Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Nov. 2017 - 1 StR 554/16

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:091117B1STR554.16.0
bei uns veröffentlicht am09.11.2017

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 554/16
vom
9. November 2017
in der Strafsache
gegen
1.
2.
3.
wegen zu 1.: Steuerhinterziehung u.a.
zu 2. u. 3.: Beihilfe zur Steuerhinterziehung u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:091117B1STR554.16.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 9. November 2017
beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 24. Mai 2016 werden als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO). Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Ergänzend bemerkt der Senat zu einer Rüge des Angeklagten W. , mit der dieser die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet: 1. Mit der auf die Verletzung von § 249 Abs. 2 StPO gerichteten Verfahrensrüge macht dieser Angeklagte geltend, den an der Entscheidungsfindung beteiligten Schöffinnen sei wegen der Anzahl der vom Selbstleseverfahren erfassten Urkunden und dem für die Lektüre zur Verfügung stehenden Zeitraum ein „letztlich unmögliches Selbststudium“ auferlegt worden. Der Beanstandung liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am 20. Januar 2016, dem ersten Hauptverhandlungstag, verfügte die Vorsitzende die Durchführung des Selbstleseverfahrens hinsichtlich einer Vielzahl von der Revision durch Einrücken der Selbstleseliste näher bezeichneter Urkunden. Erklärungen zu dieser Verfügung wurden nicht abgegeben. Am zwei- ten Hauptverhandlungstag, dem 29. Januar 2016, erging eine weitere Selbstleseverfügung der Vorsitzenden. Die davon betroffenen Urkunden hat die Revision ebenfalls durch Einrücken der diesbezüglichen Selbstleseliste bezeichnet. Im Anschluss an die zweite Selbstleseverfügung widersprach dieser der Verteidiger des Angeklagten und beantragte gemäß § 238 Abs. 2 StPO eine gerichtliche Entscheidung. Dem lag das Vorbringen zugrunde, „nach dem derzeitigen Stand“ müssten etwa 12.000 Blatt selbst gelesen werden. Unter Berücksichtigung des insbesondere für die Schöffinnen für das Lesen zur Verfügung stehenden Zeitraums sei ein solches Selbstleseverfahren letztlich unmöglich. Am 26. Februar 2016, dem vierten Hauptverhandlungstag, beschloss die Strafkammer den Umfang der ersten Selbstleseverfügung vom 20. Januar 2016 um näher bezeichnete Teile zu reduzieren. Im Übrigen wurden mit ausführlicher Begründung die Selbstleseverfügungen der Vorsitzenden bestätigt. Am 6. April 2016, dem zehnten Hauptverhandlungstag, wurde festge- stellt, dass „das Gericht und die Schöffen“ vom Wortlaut der von den Selbst- leseverfügungen - bezüglich derjenigen vom 20. Januar 2016 im nachträglich durch den genannten Gerichtsbeschluss reduzierten Umfang - erfassten Urkunden und Schriftstücken Kenntnis genommen haben. 2. Die Rüge dringt im Ergebnis nicht durch.
a) Der Senat versteht ihre Angriffsrichtung dahin, dass im Hinblick auf die Anzahl vom Selbstleseverfahren erfasster Urkunden und Schriftstücke jedenfalls für die beteiligten Laienrichterinnen kein ausreichender Zeitraum zur Verfügung stand, um vom Inhalt Kenntnis zu nehmen. Damit wird die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet (vgl. LR/Mosbacher, 26. Aufl., StPO, § 249 Rn. 105; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 249 Rn. 117b). Die für die Zulässigkeit einer darauf gerichteten Rüge erforderliche gerichtliche Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301) ist herbeigeführt worden. Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob eine derartige Rüge überhaupt zulässig erhoben werden kann, weil sie notwendig die Behauptung impliziert , dass die protokollierte Feststellung, Richter und Schöffen haben vom Inhalt der betroffenen Urkunden Kenntnis genommen, inhaltlich unrichtig ist (vgl. zu diesem Aspekt BGH, Beschluss vom 23. Mai 2012 – 1 StR 208/12, NStZ 2012, 584, 585). Zwar wird durch den entsprechenden Passus in der Niederschrift lediglich die Protokollierung der Feststellung als solche, nicht aber bewiesen, dass tatsächlich gelesen worden ist (BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20 f.; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b mwN). Ungeachtet dessen geht mit dem Vorwurf eines verfahrensfehlerhaft unangemessen kurzen Zeitraums für das Selbstleseverfahren (dazu näher LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 79 f.) die Behauptung einher, wegen der nicht ausreichenden Zeit sei auch tatsächlich nicht alles gelesen worden, was Gegenstand des Selbstleseverfahrens war. Deshalb bedarf es bei einer den unzureichenden Zeitraum des Selbstleseverfahrens beanstandenden Rüge Vortrags zu den konkreten tatsächlichen Umständen, aus denen sich das Unterbleiben der Selbstlesung oder die nicht ausreichende Zeit dafür ergeben kann (LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 111; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b und Rn. 118 jeweils mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20, 21). Ob die Revision vor diesem Hinter- grund den aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO resultierenden Anforderungen genügt, kann dahinstehen. Die pauschalen Angaben über den regelmäßigen Umfang des Inhalts von Leitzordnern und der sich daraus ergebenden Blattzahl reichen dafür jedenfalls nicht. Immerhin ermöglicht das Einrücken der Selbstleselisten, die Angaben zu den Blattzahlen der erfassten Schriftstücke enthalten, dem Senat, die Gesamtblattzahl grob selbst zu berechnen.
b) Die Beanstandung erzielt jedenfalls in der Sache keinen Erfolg. Der für das Selbstlesen den Schöffinnen zur Verfügung stehende Zeitraum selbst zwischen der zweiten Selbstleseverfügung am 29. Januar 2016 und dem Abschluss des Verfahrens am 6. April 2016 bei sieben dazwischen liegenden Verhandlungstagen eröffnet erst recht unter Berücksichtigung der Reduktion des Umfangs des ersten Selbstleseverfahrens am 26. Februar 2016 einen ausreichend langen Zeitraum, um die betroffenen Schriftstücke und Urkunden zu lesen. Ausweislich der von der Revision vorgelegten Selbstleselisten handelt es sich bei zahlreichen der Schriftstücke um listenmäßige Aufstellungen, auf die sich die von der Revision geltend gemachten durchschnittlichen Zeiten für das Erfassen einer Seite nicht ohne Weiteres übertragen lassen. In der Person der beiden Schöffinnen liegende konkrete tatsächliche Umstände, die dem Lesen der beiden Selbstlesekonvolute in dem genannten Gesamtzeitraum entgegengestanden haben könnten, teilt die Revision nicht mit.
Daher fehlt es an Anknüpfungstatsachen, die die Angemessenheit der Dauer des Selbstleseverfahrens in Frage stellen. Angesichts dessen war der Senat nicht veranlasst, freibeweislich zu klären, ob die protokollierte Feststellung über das erfolgte Lesen durch die Schöffinnen materiell zu Unrecht erfolgt ist. Raum Jäger Radtke Bär Hohoff

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Nov. 2017 - 1 StR 554/16

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Nov. 2017 - 1 StR 554/16

Referenzen - Gesetze

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 344 Revisionsbegründung


(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen. (2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer R

Strafprozeßordnung - StPO | § 249 Führung des Urkundenbeweises durch Verlesung; Selbstleseverfahren


(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind. (2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen
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Strafprozeßordnung - StPO | § 238 Verhandlungsleitung


(1) Die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme des Beweises erfolgt durch den Vorsitzenden. (2) Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

(1) Die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme des Beweises erfolgt durch den Vorsitzenden.

(2) Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person als unzulässig beanstandet, so entscheidet das Gericht.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 422/10
vom
14. Dezember 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Dezember 2010 beschlossen
:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Wuppertal vom 22. März 2010 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Der Angeklagte war faktischer Geschäftsführer einer nominell von seiner früheren Ehefrau geführten Firma, die im Zusammenhang mit dem Handel mit gebrauchten Baumaschinen und Lastkraftwagen in ein näher beschriebenes, über Jahre bundesweit praktiziertes Steuerhinterziehungssystem einbezogen war. Insgesamt wurde allein Umsatzsteuer - ebenfalls hinterzogene Einkommenund Gewerbesteuer sind nicht mehr Verfahrensgegenstand - in Höhe von mehr als 1,5 Millionen € sowohl durch die Verschleierung von Umsätzen als auch durch unberechtigten Vorsteuerabzug auf der Grundlage fingierter Rechnungen hinterzogen.
2
Auf dieser Grundlage wurde der Angeklagte wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision erhebt eine Verfahrensrüge in Zusammenhang mit einem Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) und die näher ausgeführte Sachrüge. Sie bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
3
1. Zur Verfahrensrüge:
4
Auf Anordnung des Vorsitzenden wurde ein Selbstleseverfahren durchgeführt , das sich auf eine zwei Seiten umfassende Tabelle bezog, die von der Überschrift: „Vorsteuerbeträge aus Rechnungseingängen der Firmen G. GmbH + T. GmbH / 2000 bis 2004“ abgesehen, weitgehend aus Zahlen besteht.
5
Hieran knüpft die Revision an:
6
Der aus Syrien stammende Angeklagte verfügt ausweislich der Urteilsgründe „über keine Schulbildung, kann nicht Lesen und Schreiben“. Ergänzend heißt es an anderer Stelle der Urteilsgründe, nach Angaben der früheren Ehefrau könne er „nur ein paar Worte und im übrigen nur Zahlen lesen“. Ergänzend trägt die Revision näher vor, dass und warum die (mit dem die Revision begründenden Verteidiger nicht identische) Verteidigerin im damaligen Hauptverhandlungstermin der Auffassung war, nähere Erläuterungen gegenüber dem Angeklagten zu diesem Selbstleseverfahren seien nicht erforderlich. Insgesamt, so die Revision , komme „ein Selbstleseverfahren mit einem leseunkundigen Angeklagten … nicht in Betracht“. Nachdem der Generalbundesanwalt die Zulässigkeit der Rüge bezweifelt hat, weil ein Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht erhoben worden sei, hat die Revision erwidert (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO), nicht die Anordnung des Selbstleseverfahrens sei fehlerhaft gewesen, sondern dessen Durchführung.
7
a) Der Vorsitzende bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, ob ein Selbstleseverfahren durchzuführen ist (Mosbacher in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 64). Dabei sind auch - hier, wie die Revision zutreffend vorträgt , schon im Ermittlungsverfahren aktenkundig gewordene - Anhaltspunkte für Analphabetismus in die Erwägungen einzubeziehen (vgl. Mosbacher aaO Rn. 85). Einen Rechtssatz, dass in derartigen - nach forensischer Erfahrung nicht häufigen - Fällen ein Selbstleseverfahren keinesfalls zulässig sei, gibt es nicht. Wird ein solches - hier zwei Aktenseiten betreffendes - Verfahren für zweckmäßig gehalten, so ist die Situation damit vergleichbar, dass der Angeklagte Urkunden zwar lesen, aber mangels Sprachkenntnissen nicht verstehen kann. Auch dann ist ein Selbstleseverfahren möglich, jedoch muss das Gericht ermöglichen, dass ihm der Inhalt der Urkunde zur Kenntnis gebracht wird (vgl. Mosbacher aaO Rn. 80). Jedoch kann, von den hier nicht in Rede stehenden Richtern abgesehen , jeder Verfahrensbeteiligte, also auch der Angeklagte, auch darauf verzichten , vom Inhalt der Urkunden Kenntnis zu nehmen (vgl. Mosbacher aaO Rn. 82). Verzichtet er nicht, kann der Inhalt gegebenenfalls durch einen hierzu bereiten Verteidiger zur Kenntnis gebracht werden, sonst auf andere Weise. Es ist dem Strafprozessrecht auch sonst nicht fremd, dass erforderlichenfalls Urkunden vorgelesen werden (vgl. § 35 Abs. 3 StPO; zur Notwendigkeit des Vorlesens auch unter anderen als den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen vgl. Graalmann-Scheerer aaO § 35 Rn. 27).
8
b) Weder auf (etwaige) Fehler bei der Anordnung, noch bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens kann mit Erfolg eine Verfahrensrüge gestützt werden , wenn zuvor kein Gerichtsbeschluss herbeigeführt wurde. Hinsichtlich der Anordnung ist eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO herbeizuführen, bei der das Ermessen des Spruchkörpers an die Stelle des Ermessens des Vorsitzenden tritt (Mosbacher aaO Rn. 76). Geht es nicht um die Anordnung, sondern die ebenfalls zunächst vom Vorsitzenden zu bestimmende Art der Durchführung des Selbstleseverfahrens (Mosbacher aaO Rn. 81), ist eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeizuführen, wobei dann nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme zu überprüfen ist (Mosbacher aaO Rn. 103). Hier ist weder das eine noch das andere geschehen. Daher ist für eine Verfahrensrüge im Zusammen- hang mit dem Selbstleseverfahren kein Raum (Mosbacher aaO Rn. 110; Kindhäuser NStZ 1987, 529, 531< § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO>; Mosbacher aaO Rn. 114 <§ 238 Abs. 2 StPO>). Soweit keine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt wurde, ist ergänzend auf folgendes hinzuweisen: Der Bundesgerichtshof hat offen gelassen, ob eine Rüge auch dann daran scheitert, dass keine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt wurde, wenn die behauptete Rechtsverletzung durch den Vorsitzenden nicht mehr mit der Einhaltung „der unumstößlichen, eindeutigen Grenzen zulässiger Verfahrensgestaltung“ vereinbar wäre (BGH, Urteil vom 16. November 2006 - 3 StR 139/06, JR 2007, 381, 384). Der Senat braucht dieser Frage hier ebenfalls nicht näher nachzugehen, da es hier um die Wahrung eines Rechts geht, auf das der Angeklagte, wie dargelegt, nach seinem Belieben verzichten kann, ohne dass mit einem solchen Verzicht Prozessrecht verletzt wäre. Wird die Verletzung eines derartigen Rechts gerügt, bleibt es bei dem Grundsatz, dass eine solche Rüge nur Erfolg haben kann, wenn eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt wurde.
9
2. Mit der Sachrüge macht die Revision geltend, es bleibe unklar, auf welcher Feststellungsgrundlage die mitgeteilten Umsatzsteuerverkürzungen der Höhe nach berechnet seien. Insoweit ist der Revision zuzugestehen, dass die Urteilsgründe nicht ausdrücklich ergeben, wie hoch die Umsätze waren, die den vom Angeklagten begangenen Umsatzsteuerhinterziehungen zu Grunde lagen. Dies gefährdet hier allerdings den Bestand des Urteils nicht.
10
Es ist zu differenzieren:
11
a) Soweit unberechtigter Vorsteuerabzug (§ 15 UStG) auf der Grundlage von Scheinrechnungen erfolgte, reichte es für die Sachdarstellung in den Urteilsgründen aus, dass dessen Höhe beziffert wird (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 420/10). Aus dem Umstand, dass vorliegend den Scheinrechnungen keine tatsächlich erbrachten Leistungen zu Grunde lagen, folgt, dass der gesamte aus diesen Scheinrechnungen geltende gemachte Vorsteuerabzug zu Unrecht erfolgte. Besonderheiten des Einzelfalls, die vorliegend weitere Darlegungen erforderlich gemacht hätten, sind nicht ersichtlich.
12
b) Soweit Umsatzsteuer dadurch verkürzt wurde, dass in den Umsatzsteuervoranmeldungen und Umsatzsteuerjahreserklärungen des Unternehmens steuerbare Umsätze verschwiegen wurden, wären demgegenüber - nicht mit erkennbarem Mehraufwand verbundene - Feststellungen zur Höhe der verschwiegenen Umsätze sachgerecht gewesen, um den Senat auch ohne aufwändige eigene Bemühungen die von ihm auf ihre rechtliche Tragfähigkeit zu überprüfenden tatsächlichen Grundlagen des Urteils erkennen zu lassen. Unter den gegebenen Umständen gefährdet dieser Mangel hier den Bestand des Urteils jedoch nicht:
13
Die Überzeugung von der Richtigkeit der im Urteil festgestellten Besteuerungsgrundlagen kann das Tatgericht auch anhand eines Geständnisses des Angeklagten, das das Tatgericht überprüft hat, oder anhand von verlässlichen Wahrnehmungen von Beamten der Finanzverwaltung, die diese in der Hauptverhandlung als Zeuge berichten, gewinnen. Angaben von Beamten der Finanzverwaltung zu tatsächlichen Gegebenheiten können - wie bei sonstigen Zeugen auch - taugliche Grundlage der Überzeugung des Tatgerichts sein (vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 - 1 StR 718/08, NJW 2009, 2546 Rn. 18 f.).
14
Erweist sich - wie hier - die Berechnung der verkürzten Steuern auf Grundlage der so getroffenen Feststellungen als einfacher Rechenschritt (die festgestellte Hinterziehungssumme stellt nach dem zur Tatzeit geltenden Umsatzsteuersatz 16 % des zu Grunde liegenden Umsatzes dar), kann die Feststellung allein der hinterzogenen Steuern ausreichend sein. Anhaltspunkte da- für, dass der Strafkammer bei der Berechnung der hinterzogenen Umsatzsteuer (vgl. UA S. 16) bei der gegebenen Sachlage Rechtsanwendungsfehler zum Nachteil des Angeklagten unterlaufen sind, bestehen nicht, zumal der verteidigte Angeklagte die Richtigkeit des Zahlenwerks auch selbst anerkannt hat.
15
3. Auch im Übrigen hat die auf Grund der Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Nack Wahl Hebenstreit RiBGH Prof. Dr. Sander befindet sich in Urlaub und ist deshalb an der Unterschrift verhindert. Jäger Nack

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 208/12
vom
23. Mai 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. Mai 2012 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 17. Januar 2012 wird als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Der Angeklagte wurde nach Verständigung (§ 257c StPO) wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen (unberechtigter Vorsteuerabzug von fast 1,3 Mio. € aus „Abdeckrechnungen“ und unzutreffenden Gutschriften) zu drei Jahren und drei Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt.
2
Seine Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
3
Zusammenfassend und ergänzend zu den zutreffenden, auch von der Erwiderung der Revision nicht entkräfteten Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
4
1. Die Revision meint, die Bewertung des Geständnisses des Angeklagten als glaubhaft beruhe auf unzureichender Grundlage. Die maßgeblichen Vernehmungen des Angeklagten und von Zeugen hätten, wie sich aus der mitgeteilten jeweiligen Dauer der einzelnen Verfahrensabschnitte ergibt, insgesamt nur 83 Minuten gedauert, abzüglich noch der für zugleich durchgeführte formale Vorgänge benötigten Zeit.
5
Das Vorbringen versagt.
6
Die Revision erwähnt in diesem Zusammenhang schon nicht, dass die Feststellungen auch auf ein umfangreiches Selbstleseverfahren gestützt sind. Auch unabhängig davon ist der Senat nicht der Auffassung, schon der genannte zeitliche Rahmen ergäbe, dass Feststellungen zu einem Geständnis hinsichtlich eines - zumal für eine Wirtschaftsstrafkammer - leicht erfassbaren Sachverhalts und zu dessen Überprüfung nicht Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) sein könnten. Sollte die Revision dahin zu verstehen sein, der Senat möge den Ablauf der Hauptverhandlung im Detail überprüfen, um so festzustellen, dass speziell vorliegend keine ordnungsgemäße Beweiserhebung vorliegen könne, wäre verkannt, dass das Revisionsgericht Gang und Inhalt der Beweisaufnahme nicht rekonstruiert (vgl. schon BGH, Urteil vom 7. Oktober 1966 - 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151 mwN). Sollte darüber hinaus zum Ausdruck gebracht sein, ein im Rahmen einer Verständigung (§ 257c StPO) abgelegtes Geständnis sei schon im Ansatz intensiver zu überprüfen als ein nicht im Rahmen einer Verständigung abgelegtes Geständnis, wäre dem ebenfalls nicht zu folgen. Die Beweiswürdigung hat stets auch solche Gesichtspunkte erkennbar zu erwägen, die auf Grund der Urteilsfeststellungen nahe liegen und die gegen das gefundene Ergebnis sprechen können.
7
Es gibt keine forensische Erfahrung, wonach bei einem Geständnis stets oder jedenfalls dann, wenn es im Rahmen einer Verständigung abgelegt wurde, ohne weiteres regelmäßig mit einer wahrheitswidrigen Selbstbelastung zu rechnen sei. Dies gilt auch dann, wenn - wie nach Auffassung der Revision möglicherweise hier - der Angeklagte durch ein unwahres Geständnis Sohn und/oder Lebensgefährtin vor einer Bestrafung schützen würde. Allein die gesetzlichen Wertungen in § 52 StPO, § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB und § 258 Abs. 6 StGB können die für eine solche Annahme erforderlichen konkreten Anhaltspunkte nicht ersetzen. Derartige konkrete Anhaltspunkte sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich. Allein die (theoretische) Denkbarkeit eines Geschehensablaufs führt nicht dazu, dass er zu erörtern wäre (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 20. September 2011 - 1 StR 120/11, NStZ-RR 2012, 72, 73 mwN).
8
Soweit die Revision zugleich auch § 244 Abs. 2 StPO für verletzt hält, ist entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO weder mitgeteilt, welcher Beweismittel sich die Strafkammer noch hätte bedienen sollen, noch mitgeteilt, welche konkreten Erkenntnisse davon zu erwarten gewesen wären.
9
2. Die Revision macht geltend, das angeordnete Selbstleseverfahren sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Innerhalb von vier Tagen, darunter ein Wochenende, hätte das Gericht insgesamt 674 Seiten (vielfach mit wenigen Zeilen beschriebene Rechnungen) nicht ordnungsgemäß zur Kenntnis nehmen können.
10
Eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO (vgl. allgemein zu Notwendigkeit der Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses als Zulässigkeitsvoraussetzung einer ein Selbstleseverfahren betreffenden Verfahrensrüge BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301) ist nicht herbeigeführt worden.
11
Die Revision ist der Auffassung, § 238 Abs. 2 StPO sei hier deshalb unanwendbar , weil es nur um die Frage gehe, ob die Mitglieder der Strafkammer, insbesondere die Schöffen, die Urkunden in der gebotenen Intensität zur Kenntnis genommen hätten. Darüber hinaus sei die sog. Widerspruchslösung hier schon im Ansatz unanwendbar, da dem Verfahren eine Verständigung zu Grunde liege.
12
Beides ist unzutreffend.
13
a) Ist, wie hier, eine ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens durch das Hauptverhandlungsprotokoll belegt, kann erfolgreiches Revisionsvorbringen nicht auf Überlegungen zu einer - jedenfalls objektiv - fehlen- den „Wahrhaftigkeit“ der zu Grunde liegenden richterlichen Erklärungen ge- stützt werden (zum umgekehrten Fall, dass das Hauptverhandlungsprotokoll die gebotene Kenntnisnahme durch die Richter nicht belegt vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2011 - 1 StR 33/11, StV 2011, 462, 463).
14
b) Es ist auch nicht ersichtlich, warum eine vorangegangene Verständigung eine sonst für eine Verfahrensrüge notwendige Voraussetzung entfallen lassen könnte. Auch die Revision nennt keine Gründe, die nach ihrer Auffassung die von ihr aufgestellte gegenteilige Behauptung stützen könnten.
15
Im Übrigen entbehrte die Behauptung, es sei „nicht plausibel, dass u.a. ein Glasermeister, der an Werktagen in aller Regel arbeitet, von dem ihm zum Selbstlesen zugewiesenen Urkunden und Schriftstücken“ ordnungsgemäß im Selbstleseverfahren Kenntnis genommen hätte, jeglicher Grundlage.
16
3. Auch unter Berücksichtigung des gesamten Revisionsvorbringens, wonach es gegen Verfassungs- und Menschenrecht verstoße, dass die Strafkammer eine Strafe verhängt habe, die zwar innerhalb des im Rahmen der Verständigung genannten Strafrahmens liege, nicht aber dessen Untergrenze (drei Jahre) bilde, sieht der Senat keine Veranlassung, von der - von der Revi- sion angeführten - gegenteiligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abzuweichen. Ein im Rahmen einer Verständigung abgelegtes Geständnis ist die Voraussetzung dafür, dass die Strafe nur dem zuvor genannten Strafrahmen zu entnehmen ist; es führt aber nicht dazu, dass eine andere als eine die Untergrenze des Strafrahmens überschreitende Strafe nicht mehr verhängt werden dürfte. Einen entsprechenden Vertrauenstatbestand hat das Gericht nicht geschaffen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2010 - 1 StR 345/10).
Nack Wahl Hebenstreit Jäger Sander

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 131/10
vom
14. September 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am
14. September 2010 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 8. September 2009
a) aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. b) und d) sowie M. b) und c) verurteilt worden ist,
b) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte schuldig ist - des Betruges in 26 Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, - des Betruges in 63 Fällen, davon in zehn Fällen in jeweils zwei tateinheitlichen Fällen, - des versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in acht Fällen und - des versuchten Betruges in sechs Fällen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in 26 Fällen, wegen Betruges in 74 Fällen, wegen versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in acht Fällen und wegen versuchten Betruges in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Außerdem hat es ihm die berufliche Tätigkeit auf den Gebieten der Frauenheilkunde und der Geburtshilfe sowie der plastischen Chirurgie für die Dauer von drei Jahren untersagt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten , mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet , hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Das Landgericht hat 11 Fälle, in denen Patientinnen eine vom Angeklagten jeweils in betrügerischer Absicht gestellte Arztrechnung über in Wahrheit nicht erbrachte Leistungen bei zwei verschiedenen Abrechnungsstellen - der Beihilfestelle und der privaten Krankenversicherung - zur jeweils anteiligen Begleichung einreichten, als jeweils zwei zueinander in Tatmehrheit stehende Fälle des Betruges, davon in einem Fall in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, bewertet. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
3
Bei mehreren Tatbeteiligten ist die Frage der Handlungseinheit oder -mehrheit für jeden Beteiligten nach der Art seines Tatbeitrages selbstständig zu ermitteln. Bei Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft sind selbstständige Betrugstaten der unmittelbar gegenüber den Geschädigten Handelnden beim Mittäter oder Hintermann, dessen Handlung sich in nur einer Tätigkeit erschöpft , als eine einheitliche Tat anzusehen (BGH, Beschluss vom 17. Juni 2004 - 3 StR 344/03, NJW 2004, 2840, 2841; Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07, NStZ 2008, 352 f.; Fischer, StGB, 57. Aufl., Vor § 52 Rn. 34 mwN). Das Einreichen der falschen Rechnung durch die Patientinnen bei zwei unterschiedlichen Kostenträgern stellt sich damit für den Angeklagten, der jeweils nur eine unrichtige Rechnung ausstellte, als eine einheitliche Tat dar.
4
Dies führt zur Aufhebung des Urteils wegen Betruges in 11 Fällen und zum Wegfall der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen von zwei mal einem Jahr und zwei Monaten in den Fällen V. b) und M. c) sowie von neun mal einem Jahr in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. d) und M. b). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert.
5
Trotz des Wegfalls von 11 Einzelstrafen hat die Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten Bestand. Der Senat kann im Hinblick auf die verbleibenden 103 Einzelfreiheitsstrafen in Höhe von zwei mal einem Jahr und sechs Monaten, 10 mal einem Jahr und vier Monaten, 47 mal einem Jahr und zwei Monaten, 30 mal einem Jahr, acht mal 10 Monaten und sechs mal acht Monaten ausschließen, dass das Landgericht auf eine niedrigere Gesamtstrafe erkannt hätte, wenn es die weggefallenen Einzelstrafen nicht in die Gesamtstrafenbildung mit einbezogen hätte.
6
2. Im verbleibenden Umfang der Verurteilung hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO).
7
Nicht durchgreifend ist insbesondere die Verfahrensbeanstandung, das Landgericht habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 StPO Feststellungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien (s.a. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10 - zu einer inhaltsgleichen Rüge). Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
8
Im Zuge der Beweisaufnahme zu 13 Fällen betreffend insgesamt acht Patientinnen hat der Strafkammervorsitzende hinsichtlich jeweils mehrerer Urkunden protokolliert, dass diese verlesen wurden, dass die Verlesung gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO im Selbstleseverfahren erfolgte und dass der Angeklagte , der Verteidiger sowie die Vertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Kenntnisnahme erhielten. Im weiteren Verlauf hat er - jeweils nach Unterbrechung der Hauptverhandlung - zu Protokoll die Feststellung getroffen, die Schöffen und die Berufsrichter hätten von den jeweiligen schriftlichen Unterlagen "Kenntnis genommen".
9
Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die Richter und Schöffen "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den Richtern nicht zur Kenntnis genommen worden sei.
10
Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang. Im Einzelnen:
11
Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - neben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 StPO) werden, dass die Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus , dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweiskräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Protokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) aus eigener Wahrnehmung bestätigen.
12
Das Selbstleseverfahren hat den Kern des Urkundenbeweises - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die Richter und Schöffen - aber gerade aus der Hauptverhandlung herausverlagert. Damit ist es dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von vornherein nicht möglich zu bestätigen, dass diese tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts anderes gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden Richter und Schöffen präsent ist; aber selbst wenn er - ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unterliegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungsvoll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden Richter und Schöffen verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen.
13
Durch die Einführung des Selbstleseverfahrens hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem Urkundsbeweis nach § 249 Abs. 1 StPO keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen der Verlesung - insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen.
14
Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die Schöffen und Berufsrichter im Wege des Selbstleseverfahrens nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat (KK-Diemer, 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 StPO beweiskräftig belegter - Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens gezogen werden.
15
Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO vielmehr eine andere Funktion zu. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbegriffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbesondere gerichtskundiger , außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind (Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 273 Rn. 7 mwN).
16
Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch die Schöffen und Berufsrichter auszulegen sein dürften (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei Becker, NStZ-RR 2004, 225, 227 Nr. 9; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, StV 2010, 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.
Becker von Lienen Sost-Scheible Schäfer Mayer

(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.

(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.