Bundesgerichtshof Beschluss, 01. Juli 2011 - V ZB 141/11

bei uns veröffentlicht am01.07.2011
vorgehend
Amtsgericht Rathenow, XIV V 4/11, 07.04.2011
Landgericht Potsdam, 12 T 196/11, 20.04.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 141/11
vom
1. Juli 2011
in der Abschiebungshaftsache
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 1. Juli 2011 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke und
Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, die Richterin Dr. Stresemann und den Richter
Dr. Czub

beschlossen:
Die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Rathenow vom 7. April 2011 angeordneten und mit Beschluss der 12. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 20. April 2011 aufrechterhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen eingestellt.

Gründe:

I.

1
Der Betroffene, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, reiste am 6. März 2009 ohne erforderliche Einreisepapiere erstmals in das Bundesgebiet ein. Sein Asylantrag wurde - bestandskräftig - als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Einem Termin zur Vorführung bei Vertretern der vietnamesischen Botschaft blieb er unentschuldigt fern. Spätestens seit dem 20. Juni 2010 ist er "unbekannt" verzogen gewesen.
2
Aufgrund einer Fahndungsausschreibung wurde der Betroffene am 6. April 2011 durch die Polizei festgenommen. Auf Antrag der beteiligten Behörde von demselben Tag hat das Amtsgericht am 7. April 2011 gegen den Betroffenen die Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von drei Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Die Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde, mit der der Betroffene auch die einstweilige Aussetzung der Vollziehung der Sicherungshaft beantragt.

II.

3
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ist der Haftantrag zulässig und begründet. Es lägen die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG genannten Haftgründe vor.

III.

4
1. Der Aussetzungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (st. Rspr., siehe nur Senat, Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440).
5
2. Er ist auch begründet. Bei der gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass die Rechtsbeschwerde Erfolg haben wird, weil die Haftanordnung und die Entscheidung des Beschwerdegerichts den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt haben dürften.
6
3. Die Haftanordnung erscheint jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil der Betroffene ausweislich des Protokolls über seine Anhörung vor dem Amtsgericht erst zu Beginn der Anhörung "mit dem Antrag der Ausländerbehörde vom heutigen Tage vertraut gemacht" und ihm der Antrag nicht ausgehändigt worden ist. Er war deshalb nicht in der Lage, zu der Begründung des Haftantrags ausreichend Stellung zu nehmen.
7
a) Der Zeitpunkt, zu dem das Gericht des ersten Rechtszugs dem Betroffenen nach § 23 Abs. 2 FamFG den Haftantrag der beteiligten Behörde zuzuleiten hat, bestimmt sich einerseits danach, was zu der dem Richter im Freiheitsentziehungsverfahren obliegenden Sachaufklärung erforderlich ist, andererseits danach, was den Betroffenen in die Lage versetzt, das ihm von Verfassungs wegen zukommende rechtliche Gehör auch effektiv wahrzunehmen. Ist der Betroffene ohne vorherige Kenntnis des Antragsinhalts nicht in der Lage, zur Sachaufklärung beizutragen und seine Rechte wahrzunehmen, muss ihm der Antrag vor der Anhörung übermittelt werden; dagegen genügt die Eröffnung des Haftantrags zu Beginn der Anhörung, wenn dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 330 Rn. 16 mwN).
8
b) Ob dieser zweite Fall hier vorliegt, ist zweifelhaft. Den Zweifeln braucht jedoch nicht nachgegangen zu werden. Denn dem Protokoll über die Anhörung ist nicht zu entnehmen, dass der Haftantrag dem Betroffenen übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden ist. Eine solche Bekanntgabe ist jedoch Voraussetzung für die ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs. Anderenfalls - und so liegt es hier - kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene nicht in der Lage war, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde (vgl. § 417 Abs. 2 FamFG) zu äußern.
9
4. Nach dem Akteninhalt ist dem Betroffenen der Haftantrag auch nicht später ausgehändigt worden. Die Akteneinsicht, durch die er Kenntnis von dem vollständigen Antrag hätte erlangen können, ist seinem damaligen Verfahrensbevollmächtigten erst im Laufe der Anhörung vor dem Beschwerdegericht angeboten worden. Dass dieser sich darauf nicht eingelassen hat, ist verständlich und kann dem Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen. Denn das Beschwerdegericht wollte nach dem Protokoll der Anhörung nicht etwa Akteneinsicht und dem Betroffenen eine Frist zur Stellungnahme gewähren, sondern - wie geschehen - sogleich am Schluss der Anhörung eine Entscheidung treffen. Dass diese Verfahrensweise insbesondere angesichts des Umstands, dass der Haftantrag zunächst dem Betroffenen hätte übersetzt werden müssen, dessen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs eklatant verletzt hat, liegt auf der Hand.
10
5. Das Fehlen der ordnungsgemäßen Anhörung des Betroffenen in beiden Vorinstanzen drückt der gleichwohl angeordneten und aufrechterhaltenen Haft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154 Rn. 16). Daher ist die weitere Vollziehung der Haftanordnung auszusetzen.
Krüger Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann Czub
Vorinstanzen:
AG Rathenow, Entscheidung vom 07.04.2011 - 7 XIV V 4/11 -
LG Potsdam, Entscheidung vom 20.04.2011 - 12 T 196/11 -

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 01. Juli 2011 - V ZB 141/11

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 01. Juli 2011 - V ZB 141/11

Referenzen - Gesetze

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 62 Abschiebungshaft


(1) Die Abschiebungshaft ist unzulässig, wenn der Zweck der Haft durch ein milderes Mittel erreicht werden kann. Die Inhaftnahme ist auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen dürfen nur in besonderen

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG | § 417 Antrag


(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. (2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:1.die Identität des Betroffenen,2.den gewöhnlichen Aufent

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG | § 64 Einlegung der Beschwerde


(1) Die Beschwerde ist bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird. Anträge auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für eine beabsichtigte Beschwerde sind bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten werden soll. (

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG | § 23 Verfahrenseinleitender Antrag


(1) Ein verfahrenseinleitender Antrag soll begründet werden. In dem Antrag sollen die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben sowie die Personen benannt werden, die als Beteiligte in Betracht kommen. Der Antrag soll in geeignete
Bundesgerichtshof Beschluss, 01. Juli 2011 - V ZB 141/11 zitiert 4 §§.

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 62 Abschiebungshaft


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(1) Die Abschiebungshaft ist unzulässig, wenn der Zweck der Haft durch ein milderes Mittel erreicht werden kann. Die Inhaftnahme ist auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist.

(2) Ein Ausländer ist zur Vorbereitung der Ausweisung oder der Abschiebungsanordnung nach § 58a auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen, wenn über die Ausweisung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a nicht sofort entschieden werden kann und die Abschiebung ohne die Inhaftnahme wesentlich erschwert oder vereitelt würde (Vorbereitungshaft). Die Dauer der Vorbereitungshaft soll sechs Wochen nicht überschreiten. Im Falle der Ausweisung bedarf es für die Fortdauer der Haft bis zum Ablauf der angeordneten Haftdauer keiner erneuten richterlichen Anordnung.

(3) Ein Ausländer ist zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen (Sicherungshaft), wenn

1.
Fluchtgefahr besteht,
2.
der Ausländer auf Grund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist oder
3.
eine Abschiebungsanordnung nach § 58a ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann.
Von der Anordnung der Sicherungshaft nach Satz 1 Nummer 2 kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn der Ausländer glaubhaft macht, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will. Die Sicherungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann; bei einem Ausländer, bei dem ein Fall des § 54 Absatz 1 Nummer 1 bis 1b oder Absatz 2 Nummer 1 oder 3 vorliegt und auf den nicht das Jugendstrafrecht angewendet wurde oder anzuwenden wäre, gilt abweichend ein Zeitraum von sechs Monaten. Abweichend von Satz 3 ist die Sicherungshaft bei einem Ausländer, von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, auch dann zulässig, wenn die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.

(3a) Fluchtgefahr im Sinne von Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 wird widerleglich vermutet, wenn

1.
der Ausländer gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität täuscht oder in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise und in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt hat, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität,
2.
der Ausländer unentschuldigt zur Durchführung einer Anhörung oder ärztlichen Untersuchung nach § 82 Absatz 4 Satz 1 nicht an dem von der Ausländerbehörde angegebenen Ort angetroffen wurde, sofern der Ausländer bei der Ankündigung des Termins auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle des Nichtantreffens hingewiesen wurde,
3.
die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist,
4.
der Ausländer sich entgegen § 11 Absatz 1 Satz 2 im Bundesgebiet aufhält und er keine Betretenserlaubnis nach § 11 Absatz 8 besitzt,
5.
der Ausländer sich bereits in der Vergangenheit der Abschiebung entzogen hat oder
6.
der Ausländer ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will.

(3b) Konkrete Anhaltspunkte für Fluchtgefahr im Sinne von Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 können sein:

1.
der Ausländer hat gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise getäuscht und hat die Angabe nicht selbst berichtigt, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität,
2.
der Ausländer hat zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge, insbesondere an einen Dritten für dessen Handlung nach § 96, aufgewandt, die nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren,
3.
von dem Ausländer geht eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus,
4.
der Ausländer ist wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden,
5.
der Ausländer hat die Passbeschaffungspflicht nach § 60b Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 2 und 6 nicht erfüllt oder der Ausländer hat andere als die in Absatz 3a Nummer 2 genannten gesetzlichen Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität, insbesondere die ihm nach § 48 Absatz 3 Satz 1 obliegenden Mitwirkungshandlungen, verweigert oder unterlassen und wurde vorher auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle der Nichterfüllung der Passersatzbeschaffungspflicht nach § 60b Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 2 und 6 oder der Verweigerung oder Unterlassung der Mitwirkungshandlung hingewiesen,
6.
der Ausländer hat nach Ablauf der Ausreisefrist wiederholt gegen eine Pflicht nach § 61 Absatz 1 Satz 1, Absatz 1a, 1c Satz 1 Nummer 3 oder Satz 2 verstoßen oder eine zur Sicherung und Durchsetzung der Ausreisepflicht verhängte Auflage nach § 61 Absatz 1e nicht erfüllt,
7.
der Ausländer, der erlaubt eingereist und vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist, ist dem behördlichen Zugriff entzogen, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend aufhält.

(4) Die Sicherungshaft kann bis zu sechs Monaten angeordnet werden. Sie kann in Fällen, in denen die Abschiebung aus von dem Ausländer zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, um höchstens zwölf Monate verlängert werden. Eine Verlängerung um höchstens zwölf Monate ist auch möglich, soweit die Haft auf der Grundlage des Absatzes 3 Satz 1 Nummer 3 angeordnet worden ist und sich die Übermittlung der für die Abschiebung erforderlichen Unterlagen oder Dokumente durch den zur Aufnahme verpflichteten oder bereiten Drittstaat verzögert. Die Gesamtdauer der Sicherungshaft darf 18 Monate nicht überschreiten. Eine Vorbereitungshaft ist auf die Gesamtdauer der Sicherungshaft anzurechnen.

(4a) Ist die Abschiebung gescheitert, bleibt die Anordnung bis zum Ablauf der Anordnungsfrist unberührt, sofern die Voraussetzungen für die Haftanordnung unverändert fortbestehen.

(5) Die für den Haftantrag zuständige Behörde kann einen Ausländer ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn

1.
der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Absatz 3 Satz 1 besteht,
2.
die richterliche Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft nicht vorher eingeholt werden kann und
3.
der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Sicherungshaft entziehen will.
Der Ausländer ist unverzüglich dem Richter zur Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft vorzuführen.

(6) Ein Ausländer kann auf richterliche Anordnung zum Zwecke der Abschiebung für die Dauer von längstens 14 Tagen zur Durchführung einer Anordnung nach § 82 Absatz 4 Satz 1, bei den Vertretungen oder ermächtigten Bediensteten des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, persönlich zu erscheinen, oder eine ärztliche Untersuchung zur Feststellung seiner Reisefähigkeit durchführen zu lassen, in Haft genommen werden, wenn er

1.
einer solchen erstmaligen Anordnung oder
2.
einer Anordnung nach § 82 Absatz 4 Satz 1, zu einem Termin bei der zuständigen Behörde persönlich zu erscheinen,
unentschuldigt ferngeblieben ist und der Ausländer zuvor auf die Möglichkeit einer Inhaftnahme hingewiesen wurde (Mitwirkungshaft). Eine Verlängerung der Mitwirkungshaft ist nicht möglich. Eine Mitwirkungshaft ist auf die Gesamtdauer der Sicherungshaft anzurechnen. § 62a Absatz 1 findet entsprechende Anwendung.

(1) Die Beschwerde ist bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird. Anträge auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für eine beabsichtigte Beschwerde sind bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten werden soll.

(2) Die Beschwerde wird durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt. Die Einlegung der Beschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle ist in Ehesachen und in Familienstreitsachen ausgeschlossen. Die Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie ist von dem Beschwerdeführer oder seinem Bevollmächtigten zu unterzeichnen.

(3) Das Beschwerdegericht kann vor der Entscheidung eine einstweilige Anordnung erlassen; es kann insbesondere anordnen, dass die Vollziehung des angefochtenen Beschlusses auszusetzen ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 211/10
vom
18. August 2010
in der Freiheitsentziehungssache
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. August 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke und Dr. SchmidtRäntsch
, die Richterin Dr. Stresemann und den Richter Dr. Czub

beschlossen:
Die Vollziehung der durch Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 1. Juli 2010 angeordneten und mit Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg vom 21. Juli 2010 aufrechterhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen ausgesetzt.

Gründe:

I.

1
Der Betroffene, der Staatsangehöriger von Montenegro ist und bereits in den Jahren 2004 und 2009 abgeschoben worden war, reiste nach eigenen Angaben am 6. Mai 2010 erneut in das Bundesgebiet ein und wurde am 17. Juni 2010 vorläufig festgenommen.
2
Eine am 1. Juli 2010 beabsichtigte Rückführung des Betroffenen scheiterte , weil er im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich in Untersuchungshaft genommen worden war. Das Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Die Zustimmung zu einer Zurückschiebung des Betroffenen ist von der Staatsanwaltschaft bislang nicht erteilt worden.
3
Mit Beschluss vom 18. Juni 2010 hat das Amtsgericht auf Antrag der Beteiligten zu 2 gegenüber dem Betroffenen die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 16. Juli 2010 und die sofortige Wirksamkeit seiner Entschei- dung angeordnet. Mit Beschluss vom 1. Juli 2010 hat es die Haft bis längstens vier Wochen nach Ende der Untersuchungshaft verlängert.
4
Die gegen die Haftanordnungen des Amtsgerichts gerichteten Beschwerden sind von dem Landgericht zurückgewiesen worden. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der zugleich die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Haftentscheidung beantragt worden ist.

II.

5
Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei aufgrund unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Da er nicht glaubhaft gemacht habe, dass er sich der Zurückschiebung nicht entziehen werde, sei die Haft anzuordnen gewesen. Gründe, die gegen die Möglichkeit der Zurückschiebung binnen drei Monaten sprächen, lägen nicht vor. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass sich das gegen den Betroffenen geführte Strafverfahren länger hinauszögern werde. Die Staatsanwaltschaft werde dann gegebenenfalls einer Abschiebung zustimmen.

III.

6
1. Der Aussetzungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Mai 2010 - V ZB 121/10, juris, Rn. 5; Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97, Rn. 3; Senat, Beschluss vom 30. März 2010 - V ZB 79/10, FGPrax 2010, 158, Rn. 3).
7
2. Er ist auch begründet.
8
a) Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die drohenden Nachteile für den Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Die Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung , die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (Senat, Beschluss vom 7. Mai 2010 - V ZB 121/10, juris Rn. 7; Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97, Rn. 5; Senat, Beschluss vom 30. März 2010 - V ZB 79/10, FGPrax 2010, 158 Rn. 5). So liegt es hier. Die Rechtsbeschwerde bietet jedenfalls insoweit hinreichende Aussicht auf Erfolg, als sie sich gegen die Verlängerung der Sicherungshaft richtet, die ausweislich des Vollstreckungsblattes der Untersuchungshaftanstalt Hamburg vom 2. August 2010 seit diesem Tag gegen den Betroffenen vollstreckt wird.
9
b) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts begegnet angesichts der fehlenden Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einer Rückschiebung des Betroffenen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erheblichen rechtlichen Bedenken.
10
aa) Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus; dass das Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft zu einem späteren Zeitpunkt hergestellt werden könnte, ist unerheblich (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010, V ZB 93/10 - juris Rn. 8 für die Abschiebung).
11
bb) Die Beteiligte zu 2 betreibt hier zwar nicht die Abschiebung (§ 58 AufenthG) oder die Ausweisung (§§ 53 ff. AufenthG), sondern die - in § 72 Abs. 4 AufenthG nicht angeführte - Zurückschiebung des Betroffenen nach § 57 AufenthG. Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses begründen aber ernsthafte Zweifel an der Annahme, eine Zurückweisung des Betroffenen könne deshalb auch ohne Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft erfolgen.
12
Der Wortlaut des § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG lässt ebenso wenig einen zweifelsfreien Rückschluss darauf zu, dass die Norm in der Aufzählung aufenthaltsbeendender Maßnahmen abschließend ist (so aber wohl Hailbronner, Ausländerrecht , 59. Aktualisierung zu § 72 AufenthG Rn. 17 und 62. Aktualisierung zu § 57 Rn. 4; Gutmann in GK-AufenthG, Stand September 2007, § 72 Rn. 34), wie die Gesetzesbegründung zu § 64 Abs. 3 AuslG, bei der es sich um die inhaltsgleiche Vorgängerregelung von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG handelt (vgl. Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drucks. 11/6321 [vom 27. Januar 1990], S. 78 f.).
13
Vielmehr dürfte ein allein an dem Wortlaut orientiertes Verständnis der Norm deren Sinn und Zweck nicht gerecht werden. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG soll verhindern, dass die Strafverfolgung durch ausländerrechtliche Maßnahmen erschwert oder vereitelt wird (OLG München, OLGR 2009, 291; Gutmann in GK-AufenthG, Stand September 2007, § 72 Rn. 29 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, 59. Aktualisierung zu § 72 Rn. 14). Aus diesem Grund hängen die Ausweisung und die Abschiebung von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft ab. Allein ihr obliegt die Abwägung, ob das Strafverfolgungsinteresse das Interesse an der Abschiebung des Ausländers überwiegt.
14
Ein überwiegendes Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegenüber einem sich illegal im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländer kann aber nicht nur im Falle der Abschiebung und Ausweisung, sondern ebenso bei einer Zurückschiebung bestehen (vgl. OLG München, OLGR 2009, 291). Vor diesem Hintergrund überzeugt auch die Annahme, die Vorschrift des § 72 Abs. 4 AufenthG lasse die Absicht des Gesetzgebers erkennen, unerlaubte Einreisen vorrangig mit dem Mittel der Zurückschiebung zu bekämpfen und in Fällen, in denen die Zurückweisung möglich ist, den staatlichen Strafanspruch zurücktreten lassen (so Hailbronner, Ausländerrecht, 62. Aktualisierung zu § 57 AufenthG Rn. 4), nicht ohne Weiteres.
15
c) Bei dieser Sachlage überwiegen die Nachteile, die für den Betroffenen mit der fortgesetzten Vollziehung der Haft verbunden wären, das staatliche Interesse an deren Aufrechterhaltung. Krüger Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann Czub
Vorinstanzen:
AG Hamburg, Entscheidung vom 01.07.2010 - 219i XIV 41063/09 -
LG Hamburg, Entscheidung vom 21.07.2010 - 329 T 66/10 + 329 T 67/10 -

(1) Ein verfahrenseinleitender Antrag soll begründet werden. In dem Antrag sollen die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben sowie die Personen benannt werden, die als Beteiligte in Betracht kommen. Der Antrag soll in geeigneten Fällen die Angabe enthalten, ob der Antragstellung der Versuch einer Mediation oder eines anderen Verfahrens der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vorausgegangen ist, sowie eine Äußerung dazu, ob einem solchen Verfahren Gründe entgegenstehen. Urkunden, auf die Bezug genommen wird, sollen in Urschrift oder Abschrift beigefügt werden. Der Antrag soll von dem Antragsteller oder seinem Bevollmächtigten unterschrieben werden.

(2) Das Gericht soll den Antrag an die übrigen Beteiligten übermitteln.

(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen.

(2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:

1.
die Identität des Betroffenen,
2.
den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen,
3.
die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung,
4.
die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung sowie
5.
in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung.
Die Behörde soll in Verfahren der Abschiebungshaft mit der Antragstellung die Akte des Betroffenen vorlegen.

(3) Tatsachen nach Absatz 2 Satz 2 können bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz ergänzt werden.

16
cc) Wie bereits vorstehend unter 2. a) cc) ausgeführt, drückt das Unterlassen der mündlichen Anhörung der gleichwohl angeordneten Haft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf. Dasselbe gilt, wenn - wie hier - zwar ein Anhörungstermin, nicht aber eine Kommunikation zwischen Richter und Betroffenem stattgefunden hat.