelsäulenabschnitt hätten (Nr 26.18 AHP). Wegen gelegentlich geklagter Schmerzen im Knie sei ein GdB nicht zu bilden. Die von den behandelnden Ärzten beschriebenen Hörbehinderungen des Klägers bedingten in Anwendung der Nr 26.5 AHP einen GdB von 20. Schließlich sei für die Herzrhythmusstörungen des Klägers die Annahme eines GdB von höchstens 10 (Nr 26.9 AHP) gerechtfertigt. Aus den genannten Einzel-GdB ergebe sich bei integrierender Betrachtung, wie von Dr. N. vorgeschlagen, ein Gesamt-GdB von 40.

10

Der Senat lasse "im Hinblick auf die Frage, ob die Klage des Klägers für die Zeit vor dem 01.11.2000 unzulässig ist", die Revision zu. Nach dem derzeitigen Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei die Frage - ggf erneut - klärungsbedürftig, welche Qualität die Interessen eines Antragstellers an der rückwirkenden Feststellung eines GdB haben müssten, um "besondere Interessen" iS von § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV zu sein und ob insbesondere einkommensteuerrechtliche Vorteile ausreichten. Diese Frage sei auch nach dem Urteil des BSG vom 29.5.1991 nicht vollständig beantwortet, nachdem es dort um ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X gegangen sei, hier indes eine Erstfeststellung in Rede stehe.

11

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von Bundesrecht. Zu Unrecht habe das LSG die Auffassung vertreten, er könne sich für den Zeitraum vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 nicht auf ein "besonderes Interesse" iS von § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV berufen. Vielmehr genügten die einkommensteuerrechtlichen Erleichterungen in § 33b Abs 3 EStG mit der Möglichkeit steuerermäßigender Pauschbeträge, um ein derartiges besonderes Interesse anzunehmen. Wie § 33b EStG zu entnehmen sei, kämen nur stärker behinderte Menschen mit einem GdB von mindestens 25 in den Genuss der Pauschbeträge. Schwerbehindertenrechtlich sei demgegenüber gemäß § 69 Abs 1 S 6 SGB IX die Feststellung eines GdB bereits dann zu treffen, wenn ein solcher von wenigstens 20 vorliege, so dass "in der Pauschbetragsmöglichkeit ein 'besonderes Interesse' zu sehen" sei.

12

Die Klage sei zudem mindestens für die Zeit ab 1.11.2000 begründet. Das LSG habe insoweit den GdB unter Verstoß gegen die Grundsätze der freien richterlichen Beweiswürdigung und die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen unzutreffend und mit 40 zu niedrig festgestellt.

13

Schon das SG habe bei der schwerbehindertenrechtlichen Beurteilung der bei ihm bereits vor der Lendenwirbel-Bandscheibenoperation im Januar 2002 bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Lenden- und Halswirbelsäule wesentliche Befunde außer Betracht gelassen. Diese hätten es nahegelegt, den insoweit festzustellenden Teil-GdB auf mindestens 30 festzusetzen. Soweit das LSG die Wirbelsäulenschäden für die Zeit ab November 2000 lediglich mit einem Teil-GdB von 20 bewertet habe, habe es unbeachtet gelassen, dass die untersuchenden Radiologen bereits im Januar 1998 für nahezu den gesamten Bereich der Lendenwirbelsäule osteochondrotische Veränderungen beschrieben hätten. Die behandelnde Neurologin habe schon im Februar 1998 ausgeprägte verschleißhafte Wirbelsäulenveränderungen beschrieben. Gänzlich außer Betracht gelassen worden sei ausweislich der Entscheidungsgründe auch der Umstand, dass er - der Kläger - in der Zeit vom 4.1.1998 bis jedenfalls mindestens zum 20.1.2003 unter schwerwiegenden verschleißhaften Veränderungen der Halswirbelsäule gelitten habe. Dies habe die behandelnde Neurologin bereits im Februar 1998 beschrieben. Auch aus anderen ärztlichen Befundberichten des Jahres 1998 ergäben sich entsprechende Hinweise. Insgesamt hätte nach den Empfehlungen der AHP bei zwei mittelgradigen bis schweren funktionellen Beeinträchtigungen der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte der GdB mit mindestens 30 angesetzt werden müssen. Zumindest hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, den Sachverständigen Dr. N. ergänzend zu befragen und aufzuklären, weshalb dieser die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Halswirbelsäule gänzlich bei der Ermittlung des Teil-GdB für die Wirbelsäule außer Betracht gelassen habe. Insoweit liege eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht vor.

14

Die freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) sei zudem insoweit überschritten, als das LSG wegen der seit dem 4.1.1998 nachgewiesenen Migräneerkrankung lediglich einen Teil-GdB von 10 angenommen habe, obwohl nach den insoweit maßgeblichen AHP mindestens ein GdB von 20 für eine mittelgradige Verlaufsform mit häufigeren Anfällen angemessen sei. Das LSG sei zu Unrecht von einer nur leichteren Verlaufsform mit durchschnittlich einem nachgewiesenen Anfall pro Monat ausgegangen. Diese Feststellung lasse in entscheidungserheblicher Weise Teile des Gesamtergebnisses des Verfahrens außer Acht. Gegenteilige Hinweise fänden sich in verschiedenen Befundberichten der behandelnden Ärzte. Schließlich hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, bei dem neurologisch befassten Sachverständigen Dr. V. nachzufragen, nachdem dieser in seinem Gutachten vom 29.12.2010 die hausärztlich bestätigte durchgängige Migräneneigung offenkundig nicht erkannt oder jedenfalls nicht in seinem Gutachten berücksichtigt habe.

15

Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 23.3.2011 sowie unter weiterer Abänderung des Urteils des SG Stuttgart vom 11.12.2006 das beklagte Land unter Abänderung der Bescheide vom 21.3.2003 in der Gestalt der Bescheide vom 22.7.2003 und 4.11.2003 sowie des Widerspruchsbescheides vom 1.4.2004 zu verpflichten, bei ihm für die Zeit vom 4.1.1998 bis 20.1.2003 einen GdB von mindestens 50 festzustellen.

16

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

17

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

18

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

19

1. Die Revision des Klägers ist zulässig, soweit er für die Zeit vom 4.1.1998 bis zum 31.10.2000 die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt; hinsichtlich des entsprechenden Anspruchs für die Zeit vom 1.11.2000 bis zum 20.1.2003 ist sie unzulässig.

20

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, wie schon im Klage- und Berufungsverfahren, der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von wenigstens 50 für beide Zeiträume, wobei für die Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 zusätzlich streitig ist, ob überhaupt die Feststellung eines GdB zu erfolgen hat. Sofern sich der Streit - wie hier - auf Grund und Höhe des GdB für bestimmte Zeiträume bezieht, handelt es sich um abtrennbare, tatsächlich und rechtlich selbstständige Teile des Streitstoffs, die einer getrennten rechtlichen Betrachtung zugänglich sind.

21

Die behördliche Feststellung eines GdB (s allgemein zuletzt BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 SB 3/10 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 13) ist, da sich der GdB - abhängig vom Gesundheitszustand eines Menschen - jederzeit verändern kann, aus der Natur der Sache heraus auf bestimmbare Zeiträume zu beziehen. Demzufolge ist über den GdB auf Antrag (Erstantrag gemäß § 69 Abs 1 S 1 SGB IX; Verschlimmerungsantrag gemäß § 48 SGB X) des Menschen mit Behinderung oder von Amts wegen (Änderung wegen Zustandsverbesserung oder -verschlechterung gemäß § 48 SGB X) uU für abgegrenzte Zeiträume unterschiedlich zu entscheiden. Ebenso kann für bestimmte Zeiträume nachträglich abweichend entschieden werden, wenn sich die Feststellung des GdB als zu niedrig oder zu hoch herausstellt (Überprüfung gemäß § 44 Abs 2 SGB X, auch auf Antrag; Rücknahme gemäß § 45 SGB X).

22

b) Die Revision ist vom LSG im Urteilsausspruch unbeschränkt zugelassen worden und damit insgesamt statthaft. Zwar mag angesichts der vom LSG für die Zulassung der Revision gegebenen Begründung, die Zulassung erfolge im Hinblick auf die Frage, ob die Klage für die Zeit vor dem 1.11.2000 unzulässig ist, fraglich sein, ob die Revisionszulassung den gesamten Zeitraum vom 4.1.1998 bis 20.1.2003 umfasst. Das reicht jedoch nicht aus, um eine beschränkte Zulassungsentscheidung anzunehmen. Unter Berücksichtigung der weiteren allgemein gehaltenen Ausführungen zur Begründung der Revisionszulassung liegt in dieser Aussage nämlich keine eindeutige Einschränkung des Umfangs der Revisionszulassung (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 160 RdNr 24a, 28c).

23

c) Die Revision ist hinsichtlich des Anspruchs auf Feststellung des GdB im Zeitraum vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 unzulässig, denn ihre Begründung genügt insoweit nicht den Anforderungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Nach dieser Vorschrift muss die Begründung der Revision (s § 164 Abs 2 S 1 SGG) einen bestimmten Antrag enthalten sowie die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben. Zweck der Vorschrift ist es, im Interesse der Entlastung des Revisionsgerichts sicherzustellen, dass der Revisionsführer das angefochtene Urteil im Hinblick auf das Rechtsmittel der Revision und mit Blickrichtung hierauf die Rechtslage genau überprüft (BSG SozR 1500 § 164 Nr 12; BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 2). Nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (s nur BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 9, 11, 12; Leitherer, aaO, § 164 RdNr 9c mwN) verlangt die Norm, dass in der Revisionsbegründung die Gründe dargelegt werden, die das angefochtene Urteil als unrichtig erscheinen lassen. Bei der Rüge von Verfahrensmängeln müssen die maßgeblichen Vorgänge so genau angegeben werden, dass das Revisionsgericht sie, die Richtigkeit des Vorbringens unterstellt, ohne weitere Ermittlungen beurteilen kann (Leitherer, aaO, RdNr 12). Erforderlich ist insoweit eine Darlegung, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, beurteilen zu können, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann.

24

Der Kläger greift das Urteil des LSG hinsichtlich des Zeitraumes vom 1.11.2000 bis 20.1.2003 zunächst mit der Behauptung einer Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG)an. Bei einer solchen Rüge muss nicht nur ein relevanter Verstoß (zB gegen Denk- und Erfahrungssätze) bezeichnet, sondern auch angegeben werden, zu welchem Ergebnis die Beweiswürdigung hätte führen müssen. Hinsichtlich einer Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG hat der Kläger im Kern zutreffend den Inhalt des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung sowie die Maßstäbe der revisionsgerichtlichen Überprüfbarkeit dargestellt, seine nachfolgende Darlegung vermeintlicher Rechtsverletzungen des LSG jedoch daran nicht genügend ausgerichtet.

25

Dem Kläger ist es nicht gelungen darzustellen, dass das LSG bei der Ermittlung des GdB durch Verwertung der vorliegenden Beweismittel (ärztliche Befundberichte und Gutachten) gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen oder das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht berücksichtigt habe (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 128 RdNr 10 ff). Er behauptet, dass das LSG seiner Pflicht zur umfassenden Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens (s dazu Keller, aaO, RdNr 13 mwN) nicht entsprochen habe, indem es verschiedene ärztliche Befunde nicht berücksichtigt habe. Zur nachvollziehbaren Darstellung des behaupteten Verstoßes hätte der Kläger zunächst anhand des Inhalts des Berufungsurteils genau aufzeigen müssen, inwiefern die von ihm benannten Befunde darin nicht berücksichtigt worden seien. Da sich das LSG im Wesentlichen auf die Beurteilungen durch gerichtliche Sachverständige gestützt hat, hätte der Kläger zudem im Einzelnen darstellen müssen, dass in den Gutachten dieser Sachverständigen bestimmte ärztliche Befunde keine Berücksichtigung gefunden hätten. Daran mangelt es. Hingegen reicht es nicht aus, wenn der Kläger geltend machen wollte, die betreffenden Befunde hätten anders gewürdigt werden müssen (vgl dazu Leitherer, aaO, § 164 RdNr 12c).

26

Soweit der Kläger als Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) beanstandet, dass das LSG die gerichtlichen Sachverständigen Dr. N. und Dr. V. nicht ergänzend zu von ihm - dem Kläger - für weiter aufklärungsbedürftig gehaltenen Punkten befragt habe, hat er die entsprechenden Rechtsverletzungen ebenfalls nicht nachvollziehbar dargestellt. Eine Verletzung des § 103 SGG liegt vor, wenn sich das Tatsachengericht auf der Grundlage seiner eigenen materiell-rechtlichen Auffassung hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen(Leitherer, aaO, § 103 RdNr 20 mwN). Zwar kann sich ein Beteiligter zur Begründung seiner Revision - anders als im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG) - auf einen entsprechenden Verfahrensmangel auch dann stützen, wenn er einen Beweisantrag, dem das Gericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist, nicht ausdrücklich bezeichnet. Ein Gedrängt-Fühlen-Müssen des LSG ist jedoch - von offensichtlichen Fallgestaltungen abgesehen - nur dann anzunehmen, wenn das LSG durch den Beteiligten darauf hingewiesen worden ist, dass und inwiefern er die Sachaufklärung noch nicht als ausreichend erfolgt ansieht. Dass der Kläger dem LSG solche Hinweise gegeben habe, hat er nicht behauptet. Er hat zwar dargestellt, warum seines Erachtens das LSG die Sachverständigen hätte ergänzend befragen müssen, jedoch nicht ausgeführt, dass und wie er dem LSG den betreffenden Ermittlungsbedarf nahegelegt habe. Überdies hat der Kläger auch nicht dargelegt, zu welchem Ergebnis die ergänzende Befragung der Sachverständigen voraussichtlich geführt hätte (vgl dazu Leitherer, aaO, § 164 RdNr 12c).

27

d) Hinsichtlich des Anspruchs auf Feststellung eines GdB im Zeitraum vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 ist die Revision zulässig. Formen und Fristen sind eingehalten. Ihre Begründung genügt den Anforderungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Der Kläger macht schlüssig geltend, dass das LSG zu Unrecht das Prozessurteil des SG bestätigt und ihm insoweit eine Sachentscheidung verwehrt habe (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 55; BSG SozR 3-1500 § 73 Nr 10).

28

2. Die Revision des Klägers ist auch begründet, soweit die Feststellung des GdB des Klägers für die Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 im Streit ist. Sie führt zur entsprechenden Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

29

a) Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist die Klage in Bezug auf den genannten Zeitraum zulässig. Alle Prozessvoraussetzungen sind erfüllt.

30

Es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG). Angefochten ist zunächst der Bescheid vom 21.3.2003. Darin ist zwar nicht ausdrücklich erklärt, dass für die Zeit vor dem 1.11.2000 die Feststellung eines GdB abgelehnt werde. Da der Antrag des Klägers vom 26.9.2002 auf Feststellung eines GdB und Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises ab dem 4.1.1998 gerichtet war, liegt in der im Bescheid vom 21.3.2003 getroffenen Feststellung eines GdB von 20 für die Zeit ab dem 1.11.2000 jedoch zugleich die Ablehnung der Feststellung eines GdB für die Zeit davor. Nach dem für den Regelungsgehalt eines Verwaltungsakts (s § 31 SGB X) maßgeblichen sogenannten Empfängerhorizont (Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 31 RdNr 26 mwN), konnte der Kläger den Bescheid vom 21.3.2003 in diesem Sinne verstehen und hat ihn, wie seine Widerspruchsbegründung belegt, auch so verstanden. Diese ablehnende Entscheidung betreffend die Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 ist vom Beklagten in der Folgezeit in allen erteilten Abhilfe-, Änderungs- und Widerspruchsbescheiden aufrechterhalten worden. Ebenso hat der Kläger sein Ziel, der Beklagte möge für diesen Zeitraum das Bestehen eines GdB von mindestens 50 sowie die Eigenschaft als Schwerbehinderter (zur Differenzierung s BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 SB 1/10 R - juris RdNr 16, 17, SozialVerw 2011, 11) feststellen, bis zur Entscheidung des LSG stets weiter verfolgt. In diesem Umfang erstrebt er auch im Revisionsverfahren eine entsprechende Verpflichtung des Beklagten.

31

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen hat der Kläger für dieses Klagebegehren durchaus ein allgemeines Rechtsschutzinteresse und eine Klagebefugnis. Das allgemeine Rechtsschutzinteresse besteht, wenn der Kläger seine Rechte nicht auf einfachere Weise verwirklichen kann. Die Klagebefugnis erfordert demgegenüber die generelle Möglichkeit der Verletzung eigener Rechte des Klägers (zur Unterscheidung s nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, Vor § 51 RdNr 16a mwN). Ist die Klagebefugnis zu bejahen, ist das Rechtsschutzbedürfnis regelmäßig gegeben (Keller, aaO, mwN). Die Befugnis, eine gerichtliche Entscheidung - hier gegenüber dem Beklagten - verlangen zu können, wird schon durch die Behauptung des Klägers belegt, die angestrebte Entscheidung könne seine rechtliche oder wirtschaftliche Stellung verbessern. Die bloße Geltendmachung im Sinne der Behauptung einer Möglichkeit (s dazu Keller, aaO, § 54 RdNr 9, 10 mwN) reicht hier aus (s insbesondere BSG Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 2/07 R - BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6 RdNr 16, 18).

32

Soweit SG und LSG die Klage als unzulässig angesehen haben, weil der Kläger nicht die Voraussetzungen für eine vor den Zeitpunkt der Antragstellung zurückreichende Feststellung des GdB nach § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV erfülle, haben sie Inhalt und Reichweite der Prozessvoraussetzungen des allgemeinen Rechtsschutzinteresses und der Klagebefugnis verkannt. Zutreffend hat das LSG zwar ausgeführt, dass das - nach § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV erforderliche - besondere Interesse über das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis hinausgehe. Das besondere Interesse nach dieser Vorschrift betrifft jedoch gerade deswegen nicht die Zulässigkeit, sondern die Begründetheit der Klage. Fehlt es, ist die Klage unbegründet.

33

b) Nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens vermag der erkennende Senat die Annahme des SG und LSG nicht zu bestätigen, dass der Kläger für die Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 ein besonderes Interesse an der Feststellung seines GdB nicht besitze. Dieser hat zwar bisher ein derartiges Interesse nicht glaubhaft gemacht. Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG lässt sich ein besonderes Interesse des Klägers an der begehrten rückwirkenden Feststellung des GdB jedoch nicht ausschließen.

34

aa) Der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 für die Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 richtet sich nach dem Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz - SchwbG -) idF der Neubekanntmachung vom 26.8.1986 (BGBl I 1421, ber 1550), das bis zum 30.6.2001 gegolten hat. Die Vorschriften des SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I 1046) sind zum 1.7.2001 in Kraft getreten und erfassen damit Lebenssachverhalte erst von diesem Zeitpunkt an. Allerdings sind die hier maßgeblichen Vorschriften des SchwbG im Wesentlichen inhaltsgleich mit denen des SGB IX.

35

           

Nach § 4 Abs 1 S 1 SchwbG stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des Behinderten das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Außerdem stellen diese Behörden gemäß § 4 Abs 5 S 1 SchwbG auf Antrag des Behinderten ua aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als Schwerbehinderter und den GdB aus. Die Einzelheiten der Ausweisausstellung sind in der SchwbAwV (Näheres s BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 SB 3/10 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 13 RdNr 22) geregelt. § 6 Abs 1 S 1 und 2 SchwbAwV idF der hier einschlägigen Bekanntmachung vom 25.7.1991 (BGBl I 1739) bestimmt dazu:

Auf der Rückseite des Ausweises ist als Beginn der Gültigkeit des Ausweises einzutragen:

1.    

in den Fällen des § 4 Abs 1 und 4 SchwbG der Tag des Eingangs des Antrags auf Feststellung nach diesen Vorschriften,

2.    

…       

Ist auf Antrag des Schwerbehinderten nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses festgestellt worden, dass die Eigenschaft als Schwerbehinderter, ein anderer GdB oder ein oder mehrere gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben, ist zusätzlich das Datum einzutragen, von dem ab die jeweiligen Voraussetzungen mit dem Ausweis nachgewiesen werden können.

36

Der erkennende Senat hat sich zuletzt in seinem Urteil vom 7.4.2011 (aaO) zu dem Anspruch des behinderten Menschen auf eine vor seinen Feststellungsantrag zurückwirkende Feststellung eines GdB geäußert. In Abgrenzung zu seinem Urteil vom 29.5.1991 (- 9a/9 RVs 11/89 - BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3) hat er entschieden, dass für die behördliche Erstfeststellung, dass ein GdB von 50 bereits zu einem Zeitpunkt vor der Antragstellung vorgelegen hat, (nur) die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich ist und eine solche rückwirkende Feststellung im Erstfeststellungsverfahren, um das es sich auch hier handelt, nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt ist.

37

Hinsichtlich der auf Antrag des behinderten Menschen gesetzlich vorgeschriebenen behördlichen Feststellung der Behinderung und des GdB (s § 4 Abs 1 S 1 SchwbG, § 69 Abs 1 S 1 SGB IX) hat der Senat darauf hingewiesen, dass im Gesetz zwar nicht geregelt war und ist, von welchem Zeitpunkt an diese Entscheidung zu treffen ist. Hinreichende Maßgaben zur Bestimmung des Wirksamkeitsbeginns einer GdB-Feststellung lassen sich jedoch aus dem Sinn und Zweck solcher Feststellungen und dem Erfordernis einer Vermeidung unnötigen Verwaltungsaufwandes herleiten. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich um Statusfeststellungen handelt, die in einer Vielzahl von Lebensbereichen die Inanspruchnahme von Vorteilen und Nachteilsausgleichen ermöglichen sollen. Da eine derartige Inanspruchnahme regelmäßig nicht (für längere Zeit) rückwirkend möglich ist, reicht es grundsätzlich aus, wenn die GdB-Feststellung für die Zeit ab Antragstellung erfolgt. Mit der Stellung des Antrags bringt nämlich der behinderte Mensch der Behörde gegenüber sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck. Insofern ist es sachgerecht, von dem behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum festgestellt haben möchte. Diese aus dem SchwbG - und dem SGB IX - herzuleitenden rechtlichen Grundsätze haben ihren Niederschlag in den gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften über die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises gefunden. Dazu gehört auch die Regelung des § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV.

38

bb) Zur Eingrenzung des Begriffs des besonderen Interesses, wie er sich in § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV findet, hat der Senat(SozR 4-3250 § 69 Nr 13 RdNr 24) ähnliche Maßstäbe zugrunde gelegt wie bei dem Anspruch eines im Ausland lebenden Menschen mit Behinderung auf Feststellung seines GdB in Deutschland. Im Ergebnis ist danach das besondere Interesse anzunehmen, wenn dem Menschen mit Behinderung aus der - rückwirkenden - Feststellung seines GdB konkrete Vorteile erwachsen können. Als entsprechenden Vorteil hatte das BSG zuvor bereits die - grundsätzliche - Möglichkeit der Inanspruchnahme einer gesetzlichen Altersrente für schwerbehinderte Menschen anerkannt (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 5; BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6). In seinem Urteil vom 7.4.2011 (aaO) hat der Senat im Einklang mit der dortigen Vorinstanz auch die Möglichkeit des Bezuges einer abschlagsfreien Altersrente ausreichen lassen, um ein besonderes Interesse an der vor die Antragstellung zurückwirkenden Feststellung eines GdB von 50 als Grundlage für die Feststellung der Schwerbehinderung (s § 2 Abs 2 SGB IX) anzunehmen.

39

Im vorliegenden Rechtsstreit ist die Inanspruchnahme von Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung - entgegen der letzten Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten des Klägers im Schriftsatz vom 13.9.2011 - nicht von Bedeutung, soweit es Feststellungen für den Zeitraum vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 betrifft. Für die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Rente für schwerbehinderte Menschen mit Vollendung des 60. Lebensjahres ohne gesetzliche Abschläge ist, worauf das LSG zutreffend hingewiesen hat, die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft für die Zeit vor dem 1.11.2000 nicht erforderlich. Gesetzlicher Stichtag ist nach § 236a Abs 4 SGB VI der 16.11.2000. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte, die - wie der Kläger - vor dem 17.11.1950 geboren sind und am 16.11.2000 schwerbehindert (§ 2 Abs 2 SGB IX) waren, Anspruch auf "diese" Altersrente (für schwerbehinderte Menschen), wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet haben, bei Beginn der Altersrente als schwerbehinderte Menschen anerkannt waren und die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. Die Vorschrift setzt somit nicht voraus, dass der Versicherte bereits am 16.11.2000 60 Jahre alt war. Ebenso wenig ist erforderlich, dass die Schwerbehinderung an diesem Tag bereits anerkannt (festgestellt) war. Vielmehr reicht es aus, wenn im Zeitpunkt des Rentenbeginns eine auf den 16.11.2000 bezogene Feststellung der Schwerbehinderung vorliegt.

40

Soweit der Kläger zur Begründung eines besonderen Interesses an der Feststellung seines GdB schon für die Zeit ab dem 1.4.1998 anführt, er wolle insoweit Steuervorteile in Anspruch nehmen, hat sich das BSG mit dieser Problematik sachlich noch nicht abschließend befasst. Zwar war es auch in dem durch das Urteil vom 29.5.1991 (BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3) entschiedenen Revisionsverfahren Ziel des dortigen Klägers, Steuervorteile in Anspruch zu nehmen. Einer sachlich-rechtlichen Beurteilung dieses Ziels bedurfte es jedoch nicht, weil eine abschließende Entscheidung allein im Hinblick auf die spezifischen Bestimmungen des § 44 Abs 2 iVm Abs 4 S 1 SGB X möglich war.

41

Nach Auffassung des Senats kann auch die beabsichtigte Inanspruchnahme von konkreten Steuervorteilen ein besonderes Interesse an einer vor die Antragstellung zurückreichenden Feststellung des GdB begründen. Die bisher zu dieser Frage ergangenen instanzgerichtlichen Entscheidungen, die ein besonderes Interesse verneint haben, überzeugen nicht.

42

Das LSG für das Saarland (Beschluss vom 5.11.2002 - L 5 B 12/01 SB) hat maßgebend darauf abgehoben, dass die rückwirkende Feststellung auf offenkundige Fälle beschränkt bleiben müsse. Dass diese rechtliche Voraussetzung in Verfahren der Erstfeststellung des GdB nicht gilt, hat das BSG unlängst entschieden (Urteil vom 7.4.2011, aaO). Das SG Dortmund (Urteil vom 29.3.2004 - S 43 SB 20/03) hat es für entscheidend gehalten, dass steuerliche Vergünstigungen für im Arbeitsleben stehende behinderte Menschen die typische Folge der Feststellung eines GdB seien und daher ein besonderes Interesse an dessen rückwirkender Feststellung nicht begründen könnten. Diese Argumentation greift zu kurz, denn damit ließe sich in Bezug auf jeden einer großen Personenzahl zugänglichen Vorteil, der sich aus der Feststellung eines GdB oder der Schwerbehinderung ableiten lässt, das von § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV verlangte besondere Interesse verneinen.

43

Das im hiesigen Revisionsverfahren angefochtene Urteil des LSG schließlich hat seine Beurteilung allein mit dem Hinweis auf das Urteil des BSG vom 29.5.1991 (- 9a/9 RVs 11/89 - BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3) begründet. Das BSG habe ausgeführt, dass steuerliche Vorteile ein besonderes Interesse nicht darstellen könnten. Diese Begründung trifft nicht zu. In seinem Urteil vom 29.5.1991 hat sich das BSG nicht in diesem Sinne geäußert. Insbesondere hat es nicht ausdrücklich ausgeschlossen, dass die beabsichtigte Inanspruchnahme von Steuervorteilen ein besonderes Feststellungsinteresse begründen könne. Seine vom LSG zitierten Ausführungen führen allein zu der Schlussfolgerung, dass die weitere Rückwirkung eines Antrags, wie sie in § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV vorgesehen ist, auf offenkundige Fälle beschränkt werden muss, in denen bei Anwendung des § 44 Abs 2 SGB X auch das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung begründen kann. Diesbezüglich hat der Senat bereits klargestellt, dass für die Erstfestsetzung eines GdB zu einem vor der Antragstellung liegenden Zeitpunkt nur die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich ist und eine solche rückwirkende Feststellung nicht auf offenkundige Fälle beschränkt ist.

44

Zwar bringt die Zuerkennung eines Pauschbetrages nach § 33b EStG für ein bestimmtes Kalenderjahr dem behinderten Menschen wohl weitaus weniger finanzielle Vorteile als die Vermeidung eines - lebenslangen - Rentenabschlages. Um einen nennenswerten finanziellen Vorteil handelt es sich indes gleichwohl. Der Senat sieht keinen Grund, warum derartige Vorteile kein besonderes Interesse iS des § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV begründen sollen. Entscheidend ist, dass diese Vorteile für den Antragsteller bei einer rückwirkenden Feststellung des GdB auch konkret in Betracht kommen müssen.

45

cc) Unter welchen tatsächlichen Umständen ein besonderes Interesse an der rückwirkenden GdB-Feststellung angenommen werden kann, wird durch den Begriff der Glaubhaftmachung bestimmt. Insoweit reicht die bloße Behauptung des Antragstellers, Steuervorteile in Anspruch nehmen zu wollen, nicht aus, um ein besonderes Interesse als glaubhaft gemacht anzusehen.

46

Der in § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV verwendete Begriff der Glaubhaftmachung ist ua bekannt aus dem gerichtlichen Beweisrecht(s § 294 ZPO). Er findet dort in bestimmten Bereichen Anwendung, in denen ein an Sicherheit grenzender Nachweis von Tatsachen aus bestimmten Gründen nicht möglich ist oder durch Erleichterung der Beweisanforderungen eine Beschleunigung des Verfahrens erreicht werden soll (vgl zB § 406 Abs 3 ZPO; § 178a Abs 2 S 1 Halbs 2 SGG). Die Glaubhaftmachung ist eine Beweisführung, die dem Richter einen geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit vermitteln soll (Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl 2011, § 294 RdNr 1; s auch BSG SozR 5070 § 3 Nr 1 und SozR 3-3900 § 15 Nr 4). Herkömmlicherweise wird beweisrechtlich unterschieden zwischen dem sog Vollbeweis und der sog Glaubhaftmachung. Während beim Vollbeweis die betreffende Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur vollen Überzeugung festgestellt werden muss, reicht bei der Glaubhaftmachung die Annahme einer überwiegenden und damit hinreichenden Wahrscheinlichkeit für deren Bestehen aus. Dazu wiederum ist ausreichend, dass mehr Umstände für das Vorliegen der Tatsache als dagegen sprechen. Zudem ist die Glaubhaftmachung nicht an die förmlichen Beweismittel der ZPO gebunden (Reichold, aaO). Den Wahrscheinlichkeitsbeweis hat - wie den Vollbeweis - derjenige zu führen, dem die Feststellung der Tatsache rechtlich zugute kommt.

47

Auch außerhalb des gerichtlichen Beweisrechts findet die Glaubhaftmachung Anwendung, etwa im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung. Bei Fehlen von Versicherungsunterlagen für Zeiten vor dem 1.1.1950 (§ 286a SGB VI) oder für die Feststellung von erheblichen Tatsachen nach dem Fremdrentengesetz (FRG) ist die Glaubhaftmachung der für den Anspruch erheblichen Tatsachen zugelassen und vorgeschrieben. § 4 Abs 1 S 2 FRG enthält im Übrigen eine gesetzliche Begriffsbestimmung. Danach ist eine Tatsache glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist.

48

Auch das Verwaltungsverfahrensrecht der Kriegsopferversorgung, das in anderen Gesetzen des sozialen Entschädigungsrechts für entsprechend anwendbar erklärt wird (vgl zB § 6 Abs 3 Opferentschädigungsgesetz), kennt die Glaubhaftmachung (s § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung -KOVVfG-). Nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 3-3900 § 15 Nr 4) ist im sozialen Entschädigungsrecht sogar von drei Beweismaßstäben, nämlich vom Vollbeweis, von der Wahrscheinlichkeit und der Glaubhaftmachung, auszugehen. Dies erklärt sich aus § 15 KOVVfG, der von der Möglichkeit einer Glaubhaftmachung ohne Unterlagen allein aufgrund der Angaben des Antragstellers ausgeht. Ein Anlass, diese Besonderheit auf das Schwerbehindertenrecht zu übertragen, besteht indes nicht, auch wenn das KOVVfG gemäß § 4 Abs 1 S 2 SchwbG(bzw § 69 Abs 1 S 3 SGB IX)grundsätzlich entsprechend anwendbar ist. Denn § 15 KOVVfG soll den im sozialen Entschädigungsrecht gelegentlich auftretenden Beweisschwierigkeiten in besonderer Weise Rechnung tragen(vgl dazu Knörr in Knickrehm , Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, §§ 12 bis 18 KOVVfG RdNr 5 ff).

49

Abgesehen von den dargestellten Beweiserleichterungen für denjenigen, der eine Tatsache glaubhaft zu machen hat, beinhaltet die normative Pflicht zur Glaubhaftmachung grundsätzlich auch die Verpflichtung des Antragstellers, alle notwendigen Tatsachen darzulegen und alle erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Diese Darlegungs- und Beibringungspflicht besteht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) auch im Rahmen der Glaubhaftmachung nach § 294 ZPO(BGH Beschluss vom 11.9.2003 - IX ZB 37/03 - BGHZ 156, 139). Danach ist es allein Sache der Partei, der die Last der Glaubhaftmachung obliegt, die Beweismittel beizubringen. Die Partei kann sich grundsätzlich aller Beweismittel auch außerhalb des gerichtlichen Beweisverfahrens nach §§ 355 ff ZPO bedienen und es genügt ein geringerer Grad der richterlichen Überzeugungsbildung.

50

Diese für den Zivilprozess entwickelte Rechtsprechung bedarf für Verwaltungs- und Gerichtsverfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz (s § 20 Abs 1 S 1 SGB X; § 103 S 1 SGG) der Modifikation. Die dem Beteiligten des entsprechenden Verfahrens (hier nach § 4 SchwbG iVm § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV) obliegende Pflicht zur Glaubhaftmachung durch Darlegung und ggf Vorlage entsprechender Beweismittel schränkt die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen ein, ohne sie jedoch gänzlich zu verdrängen. Die Amtsermittlungspflicht setzt allerdings erst dann ein, wenn der Antragsteller seinen Darlegungspflichten nachgekommen und die Wahrscheinlichkeit für den glaubhaft zu machenden Umstand dargetan hat (BSGE 45, 1, 9 = SozR 3900 § 40 Nr 9; BSG SozR 5070 § 3 Nr 1; BSG Beschluss vom 10.8.1989 - 4 BA 94/89). Weiter bleibt die Behörde zur Sachaufklärung verpflichtet, wenn der Antragsteller nach entsprechender Darlegung die zur Glaubhaftmachung notwendigen Unterlagen nicht selbst beschaffen kann und deren Beschaffung durch die Behörde selbst nicht unmöglich erscheint.

51

Darüber hinaus ist die Behörde verpflichtet, den Antragsteller auf seine Darlegungs- und Beibringungspflichten zur Glaubhaftmachung hinzuweisen und ihn notfalls aufzufordern, Fehlendes nachzuholen. Dies folgt aus der auch im Feststellungsverfahren des Schwerbehindertenrechts geltenden Pflicht zur Aufklärung und Beratung (vgl §§ 13, 14 SGB I).

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Abhängig von den rechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des konkret in Rede stehenden wirtschaftlichen oder rechtlichen Vorteils kann dessen "Glaubhaftmachung" im Rahmen des Schwerbehindertenrechts (vgl § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV) weniger oder mehr Aufwand verlangen. Der Umfang der notwendigen Glaubhaftmachung richtet sich nach dem konkret angestrebten rechtlichen oder wirtschaftlichen Vorteil. Wird etwa als konkreter Vorteil geltend gemacht, eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung abschlagsfrei beziehen zu wollen, sind dafür andere Umstände wahrscheinlich zu machen als für die Behauptung, rückwirkend Steuervorteile in Anspruch nehmen zu wollen. Das liegt an den rechtlichen Unterschieden zwischen dem materiellen Rentenrecht und dem Steuerrecht ebenso wie an Unterschieden im jeweiligen Recht des Verwaltungsverfahrens.

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Soweit § 4 SchwbG iVm § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses verlangt, ist dem Antragsteller die Verpflichtung zur Darlegung auferlegt, dass für ihn steuerrechtliche Vorteile für die betreffende Zeit vor der Beantragung der Feststellung des GdB konkret erreichbar sind. Das wäre zB der Fall, wenn die Steuerbescheide für diesen Zeitraum noch nicht bindend wären, und zwar entweder insgesamt oder bezüglich der Anerkennung der Pauschbeträge für behinderte Menschen (§ 33b EStG). Entsprechend verhielte es sich, wenn der Antragsteller - bei Vorliegen eines bindenden Steuerbescheides - die Erfüllung der Voraussetzungen nach § 173 Abs 1 Nr 2 oder § 175 Abs 1 S 1 Nr 2 Abgabenordnung glaubhaft machen könnte. Zweckmäßigerweise sollte die entsprechende Glaubhaftmachung durch Vorlage einer Bescheinigung des zuständigen Finanzamtes erfolgen.

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dd) Dass der Kläger nach diesen Kriterien bereits ein besonderes Interesse an einer Feststellung seines GdB für die Zeit vom 4.1.1998 bis 31.10.2000 glaubhaft gemacht hat, lässt sich den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht entnehmen. Andererseits ist nicht ersichtlich, dass der Beklagte bereits seiner Verpflichtung nachgekommen ist, den Kläger auf seine Darlegungsobliegenheiten hinzuweisen und - falls notwendig - zur Ergänzung seiner Angaben aufzufordern. Demzufolge muss dem Kläger die Glaubhaftmachung auch im derzeitigen Stand des Verfahrens noch ermöglicht werden. Die Nichterfüllung der Hinweis- und Aufklärungspflicht durch den Beklagten führt im bereits anhängigen sozialgerichtlichen Verfahren dazu, dass das Tatsachengericht - hier das LSG - im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht den Kläger zur Darlegung und Vorlage entsprechender Nachweise aufzufordern hat. Dies hat das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus, dass die beabsichtigte Inanspruchnahme steuerlicher Vorteile unter keinen Umständen ein besonderes Interesse iS des § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV begründen könne, bislang konsequent unterlassen.

55

Da der Senat als Revisionsgericht die erforderlichen Ermittlungen nicht durchführen darf (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil in entsprechendem Umfang aufzuheben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 S 2 SGG).

56

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die

1.
vor dem 2. Januar 1961 geboren und
2.
berufsunfähig
sind.

(2) Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.