Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Nov. 2013 - 5 StR 487/13

bei uns veröffentlicht am07.11.2013

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 487/13

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 7. November 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Hehlerei u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. November 2013

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten T. wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. April 2013, soweit es ihn betrifft, gemäß § 349 Abs. 4 StPO insofern aufgehoben, als eine Entscheidung über die Anrechnung des Aufenthalts des Angeklagten in der „Jugendgerichtlichen Unterbringung“ un- terblieben und soweit die Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Seine weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten Kosten und Auslagen des Rechtsmittels aufzuerlegen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten T. wegen Hehlerei und Nötigung unter Einbeziehung eines Urteils zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Es hat die in beiden Verfahren erlittene Freiheitsentziehung auf die Jugendstrafe angerechnet, hierbei aber ausschließlich Untersuchungshaft berücksichtigt (UA S. 48). Eine Entschädigungsentscheidung hat das Landgericht nicht getroffen. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 16. Oktober 2013 angeführten Gründen unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
1. Die Revision rügt zu Recht, dass bei der Entscheidung über die Anrechnung vom Angeklagten erlittener Freiheitsentziehung der durch den Haftverschonungsbeschluss vom 2. Juli 2012 seit diesem Tag bis 17. De- zember 2012 angeordnete Aufenthalt in der „Jugendgerichtlichen Unterbringung“ (JGU) nicht mit in den Blick genommen worden ist. Denn einer Einstufung als „andere Freiheitsentziehung“ im Sinnedes § 52a Satz 1 JGG steht nicht entgegen, dass dieser Unterbringung kein vollstreckbarer Unterbringungsbefehl nach § 72 Abs. 4 Satz 1, § 71 Abs. 2 JGG – wonach sie ohne Weiteres anrechenbar gewesen wäre (vgl. Eisenberg, JGG, 16. Aufl., § 71 Rn. 14c, § 52 Rn. 8; Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz Nr. 1 zu §§ 52, 52a JGG; Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes , BT-Drucks. 11/5829, S. 30) – zugrunde lag, sondern sie „freiwillig“ aufgrund einer Weisung gemäß § 116 Abs. 1 StPO erfolgt ist, da dem Angeklagten bei deren Nichtbefolgung der Vollzug der Untersuchungshaft drohte (vgl. BVerfG, NStZ 1999, 570; Eisenberg, aaO, § 52 Rn. 8; Schatz in Diemer /Schatz/Sonnen, JGG, 6. Aufl., § 52 Rn. 8; Schady in Ostendorf, JGG, 9. Aufl., § 52 Rn. 5). Bei wertender Betrachtung steht sie mithin in ihren Wirkungen , auf die es maßgeblich ankommt, einer einstweiligen Unterbringung nach § 72 Abs. 4 Satz 1, § 71 Abs. 2 JGG gleich.
3
2. Es liegt zwar nahe, dass das Landgericht aus erzieherischen Gründen (vgl. UA S. 47) die Anrechnung des in Rede stehenden Aufenthalts auf die Jugendstrafe nach § 52a Satz 2 JGG versagt hätte. Dem Senat ist aber eine eigene Sachentscheidung aufgrund des dem Tatgericht insofern eingeräumten Ermessens nicht möglich. Sollte das Tatgericht den Aufenthalt in der „JGU“ vollständig auf die verhängte Jugendstrafe anrechnen, so könnte die- se nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden, da kein zu vollstreckender Rest verbliebe (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Mai 2003 – 4 StR 162/03, BGHR StGB § 56 Aussetzung 1 mwN). Der Senat hebt deshalb auch die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung auf, um dem neuen Tatgericht die Möglichkeit zu geben, hierüber – unter Berücksichtigung des Verschlechterungsverbots (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) – neu zu befinden.
4
3. Mit der Teilaufhebung des Urteils wird die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die unterbliebene Entscheidung über einen Entschädigungsanspruch für die erlittenen, die Dauer der verhängten Jugendstrafe übertreffenden Freiheitsentziehungen gegenstandslos (vgl. BGH, Urteile vom 11. April 2002 – 4 StR 585/01 – und vom 25. April 2013 – 4 StR 551/12; Meyer, StrEG, 8. Aufl., § 8 Rn. 60). Über eine – in der Sache freilich gänzlich fernliegende – Entschädigung nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 StrEG hat das neue Tatgericht zu befinden.
Basdorf Sander Schneider Dölp König

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Nov. 2013 - 5 StR 487/13

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Nov. 2013 - 5 StR 487/13

Referenzen - Gesetze

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 56 Strafaussetzung


(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig au

Strafprozeßordnung - StPO | § 358 Bindung des Tatgerichts; Verbot der Schlechterstellung


(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen. (2) Das angefochtene Urte
Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Nov. 2013 - 5 StR 487/13 zitiert 13 §§.

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

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(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig au

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(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen. (2) Das angefochtene Urte

Strafprozeßordnung - StPO | § 116 Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls


(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werd

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 72 Untersuchungshaft


(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der

Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen - StrEG | § 4 Entschädigung nach Billigkeit


(1) Für die in § 2 genannten Strafverfolgungsmaßnahmen kann eine Entschädigung gewährt werden, soweit dies nach den Umständen des Falles der Billigkeit entspricht, 1. wenn das Gericht von Strafe abgesehen hat,2. soweit die in der strafgerichtlichen V

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 71 Vorläufige Anordnungen über die Erziehung


(1) Bis zur Rechtskraft des Urteils kann der Richter vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch anregen. (2) Der Richter kann die einstweilige Unterbr

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 52a Anrechnung von Untersuchungshaft bei Jugendstrafe


(1) Hat der Angeklagte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf die Jugendstrafe angerechnet. Der Richter kann jedoch anordnen, daß die A

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 52 Berücksichtigung von Untersuchungshaft bei Jugendarrest


Wird auf Jugendarrest erkannt und ist dessen Zweck durch Untersuchungshaft oder eine andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung ganz oder teilweise erreicht, so kann der Richter im Urteil aussprechen, daß oder wieweit der Jugendarrest nicht v

Referenzen - Urteile

Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Nov. 2013 - 5 StR 487/13 zitiert oder wird zitiert von 4 Urteil(en).

Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Nov. 2013 - 5 StR 487/13 zitiert 3 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesgerichtshof Urteil, 25. Apr. 2013 - 4 StR 551/12

bei uns veröffentlicht am 25.04.2013

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 4 StR 551/12 vom 25. April 2013 in der Strafsache gegen wegen Verdachts des versuchten Totschlags u.a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. April 2013, an der teilgenomme

Bundesgerichtshof Urteil, 11. Apr. 2002 - 4 StR 585/01

bei uns veröffentlicht am 11.04.2002

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES Urteil 4 StR 585/01 vom 11. April 2002 in der Strafsache gegen wegen Verdachts des Mordes Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. April 2002, an der teilgenommen haben: Vorsitzende

Bundesgerichtshof Beschluss, 13. Mai 2003 - 4 StR 162/03

bei uns veröffentlicht am 13.05.2003

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 162/03 vom 13. Mai 2003 in der Strafsache gegen wegen Körperverletzung Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 13. Mai 2003 gemäß § 349 Abs.
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Nov. 2013 - 5 StR 487/13.

Bundesgerichtshof Beschluss, 28. Juli 2015 - 1 StR 602/14

bei uns veröffentlicht am 28.07.2015

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 S t R 6 0 2 / 1 4 a l t : 1 S t R 6 3 3 / 1 0 vom 28. Juli 2015 in der Strafsache gegen wegen Steuerhinterziehung u.a. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Juli 2015 gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Hat der Angeklagte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf die Jugendstrafe angerechnet. Der Richter kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Angeklagten nach der Tat oder aus erzieherischen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Erzieherische Gründe liegen namentlich vor, wenn bei Anrechnung der Freiheitsentziehung die noch erforderliche erzieherische Einwirkung auf den Angeklagten nicht gewährleistet ist.

(2) (weggefallen)

(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist.

(2) Solange der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er

1.
sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder
2.
im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.

(3) Über die Vollstreckung eines Haftbefehls und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen der Jugendrichter, in dessen Bezirk die Untersuchungshaft vollzogen werden müßte.

(4) Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. In diesem Falle kann der Richter den Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich dies als notwendig erweist.

(5) Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.

(6) Die richterlichen Entscheidungen, welche die Untersuchungshaft betreffen, kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen.

(1) Bis zur Rechtskraft des Urteils kann der Richter vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch anregen.

(2) Der Richter kann die einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe anordnen, wenn dies auch im Hinblick auf die zu erwartenden Maßnahmen geboten ist, um den Jugendlichen vor einer weiteren Gefährdung seiner Entwicklung, insbesondere vor der Begehung neuer Straftaten, zu bewahren. Für die einstweilige Unterbringung gelten die §§ 114 bis 115a, 117 bis 118b, 120, 125 und 126 der Strafprozeßordnung sinngemäß. Die Ausführung der einstweiligen Unterbringung richtet sich nach den für das Heim der Jugendhilfe geltenden Regelungen.

Wird auf Jugendarrest erkannt und ist dessen Zweck durch Untersuchungshaft oder eine andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung ganz oder teilweise erreicht, so kann der Richter im Urteil aussprechen, daß oder wieweit der Jugendarrest nicht vollstreckt wird.

(1) Hat der Angeklagte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf die Jugendstrafe angerechnet. Der Richter kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Angeklagten nach der Tat oder aus erzieherischen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Erzieherische Gründe liegen namentlich vor, wenn bei Anrechnung der Freiheitsentziehung die noch erforderliche erzieherische Einwirkung auf den Angeklagten nicht gewährleistet ist.

(2) (weggefallen)

(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. In Betracht kommen namentlich

1.
die Anweisung, sich zu bestimmten Zeiten bei dem Richter, der Strafverfolgungsbehörde oder einer von ihnen bestimmten Dienststelle zu melden,
2.
die Anweisung, den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich nicht ohne Erlaubnis des Richters oder der Strafverfolgungsbehörde zu verlassen,
3.
die Anweisung, die Wohnung nur unter Aufsicht einer bestimmten Person zu verlassen,
4.
die Leistung einer angemessenen Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen anderen.

(2) Der Richter kann auch den Vollzug eines Haftbefehls, der wegen Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt ist, aussetzen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß sie die Verdunkelungsgefahr erheblich vermindern werden. In Betracht kommt namentlich die Anweisung, mit Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzunehmen.

(3) Der Richter kann den Vollzug eines Haftbefehls, der nach § 112a erlassen worden ist, aussetzen, wenn die Erwartung hinreichend begründet ist, daß der Beschuldigte bestimmte Anweisungen befolgen und daß dadurch der Zweck der Haft erreicht wird.

(4) Der Richter ordnet in den Fällen der Absätze 1 bis 3 den Vollzug des Haftbefehls an, wenn

1.
der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt,
2.
der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt oder sich auf andere Weise zeigt, daß das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder
3.
neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen.

(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist.

(2) Solange der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er

1.
sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder
2.
im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.

(3) Über die Vollstreckung eines Haftbefehls und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen der Jugendrichter, in dessen Bezirk die Untersuchungshaft vollzogen werden müßte.

(4) Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. In diesem Falle kann der Richter den Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich dies als notwendig erweist.

(5) Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.

(6) Die richterlichen Entscheidungen, welche die Untersuchungshaft betreffen, kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen.

(1) Bis zur Rechtskraft des Urteils kann der Richter vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch anregen.

(2) Der Richter kann die einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe anordnen, wenn dies auch im Hinblick auf die zu erwartenden Maßnahmen geboten ist, um den Jugendlichen vor einer weiteren Gefährdung seiner Entwicklung, insbesondere vor der Begehung neuer Straftaten, zu bewahren. Für die einstweilige Unterbringung gelten die §§ 114 bis 115a, 117 bis 118b, 120, 125 und 126 der Strafprozeßordnung sinngemäß. Die Ausführung der einstweiligen Unterbringung richtet sich nach den für das Heim der Jugendhilfe geltenden Regelungen.

(1) Hat der Angeklagte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf die Jugendstrafe angerechnet. Der Richter kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Angeklagten nach der Tat oder aus erzieherischen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Erzieherische Gründe liegen namentlich vor, wenn bei Anrechnung der Freiheitsentziehung die noch erforderliche erzieherische Einwirkung auf den Angeklagten nicht gewährleistet ist.

(2) (weggefallen)

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 162/03
vom
13. Mai 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 13. Mai 2003 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 19. Dezember 2002 dahin geändert, daß die Strafaussetzung zur Bewährung entfällt. 2. Die weiter gehende Revision wird verworfen. 3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin Nicole S. im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat; im übrigen hat es ihn freigesprochen. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Das Rechtsmittel hat nur insoweit Erfolg, als es zum Wegfall der Strafaussetzung zur Bewährung führt; im übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Der Ausspruch über die Strafaussetzung zur Bewährung kann deswegen nicht bestehen bleiben, weil die Zeit der erlittenen Untersuchungshaft die erkannte Strafe übersteigt. Zum Zeitpunkt des Urteils war die Strafe daher bereits voll verbüßt, da die Untersuchungshaft nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die Strafe angerechnet wird. Von der Möglichkeit, nach § 51 Abs. 1 Satz 2 StGB die Untersuchungshaft nicht anzurechnen, hat das Landgericht keinen Gebrauch gemacht. Ist aber die Strafe infolge der Anrechnung von Untersuchungshaft bereits vollständig verbüßt, scheidet eine Strafaussetzung schon begrifflich aus (st. Rspr.; vgl. BGHSt 31, 25, 27 ff.; BGH, Beschluß vom 22. Januar 2002 - 4 StR 392/01 = NJW 2002, 1356; vgl. auch Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 56 Rdn. 2 m.w.N.). Durch die Strafaussetzung zur Bewährung ist der Angeklagte auch beschwert. Mit ihrem Wegfall sind etwaige Bewährungsauflagen gegenstandslos.
Der nur unwesentliche Teilerfolg der Revision gibt keinen Anlaß, von der Möglichkeit des § 473 Abs. 4 Satz 1 StPO Gebrauch zu machen.
Tepperwien Maatz Athing

(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.

(2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Bei der Entscheidung ist namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen.

(3) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wird die Vollstreckung nicht ausgesetzt, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung sie gebietet.

(4) Die Strafaussetzung kann nicht auf einen Teil der Strafe beschränkt werden. Sie wird durch eine Anrechnung von Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung nicht ausgeschlossen.

(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(2) Das angefochtene Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn lediglich der Angeklagte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter Revision eingelegt hat. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben, hindert diese Vorschrift nicht, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen. Satz 1 steht auch nicht der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt entgegen.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 585/01
vom
11. April 2002
in der Strafsache
gegen
wegen Verdachts des Mordes
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. April
2002, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Kuckein,
Athing,
Richterinnen am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanoviæ,
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
die Angeklagte in Person,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Nebenkläger-Vertreter,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 18. Mai 2001 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung , auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat die Angeklagte vom Vorwurf, ihren schlafenden Ehemann B. P. heimtückisch getötet zu haben, freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger wenden sich mit ihren auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen gegen diesen Freispruch. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
1. Nach den - insoweit rechtsfehlerfrei - getroffenen Feststellungen tötete die Angeklagte in der Zeit zwischen 22.00 Uhr und 6.30 Uhr des folgenden Morgens im Schlafzimmer der gemeinsamen Wohnung ihren Ehemann durch zwei Schüsse aus einer Kleinkaliberpistole. Jeder der beiden Schüsse, die das Opfer linksseitig vorne in den Oberkörper und in die rechte Hinterkopfseite getroffen hatten, war für sich genommen tödlich. Die Waffe hatte sich die Angeklagte tags zuvor für einige Tage in einem Schützenverein ausgeliehen. Zwei zugehörige Patronen hatte sie dort heimlich an sich genommen. Die Leiche,
sowie die mit Blut verschmierte Bettwäsche und eine Reisetasche verbrannte und vergrub die Angeklagte zwei Tage später in einem Waldstück.
2. Das Landgericht hat nicht auszuschließen vermocht, daß die Angeklagte , die bestreitet, ihren Ehemann getötet zu haben, in Notwehr gehandelt hat. Es hat sie deshalb aus Rechtsgründen freigesprochen.
Die Strafkammer geht davon aus, B. P. , der seit Jahren immer wieder aus nichtigen Anlässen gegen die Angeklagte gewalttätig geworden sei, habe diese auch in der Tatnacht angegriffen, um sie zu schlagen. Der Angeklagten sei es gelungen, die Tatwaffe, die sie in der Wohnung versteckt gehalten habe, zu ergreifen. Sie habe ihrem Ehemann zunächst damit gedroht. Als dieser sich ihr trotzdem bedrohlich genähert und versucht habe, ihr die Waffe wegzunehmen und sie zu "verprügeln", habe sie aus "Angst und Erregung" zweimal kurz hintereinander geschossen. Der erste Schuß habe das Opfer vorne in den Oberkörper getroffen. Als B. P. , "sich nach links unten drehend" (UA 10), auf sie gestürzt sei und versucht habe, sie an den Beinen oder am Rumpf zu packen, habe sie den zweiten Schuß abgegeben, der das Opfer in den Hinterkopf getroffen habe.
3. Die Erwägungen, auf die die Strafkammer das nicht ausschließbare Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr stützt, halten sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Zwar darf der Angeklagten kein Nachteil daraus erwachsen, daß sie die Tat bestreitet und deshalb nicht in der Lage ist, ohne sich in Widerspruch zu ihrer Einlassung zu setzen, entlastende Umstände zum Vorliegen einer
Notwehrsituation vorzutragen. In einem solchen Fall ist von der für sie günstigsten Möglichkeit auszugehen, die nach den gesamten Umständen in Betracht kommt (vgl. BGH StV 1990, 9). Dabei sind jedoch nicht alle nur denkbaren Gesichtspunkte , zu denen keine Feststellungen getroffen werden können, zu Gunsten der Angeklagten zu berücksichtigen. Vielmehr berechtigen nur vernünftige Zweifel, die reale Anknüpfungspunkte haben, den Tatrichter zu Unterstellungen zu Gunsten der Angeklagten (vgl. BGH aaO; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 18, 22). Die Urteilsgründe müssen deshalb erkennen lassen, daû die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Grundlage beruht und die vom Gericht gezogene Schluûfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloûe Vermutung erweist (BGHR StPO § 261 Vermutung 11).
Diesen Anforderungen an die Beweiswürdigung genügt das angefochtene Urteil nicht.
Einziger Anhaltspunkt dafür, daû die Angeklagte in Notwehr gehandelt haben könnte, ist der Umstand, daûB. P. seine Ehefrau nicht nur seit Jahren betrog, sondern häufig auch schlug. Die Annahme, daû ein solcher körperlicher Übergriff durch B. P. auch in der Tatnacht stattgefunden und die Angeklagte zur Notwehr berechtigt hat, stützt die Strafkammer auf zwei Umstände, denen sie "erhebliches Gewicht" beimiût (UA 34): Gegen eine Tatplanung und für eine Notwehrsituation spreche zum einen der Zeitpunkt der Tatausführung. Wegen eines auf den Folgetag der Tat kurzfristig angekündigten Besuchs eines Verwandten ihres Ehemannes habe die Angeklagte mit einer alsbaldigen Nachfrage nach dessen Verbleib rechnen müssen. Wäre die Tat geplant gewesen, hätte es nahegelegen, diese zu verschieben, was möglich gewesen wäre, da die Angeklagte sich die Waffe erneut hätte verschaffen
können. Zum anderen spreche gegen eine geplante Tötung, daû die Angeklagte das Fahrzeug, mit welchem sie die Leiche abtransportiert habe, nicht bereits vor der Tat, sondern erst danach ausgeliehen habe.
Weder der Frage des Tatzeitpunkts, noch dem Umstand, daû die Angeklagte erst nach der Tat das Fahrzeug zum Abtransport der Leiche organisierte , kann jedoch der von der Strafkammer zugrundegelegte Beweiswert zugemessen werden.
aa) Das Landgericht legt nicht dar, weshalb es sich für die Angeklagte für den Fall einer Tatplanung ihres Ehemannes aufgedrängt haben könnte, sich schon im Rahmen der Tatvorbereitung um ein Fahrzeug für den Abtransport der Leiche zu bemühen. Vielmehr spricht die Feststellung, daû sich der Getötete häufig, auch über Nacht, auûer Haus aufhielt, ohne die Angeklagte hierüber zuvor zu informieren (UA 7) - dies war auch in der ersten Nacht nach Beschaffung der Tatwaffe der Fall (UA 8) - dafür, daû die Angeklagte selbst bei Planung der Tat wegen des für sie nicht vorhersehbaren Tatzeitpunkts jedenfalls keine bis ins einzelne gehende Vorkehrungen für die Spurenbeseitigung treffen konnte. Mit diesem Umstand setzt sich die Strafkammer nicht auseinander.
bb) Mit ihrer Annahme, der Zeitpunkt der Ausführung der Tat spreche wegen des erhöhten Entdeckungsrisikos gegen eine geplante Tat, trägt die Strafkammer den übrigen Urteilsfeststellungen nicht hinreichend Rechnung. Danach gelang es der Angeklagten nämlich am Morgen nach der Tötung ihres Ehemannes, ihrem Schwager, ohne bei diesem Miûtrauen zu erwecken, eine plausible Erklärung für die Abwesenheit ihres Ehemannes zu geben (UA 10).
Auch der Tatzeitpunkt ist deshalb kein geeignetes Argument, eine Notwehrlage "naheliegender erscheinen" zu lassen als eine auf einem spontanen Entschluû der Angeklagten beruhende, nicht gerechtfertigte Tötung ihres Ehemannes.

b) Dagegen hat das Landgericht eine Vielzahl von Umständen festgestellt , die dafür sprechen, daû die Angeklagte nicht gehandelt hat, um einen gegenwärtigen Angriff von sich abzuwenden, sondern um sich ihres Ehemannes , dessen Demütigungen und Gewalttätigkeiten sie nicht länger hinnehmen wollte, auf Dauer zu entledigen.
aa) Soweit das Landgericht jedes dieser Indizien einzeln in seiner Beweisbedeutung untersucht hat und dabei zu dem Ergebnis gelangt ist, daû auch eine die Angeklagte nicht belastende Deutung möglich erscheint, läût diese Vorgehensweise besorgen, daû die Strafkammer den Zweifelsgrundsatz rechtsfehlerhaft schon auf einzelne Indiztatsachen angewandt und sich so den Blick dafür verstellt hat, daû mehrdeutige Indizien mit der ihnen zukommenden Ungewiûheit in die erforderliche Gesamtwürdigung einzustellen sind (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 24). So gelangt das sachverständig beratene Landgericht beispielsweise in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis, die Reihenfolge der Schuûabgabe könne nicht mehr festgestellt werden (UA 28). Es durfte dieses "non liquet" jedoch nicht, wie geschehen , zum Anlaû nehmen, auûerhalb der gebotenen Gesamtabwägung zu Gunsten der Angeklagten davon auszugehen, daû das Tatopfer zuerst in die linke vordere Oberkörperhälfte getroffen wurde und der Schuû in den Hinterkopf erst erfolgte, als B. P. in Richtung der Angeklagten stürzte, sie zu packen versuchte und sich dabei nach links unten drehte. Es läût sich nicht ausschlieûen , daû die isolierte Bewertung dieser und weiterer Indiztatsachen sich im
Rahmen der Gesamtabwägung rechtsfehlerhaft zum Vorteil der Angeklagten ausgewirkt hat.
bb) Hinzu kommt, daû die Strafkammer einem vom Zeugen R. geschilderten Gespräch mit der Angeklagten (UA 31 f.) in rechtlich zu beanstandender Weise keine entscheidende Aussagekraft zugebilligt hat. Diese Schluûfolgerung beruht auf einer unzureichenden Beweiswürdigung. Der Zeuge hat angegeben, mit der Angeklagten ca. zwei bis drei Monate vor der Tat ein Gespräch über "genau die Art der Tötung und Leichenbeseitigung" geführt zu haben, wie sie beim Tatopfer "später angewandt" worden sei. Die Strafkammer hat zwar nicht ausgeschlossen, daû es ein Gespräch dieses Inhalts gab, hat aber nicht festzustellen vermocht, daû die Angeklagte dieses Gespräch mit dem ihr "in keiner Weise nahestehenden" Mitschüler suchte, um sich bei diesem gezielt nach Möglichkeiten, einen Menschen zu töten und die Spuren einer solchen Tat zu beseitigen, zu erkundigen. Das Landgericht ist deshalb der Auffassung, daû dieses Gespräch mit einer Tatplanung ebenso vereinbar sei, wie mit der Möglichkeit, daû sich die Angeklagte erst nach der gerechtfertigten Tötung ihres Ehemannes dieses Gesprächs erinnerte und ihre Erkenntnisse daraus für die Beseitigung der Leiche nutzte. Hiermit nicht in Einklang zu bringen ist die Aussage des Zeugen bei der Polizei, er sei von der Angeklagten angesprochen worden. Die Strafkammer berücksichtigt bei ihrer Würdigung auch nicht, daû das Gespräch mit dem Zeugen R. nicht nur die Spurenbeseitigung, sondern auch die "Art der Tötung" eines Menschen betraf. Ihre Schluûfolgerung, die Angeklagte habe ihre Erkenntnisse aus dem Gespräch nur für die Beseitigung der Leiche genutzt, schöpft den Beweiswert der Zeugenaussage daher nicht vollständig aus. Um die dem Gespräch beigemessene Bedeutung nachvollziehen zu können, hätte es deshalb der näheren
Darlegung der Aussage des Zeugen zum Zustandekommen, Verlauf und Inhalt seiner Unterhaltung mit der Angeklagten bedurft.
cc) Daû keiner der Wohnungsnachbarn die beiden Schüsse akustisch wahrgenommen hat, bewertet die Strafkammer ebenfalls als "mehrdeutiges" Indiz (UA 27). Die fehlende Wahrnehmung der Schüsse läût sich nach Auffassung des Landgerichts sowohl auf eine mögliche Geräuschabdeckung bei Abgabe der Schüsse unter Zuhilfenahme des später von der Angeklagten verbrannten Kopfkissens als auch auf den alltäglich herrschenden Lärm in der Hochhaussiedlung, in der sich die eheliche Wohnung der Angeklagten befand, zurückführen. Auch hier weist die Beweiswürdigung Lücken auf. Die Strafkammer setzt sich - trotz erfolgter Tatrekonstruktion - weder mit der Tatsache auseinander , daû in den späten Abend- bzw. Nachtstunden auch in einem Hochhaus die Intensität von Alltagsgeräuschen nachläût, noch damit, daû die Schüsse nach den getroffenen Feststellungen nicht unmittelbar nacheinander abgegeben wurden, sondern ein kurzer zeitlicher Abstand zwischen den Schüssen liegen muûte, was bei fehlender Schalldämpfung zusätzlich zu einer besseren Wahrnehmbarkeit führen konnte.
Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
4. Mit der Urteilsaufhebung ist die sofortige Beschwerde der Angeklagten gegen die Kostenentscheidung und die Entscheidung über die Haftentschädigung im angefochtenen Urteil gegenstandslos.
Tepperwien Kuckein Athing
Richterin am Bundesgerichtshof Solin-Stojanoviæ ist infolge Urlaubs an der Unterschrift gehindert. Tepperwien Sost-Scheible

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 551/12
vom
25. April 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Verdachts des versuchten Totschlags u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. April
2013, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Mutzbauer
als Vorsitzender,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Franke,
Dr. Quentin,
Reiter
als beisitzende Richter,
Richterin am Landgericht
als Vertreterin des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter für die Nebenkläger und ,
Rechtsanwältin
als Vertreterin für die Nebenklägerin ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger K. , S. und P. wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 12. Juli 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Dem Angeklagten lag zur Last, sich des versuchten Totschlags in drei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und gefährlicher Körperverletzung sowie des unerlaubten Entfernens vom Unfallort schuldig gemacht zu haben, indem er mit einem Pkw unter billigender Inkaufnahme tödlicher Verletzungen auf die Nebenkläger zufuhr und sich ohne anzuhalten entfernte, nachdem der Nebenkläger K. von seinem Fahrzeug erfasst und erheblich verletzt worden war. Das Landgericht hat den Angeklagten von allen Vorwürfen freigesprochen. Hiergegen haben die Nebenkläger und die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Die Nebenkläger streben jeweils eine Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags und eines tateinheitlich begangenen vollendeten Körperverletzungsdeliktes an. Die Staatsanwaltschaft beanstandet die Annahme der Voraussetzungen des § 33 StGB und die Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes. Die Revision der Staatsanwaltschaft wird von dem Generalbundesanwalt vertreten, soweit sie sich gegen die Annahme einer Notwehrüberschreitung nach § 33 StGB wendet. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.


2
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3
1. Der Angeklagte war Mitglied der NPD und weiterer Zusammenschlüsse von Personen mit rechtsradikaler Gesinnung. Er nahm an Veranstaltungen mit entsprechender politischer Ausrichtung teil und kandidierte im Jahr 2011 für die NPD bei der Landtagswahl in . Am 4. August 2011 wurde er von Personen aus dem linken Spektrum als Rechtsradikaler „geoutet“ und daraufhin in einschlägigen Internetblogs beschimpft. Bei einem am 28. September 2011 mit einem Gesinnungsgenossen im Internet geführten Dialog berichtete der Angeklagte über eine gegen ihn gerichtete anonyme Schmähung. Dabei erklärte er, nur darauf zu warten, „dass einer mal angreift“ und er den dann „endlich mal die Klinge fressen lassen“ könne. Als ihm sein Dialogpartner beipflichtete , schrieb der Angeklagte weiter: „Ja! Das Schöne daran, es wäre sogar Notwehr! Man stelle sich das mal bildlich vor! So ne Zecke greift an und du ziehst n Messer. Die Flachzange klappt zusammen und rührt sich nicht mehr. Das muss doch ein Gefühl sein, wie wenn man kurz vor dem Ejakulieren ist!“
4
Am 1. Oktober 2011 sollte eine von dem Angeklagten und der „ “, der der Angeklagte angehörte, ausgerichtete so- genannte „Soli-Party“ auf einer Ackerfläche in B. stattfinden. Auf dieser Party sollte Geld für eine von dem Angeklagten für den 22. Oktober 2011 angemeldete Demonstration erwirtschaftet werden. Im Vorfeld war den der linken Szene zuzuordnenden Nebenklägern K. , P. und S. sowie fünf weiteren Personen bekannt geworden, dass für ortsunkundige Besucher dieser „Party“ für die Zeit zwischen 19.00 Uhr und 19.30 Uhr eine Person auf einem Pendlerparkplatz bereitstehen würde, die den Weg zum Veranstaltungsgelände weisen sollte. Die Nebenkläger und ihre Begleiter fuhren deshalb in zwei Fahrzeugen zu dem ihnen bekannten Pendlerparkplatz , um vor Ort weitere Informationen für ihr Vorgehen zu sammeln und eine Weiterleitung von Besuchern zum Veranstaltungsgelände zu verhindern. Dabei planten sie den Einsatz körperlicher Gewalt und nahmen mögliche Verletzungen der dort anzutreffenden Kontaktperson billigend in Kauf.
5
Zwischen 19.00 Uhr und 19.15 Uhr entdeckten der Nebenkläger S. und ein Begleiter bei einer Erkundungsfahrt den ihnen als führendes Mitglied der rechten Szene bekannten Angeklagten, der am Steuer seines im hinteren Teil des Pendlerparkplatzes abgestellten Pkw Mitsubishi Colt saß und die Rolle der angekündigten Kontaktperson übernommen hatte. Sie trafen sich daraufhin mit den übrigen Nebenklägern und deren Begleitern auf einem kleineren Parkplatz, der gegenüber dem Pendlerparkplatz auf der anderen Seite des Flusslaufs liegt und für den Angeklagten nicht einsehbar war.
6
Etwa gegen 19.15 Uhr begaben sich die dunkel gekleideten Nebenkläger mit zwei Begleitern (insgesamt fünf Personen) zu Fuß zu einer kleinen Brücke, die über den Flusslauf zur L. straße und dem Pendlerparkplatz führte, um den Angeklagten dort anzugreifen und notfalls unter Einsatz von körperlich wirkender Gewalt zu vertreiben. Dabei führte S. eine Dose mit Pfefferspray mit, während einer seiner Begleiter Handschuhe trug, die zur Erhöhung der Schlagkraft und zur Vermeidung von Handverletzungen im Bereich der Knöchel mit Quarzsand gefüllt waren. Auf dem Weg vermummten sich die Nebenkläger und ihre Begleiter mit Sturmhauben, Kapuzen und anderen schwar- zen Textilien. Zwischenzeitlich hatte der Angeklagte seinen Standort verändert, nachdem er ein ziviles Polizeifahrzeug wahrgenommen hatte, von den Beamten aber nicht bemerkt worden war. Er befand sich nun mit seinem Pkw im vorderen Bereich des Pendlerparkplatzes nur wenige Meter von der ersten Ausfahrt entfernt. Sein Fahrzeug war dabei in Richtung der Ausfahrt eingeparkt. Der Angeklagte saß bei geöffnetem Seitenfenster auf dem Fahrersitz und telefonierte mit dem auf dem Festgelände befindlichen Zeugen A. .
7
Als der Nebenkläger S. bei der Überquerung der Brücke den Angeklagten entdeckte, rief er aus: „Das ist er!“ und zog den Sicherungs- splint aus der Pfefferspraydose. Daraufhin beschleunigte die Gruppe ihren Schritt und versuchte die L. straße schräg in Richtung der noch ca. 14 Meter von der Brücke entfernten ersten Ausfahrt des Pendlerparkplatzes zu überqueren. Als der Angeklagte die vermummte Personengruppe bemerkte und deren Vorhaben erkannte, teilte er seinem Gesprächspartner A. mit, dass er von „Zecken“ angegriffen werde und warf sein Mobiltelefon auf den Bei- fahrersitz.
8
Der Angeklagte befürchtete zu Recht, körperlich attackiert zu werden. Er geriet nicht ausschließbar in Panik und beschloss zu flüchten. Dazu startete er sein Fahrzeug und fuhr mit Vollgas beschleunigend über die erste Ausfahrt auf die L. straße und dann nach links auf die Personengruppe mit den Nebenklägern zu, die sich zu diesem Zeitpunkt wenige Meter von der Brücke entfernt in Richtung des Angeklagten auf der Straße befand. Jedenfalls die drei Nebenkläger hielten sich zu diesem Zeitpunkt in der Mitte der Straße bzw. der in Fahrtrichtung des Angeklagten rechten Fahrbahnhälfte und damit in dessen direktem Fahrweg auf. Als der Angeklagte sein Fahrzeug beschleunigte, war ihm bewusst, dass er die Nebenkläger in die erhebliche Gefahr brachte, ohne eine Ausweichbewegung ihrerseits von seinem Fahrzeug erfasst und hierbei verletzt zu werden. Eine Verletzung der drei Nebenkläger, jedenfalls im Rahmen einer Ausweichbewegung, nahm er billigend in Kauf (UA 11). Auch eine „leichte Kollision“ und ein nicht ausschließbares „leichtes Anfahren“ wurden von ihm für möglich gehalten und gebilligt (UA 38). Der Angeklagte rechnete jedoch nicht damit, dass er eine der Personen oder gar mehrere überfahren könnte und nahm ihren Tod nicht billigend in Kauf. Vielmehr ging er davon aus, dass sie die Straße noch rechtzeitig räumen würden, was ihnen sowohl räumlich als auch zeitlich möglich gewesen wäre (UA 11 f.).
9
Die Nebenkläger P. und S. konnten sich vor dem schnell herannahenden Fahrzeug des Angeklagten durch einen Sprung zur Seite retten. K. sprang – obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte – aus ungeklärtem Grund nicht zur Seite, sondern auf die Motorhaube des auf ihn zu diesem Zeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von 25-30 km/h zukommenden Fahrzeugs. Dabei prallte er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe und wurde abgeworfen. Er stürzte mit dem Hinterkopf auf die Fahrbahndecke und blieb schwer verletzt liegen.
10
Der Angeklagte, der erkannt hatte, dass K. durch den Aufprall schwer verletzt oder sogar getötet worden sein konnte, fuhr mit seinem Fahrzeug davon, weil er zu Recht Vergeltungsmaßnahmen der vermummten Begleiter von K. befürchtete. Als er nach etwa zwei Minuten auf ein Polizeifahrzeug traf, hielt er dieses an und offenbarte sich den Beamten (UA 12).
11
Durch die Kollision mit dem Fahrzeug des Angeklagten erlitt K. insbesondere eine lebensgefährliche Hirnblutung sowie diverse Häma- tome und Schürfwunden. Aufgrund der Hirnblutung kam es bei ihm zu einer motorischen Aphasie. Er musste intensivmedizinisch behandelt werden und sich einer einmonatigen stationären Rehabilitationsmaßnahme zum Wiedererlernen der Sprachfähigkeit unterziehen. Derzeit leidet er noch an temporären Wortfindungsstörungen und einem defekten Mundschluss sowie Angstgefühlen. Ob es zu weiteren Spätfolgen kommen wird, ist ungewiss (UA 13).
12
Der Angeklagte hätte eine Gefährdung seiner körperlichen Unversehrtheit auch dadurch vermeiden können, dass er den Pendlerparkplatz über die zweite Ausfahrt verlassen hätte oder von der ersten Ausfahrt nicht nach links, sondern nach rechts abgebogen und davongefahren wäre. Eine Beeinträchtigung seiner Verteidigungs- und Selbstschutzchancen wäre hierdurch in beiden Fällen nicht eingetreten (UA 12). Bei einem Ausfahren über die zweite Ausfahrt wäre ein Kontakt mit den Angreifern allerdings nicht ausgeschlossen gewesen, weil sich der Zeuge H. , der zu der Gruppe um die Nebenkläger gehörte, bereits in der Nähe befand (UA 39).
13
2. Das Landgericht ging davon aus, dass der Angeklagte die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers K. (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) und der versuchten gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil der Nebenkläger P. und S. (§ 224 Abs. 1 Nr. 2, § 22 StGB) verwirklicht hat. Außerdem erfülle sein Verhalten die Voraussetzungen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, wobei er durch die Tat eine schwere Gesundheitsbeschädigung bei einem anderen Menschen verursacht habe (§ 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 2 StGB). Eine Rechtfertigung durch Notwehr nach § 32 StGB scheide aus. Zwar sei der Angeklagte einem gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff der Nebenkläger ausgesetzt gewesen, doch habe sich seine Abwehrmaßnahme nicht im Rahmen des Erforderlichen gehalten. Dem Angeklagten sei es möglich gewesen, sich dem Geschehen durch ein Wegfahren in Gegenrichtung zu entziehen. Angesichts der offensichtlichen Gefährlichkeit seines Verhaltens habe er diese Möglichkeit ergreifen und „flüchten müssen“. Drohe dem Angegriffenen selbst keine Lebensgefahr, könne auch die Flucht ein Verteidigungsmittel sein, wenn das stattdessen eingesetzte Abwehrmittel mit Lebensgefahren für den Angreifer verbunden sei. Der Angeklagte sei aber nicht ausschließbar nach § 33 StGB entschuldigt, da er aus Verwirrung, Angst und Schrecken die Grenzen der Notwehr überschritten habe (UA 43). Der Tatbestand des § 142 StGB sei nicht erfüllt, weil dem Angeklagten nicht zugemutet werden konnte, am Unfallort zu verbleiben. Er habe sich entschuldigt entfernt und sofort nachträglich die erforderlichen Feststellungen ermöglicht.

II.


14
Die gegen den Freispruch gerichteten Revisionen der Nebenkläger und die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft haben schon deshalb Erfolg, weil die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe aufgrund eines Notwehrexzesses im Sinne des § 33 StGB ohne Schuld gehandelt, nicht tragfähig begründet ist.
15
1. Eine Entschuldigung wegen einer Überschreitung der Grenzen der Notwehr nach § 33 StGB setzt voraus, dass der Täter in einer objektiv gegebenen Notwehrlage (§ 32 Abs. 2 StGB) bei der Angriffsabwehr die Grenzen des Erforderlichen aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten hat (vgl. BGH, Urteil vom 31. Januar 2003 – 4 StR 267/02, NStZ 2003, 599, 600 mwN). Von einer Angriffsabwehr kann dabei nur die Rede sein, wenn der Täter nicht nur in Kenntnis der die Notwehrlage begründenden Umstände, sondern auch mit Verteidigungswillen gehandelt hat (BGH, Urteil vom 1. Juli 1952 – 1 StR 119/52, BGHSt 3, 194, 198; LK/Zieschang, StGB, 12. Aufl., § 33 Rn. 48; Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Rn. 590; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl., § 12 Rn. 149a).
16
a) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte im Zeitpunkt des Anfahrens des Nebenklägers K. und des Beinahe-Zusammenstoßes mit den Nebenklägern P. und S. einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt war und sich deshalb objektiv in einer Notwehrlage befand (§ 32 Abs. 2 StGB).
17
Ein Angriff ist bereits dann gegenwärtig, wenn sich die durch das Verhalten der Angreifer begründete Gefahr so verdichtet hat, dass ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 8. März 2000 – 3 StR 67/00, NStZ 2000, 365; Beschluss vom 11. Dezember 1991 – 2 StR 535/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 5; Urteil vom 26. August 1987 – 3 StR 303/ 87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1). Nach den Feststellungen waren die Nebenkläger und ihre Begleiter im Begriff, den Angeklagten in seinem Fahrzeug körperlich anzugreifen. Dazu bewegten sie sich schnellen Schrittes auf ihn zu und hatten nur noch wenige Meter zu überwinden. Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Angreifer und ihrer Bewaffnung (Reizgas, präparierte Handschuhe) hätte ein Zuwarten den Angeklagten der Gefahr ausgesetzt, nicht mehr rechtzeitig reagieren zu können oder wichtige Handlungsoptionen zu verlieren.
18
Da der Angriff der Nebenkläger und ihrer Begleiter auf den Angeklagten in Widerspruch zur Rechtsordnung stand, war er auch rechtswidrig (BGH, Urteil vom 23. September 1997 – 1 StR 446/97, NJW 1998, 1000).
19
b) Dagegen ist die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe sich mit dem Zufahren auf die Nebenkläger gegen deren Angriff verteidigt, nicht rechtsfehlerfrei begründet. Aufgrund seiner Feststellungen zur Tatvorgeschichte hätte sich das Landgericht an dieser Stelle mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob das Vorgehen des Angeklagten auch von dem erforderlichen Verteidigungswillen getragen war.
20
aa) Wird von dem Angegriffenen in einer Notwehrlage ein Gegenangriff auf Rechtsgüter der Angreifer geführt (sog. Trutzwehr), kann darin nur dann eine Angriffsabwehr gesehen werden, wenn in diesem Vorgehen auch tatsächlich der Wille zum Ausdruck kommt, der drohenden Rechtsverletzung entgegenzutreten (BGH, Urteil vom 2. Oktober 1953 – 3 StR 151/53, BGHSt 5, 245, 247; Urteil vom 19. März 1968 – 1 StR 648/67, MDR 1969, 15, 16 bei Dallinger; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 32 Rn. 25; Schmidhäuser, GA 1991, 91, 132; ders., JZ 1991, 937, 939; Schünemann, GA 1985, 341, 371; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 86; vgl. Alwart, GA 1983, 433, 448 ff.). Dazu reicht allein die Feststellung, dass dem Angegriffenen die Notwehrlage bekannt war, nicht aus. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren. Dabei ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv anzuerkennen, wenn andere Beweggründe (Vergeltung für frühere Angriffe, Feindschaft etc.) hinzutreten. Erst wenn diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass hinter ihnen der Wille das Recht zu wahren ganz in den Hintergrund tritt, kann von einem Abwehrverhalten keine Rede mehr sein (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 2011 – 5 StR 328/11, NStZRR 2012, 84, 86; Urteil vom 31. Januar 2007 – 1 StR 429/06, NStZ 2007, 325, 326; Urteil vom 12. Februar 2003 – 1 StR 403/02; NJW 2003, 1955, 1957 f.; Beschluss vom 8. März 2000 – 3 StR 67/00, NStZ 2000, 365, 366; Beschluss vom 23. August 1991 – 2 StR 360/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigungswille 1; Beschluss vom 5. November 1982 – 3 StR 375/82, NStZ 1983, 117; Urteil vom 4. September 1979 – 5 StR 461/79, GA 1980, 67, 68; Urteil vom 1. Juli 1952 – 1 StR 119/52, BGHSt 3, 194, 198). Hieran ist trotz in der Literatur geäußerter Kritik (vgl. LK/Rönnau/Hohn, StGB, 12. Aufl., § 32 Rn. 266; Matt/ Renzikowski/Engländer, StGB, § 32 Rn. 63; MünchKommStGB/Erb, 2. Aufl., § 32 Rn. 241; Perron in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 32 Rn. 63; Prittwitz, GA 1980, 381 ff.; Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement, 2002, S. 241 f.; Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts, 1970, S. 91 ff.) festzuhalten.
21
bb) Die Äußerungen des Angeklagten im Vorfeld der Geschehnisse, wo- nach er nur darauf warte, „dass einer mal angreift“ und er den dann „endlich mal die Klinge fressen lassen“ könne, wie auch das damit verbundene begeis- terte Ausmalen eines Szenarios, in dem es zur Tötung eines politischen Geg- ners („Zecke“) in einer Notwehrsituation kommt, lassen es nicht als fernliegend erscheinen, dass er den Angriff der Nebenkläger lediglich zum Anlass genommen hat, gegen sie Gewalt zu üben. Dem entspricht es, dass es das Landgericht an anderer Stelle im Zusammenhang mit diesen Äußerungen selbst für möglich gehalten hat, dass der Angeklagte auf die Nebenkläger und ihre Begleiter zugefahren ist, um sie unter Inkaufnahme von Verletzungen „springen“ zu lassen (UA 39). Vor diesem Hintergrund konnte das Landgericht nicht ohne nähere Begründung davon ausgehen, dass der Angeklagte bei seinem Vorgehen gegen die Nebenkläger zumindest auch von dem Willen geleitet war, das Recht zu wahren. Die ausführliche Bewertung der Äußerungen des Angeklagten vom 28. September 2011 und seiner daraus abzuleitenden Haltung gegenüber den Nebenklägern im Zusammenhang mit der Prüfung eines bedingten Tötungsvorsatzes (UA 36) kann die fehlenden Ausführungen zum Verteidigungswillen nicht ersetzen.
22
2. Die Sache bedarf schon aus diesem Grund neuer Verhandlung und Entscheidung. Eine Aufrechterhaltung von Feststellungen zur Tatvorgeschichte und zum Tatgeschehen kam nicht in Betracht, weil dies den nicht geständigen Angeklagten belasten würde und er keine Möglichkeit hatte, das Urteil insoweit anzugreifen (BGH, Urteil vom 27. Januar 1998 – 1 StR 727/97, BGHR StPO § 354 Abs. 1 Freisprechung 2; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 353 Rn. 15a mwN).
23
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:
24
a) Eine Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) begeht, wer sein Opfer durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes gefährliches Tatmittel im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB körperlich misshandelt oder an der Gesundheit beschädigt (BGH, Beschluss vom 25. April 2012 – 4 StR 30/12, NStZ 2012, 697, 698; Beschluss vom 30. Juni 2011 – 4 StR 266/11, Rn. 5; Beschluss vom 12. Januar 2010 – 4 StR 589/09, NStZ-RR 2010, 205, 206; Beschluss vom 16. Januar 2007 – 4 StR 524/06, NStZ 2007, 405). Fährt der Täter mit einem Pkw auf eine oder mehrere Personen zu, ist der innere Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nur dann erfüllt, wenn er dabei billigend in Kauf nimmt, dass die betroffenen Personen angefahren werden und unmittelbar durch den Anstoß mit dem fah- renden Pkw eine Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) erleiden. Rechnet der Täter nur mit Verletzungen infolge von Ausweichbewegungen oder bei Stürzen, scheidet die Annahme einer (versuchten) gefährlichen Körperverletzung in der Variante des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB aus.
25
Eine gefährliche Körperverletzung in der Variante des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB (mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung) setzt in subjektiver Hinsicht voraus, dass der Täter die Umstände kennt, aus denen sich in der konkreten Situation die allgemeine Lebensgefährlichkeit seines Vorgehens ergibt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 4. November 1988 – 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1, 15; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 224 Rn. 13 mwN). Sollte der neue Tatrichter wiederum zu der Feststellung gelangen, das der Nebenkläger K. aus ungeklärten Gründen auf die Motorhaube des Fahrzeugs des Angeklagten gesprungen und das Vorgehen des Angeklagten erst dadurch für ihn generell lebensgefährdend geworden ist, müsste der Angeklagte auch ein solches Geschehen für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 1992 – 4 StR 607/91, BGHR StGB § 315b Abs. 3 Absicht 1).
26
b) Ergibt sich, dass der Angeklagte in einer objektiv gegebenen Notwehrlage auf die Nebenkläger zugefahren ist und dabei jedenfalls auch mit Verteidigungswillen gehandelt hat, wird erneut zu prüfen sein, ob die Grenzen des Erforderlichen überschritten worden sind.
27
aa) Eine in einer objektiven Notwehrlage begangene Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt , das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 140 m. Anm. Erb, HRRS 2013, 113; Urteil vom 21. März 1996 – 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97, 100 mwN). Ob dies der Fall ist, muss aus der Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt unterrichteten Dritten in der Situation des Angegriffenen entschieden werden (BGH, Urteil vom 14. Juni 1998 – 3 StR 186/98, BGHR § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14). Dabei kommt es auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung an (BGH, Urteil vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 140 m. Anm. Erb, HRRS 2013, 113; Urteil vom 28. Februar 1989 – 1 StR 741/88, NJW 1989, 3027). Da das Notwehrrecht nicht nur dem Schutz der bedrohten Individualrechtsgüter des Angegriffenen, sondern auch der Verteidigung der durch den rechtswidrigen Angriff negierten Rechtsordnung dient (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 1972 – 2 StR 679/71, BGHSt 24, 356, 359), kommen als alternativ in Betracht zu ziehende Abwehrhandlung grundsätzlich nur Maßnahmen in Betracht, die die bedrohte Rechtsposition gegen den Angreifer durchsetzen. Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nicht, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, weil damit ein Hinnehmen des Angriffs verbunden wäre und weder das bedrohte Recht, noch die in ihrem Geltungsanspruch infrage gestellte Rechtsordnung gewahrt blieben (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2004 – 2 StR 82/04, NStZ 2005, 31; Urteil vom 12. Februar 2003 – 1 StR 403/02, NJW 2003, 1955, 1957; Urteil vom 24. Juli 1979 – 1 StR 249/79, NJW 1980, 2263; Urteil vom 21. Dezember 1977 – 2 StR 421/77, BGHSt 27, 313, 314; LK/Rönnau/Hohn, StGB, 12. Aufl., § 32 Rn. 182; MünchKommStGB/Erb, 2. Aufl., § 32 Rn. 118; NK-StGB/ Kindhäuser, 4. Aufl., § 32 Rn. 94 mwN). Etwas anderes kann lediglich dann gelten , wenn besondere Umstände das Notwehrrecht einschränken, etwa weil dem Angriff eine vorwerfbare Provokation des Angegriffenen vorausgegangen ist (vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 141 m. Anm. Erb, HRRS 2013, 113; Urteil vom 30. Juni 2004 – 2 StR 82/04, NStZ 2005, 31) oder der Angegriffene sich sehenden Auges in Gefahr begeben hat (vgl. BGH, Urteil vom 18. April 2002 – 3 StR 503/01, NStZ-RR 2002, 203, 204 m. Anm. Walther, JZ 2003, 52).
28
bb) Daran gemessen wird sich eine Überschreitung der Grenzen des Erforderlichen nicht mit den vom Erstgericht hierzu angestellten Erwägungen begründen lassen. Der Angeklagte war nicht gehalten, sich dem Geschehen durch ein Wegfahren in Gegenrichtung (Flucht) zu entziehen. Auch für die vom Landgericht angestellte Abwägung zwischen den Gefahren, die dem Angeklagten im Fall einer Flucht gedroht hätten und den mit der gewählten Verteidigung verbundenen Gefahren für die Rechtsgüter der angreifenden Nebenkläger, ist kein Raum. Stattdessen wird der neue Tatrichter auf der Grundlage der von ihm dazu getroffenen Feststellungen zu erörtern haben, ob es dem Angeklagten in dem Zeitpunkt der Zufahrt auf die Nebenkläger möglich war, den gegen ihn geführten Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit schonender als geschehen zurückzuweisen. Sollte sich wiederum ergeben, dass der Angeklagte mit Vollgas auf die in seinem Fahrweg laufenden Nebenkläger zugefahren ist, wird dabei gegebenenfalls die Frage beantwortet werden müssen, ob diese die Nebenkläger erheblich gefährdende Fahrweise tatsächlich erforderlich war, um sie von ihrem Angriffsvorhaben abzubringen. Wurde der Nebenkläger K. auch nach den neu getroffenen Feststellungen nur deshalb gravierend verletzt, weil er aus ungeklärtem Grund nicht zur Seite, sondern auf die Motorhaube des Fahrzeugs des Angeklagten sprang, wird auch entschieden werden müssen, ob diese Entwicklung aus der an dieser Stelle maßgeblichen Sicht eines objektiven Beobachters vorhersehbar war. Wäre dies zu verneinen, müsste diese Auswirkung als nicht vorhersehbare Folge bei der vergleichenden Betrachtung mit anderen möglichen Verteidigungshandlungen außer Ansatz bleiben (vgl. für eine andere Fallkonstellation BGH, Urteil vom 14. Juni 1998 – 3 StR 186/98, BGHR § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14).
29
c) Gelangt der neue Tatrichter zu dem Ergebnis, dass sich der Angeklagte bei der Abwehr des Angriffs der Nebenkläger in den Grenzen des Erforderlichen gehalten hat, entfiele damit auch die Rechtswidrigkeit des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB. Dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 26. März 1974 (4 StR 399/73, unter 4.a), insoweit in BGHSt 25, 306; NJW 1974, 1340; MDR 1974, 679; VerkMitt 1974, Nr. 97 und JZ 1974, 621 nicht abgedruckt) implizit bejaht, indem er für einen vergleichbaren Fall die Möglichkeit einer Putativnotwehr und dementsprechend eine Bestrafung wegen fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5 StGB) in Betracht zog. Dem steht nicht entgegen , dass § 315b StGB vornehmlich die öffentliche Sicherheit des Straßenverkehrs schützt und die Bewahrung der Individualrechtsgüter der gefährdeten Verkehrsteilnehmer von diesem Schutzzweck lediglich mit umfasst wird (BGH, Urteil vom 4. Dezember 2002 – 4 StR 103/02, BGHSt 48, 119, 123; SSWStGB /Ernemann, § 315b Rn. 1). Zwar vermag Notwehr grundsätzlich nur Eingriffen in die Rechtsgüter des Angreifers die Rechtswidrigkeit zu nehmen (vgl. LK/Rönnau/Hohn, StGB, 12. Aufl., § 32 Rn. 159), doch ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass § 32 StGB ausnahmsweise auch die Verletzung von Universalrechtsgütern zu rechtfertigen vermag, wenn deren Begehung – wie hier – untrennbar mit der erforderlichen Verteidigung verbunden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Dezember 2011 – 2 StR 380/11, NStZ 2012, 452; Beschluss vom 13. Januar 2010 – 3 StR 508/09, NStZ-RR 2010, 140; Beschluss vom 18. Februar 1999 – 5 StR 45/99, NStZ 1999, 347; Beschluss vom 11. Juli 1996 – 1 StR 285/96, StV 1996, 660; Urteil vom 12. Mai 1981 – 5 StR 109/81, NStZ 1981, 299, jeweils zu mit der Notwehrhandlung begangenen Verstößen gegen das Waffengesetz; a.A. LK/Rönnau/Hohn, StGB, 12. Aufl., § 32 Rn. 160; MünchKommStGB/Erb, 2. Aufl., § 32 Rn. 123; NK-StGB/Kindhäuser, 4. Aufl., § 32 Rn. 80 f.; Maatz, MDR 1985, 881, 882).
30
d) Ergibt sich dagegen, dass die Grenzen des Erforderlichen überschritten worden sind, wird sich ein Eingehen auf § 33 StGB anschließen müssen. Dabei wird zu beachten sein, dass eine Exkulpierung nach dieser Vorschrift nur zu rechtfertigen ist, wenn sich der Angeklagte aufgrund der Bedrohung durch die Nebenkläger in einem psychischen Ausnahmezustand mit einem Störungsgrad befunden hat, der eine erhebliche Reduzierung seiner Fähigkeit das Geschehen zu verarbeiten zur Folge hatte (BGH, Urteil vom 30. Mai 1996 – 4 StR 109/96, NStZ-RR 1997, 65, 66; Urteil vom 16. August 1994 – 1 StR 244/94, NStZ 1995, 76, 77; Urteil vom 25. August 1992 – 5 StR 266/92, BGHR StGB § 33 Furcht 2; vgl. Beschluss vom 21. März 2001 – 1 StR 48/01, NStZ 2001, 591, 593; Perron in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 33 Rn. 3; Matt/Renzikowski/Engländer, § 33 Rn. 10; MünchKommStGB/Erb, 2. Aufl., § 33 Rn. 23 mwN). War dies der Fall, kann ein entschuldigender Notwehrexzess auch dann noch anzunehmen sein, wenn die Überschreitung der Notwehrgrenzen durch andere (sthenische) Affekte (Wut, Zorn etc.) mitverursacht worden ist (BGH, Urteil vom 17. Februar 1998 – 1 StR 779/97, StV 1999, 148; Beschluss vom 9. Oktober 1998 – 2 StR 443/98, NStZ-RR 1999, 264; Beschluss vom 11. Juli 1986 – 3 StR 269/86, BGHR StGB § 33 Nothilfe 1). Hierzu bedarf es konkreter Feststellungen und einer wertenden Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände.
31
Das Landgericht hat auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zutreffend in der von den vermummt auftretenden Nebenklägern ausgehenden Bedrohungslage, der durch den Überraschungseffekt bedingten zuge- spitzten Entscheidungssituation und den Angaben von Zeugen zum psychischen Zustand des Angeklagten unmittelbar nach der Tat wichtige Beweisanzeichen für einen Affekt im Sinne des § 33 StGB gesehen und dem die gegen einen solchen Affekt sprechenden Umstände (gedankliche Vorwegnahme möglicher Angriffe, Wahrscheinlichkeit von gewaltsamen Gegenaktionen) gegenübergestellt (UA 39 ff.). Seine Erwägungen sind jedoch entscheidend von der rechtsfehlerhaften Annahme beeinflusst, dass der Angeklagte die Notwehrgrenzen bereits deshalb überschritten habe, weil er den Ort des Geschehens nicht fluchtartig verließ.
32
Sollte der neue Tatrichter zu einer Erörterung der Voraussetzungen des § 33 StGB gelangen, wird er neben den genannten Gesichtspunkten auch in seine Gesamtwürdigung einzubeziehen haben, dass der Angeklagte bei seiner polizeilichen Einvernahme am 12. Oktober 2011 zwar von „Panik“ berichtet hat, dann aber seine Entscheidung für ein Zufahren auf die Gruppe um die Nebenkläger als das Ergebnis einer Abwägung zwischen verschiedenen Risiken und fahrtechnischen Möglichkeiten schilderte (UA 18). Ein Verhaltensalternativen in den Blick nehmendes Entscheiden kann Ausdruck einer Verarbeitung des Geschehens sein und damit gegen die Annahme einer Störung im Sinne des § 33 StGB sprechen.

III.


33
Durch die Aufhebung des freisprechenden Urteils werden die damit verknüpfte Entschädigungsgrundentscheidung (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StrEG) und die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegenstandslos (BGH, Urteil vom 25. März 2010 – 1 StR 601/09, Rn. 20).
Mutzbauer Roggenbuck Franke
Quentin Reiter

(1) Für die in § 2 genannten Strafverfolgungsmaßnahmen kann eine Entschädigung gewährt werden, soweit dies nach den Umständen des Falles der Billigkeit entspricht,

1.
wenn das Gericht von Strafe abgesehen hat,
2.
soweit die in der strafgerichtlichen Verurteilung angeordneten Rechtsfolgen geringer sind als die darauf gerichteten Strafverfolgungsmaßnahmen.

(2) Der strafgerichtlichen Verurteilung im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2 steht es gleich, wenn die Tat nach Einleitung des Strafverfahrens nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Ordnungswidrigkeit geahndet wird.