Arzthaftung: Unterbliebene Hinzuziehung eines Neurologen begründet groben Behandlungsfehler

bei uns veröffentlicht am07.10.2013

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Rechtsanwalt

für Familien- und Erbrecht

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Zusammenfassung des Autors
wenn ein massiver Hirnstamminfarkt unentdeckt bleibt, den ein hinzugezogener Neurologe erkennen musste.
Das OLG Hamm hat mit dem Urteil vom 12.08.2013 (Az: 3 U 122/12) folgendes entschieden:

Das (einfach) behandlungsfehlerhafte Versäumnis, einen Neurologen zur Beurteilung der Bildgebung einer Computertomographie hinzuzuziehen, begründet einen fiktiven groben Behandlungsfehler, wenn ein massiver Hirnstamminfarkt unentdeckt bleibt, den hinzugezogener Neurologe erkennen musste, so dass ein Versäumnis seinerseits als grober Behandlungsfehler zu beurteilen wäre.

Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen - das am 06.06.2012 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert und wie folgt neu gefasst.

Die Beklagten zu 2) und 3) werden verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,- € sowie weitere 70,- € Mehrbedarfsschaden zu zahlen, jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.09.2009. Ferner werden die Beklagten zu 2) u. 3) verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.830,18 € jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.09.2009 zu zahlen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.


Gründe

Der Kläger macht als Sohn und Erbe seiner am ... 1934 geborenen und am ... 2006 verstorbenen Mutter V (im Folgenden: Patientin) Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten aufgrund einer fehlerhaften Behandlung im Zusammenhang mit einer bei der Patientin vorliegenden Herzerkrankung bzw. eines Hirnstamminsultes geltend.

Die Patientin wurde am 30. und 31.08.2002 erstmals im Krankenhaus der Beklagten zu 3) (St. F-Krankenhaus E, Klinik für allgemeine innere Medizin und Kardiologe; Chefarzt war der ehemalige Beklagte zu 1) Privatdozent Dr. F) wegen eines Verdachtes auf einen Hinterwandinfarkt, der sich nicht bestätigte, stationär behandelt. Vom 20.10.2003 bis zum 24.10.2003 wurde die Patientin im Marienhospital N wegen anhaltender Schwindelanfälle behandelt. Die zweite stationäre Behandlung im Hause der Beklagten zu 3) fand im Zeitraum vom 03.10.2004 bis zum 10.10.2004 wegen eines anfallsartigen Vorhofflimmerns statt. Erstmals wurde dort eine absolute Arrhythmie festgestellt und eine Elektrokardioversion durchgeführt. Nach einer einwöchigen Antikoagulation mit dem niedermolekularen Heparin Clexane wurde die Behandlung mit ASS 100 unter bewusstem Verzicht auf eine Marcumarisierung durchgeführt. Im Zeitraum vom 08.05.2005 bis zum 13.05.2005 fand die dritte stationäre Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 3) (Chefarzt war nunmehr der Beklagte zu 2)) wegen rezividierendem Vorhofflimmern statt. Ein Herzinfarkt wurde ausgeschlossen und es wurde eine deutliche Gastritis und Refluxösophagitis festgestellt. Die Behandlung mit ASS 100 wurde fortgeführt sowie ferner ein Betablocker verordnet. Eine Kontrollgastroskopie in 14 Tagen wurde empfohlen und bei Besserung des Befundes ggfls. eine Einleitung der Antikoagulation mit Marcumar. Im Zeitraum vom 27.10.2005 bis zum 04.11.2005 fand die 4. stationäre Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 3) wegen erneutem Vorhofflimmerns statt. Erneut wurde eine absolute Arrhythmie festgestellt, wiederum eine Thrombozytenaggregationshemmerbehandlung mit ASS 100 durchgeführt sowie ferner ein Betablocker verordnet. Wegen einer erosiven Gastritis und Refluxösophagitis wurde bewusst auf eine Marcumarisierung verzichtet.

Am Mittag des 12.11.2005 fand der Kläger seine Mutter in deren Wohnung, die sich im gleichen Haus wie die Wohnung des Klägers befindet, mit einer linksseitigen Habseitenlähmung im Bett vor. Der Kläger alarmierte sofort den Notdienst, der zeitnah in der Wohnung der Patientin erschien und sie in die Klinik der Beklagten zu 3) verbrachte. Kurz vor Eintreffen der Patientin im Krankenhaus verlor sie das Bewusstsein und erlitt nach Eintreffen in der Klinik im Schockraum einen Krampfanfall mit Aspiration. Daraufhin wurde seitens der Ärzte der Beklagten eine Intubation und Bronchoskopie durchgeführt und ferner zeitnah ein craniales natives CT ohne Kontrastmittelgabe. Ein solches CT wurde erneut am 13.11.2005 durchgeführt. Am 14., 15., 16. und 17.11.2005 fanden jeweils neurologische Konsile statt, bei dem sich das Bild eines Locked-In-Syndroms bei abgelaufener Basilaristhrombose ergab. Am 18.11.2005 wurde die Patientin in das Knappschaftskrankenhaus S in die dortige Klinik für Neurologie verlegt, wo ein massiver Hirnstamminfarkt nach Basilarisembolie festgestellt und eine Therapie mit ASS 100 und Clexane durchgeführt wurde. Nach Entlassung aus der stationären Behandlung am 23.12.2005 fand bis zum 21.04.2006 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik I statt. Im Zeitraum vom 22.04.2006 bis zum 28.04.2006 wurde die Patientin erneut stationär im Hause der Beklagten zu 3) behandelt. Im Anschluss daran befand sich die Patientin bis zum ihrem Tod am 30.07.2006 in einem Pflegeheim.

Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, im Krankenhaus der Beklagten zu 3) seien das Vorhofflimmern bzw. die Herzrhythmusstörungen der Patientin nicht ordnungsgemäß behandelt worden, etwa durch eine Herzkatheterablation oder eine Lysetherapie. Jedenfalls sei die Patientin nicht über die genannten alternativen Therapien aufgeklärt worden. Fehlerhaft sei es insbesondere auch gewesen, keine ordnungsgemäße Antikoagulation durchzuführen. Diese hätte mit Marcumar oder mit ASS in einer Dosierung von 325 mg stattfinden müssen. Die bei der Patientin vorliegende Refluxösophagitis bzw. Gastritis habe keine Kontraindikation hierfür dargestellt. Am 12.11.2005 sei eine rechtzeitigere Überweisung in eine Spezialklinik erforderlich gewesen. Seitens der Beklagten sei es insbesondere unterlassen worden, eine unmittelbare Thrombolysebehandlung nach dem Schlaganfall vom 12.11.2005 vorzunehmen.

Als Folge der fehlerhaften Behandlungen habe die Patientin unter erheblichen Schmerzen und Beschwerden, insbesondere auch unter Herzrhythmusstörungen gelitten. Folge der fehlerhaften Behandlung sei auch der Eintritt des Schlaganfalls am 12.11.2005 mit der weiteren Folge eines Locked-In-Syndroms (Lähmung der Extremitäten bei vollem Bewußtsein) und der vollständigen Pflegebedürftigkeit.

Für die genannten Folgen hat der Kläger ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von mindestens 250.000,-- Euro für erforderlich gehalten. Ferner hat er einen Haushaltsführungsschaden in Höhe von 11.672,09 Euro, ein Pflegemehrbedarfsschaden in Höhe von 1.513,80 Euro, pauschale Besuchskosten in Höhe von 250,-- Euro, Krankenhauszuzahlungen in Höhe von 155,-- Euro sowie Beerdigungskosten in Höhe von 5.000,-- Euro begehrt.

Der Kläger hat, nachdem er bereits erstinstanzlich die Klage gegen den ehemaligen Beklagten zu 1) zurückgenommen hat, gegenüber den Beklagten zu 2) und 3) beantragt, sie als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 18.590,89 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, mindestens jedoch 250.000,-- Euro, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, an ihn 3.599,87 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie sind dem Haftungsbegehren dem Grund und der Höhe nach entgegen getreten und haben behauptet, dass während der stationären Behandlung weitere Maßnahmen sowie eine Katheterablation nicht veranlasst gewesen seien, da die Patientin nach den jeweils durchgeführten Maßnahmen beschwerdefrei gewesen sei. Insbesondere habe die Patientin auch keinen Herzinfarkt gehabt. Eine Marcumarisierung sei wegen bei der Patientin vorliegenden Refluxösophagitis und Gastritis nicht indiziert gewesen. Die Behandlung ab dem 12.11.2005 habe ebenfalls dem medizinischen Standard entsprochen.

Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil vom 06.06.2012 auf Basis des Gutachtens des Kardiologen und Internisten Prof. Dr. U, der sein Gutachten auch mündlich erläutert hat, die Klage vollständig abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, dass es jedenfalls vertretbar gewesen sei, hinsichtlich der Thromboembolieprophylaxe mit ASS 100 zu behandeln statt mit Marcumar, da bei der Patientin ein niedriges Risiko bestanden und zudem Entzündungen des Magens und der Speiseröhre vorgelegen hätten. Eine Ablationsbehandlung sei nicht geboten gewesen, da dies zum damaligen Zeitpunkt kein Standard, sondern ein experimentelles Verfahren gewesen sei. Die Dosierung von ASS sei nicht zu beanstanden, da eine höhere Dosierung keine Vorteile erbracht hätte. Eine Aufklärung der Patientin über eine Behandlung mit Marcumar sei nicht erforderlich gewesen, da es vertretbar gewesen sei, keine Indikation für diese Therapie anzunehmen. Zudem sei die Patientin aber wohl darüber informiert gewesen, da schon im Entlassungsbrief vom 12.10.2004 auf die Absicht der Marcumarisierung bei erneuter Arrhythmie hingewiesen worden sei. Die Akutbehandlung am 12.11.2005 sei nicht fehlerhaft gewesen. Nach dem Standard der Fachabteilung der Beklagten zu 2) musste an diesem Tag noch kein neurologisches Konsil eingeholt werden bzw. eine Verlegung in eine neurologische Klinik sei nicht erforderlich gewesen. Soweit der Sachverständige beanstandet habe, dass am 13.11.2005 kein neurologisches Konsil eingeholt worden sei, sei dies nicht kausal für einen Schaden geworden, da das Zeitfenster für eine Lysetherapie geschlossen gewesen sei.

Der Kläger verfolgt mit seiner Berufung seine erstinstanzlich gestellten Anträge gegen die Beklagten zu 2) und 3) voll umfänglich weiter. Er rügt dabei unter Vorlage eines Privatgutachtens des neurologischen Sachverständigen Prof. Dr. T, dass eine Indikation für eine Marcumartherapie seit Mai 2005 gemäß den damals geltenden Leitlinien vorgelegen habe. Insoweit habe es sich bei der Patientin nicht, wie vom gerichtlichen Sachverständigen und vom Landgericht angenommen, um eine Patientin mit einem niedrigen Thromboembolierisiko gehandelt, sondern um eine solche mit einem mittleren bis hohen Risiko. Risikofaktoren seien insbesondere das Alter der Patientin mit 70 bzw. 71 Jahren, die arterielle Hypertonie und das bestehende rezidivierende Vorhofflimmern gewesen. Die Magenschleimhautentzündung habe nach den Leitlinien keine Kontraindikation dargestellt, da die Gabe von Marcumar nicht zu einer Veränderung der Entzündungssituation führe und ein Magenbluten nicht vorgelegen habe. Bei einer entsprechenden Marcumarisierung wäre es nach der Behauptung des Klägers nicht zu der Embolie im November 2005 gekommen.

Darüber hinaus sei die Behandlung am 12.11.2005 fehlerhaft gewesen. Die bestehende Halbseitensymptomatik sowie die Krankheitsentwicklung mit einem Verlust des Bewusstseins kurz vor Einlieferung in die Klinik der Beklagten zu 3) hätten jeden Arzt, also auch einen Kardiologen, an eine lebensbedrohliche Erkrankung des neurologischen Fachgebiets denken lassen müssen. Deshalb wäre nach Durchführung des CT sofort eine Verlegung in eine neurologische Klinik mit Stroke-Unit erforderlich gewesen. Dazu hätte insbesondere das Knappschaftskrankenhaus S mit einer Entfernung von 17 km und einer Fahrzeit von ca. 20 Minuten zur Verfügung gestanden. Die Unterlassung der Verlegung in eine neurologische Klinik sei grob fehlerhaft gewesen. Eine thrombolytische Behandlung hätte noch innerhalb des 12-Stunden-Zeitfensters stattfinden können. Dann habe eine belegbare Chance bestanden, dass die Patientin mit geringeren Defiziten deutlich länger überlebt hätte.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils, die Beklagten zu 2) und 3) als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 18.590,89 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, mindestens jedoch 250.000,-- Euro, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, an ihn 3.599,87 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten zu 2) und 3) beantragen, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens. Aufgrund der bei der Patientin vorliegenden Magenschleimhautentzündung sei eine Marcumarbehandlung nicht indiziert gewesen. Hinsichtlich der Behandlung im November 2011 hätten die Symptome der Patientin nicht zwingend auf einen Schlaganfall hingedeutet, so dass die von den Beklagten durchgeführte Diagnostik und Behandlung sachgerecht gewesen sei.

Wegen des zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Der Senat hat den Kläger persönlich angehört. Ferner hat der bereits erstinstanzlich tätige internistische und kardiologische Sachverständige Prof. Dr. U ein ergänzendes mündliches Gutachten erstattet. Darüber hinaus hat der Senat ein weiteres schriftlichen neurologisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T3, der sein Gutachten im Senatstermin auch erläutert hat, eingeholt. Wegen der Einzelheiten der Anhörung des Klägers sowie der mündlichen Erläuterungen der Sachverständigen Prof. Dr. U und Prof. Dr. T3 wird auf die Sitzungsprotokolle der Senatstermine vom 30.01.2013 und 12.08.2013 sowie der jeweiligen Vermerke des Berichterstatters von diesen Tagen verwiesen.

Die zulässige Berufung des Klägers hat auch in der Sache teilweise Erfolg.

Der Senat folgt bei der Beurteilung des medizinischen Geschehens den überzeugenden Ausführungen des internistisch-kardiologischen Sachverständigen Prof. Dr. U sowie des neurologischen Sachverständigen Prof. Dr. T3, die als Chefärzte einer großen internistischen Klinik bzw. stellvertretender Direktor einer großen neurologischen Universitätsklinik über eine große Sachkunde verfügen.

Ein haftungsrelevanter Behandlungsfehler kann anlässlich der stationären Aufenthalte der Patientin im Hause der Beklagten zu 3), die vor dem 12.11.2005 stattgefunden haben, nicht festgestellt werden. Der Kläger hat mit seiner Berufung insoweit lediglich noch gerügt, dass im Rahmen der stationären Behandlungen der Patientin vom Mai 2005 eine Behandlung mit Marcumar leitliniengerecht gewesen sei. Allerdings war nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. U nach dem im Jahr 2005 geltenden medizinischen Standard die Behandlung mit ASS 100 in jedem Falle gut vertretbar war. Der Sachverständige Prof. Dr. U hat seine Ausführungen insbesondere anschaulich im Senatstermin anhand des von ihm selbst mitverfassten Kommentars zu den ACC/AHA/ESC-Leitlinien 2001 zur Prävention arterieller Thromboembolien bei Patienten mit Vorhofflimmern in der Fassung vom 10.04.2003 erläutert. Aus der in dieser Kommentierung dargestellten Tabelle 2 ergibt sich, dass die Patientin der in dieser Tabelle an dritter Stelle dargestellten Gruppe, nämlich mit einem Alter von 60 Jahren oder älter sowie keinen Risikofaktoren, zuzuordnen ist. Hiernach war die Verabreichung von Aspirin zur antithrombotischen Therapie indiziert. Soweit der Kläger darauf abgestellt hat, dass ein bei der Patientin bestehender Bluthochdruck einen Risikofaktor dargestellt habe, hat der Sachverständige Prof. Dr. U erläutert, dass in keiner Behandlungsdokumentation auftauche und auch sonstwie nicht ersichtlich sei, dass dieser Blutdruck irgendwie behandelt worden sei. Selbst wenn der Blutdruck behandelt worden wäre, so spielte dieser für eine anderweitige Risikoeinstufung keine Rolle, weil der Bluthochdruck als Risikofaktor in der genannten Tabelle 2 nicht aufgeführt ist. Beim Bluthochdruck handelt es sich insoweit um keinen Diskriminierungsfaktor, weil man z. B. auch bei einer hypertensiven Krise nicht mit Marcumar behandeln würde. Der genannten Tabelle 2 ist nur zu entnehmen, dass bei einer über 60-jährigen Patientin nur dann eine orale Antikoagulation mit Marcumar stattzufinden hat, wenn sie an Diabetes oder einer koronaren Herzkrankheit leidet; beides lag bei der Patientin nicht vor.

Soweit in der genannten Tabelle 2 eine Aspirindosis von 325 mg pro Tag angegeben ist, handelte es sich um eine Höchstdosierung nach der amerikanischen Leitlinie. Nach dieser amerikanischen Leitlinie sollte Aspirin in einer Dosierung zwischen 75 und 325 mg täglich verabreicht werden. Nachdem zum damaligen Zeitpunkt in Deutschland geltenden Standard wurden allerdings immer 100 mg Aspirin täglich verordnet.

Soweit der Kläger beanstandet und auch der Sachverständige Prof. Dr. U gefordert hat, dass mit der Patientin darüber zu sprechen gewesen sei, ob man ASS oder Marcumar verabreiche, kann letztlich dahingestellt bleiben, ob es sich hierbei um aufklärungspflichtige Behandlungsalternativen oder um eine Frage des nicht aufklärungspflichtigen therapeutischen ärztlichen Ermessens handelt. Der Senat neigt allerdings nach den Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. U im Senatstermin eher zu letztgenannter Auffassung, da der Sachverständige insofern erklärt hat, dass die Entscheidung, ob man mit ASS 100 oder mit Marcumar behandele, nicht dem Patienten überlassen werden könne, insbesondere auch deshalb, da Marcumar einen schlechten Ruf habe und auch eine ständige Kontrolle erforderlich sei. Jedenfalls aber ist nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar und vom Kläger bewiesen, dass der Patientin aus der Behandlung mit ASS 100 bzw. der Unterlassung der Behandlung mit Marcumar ein Schaden entstanden ist. Der Sachverständige Prof. Dr. U hat insoweit ausgeführt, dass ein solcher Schlaganfall, wie er hier bei der Patientin eingetreten sei, auch unter Behandlung mit Marcumar hätte eintreten können, wenngleich auch das statistische Risiko hierfür insoweit geringer war.


Behandlungsfehlerhaft seitens der Beklagten war es jedoch, am 12.11.2005 nicht zeitnah nach Einlieferung der Patientin im Krankenhaus einen Facharzt für Neurologie hinzuzuziehen. Bereits aus den Ausführungen des internistisch-kardiologischen Sachverständigen Prof. Dr. U im Senatstermin vom 30.01.2013 ergab sich, dass es zumindest geboten war, nach der zunächst korrekterweise durchgeführten nativen Computertomographie einen Neurologen zwecks Beurteilung der angefertigten Bildgebung hinzuzuziehen. Selbst wenn sich in der Klinik der Beklagten zu 3) keine neurologische Abteilung befand, wäre es nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. U jedenfalls möglich und geboten gewesen, einem auswärtigen Neurologen die Bildgebung des CT zu überspielen.

Diese Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. U sind vom neurologischen Sachverständigen Prof. Dr. T3 nochmals ausdrücklich bestätigt worden. Der Sachverständige Prof. Dr. T3 hat insoweit überzeugend dargestellt, dass es zwar für einen Internisten bzw. Kardiologen nicht zwingend gewesen sei, aus den Bildern der angefertigten Computertomographie den Verdacht auf eine zudem sehr selten vorkommende Basilaristhrombose zu erheben. Allerdings wäre es für den die Bildgebung befundenden Radiologen zwingend geboten gewesen, auf den Bildern eine hypodense Struktur der Arteria basilaris zu erkennen und damit einen hochgradigen Verdacht auf einen Verschluss dieser Arterie zu erheben. Aufgrund dieses hochgradigen Verdachtes wäre es wiederum zwingend geboten gewesen, einen Facharzt für Neurologie hinzuzuziehen, der dann die Diagnose eines Verschlusses der Arteria basilaris bestätigt hätte.

Der Beurteilung als fehlerhaft steht insoweit auch nicht entgegen, dass es sich bei dem die Bildgebung befundenen Arzt möglicherweise nicht um einen Radiologen, sondern ausweislich der Behandlungsunterlagen um den Chefarzt Dr. T2 handelt. Da dieser im Rahmen der Befundung einer Computertomographie eine ärztliche Tätigkeit ausgeübt hat, die in den Fachbereich eines Radiologen fällt, muss er sich auch am Standard eines Facharztes für Radiologie messen lassen.

Nach den weiteren überzeugenden Ausführungen des neurologischen Sachverständigen Prof. Dr. T3 wäre Folge der durch einen Neurologen gestellten Diagnose eines Verschlusses der Arteria basilaris die rasche Verlegung der Patientin in eine neurologische Klinik bzw. eine Klinik mit Stroke-Unit gewesen. Dort hätte innerhalb des noch geöffneten 12-Stunden-Zeitfensters eine systemische oder lokale Lysebehandlung mit der sehr guten Chance eines besseren Ergebnisses für die Patientin stattgefunden.

Hinsichtlich der Folgen des genannten Behandlungsfehlers kommt dem Kläger nach den Grundsätzen des sogenannten fiktiven groben Behandlungsfehlers eine Beweiserleichterung zu. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. T3, denen sich der Senat in rechtlicher Hinsicht anschließt, war es nicht grob, sondern nur einfach fehlerhaft, dass die behandelnden Ärzte im Hause der Beklagten zu 3) kein Facharzt für Neurologie hinzugezogen haben. Grob fehlerhaft wäre es allerdings gewesen, wenn der hinzuzuziehende Neurologe aufgrund der Bildgebung der Computertomographie einen Verschluss der Arteria Basilaris nicht verifiziert und die sofortige Verlegung in eine neurologische Klinik oder eine Stroke-unit veranlasst hätte.

Dieser fiktive grobe Fehler war nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. T3 auch geeignet, die bei der Patientin dann aufgetretene Symptomatik, insbesondere die eines Locked-In-Syndroms, hervorzurufen, sowie ferner den Tod der Patientin zum 30.07.2006. Auf Basis der Ausführungen dieses Sachverständigen haben die Beklagten auch nicht den ihnen im Rahmen der Beweislastumkehr obliegenden Beweis erbracht, dass der Verlauf bei rechtzeitiger Behandlung in einer neurologischen Klinik und Durchführung einer Lysetherapie identisch gewesen wäre. Vielmehr bestand, wie bereits ausgeführt, eine sehr gute Chance auf ein besseres Ergebnis, da bei einer rechtzeitigen Lysetherapie eine gute Rekanalisierungsrate zu verzeichnen ist und mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 60% deutlich bessere Ergebnisse zu erzielen gewesen wären, was auch hinsichtlich des letalen Verlaufs gilt.

Für den genannten Fehler schulden die Beklagten zu 2) und 3) der Patientin Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz, der im Wege der Erbfolge auf den Kläger als Alleinerben übergegangen ist.

Im Hinblick auf die immateriellen Schäden war dem Kläger ein ererbtes Schmerzensgeld in der ausgeurteilten Höhe von 50.000,-- Euro zuzubilligen. Diesbezüglich waren insbesondere die mit dem bei der Patientin aufgetretenen Locked-in-Syndrom verbundenen Beeinträchtigungen abzugelten. Diese bestehen nach den Angaben des neurologischen Sachverständigen darin, dass die Patientin wach war sowie hören, sehen und riechen, sich bis aber auf Augenbewegungen nicht bewegen konnte. Ob ein derartiger Patient Schmerzen empfindet, ist wissenschaftlich nicht belegt. Da die Patientin mit diesen Beeinträchtigungen bis zu ihrem Tod, der als solcher nicht im Rahmen eines Schmerzensgeldes zu entschädigen ist, ca. ein dreiviertel Jahr zu leben hatte, hält der Senat das ausgeurteilte Schmerzensgeld für angemessen, aber auch ausreichend, um dem Leiden der Patientin genüge zu tun und Abgeltung zu verschaffen. Wegen der darüber hinausgehenden, weit übersetzten Schmerzensgeldvorstellung des Klägers war die Klage teilweise ab- und die Berufung zurückzuweisen, weil ein Schmerzensgeld in Höhe von 250.000,-- Euro - gerade auch im Vergleich zu schweren Geburtsschadensfällen, bei denen die Rechtsprechung derzeit ein Höchstschmerzensgeld von ca. 500.000,-- Euro zubilligt - nur bei erheblich schwereren Beeinträchtigungen, die insbesondere bei jüngeren Patienten auftreten, bzw. erheblich länger andauern als bei der Patientin im vorliegenden Fall, in Betracht kommt.

Ein Schadensersatz aufgrund eines Haushaltsführungsschadens war dem Kläger nicht zuzusprechen. Der Anspruch ist vom Kläger bereits nicht schlüssig dargelegt worden. Ein solcher Anspruch besteht nur, soweit die Arbeit wegen der unfallbedingten Minderung der Fähigkeit, den Haushalt zu führen, von anderen Personen erledigt werden muss. Er besteht also z. B. nicht, wenn ein Alleinstehender unfallbedingt im Krankenhaus liegt und eine Haushaltsführung praktisch nicht stattfindet; dann könnte Ersatz allenfalls für den geringen Aufwand verlangt werden, der dadurch entsteht, dass jemand ab und zu die Blumen gießt etc.. Hierfür ist aber nicht ansatzweise etwas dargelegt, zumal man im vorliegenden Fall zugrunde zu legen hat, dass derartige kleinere Arbeiten wie z. B. Blumen gießen durch den im Haus der Patientin lebenden Kläger als deren Sohn unentgeltlich erledigt werden konnten und auch erledigt worden sind.

Ebenso wenig hat der Kläger substantiiert einen Pflegemehrbedarfsschaden dargelegt. Die Patientin befand sich ab dem 12.11.2005 in stationärer Krankenhausbehandlung bzw. voll stationärer Rehabilitationsbehandlung und ab dem 21.04.2006 in einem Seniorenheim. Insoweit ist weder vorgetragen noch im Ansatz ersichtlich, inwieweit auch zusätzliche Pflegeleistungen zu erbringen waren, die über diejenigen in den genannten Einrichtungen erbrachten Pflegeleistungen hinaus gehen.

Soweit der Kläger weiteren bezifferten materiellen Schadensersatz geltend macht, waren ihm einzig die nicht bestrittenen Zuzahlungskosten für den Krankenhausaufenthalt der Patientin vom 22.04.2006 bis zum 28.04.2006 in Höhe von 70,-- Euro zuzusprechen. Dieser Krankenhausaufenthalt war offensichtlich Folge des Behandlungsfehlers vom 12.11.2005, während die übrigen Krankenhausaufenthalte, für die der Kläger Ersatz der Zuzahlungskosten begehrt, vor dem genannten festgestellten Behandlungsfehler stattgefunden haben. Die vom Kläger geltend gemachten Beerdigungskosten in einer pauschalen Höhe von 5.000,-- Euro sind von ihm nicht hinreichend substantiiert worden.

Soweit der Kläger demnach in einer betragsmäßigen Höhe von 50.070,-- Euro obsiegt hat, steht ihm nach diesem Wert ein Ersatzanspruch hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu. Auf Basis der von den Beklagten nicht näher bestrittenen Kostennote der Rechtsanwälte R und Partner vom 24.04.2008 ergibt sich bei einem Gegenstandswert von 50.070,-- Euro und einem Gebührensatz von 2,1 eine Gebühr von 2.358,30 Euro. Unter Berücksichtigung der Pauschale für Post und Telekommunikation sowie der gesetzlichen Mehrwertsteuer von 19% ergibt sich der tenorierte Gesamtbetrag der Anwaltskosten in Höhe von 2.830,18 Euro.


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Oberlandesgericht Hamm Urteil, 12. Aug. 2013 - 3 U 122/12

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Tenor Auf die Berufung des Klägers wird – unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen – das am 06.06.2012 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert und wie folgt neu gefasst.Die Beklagten zu 2) und 3) werden verurte

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Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird – unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen – das am 06.06.2012 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert und wie folgt neu gefasst.

Die Beklagten zu 2) und 3) werden verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,- € sowie weitere 70,- € Mehrbedarfsschaden zu zahlen, jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.09.2009. Ferner werden die Beklagten zu 2) u. 3) verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.830,18 € jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.09.2009 zu zahlen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden wie folgt verteilt:

Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) trägt der Kläger.

Von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) u. 3) tragen der Kläger 81 % und die Beklagten zu 2) u. 3) 19 %.

Von den Gerichtskosten sowie den außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen der Kläger 86 % und die Beklagten zu 2) u. 3) 14 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Parteien wird gestattet, die Vollstreckung der jeweils anderen Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.


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