Bundesgerichtshof Urteil, 04. Mai 2017 - 3 StR 323/16

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:040517U3STR323.16.0
bei uns veröffentlicht am04.05.2017

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 323/16
vom
4. Mai 2017
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen schweren Raubes u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:040517U3STR323.16.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 4. Mai 2017, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Becker,
die Richter am Bundesgerichtshof Gericke, Dr. Tiemann, Dr. Berg, Hoch als beisitzende Richter,
Richterin am Amtsgericht als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Verteidiger des Angeklagten A. M. ,
Rechtsanwalt als Verteidiger des Angeklagten V. M. ,
Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 16. März 2016 werden verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage sind den Angeklagten Beteiligungen an drei Raubüberfällen auf Supermärkte vorgeworfen worden. Das Landgericht hat das Verfahren wegen eines - behebbaren - Verfahrenshindernisses gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt. Hiergegen wenden sich die Revisionen der Angeklagten, mit der sie ihre Freisprechung zu erreichen suchen. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
2
I. 1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen reisten die gesondert Verfolgten D. und Mi. Anfang des Jahres 2004 von Litauen nach Düsseldorf. In den folgenden Wochen hielten sie sich in der Wohnung des Angeklagten A. M. auf und lernten dessen Lebensgefährtin sowie den Angeklagten V. M. kennen. In dieser Zeit verabredeten die Angeklagten mit den gesondert Verfolgten Mi. und D. , in wechselnder Beteiligung Überfälle auf verschiedene Einkaufsmärkte zu begehen. Die Tatbeute sollte jeweils unter den Beteiligten aufgeteilt werden.
3
Am 12. März 2004 fuhren die Angeklagten mit Mi. und D. ihrem zuvor gefassten Tatplan entsprechend zu einem Supermarkt in Düsseldorf. Der Angeklagte A. M. verfügte über gute Kenntnisse dieser Räumlichkeiten, die er den übrigen Beteiligten vermittelt hatte, weil sowohl er als auch seine Lebensgefährtin in der Vergangenheit dort beschäftigt gewesen waren. Zur Durchführung der geplanten Tat hatte er zwei mit Platzpatronen geladene Pistolen besorgt. Vor dem Supermarkt blieben die Angeklagten im Auto sitzen, um die Umgebung abzusichern. Währenddessen bedrohten Mi. und D. im Supermarkt mit den Pistolen zwei Angestellte, die sie mit Handschellen und Klebeband fesselten. Anschließend nahmen sie insgesamt 7.000 € aus dem in den Geschäftsräumen befindlichen Tresor. Die Geldscheine (insgesamt 6.000 €) teilten der Angeklagte A. M. sowie die gesondert Verfolgten Mi. und D. gleichmäßig untereinander auf; der Angeklagte V. M. erhielt das Münzgeld in Höhe von 1.000 € (Fall II.2 der Urteilsgründe).
4
Am 21. März 2004 fuhr der Angeklagte V. M. die übrigen drei Beteiligten zu einem weiteren Supermarkt in Düsseldorf. Dort blieb er im Fahrzeug, um die Umgebung zu beobachten, während der Angeklagte A. M. aus dem Wagen ausstieg und das Umfeld von dort im Blick behielt. Unterdessen begaben sich Mi. und D. zur Hintertüre des Supermarktes. Sie beabsichtigten, die im Supermarkt befindliche Angestellte unter einem Vorwand dazu zu bringen, die Türe zu öffnen, sie sodann mit Hilfe der bereits bei dem ersten Überfall mitgeführten Pistolen zu überwältigen und mit Kabelbindern zu fesseln. Auf ihr Klingeln meldete sich die Zeugin B. aus dem Inneren des Supermarktes. Ihre Antwort interpretierten Mi. und D. - unzutreffend - dahin, dass die Zeugin mit der Polizei drohte.
Sie brachen ihr weiteres Vorhaben deshalb ab, weil sie davon ausgingen, der Tatplan lasse sich nicht mehr umsetzen (Fall II.3 der Urteilsgründe).
5
Schließlich begaben sich der Angeklagte A. M. und die gesondert Verfolgten Mi. und D. am 5. April 2004 zu einem Drogeriemarkt in Düsseldorf. Während der Angeklagte die Umgebung absicherte, fingierten Mi. und D. im Inneren des Marktes einen Bezahlvorgang. Als die Kassiererin daraufhin die Kasse öffnete, hielt ihr Mi. eine der bereits bei den früheren Taten verwendeten Pistolen vor. D. entnahm der Kasse etwa 1.500 €. Die Beute teilten die drei Beteiligten später zu gleichen Teilen unter sich auf (Fall II.4 der Urteilsgründe).
6
2. Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Tatbeteiligung der Angeklagten aufgrund der Aussagen der gesondert Verfolgten Mi. und D. gewonnen. D. hatte gegenüber litauischen Kriminalbehörden noch im Jahr 2004 seine Beteiligung an der Tat vom 12. März 2004 eingeräumt und als Mittäter den Angeklagten A. M. und Mi. benannt. Am 31. Juli 2007 wurde er in Litauen im Beisein eines deutschen Ermittlungsbeamten erneut vernommen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass sich auch Mi. in Litauen in Haft befand, wurde dieser bereits am Folgetag befragt und machte ebenfalls die Angeklagten belastende Angaben. Nachdem D. im März 2011 in Düsseldorf festgenommen worden war, gab er im Rahmen einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung von Juni 2011 eine umfangreiche geständige Einlassung ab und belastete beide Angeklagten. Im Rahmen von Verteidigererklärungen erklärten sich D. und Mi. in der Hauptverhandlung des gegen sie wegen der Fälle II.2 und 4 der Urteilsgründe geführten Strafverfahrens ein weiteres Mal zu der Tatbeteiligung der Angeklagten.
7
In der verfahrensgegenständlichen Hauptverhandlung hat die Strafkammer die gesondert Verfolgten D. und Mi. nicht vernehmen können, weil beide zwischenzeitlich aus der Strafhaft entlassen worden waren und unbekannten Aufenthalts sind. Sie hat daher auf die Angaben aus den früheren Vernehmungen zurückgegriffen und diese nach ausführlicher Würdigung - insbesondere auch unter Auseinandersetzung mit den in Betracht kommenden Falschbelastungsmotiven - für glaubhaft erachtet.
8
An einer den Feststellungen entsprechenden Verurteilung hat sie sich dennoch gehindert gesehen, weil den Angeklagten bislang entgegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK noch keine Gelegenheit gegeben werden konnte, D. und Mi. selbst zu befragen oder befragen zu lassen. Dies sei der Justiz zuzurechnen: Die gesondert verfolgten Zeugen seien bereits im Januar 2012 verurteilt worden und hätten sich in Strafhaft befunden. Gleichwohl seien keine Maßnahmen ergriffen worden, um den Angeklagten oder ihren im Sommer 2013 beigeordneten Pflichtverteidigern die Möglichkeit zur Befragung der Zeugen zu eröffnen. Die Anklage sei sodann erst im Juni 2014 erhoben worden; der gesondert Verfolgte Mi. sei bereits am Tage des Eingangs der Anklage aus der Haft heraus abgeschoben und D. kurze Zeit später im August 2014 entlassen worden. Gewichtige außerhalb der Aussagen der beiden gesondert Verfolgten liegende Beweismittel, die die Angeklagten belasteten, gebe es nicht.
9
Wenn die Angeklagten deshalb zwar nicht auf der Grundlage der Angaben der gesondert Verfolgten Mi. und D. verurteilt werden dürften, so könne dies dennoch - wegen des ansonsten eintretenden Strafklageverbrauchs - entgegen der vom Bundesgerichtshof vertretenen sog. Beweiswürdigungslösung nicht ihren Freispruch zur Folge haben. Vielmehr bestehe nur ein (behebbares) Verfahrenshindernis in Form eines Bestrafungsverbots.
10
II. Die Revisionen bleiben ohne Erfolg.
11
1. Es ist bereits die Zulässigkeit der Rechtsmittel zweifelhaft. Hierzu gilt:
12
Ein Angeklagter ist durch die Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses in aller Regel nicht beschwert; etwas anderes kann nur gelten, wenn er auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen freizusprechen wäre (BGH, Urteil vom 4. Mai 1970 - AnwSt (R) 6/69, BGHSt 23, 257, 259). In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist allerdings nicht abschließend geklärt, ob diese Grundsätze, die für den Fall entwickelt worden sind, dass entweder eine endgültige Einstellung oder ein Freispruch in Betracht kam, auch auf Fälle einer (vorläufigen) Verfahrenseinstellung wegen eines behebbaren Verfahrenshindernisses zu übertragen sind (so BGH, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 5 StR 383/06, NJW 2007, 3010, 3011), oder ob eine Beschwer des Angeklagten angesichts der verminderten Rechtskraftwirkung einer Verfahrenseinstellung wegen eines behebbaren Verfahrenshindernisses in diesen Fällen bereits dann anzunehmen ist, wenn er nur behauptet, es hätte eine endgültige Entscheidung - sei es wegen eines nicht behebbaren Prozesshindernisses, sei es wegen eines vorrangigen Freispruchs - ergehen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 StR 524/10, NJW 2011, 2310).
13
Der Senat kann die Entscheidung dieser Rechtsfrage letztlich offen lassen, weil ein Fall, in dem die Angeklagten auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen freizusprechen gewesen wären, nicht vorliegt.
14
2. Aus diesem Grund erweisen sich die Revisionen jedenfalls als unbegründet. Dazu im Einzelnen:
15
a) Das Landgericht hat seine Feststellungen zur Beteiligung der Angeklagten rechtsfehlerfrei gewonnen. Entgegen seiner Annahme war es an ihrer Verurteilung nicht dadurch gehindert, dass sie ihr Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK nicht ausüben konnten.
16
aa) Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK garantiert - als eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK - das Recht des Angeklagten, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Selbst wenn der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt die Gelegenheit zur konfrontativen Befragung des Zeugen hatte, begründet dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte allerdings nicht ohne weiteres einen Konventionsverstoß. Entscheidend ist vielmehr, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung fair war (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 - 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925, 926; BGH, Beschluss vom 29. November 2006 - 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 154 mwN zur Rspr. des EGMR). Diese Frage beurteilt der Gerichtshof nach der sogenannten 3-Stufen-Theorie. Danach ist zunächst zu prüfen, ob ein triftiger Grund für das Nichterscheinen des Zeugen vorlag, der die Einführung seiner Aussage über ein Beweismittelsurrogat rechtfertigen konnte. In einem zweiten Schritt ist zu beurteilen, ob die Aussage die einzige oder entscheidende Grundlage für die Beweisführung darstellte. Schließlich ist in die erforderliche Gesamtbetrachtung einzustellen, ob es ausgleichende Faktoren, insbesondere strenge Verfahrensgarantien gab, die eine etwaige Erschwernis für die Verteidigung, die sich aus der Unmöglichkeit der konfrontativen Befragung ergab, ausgeglichen haben (vgl. zu alledem EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 - 9154/10, EuGRZ 2016, 511, 520 ff. mwN und Einzelheiten). Die verschiedenen Stufen bauen dabei zwar nicht aufeinander auf; sie hängen aber voneinander ab und beeinflussen sich gegenseitig. Allein das Fehlen eines triftigen Grundes für das Nichterscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung lässt daher noch nicht auf ein unfaires Verfahren schließen. Anderseits bleiben die ausgleichenden Faktoren auch dann zu prüfen, wenn ein solcher Grund vorlag (EGMR aaO, 522). Im Einzelfall kann eine Verurteilung auch dann konventionsrechtlich unbedenklich sein, wenn das einzige oder maßgebliche Beweismittel, auf dem sie beruht, die Aussage eines Zeugen darstellt, den der Angeklagte nicht befragen oder befragen lassen konnte (EGMR aaO, 520 f.).
17
Die Auslegung der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307, 317 ff.; vom 18. Dezember 2014 - 2 BvR 209/14 u.a., NJW 2015, 1083, 1085). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bedingt dies Besonderheiten bei der Beweiswürdigung. Von maßgeblicher Bedeutung ist dabei, ob die unterbliebene Möglichkeit zur Befragung durch kompensierende Maßnahmen (zum Beispiel durch Anwesenheit des Verteidigers bei der Zeugenbefragung) ausgeglichen wurde (BGH, Beschluss vom 17. März 2010 - 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 75). Ist dies nicht der Fall und die unterbliebene konfrontative Befragung des Zeugen der Justiz zurechenbar, kann eine Verurteilung auf die Angaben des Zeugen nur gestützt werden, wenn diese durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden (BGH, Beschlüsse vom 29. November 2006 - 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 155 mwN; vom 17. März 2010 - 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 75). In jedem Fall bedarf die Aussage eines Zeugen, den der Angeklagte nicht befragen (lassen) konnte, einer besonders sorgfältigen und kritischen Würdigung durch das Tatgericht (BGH, Beschluss vom 17. März 2010 - 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 75).
18
Im Rahmen dieser Würdigung ist zu beachten, dass die Einbettung der Angaben des Zeugen in einen bestimmten Lebenssachverhalt und der Detailreichtum seiner Aussage angesichts des Fehlens eines kontradiktorischen Verhörs von beschränktem Wert sind (BGH, Urteil vom 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00, juris Rn. 68 [insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 46, 93]). Andererseits kommen als außerhalb der Aussage liegende Gesichtspunkte auch Angaben desselben Zeugen in Betracht, die dieser bei anderen Gelegenheiten gemacht hat und die nicht für Polizei und/oder Justiz bestimmt waren (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2004 - 2 StR 156/04, NJW 2005, 1132, 1133). Selbständige Beweisergebnisse sind in diesem Zusammenhang daneben die Angaben anderer Zeugen, selbst wenn diese ihrerseits nicht konfrontativ befragt werden konnten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 - 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925, 926). Denn die Angaben verschiedener Personen sind jeweils eigenständige Beweismittel, deren Beweiswert infolge der fehlenden konfrontativen Befragung eingeschränkt sein mag; vollständig aufgehoben wird er dadurch aber nicht. Vielmehr sind die Aussagen - wenn auch mit geringerem Beweiswert - neben gegebenenfalls weiteren Beweismitteln in die Beweiswürdigung des Tatgerichts einzustellen. Würde man den Umstand, dass sich die Äußerungen verschiedener Personen - auch wenn der Angeklagte sie nicht selbst befragen oder befragen lassen konnte - vollständig oder in wesentlichen Teilen decken, pauschal außer Acht lassen, würde dies der Annahme eines Verwertungsverbots nahe kommen, das indes - auch von Verfassungs wegen - gerade nicht geboten ist (vgl. BVerfG aaO). Ein solches Vorgehen könnte auch deswegen nicht überzeugen, weil sowohl die Gründe für die jeweilige Unmöglichkeit der konfrontativen Befragung als auch das Maß der Bestätigung der jeweils anderen Aussage durch andere Beweismittel erheblich variieren können.
19
bb) Gemessen an diesen Maßstäben sind die Feststellungen des Landgerichts zu den Tatbeteiligungen der Angeklagten revisionsrechtlich nicht zu beanstanden; entgegen seiner Annahme boten die Angaben der Belastungszeugen auch eine taugliche Grundlage für eine Verurteilung der Angeklagten.
20
Die Strafkammer hat die Angaben der gesondert Verfolgten D. und Mi. einer sorgfältigen und umfassenden Glaubhaftigkeitsprüfung unterzogen. In diesem Zusammenhang hat sie sich außerdem ausführlich mit allen in Betracht kommenden Motiven auseinandergesetzt, welche die Zeugen zu einer falschen Belastung der Angeklagten veranlasst haben könnten. Dass das Landgericht verkannt haben könnte, dass einzelne Glaubhaftigkeitskriterien aufgrund der fehlenden Möglichkeit einer konfrontativen Befragung (abstrakt) einen geminderten Stellenwert haben können, ist angesichts seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit den Grundsätzen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Konfrontationsrecht und insbesondere der vom Bundesgerichtshof vertretenen Beweiswürdigungslösung auszuschließen. Soweit sich die Strafkammer angesichts des Detailreichtums der Angaben der gesondert Verfolgten, der in ihren Aussagen liegenden Selbstbelastungen, der wechselseitigen Übereinstimmungen und des Umstandes, dass beide hinsichtlich der Tatbeteiligungen zwischen den Angeklagten differenziert haben, insbesondere den Angeklagten V. M. nicht mit der Tat vom 5. April 2004 (Fall II.4 der Urteilsgründe) in Verbindung gebracht haben, von der Glaubhaftigkeit der Aussagen überzeugt hat, gibt es hiergegen aus Rechtsgründen nichts zu erinnern.
21
Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die Beeinträchtigung der Angeklagten in ihrem Konfrontationsrecht der Justiz zuzurechnen ist. Die Gefahr, dass D. und Mi. die Bundesrepublik Deutschland nach ihrer Entlassung aus der Haft verlassen und für die Behörden in der Folge unbekannten Aufenthalts sein könnten, lag seit deren Inhaftierung nahe. Auch die Staatsanwaltschaft hatte dies angesichts ihrer mit der Einreichung der Anklageschrift verbundenen Bitte um zeitnahe Terminierung, weil die Entlassung von D. und Mi. alsbald bevorstehe, jedenfalls nachträglich erkannt. Angesichts der sich aufdrängenden Möglichkeit eines durch den Zeitablauf eintretenden "Beweismittelverlustes" begründete das Untätigbleiben der Staatsanwaltschaft in der Zeit von Januar 2012 bis zur Anklageerhebung im Juni 2014 daher die Verantwortlichkeit der Justiz für die hierdurch verursachte spätere Beschränkung der Angeklagten in ihren Verteidigungsrechten. Dies gilt umso mehr, als bereits seit August 2011 keine verfahrensfördernden Ermittlungen mehr durchgeführt worden waren.
22
Soweit bei dieser Sachlage nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Verurteilung auf die Angaben eines Zeugen, den der Angeklagte nicht befragen (lassen) konnte, nur gestützt werden können soll, wenn diese durch außerhalb der Aussage liegende wichtige Gesichtspunkte bestätigt werden, kann der Senat offen lassen, ob er dem in dieser Pauschalität folgen könnte; deren bedeutsame Umstände liegen hier vor: Die - unabhängig voneinander zustande gekommenen - Angaben von D. und Mi. bestätigen sich wechselseitig, was umso mehr ins Gewicht fällt, als die erstmalige Vernehmung von Mi. in Litauen nicht im Vorfeld geplant, sondern erst spontan im Rahmen der Vernehmung von D. kurzfristig ermöglicht werden konnte. Dass beide hinsichtlich der Tat vom 12. März 2004 (Fall II.2 der Urteilsgründe) ihre Kenntnisse über die Räumlichkeiten, die Lage des Tresors und die Betriebsabläufe von dem Angeklagten A. M. erlangt hatten, wird dadurch gestützt, dass sowohl dieser als auch seine Lebensgefährtin in der Vergangenheit in dem Supermarkt beschäftigt waren. Dass diese zudem vor der Tat vom 21. März 2004 (Fall II.3 der Urteilsgründe) auch in der Supermarktfiliale auf derBo. Straße tätig war, bringt den Angeklagten A. M. mit dieser Tat ebenfalls in Verbindung. Die Angaben der gesondert Verfolgten D. und Mi. zu ihrem Aufenthalt in Düsseldorf und ihrer Nähe zu den Angeklagten werden schließlich dadurch bekräftigt, dass sie im Zuge der Ermittlungen und im zeitlichen Zusammenhang zu der Tat vom 5. April 2004 (Fall II.4 der Urteilsgründe) in der Wohnung des Angeklagten A. M. angetroffen worden waren.
23
b) Im Ergebnis gebot die Beweis- und Verfahrenslage nach alledem den Freispruch der Angeklagten nicht. Diese hätten vielmehr entsprechend der Überzeugung der Strafkammer von ihrer Tatbeteiligung verurteilt werden können. Da auch aus anderen Gründen kein unbehebbares Prozesshindernis besteht, sind die Angeklagten durch die Verfahrenseinstellung nicht benachteiligt. Angesichts der an sich gebotenen Verurteilung gilt dies auch vor dem Hintergrund, dass das Landgericht das Verfahren durch Prozessurteil nur vorläufig eingestellt hat.
24
III. Der Fall gibt Anlass zu folgenden Bemerkungen:
25
Hatte der Angeklagte keine Möglichkeit zur konfrontativen Befragung des Zeugen, bedarf es nach den dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung zum Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK einer besonders sorgfältigen und kritischen Beweiswürdigung durch das Gericht, wenn dieses die Verurteilung auf die genannten Angaben stützen will.
26
Nach deutschem Strafprozessrecht ist es indes stets Voraussetzung der Verurteilung, dass sich das Tatgericht aufgrund der Ergebnisse der Hauptverhandlung von der Schuld des Angeklagten überzeugt hat (§ 261 StPO). Ihm zu unterstellen, es würde die Beweisergebnisse weniger sorgfältig würdigen, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung oder in deren Vorfeld die Möglichkeit zu einer Befragung des Zeugen gehabt hätte, entbehrt jeglicher Grundlage (kritisch auch Nehm in Festschrift Widmaier, 2008, S. 371, 374; Wohlers, StV 2014, 563, 565 ff.). Das Gebot der sorgfältigen und kritischen Beweiswürdigung stellt daher zunächst nur den Hinweis an das Tatgericht dar, sich der grundsätzlich bestehenden Defizite im Beweiswert derartiger Angaben bewusst zu sein. Eine Aussage über deren tatsächliche Beweiskraft im Einzelfall ist damit ebenso wenig verbunden wie die Vorgabe, die Glaubhaftigkeit einer Aussage in eine bestimmte Richtung zu beurteilen. Aus dem Gebot folgen allerdings erhöhte Anforderungen an die Abfassung der Urteilsgründe, in denen das Gericht seine Erwägungen zur Würdigung der Aussage darlegen muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 - 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925, 926; BGH, Urteil vom 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00, BGHSt 46, 93, 106).
27
Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach der sogenannten Beweiswürdigungslösung verlangt wird, dass Aussagen von Zeugen, die - der Justiz zurechenbar - vom Angeklagten nicht konfrontativ befragt werden konnten, nur dann zur Überführung des Angeklagten verwendet werden können, wenn sie durch außerhalb der Aussage liegende, gewichtige Gesichtspunkte bestätigt werden, könnte die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Urteil vom 15. Dezember 2015 (9154/10, EuGRZ 2016, 511) Anlass geben, diese Grundsätze zu überdenken. Denn in dieser Rechtsprechung wird klargestellt, dass bei der Prüfung eines Konventionsverstoßes nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Buchst. d EMRK die verschiedenen Prüfungsstufen nicht aufeinander aufbauen, sondern stets eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist. Angesichts dessen sprechen gegen die Beweiswürdigungslösung in ihrer bisherigen Ausgestaltung mehrere Gesichtspunkte:
28
Der Beweiswert einer Aussage wird durch vielfältige Umstände beeinflusst. Dass sich der Zeuge keiner konfrontativen Befragung durch den von ihm belasteten Angeklagten stellen musste, ist nur einer von mehreren Faktoren. Detailreiche und widerspruchsfreie Bekundungen können grundsätzlich für die Glaubhaftigkeit einer Aussage sprechen; andererseits kann sich der Wert dieser Kritierien aufgrund der durch die unterbliebene Befragungsmöglichkeit reduzierten "Angriffsfläche" relativieren. Welche Folgerungen hieraus für die Beweiskraft der Aussage im Einzelfall zu ziehen sind, entzieht sich angesichts der Bandbreite von möglichem Aussageinhalt und dem Bestehen sonstiger Glaubhaftigkeitskriterien aber - unabhängig von der Frage, inwieweit die Aussage durch andere Beweisergebnisse objektiviert ist - einer pauschalen Bewertung.
29
Die nach der Beweiswürdigungslösung vorzunehmende Differenzierung danach, ob die fehlende Befragungsmöglichkeit des Zeugen durch den Angeklagten oder dessen Verteidiger der Justiz vorwerfbar ist, ist für die vom Gericht zu klärende Frage, ob die Angaben des Zeugen als zuverlässig anzusehen sind, ohne Wert. Verfahrensfairness und Beweiswert eines Beweismittels sind nicht identisch, auch wenn sie im Einzelfall von denselben tatsächlichen Umständen beeinflusst sein können. In tatsächlicher Hinsicht ist die Minderung des Beweiswerts einer Aussage allein auf den Umstand der fehlenden Befragung als solche zurückzuführen. Auch bei mangelnder Verantwortlichkeit der Justiz für die Beschränkung der Verteidigungsrechte des Angeklagten - etwa bei Tod des Belastungszeugen - hat das Tatgericht dies in seine Würdigung einzustellen. Andererseits kann es nicht überzeugen, normativ die Anforderungen an die Überzeugungsbildung des Gerichts zu erhöhen, weil den Strafverfolgungsbehörden oder dem Gericht ein Vorwurf hinsichtlich der dem Angeklagten nicht möglichen Befragung des Zeugen zu machen ist. Dies widerspricht dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) und lässt zudem außer Betracht, dass das Maß an Justizverantwortlichkeit unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.
30
Vor diesem Hintergrund könnte zu erwägen sein, das starre Postulat, wonach die Angaben durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden müssen, auch in den Fällen der von der Justiz zu verantwortenden fehlenden Konfrontationsmöglichkeit aufzugeben (relativierend bereits BGH, Beschluss vom 17. März 2010 - 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 75 ["regelmäßig"]). Vielmehr sollte die - regelmäßig über Beweismittelsurrogate eingeführte - Aussage zunächst aus sich heraus zu würdigen sein, wobei die mit der unterbliebenen Konfrontationsmöglichkeit einhergehenden (abstrakten) Auswirkungen auf die Glaubhaftigkeitskriterien in den Blick zu nehmen wären. Sodann könnte anhand der allgemeinen Grundsätze zu würdigen sein, welcher Beweiswert den Angaben trotz dieser Einschränkungen zukommt. In die Würdigung sollte zudem eingestellt werden, ob und in welchem Maße die Aussage durch andere Beweismittel bestätigt wird. Seine Erwägungen sollte das Tatgericht - insoweit in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung zum Konfrontationsrecht - in den Urteilsgründen in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise darlegen, die sich insbesondere nicht darin erschöpfen dürfte, lediglich die rechtlichen Grundsätze zu zitieren oder in pauschaler Form zu bejahen. Verbleibenden Zweifeln könnte durch die Anwendung des Zweifelssatzes Rechnung getragen werden. Für eine - wie vom Landgericht angenommene - vorläufige Verfahrenseinstellung ist hingegen kein Raum.
31
IV. Der Senat weist darauf hin, dass ungeachtet des nicht eingetretenen Strafklageverbrauchs die Angeklagten aufgrund der materiellen Rechtskraft der Verfahrenseinstellung nicht weiter verfolgt werden dürfen, solange die Umstände, die nach Auffassung des Landgerichts zur Annahme des Verfahrenshindernisses geführt haben, unverändert sind (BGH, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 5 StR 383/06, NJW 2007, 3010, 3011 f.).
Becker Gericke Tiemann Berg Hoch

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 04. Mai 2017 - 3 StR 323/16

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 04. Mai 2017 - 3 StR 323/16

Referenzen - Gesetze

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 260 Urteil


(1) Die Hauptverhandlung schließt mit der auf die Beratung folgenden Verkündung des Urteils. (2) Wird ein Berufsverbot angeordnet, so ist im Urteil der Beruf, der Berufszweig, das Gewerbe oder der Gewerbezweig, dessen Ausübung verboten wird, gena
Bundesgerichtshof Urteil, 04. Mai 2017 - 3 StR 323/16 zitiert 3 §§.

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 260 Urteil


(1) Die Hauptverhandlung schließt mit der auf die Beratung folgenden Verkündung des Urteils. (2) Wird ein Berufsverbot angeordnet, so ist im Urteil der Beruf, der Berufszweig, das Gewerbe oder der Gewerbezweig, dessen Ausübung verboten wird, gena

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Bundesgerichtshof Urteil, 04. Mai 2017 - 3 StR 323/16 zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).

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Bundesgerichtshof Beschluss, 29. Nov. 2006 - 1 StR 493/06

bei uns veröffentlicht am 29.11.2006

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 493/06 vom 29. November 2006 BGHSt: ja Veröffentlichung: ja __________________ MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d, StPO § 168c Zum Recht auf konfrontative Befragung nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK (in Fortführung von BGH

Bundesgerichtshof Beschluss, 05. Juni 2007 - 5 StR 383/06

bei uns veröffentlicht am 05.06.2007

Nachschlagewerk: ja BGHSt : nein Veröffentlichung : ja GG Art. 1; Art. 20 Abs. 3; MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1; BerlLBG § 27 Abs. 3 Zur Abwägung der im Widerstreit stehenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter bei der Beschränkung des Rechts auf u

Bundesgerichtshof Urteil, 04. Mai 2011 - 2 StR 524/10

bei uns veröffentlicht am 04.05.2011

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 2 StR 524/10 vom 4. Mai 2011 in der Strafsache gegen wegen Betrugs Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 4. Mai 2011, an der teilgenommen haben: Richter am Bundesgerichtshof

Bundesgerichtshof Urteil, 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00

bei uns veröffentlicht am 25.07.2000

Nachschlagewerk: ja BGHSt: ja Veröffentlichung: ja ______________________ StPO § 141 Abs. 3, MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d 1. Ist abzusehen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, so ist § 141 Abs
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Urteil, 04. Mai 2017 - 3 StR 323/16.

Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Okt. 2018 - 1 StR 212/18

bei uns veröffentlicht am 24.10.2018

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 212/18 vom 24. Oktober 2018 BGHSt: nein BGHR: ja Nachschlagewerk: ja Veröffentlichung: ja –––––––––––––––––––––––––– AufenthG §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 96 Abs. 2 Zur Schleusung von Kindern und Jugendlich

Referenzen

(1) Die Hauptverhandlung schließt mit der auf die Beratung folgenden Verkündung des Urteils.

(2) Wird ein Berufsverbot angeordnet, so ist im Urteil der Beruf, der Berufszweig, das Gewerbe oder der Gewerbezweig, dessen Ausübung verboten wird, genau zu bezeichnen.

(3) Die Einstellung des Verfahrens ist im Urteil auszusprechen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht.

(4) Die Urteilsformel gibt die rechtliche Bezeichnung der Tat an, deren der Angeklagte schuldig gesprochen wird. Hat ein Straftatbestand eine gesetzliche Überschrift, so soll diese zur rechtlichen Bezeichnung der Tat verwendet werden. Wird eine Geldstrafe verhängt, so sind Zahl und Höhe der Tagessätze in die Urteilsformel aufzunehmen. Wird die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten, die Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung zur Bewährung ausgesetzt, der Angeklagte mit Strafvorbehalt verwarnt oder von Strafe abgesehen, so ist dies in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen. Im übrigen unterliegt die Fassung der Urteilsformel dem Ermessen des Gerichts.

(5) Nach der Urteilsformel werden die angewendeten Vorschriften nach Paragraph, Absatz, Nummer, Buchstabe und mit der Bezeichnung des Gesetzes aufgeführt. Ist bei einer Verurteilung, durch die auf Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren erkannt wird, die Tat oder der ihrer Bedeutung nach überwiegende Teil der Taten auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden, so ist außerdem § 17 Abs. 2 des Bundeszentralregistergesetzes anzuführen.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : nein
Veröffentlichung : ja
GG Art. 1; Art. 20 Abs. 3; MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1;
BerlLBG § 27 Abs. 3
Zur Abwägung der im Widerstreit stehenden verfassungsrechtlichen
Rechtsgüter bei der Beschränkung des Rechts auf umfassende
Verteidigung aufgrund beamtenrechtlicher Vorschriften.
BGH, Beschluss vom 5. Juni 2007 – 5 StR 383/06
LG Berlin –

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 5. Juni 2007
in der Strafsache
gegen
1.
2.
3.
wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in
nicht geringer Menge u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. Juni 2007

beschlossen:
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. Januar 2006 werden nach § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten der Revisionen der Staatsanwaltschaft und die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen. Jeder Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat das Verfahren gegen die Angeklagten wegen eines Verfahrenshindernisses durch Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft, die – vertreten vom Generalbundesanwalt – die Aufhebung des Einstellungsurteils und Fortführung des Verfahrens erstrebt, sowie der Angeklagten, die ihre Freisprechung erreichen wollen, sind unzulässig.

I.


2
Mit unverändert zur Hauptverhandlung zugelassener Anklage wurde den Angeklagten eine größere Zahl von Straftaten zur Last gelegt, die sie im Zeitraum von Juni 2001 bis zum 30. Juli 2004 im Zusammenhang mit ihrer bis Sommer 2003 andauernden Tätigkeit als Polizeibeamte bei der Berliner Polizei im Bereich der Fahndung, Aufklärung und Observation, insbesondere im Umgang mit Informanten bzw. bei der Führung von Vertrauenspersonen, begangen haben sollen.
3
Im Einzelnen handelt es sich um Tatvorwürfe der Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einer Vielzahl von Fällen (alle Angeklagte), der versuchten Strafvereitelung im Amt (Angeklagter N. ), der Vorteilsannahme und der uneidlichen Falschaussage (Angeklagte N. und H. ) sowie des Meineides und der Anstiftung zur Fälschung beweiserheblicher Daten (Angeklagter H.

).


II.


4
Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Angeklagte N. seit September 1999 in der Direktion 5 (FAO) der Berliner Polizei als Teamführer im Bereich der Führung von Vertrauenspersonen und Informanten eingesetzt. Seine Aufgabenstellung war die „Strukturerhellung“ von ethnischen Gruppen, insbesondere arabischen Großfamilien, im Bereich der Schwerstkriminalität. Der Angeklagte Hö. war seit 1999 im Team des Angeklagten N. mit der Führung von Informanten und Vertrauenspersonen betraut. Zur Tätigkeit des Angeklagten H. , der sich weder zu seinen persönlichen Verhältnissen noch zur Sache eingelassen hat, sind keine Feststellungen getroffen. Alle Angeklagten sind seit Sommer 2003 mit einem Verbot der Amtsausübung belegt.

III.


5
Der Verfahrenseinstellung ging nach den Feststellungen des Landgerichts folgendes Prozessgeschehen voraus:
6
1. Die Angeklagten N. und Hö. haben die gegen sie erhobenen Tatvorwürfe bestritten und durch ihre Verteidiger erklären lassen, sie sähen sich als Polizeibeamte wegen ihrer Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit daran gehindert, sich gegen die nicht zutreffenden und willkürlich aus dem Zusammenhang gerissenen Anklagevorwürfe substantiiert zu verteidigen. Auch verbiete ihnen diese Pflicht, die Sach- und Rechtslage mit ihren Verteidigern zu erörtern. Insbesondere um Gesamtzusammenhänge und mögliche Interessen Dritter an ihrer Diskreditierung zu dokumentieren, seien Angaben zu Sachverhalten unabdingbar, die grundsätzlich der Geheimhaltung unterlägen. Dazu gehörten Kriminaltaktik – auch und gerade im Hinblick auf Einzelfälle –, Polizeiinterna wie der Aufbau der VP- und Informantenführung bei der Direktion 5 (FAO) und die spätere zentrale Organisation der VPFührung bei dem LKA 15 einschließlich der damit einhergehenden Kompetenzstreitigkeiten sowie nach dem 11. September 2001 geltende polizeiinterne Anweisungen und geheime dienstliche Vorschriften zur Führung von Quellen arabischer Herkunft.
7
2. Der Angeklagte N. hat beantragt, ihm eine „erweiterte“ Aussagegenehmigung zu erteilen, hilfsweise erst nach vorherigem Ausschluss der Öffentlichkeit und Verpflichtung der Prozessbeteiligten zur Verschwiegenheit. Auf diesen Antrag hin hat das Landgericht für die Dauer der von dem Angeklagten N. beabsichtigten Sacheinlassung und einer sich gegebenenfalls daran anschließenden Vernehmung zur Sache gemäß § 172 Nr. 1 GVG die Öffentlichkeit ausgeschlossen, die Anfertigung von Mitschriften durch den Prozessbeobachter des Polizeipräsidenten untersagt (§ 175 Abs. 2 Satz 1 GVG) und alle nach Ausschluss der Öffentlichkeit anwesenden Personen zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 174 Abs. 3 Satz 1 GVG).
8
3. Gleichwohl haben auf Anfragen von Verteidigern, Ersuchen des Strafkammervorsitzenden und schließlich eine Gegenvorstellung der Strafkammer , die den Hinweis auf ein andernfalls drohendes Prozesshindernis enthielt, der Polizeipräsident in Berlin und sodann auch die Senatsverwaltung für Inneres des Landes Berlin die Erteilung einer umfassenden Aussagegenehmigung an die Angeklagten für Angaben gegenüber dem Gericht und gegenüber ihren Verteidigern abgelehnt. Die Angeklagten könnten sich aufgrund ihnen erteilter eingeschränkter Aussagegenehmigungen zu allen Punkten der Anklage gegenüber dem Gericht und ihren Verteidigern äußern, soweit nicht bislang unbekannte Vertrauenspersonen oder Informanten oder geheimhaltungsbedürftige polizeiinterne Regelungen zu Kriminaltaktik und zur Führung von Vertrauenspersonen und Informanten betroffen seien. Die erteilten Aussagegenehmigungen umfassten sämtliche rechtlichen Grundlagen der Inanspruchnahme von Informanten und des Einsatzes von Vertrauenspersonen mit Ausnahme als Verschlusssache eingestufter polizeiinterner Geschäftsanweisungen. Für den Fall, dass sich bestimmte Regelungen hierin doch als verteidigungsrelevant erweisen sollten, bestehe die Möglichkeit, zu konkreten Fragen eine erweiterte Aussagegenehmigung zu erhalten. Auch könne ein als sachverständiger Zeuge benannter Mitarbeiter der Polizei zu diesen Angelegenheiten befragt werden. Da das vorliegende Verfahren wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln untrennbar mit der organisierten Betäubungsmittelszene der Region verbunden sei, komme indes eine umfassende Aussagegenehmigung nicht in Betracht. Die Belange der umfassenden gerichtlichen Wahrheitsfindung müssten in einem solchen Deliktsfeld zurückstehen, soweit dies der Einsatz der besonderen Ermittlungsmethoden des Einsatzes von Vertrauenspersonen und Informanten unbedingt erfordere. Denn diese Ermittlungsmethoden seien unverzichtbar und dürften nicht auf Dauer vereitelt werden.

IV.


9
Das Landgericht hat das Strafverfahren durch Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO mit der Begründung eingestellt, dass das Grundrecht der Angeklagten auf umfassende Verteidigung der Fortführung des Verfahrens entgegenstehe. Denn der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch der Angeklagten aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 MRK auf ein faires , rechtsstaatliches Verfahren sei durch die Versagung der unbeschränkten Aussagegenehmigungen durch die Senatsverwaltung für Inneres im Kernbe- reich tangiert. Dem könne hier nur durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen Rechnung getragen werden.
10
1. Zwar dürfe das Recht auf Verteidigung, dem Verfassungsrang zukomme , dann eingeschränkt werden, wenn es nur in seinem Randbereich betroffen werde. Eine Beschränkung der Aussagegenehmigung, die das Recht auf Verteidigung in seinem Wesensgehalt antaste, könne dagegen nicht hingenommen werden. Der Inhalt und die Auslegung polizeiinterner Regelwerke beträfen hier den Schuldvorwurf gegen die Angeklagten im Kern und ließen allein die Beantwortung zentraler Fragestellungen zu. Den angeklagten Amtsträgern sei nicht zuzumuten, ihre Einlassung Satz für Satz danach abzutasten, ob sie im Einzelnen fremde Rechte verletzen könnte; sie müssten ihren Vortrag frei und im Zusammenhang halten und relevante Tatsachen mitteilen können. Ihnen sei auch nicht zuzumuten, das Risiko disziplinar - und strafrechtlicher Vorwürfe auf sich zu nehmen, wenn sie ohne eine umfassend erteilte Aussagegenehmigung Sachverhalte offenbarten, die der Amtsverschwiegenheit unterliegen. Zudem sei es in Ansehung des verfassungsrechtlichen Stellenwerts des Äußerungsrechts der Angeklagten nicht hinzunehmen, dass diese vor der Beratung mit ihren Verteidigern mit der Senatsverwaltung für Inneres oder mit der Polizei Rücksprache zu nehmen hätten. Dies stelle eine externe Steuerung des Strafprozesses durch die Exekutive dar, die dem Rechtsstaat fremd sei. Auch würden den Angeklagten schwere Straftaten vorgeworfen, so dass ihnen Freiheitsstrafen sowie der Verlust ihres Amtes und ihrer beruflichen Reputation drohten.
11
2. Zwar würden die durch eine verweigerte Aussagegenehmigung eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten regelmäßig ein ausreichendes Regulativ durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO und das Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten“ erfahren. Dies gelte jedoch nur dann, wenn sich das Strafverfahren trotz der Verkürzung der Beweisgrundlage in seiner Gesamtheit als rechtsstaatlich und fair erweise. Das sei hier jedoch nicht mehr der Fall.

V.


12
Die gegen die Verfahrenseinstellung durch Urteil gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft sind als unzulässig zu verwerfen, weil die allein erhobene Verfahrensrüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.
13
1. Zur Begründung der Verfahrensrüge ist der Beschwerdeführer verpflichtet , „die den Mangel enthaltenden Tatsachen“ anzugeben. Diese Angaben haben mit Bestimmtheit und so genau und vollständig zu geschehen, dass das Revisionsgericht allein auf Grund der Revisionsrechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (vgl. BVerfG NJW 2005, 1999, 2001; BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 7). Daran fehlt es hier.
14
a) Die Staatsanwaltschaft beanstandet allein, das Landgericht habe einen Beweisantrag auf Vernehmung von drei Polizeibeamten als Zeugen mit Unrecht als aus rechtlichen Gründen ohne Bedeutung (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) abgelehnt. Sie ist der Auffassung, die Strafkammer hätte die beantragte Beweiserhebung vornehmen müssen, da sich hieraus ergeben hätte, dass das vom Landgericht angenommene Prozesshindernis nicht bestanden habe.
15
b) Der Senat kann hier nicht allein aufgrund der Revisionsrechtfertigungsschrift prüfen, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen wahr wären. Denn die Staatsanwaltschaft hat an mehreren Stellen zur Darlegung des von ihr geltend gemachten Verfahrensfehlers auf bei den Akten befindliche Schriftstücke Bezug genommen, ohne diese in ihrem Wortlaut oder ihrem wesentlichen Inhalt nach in der Revisionsrechtfertigungsschrift mitzuteilen (vgl. BGHSt 40, 3, 5; BGH NStZ-RR 2006, 48, 49; BGH, Beschluss vom 30. September 2003 – 4 StR 315/03 – und vom 1. Juni 2006 – 4 StR 75/06, insoweit in NStZ-RR 2007, 107 nicht abgedruckt). Der Umstand, dass die Bezugnahme unter Benennung der Blattzahlen in den Strafakten erfolgt ist, ändert hieran nichts (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 48, 49).
16
Zwar steht eine Bezugnahme auf Aktenteile der Zulässigkeit einer Verfahrensrüge dann nicht entgegen, wenn die Bezugnahme ohne Bedeutung für den geltend gemachten Verfahrensverstoß ist (vgl. BGHSt 40, 3, 5). So verhält es sich hier indes nicht. Vielmehr hat die Staatsanwaltschaft erkennbar deswegen mehrfach auf die in den Strafakten befindliche, in der Revisionsrechtfertigungsschrift aber nicht mitgeteilte schriftliche Einlassung des Angeklagten N. Bezug genommen, um die nach ihrer Ansicht bestehende tatsächliche oder rechtliche Bedeutsamkeit bestimmter Umstände für die Frage zu untermauern, ob – entgegen der Annahme des Landgerichts bei Ablehnung des Beweisantrags – die Voraussetzungen für ein Verfahrenshindernis durch die begehrte Beweisaufnahme zu widerlegen sind. Insgesamt will die Staatsanwaltschaft mit ihren Bezugnahmen die Richtigkeit ihrer Auffassung belegen, „dass der Zusammenhang zwischen den in Rede stehenden Straftaten und den internen Regelungen über die Arbeit mit Quellen fehl(e)“ (Revisionsbegründungsschrift S. 30). Dafür war die vollständige Mitteilung der in Bezug genommenen Aktenstellen unverzichtbar.
17
2. Die Sachrüge ist nicht erhoben worden. Zwar genügt es, wenn sich aus den Einzelausführungen die den Inhalt der Sachrüge ausmachende schlüssige Behauptung ergibt, dass auf den im Urteil festgestellten Sachverhalt materielles Recht falsch angewendet worden sei (BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 1 Revisionsbegründung 2). Dies ist hier indes nicht der Fall. Vielmehr rügt die Staatsanwaltschaft ausdrücklich nur die Verletzung formellen Rechts und macht lediglich geltend, das Landgericht wäre auf der Grundlage des von ihr gestellten Beweisantrags zu anderen Feststellungen gelangt , die die Annahme eines Verfahrenshindernisses nicht gerechtfertigt hätten. Hätte die Staatsanwaltschaft neben ihrer Verfahrensbeanstandung auch die Sachrüge erheben wollen, hätte sie diese Angriffsrichtung eindeutig zum Ausdruck bringen müssen (vgl. BGH NStE Nr. 9 zu § 344 StPO; vgl. auch zu unklarem Anfechtungsziel BGH NJW 2003, 839 und BGH, Beschluss vom 21. Mai 2003 – 5 StR 69/03).
18
3. Die Unzulässigkeit der Verfahrensrüge führt bei Fehlen der Sachrüge zur Unzulässigkeit der Revision insgesamt (BGH NJW 1995, 2047; BGH, Beschluss vom 22. November 2005 – 1 StR 432/05 – und vom 17. Oktober 2000 – 1 StR 413/00). Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind daher gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen. Der Senat ist somit an der Prüfung gehindert, ob die Strafkammer zu Recht von einem Verfahrenshindernis ausgegangen ist.

VI.


19
Auch die Revisionen der Angeklagten sind, wie insoweit vom Generalbundesanwalt zutreffend beantragt, unzulässig (§ 349 Abs. 1 StPO). Die Angeklagten sind durch die Einstellung des Verfahrens durch Prozessurteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO nicht beschwert. Eine Beschwer wird durch ein das Verfahren einstellendes Urteil regelmäßig nicht bewirkt (vgl. BGHSt 23, 257, 259; vgl. auch BGHR StPO § 333 Beschwer 2 betreffend Nebenentscheidungen

).


20
Wollte man aus einer verminderten Rechtskraftwirkung – Verfahrenseinstellung durch Prozessurteil wegen eines behebbaren Verfahrenshindernisses (vgl. Meyer-Goßner StPO 49. Aufl. § 260 Rdn. 48) – eine Beschwer der Angeklagten herleiten, wären die Revisionen aus den vom Generalbundesanwalt für die Unzulässigkeit angeführten Gründen – nach einstimmiger Auffassung des Senats – offensichtlich unbegründet. Ein Fall, in dem der Freispruch Vorrang vor der Einstellung des Verfahrens hat, liegt nicht vor. Der Sachverhalt ist infolge des angenommenen Verfahrenshindernisses gerade nicht abschließend im Sinne eines Freispruchs geklärt worden (vgl. Meyer-Goßner aaO Rdn. 44 m.w.N.).

VII.


21
Der Senat weist auf Folgendes hin:
22
1. Ungeachtet nicht eingetretenen Strafklageverbrauchs bewirkt die materielle Rechtskraft der Verfahrenseinstellung, dass die Angeklagten nicht verfolgt werden dürfen, solange sich die Umstände, die nach Auffassung des Landgerichts zur Annahme des Verfahrenshindernisses geführt haben, nicht verändert haben (vgl. dazu Meyer-Goßner aaO Einl. Rdn. 142 ff., 172).
23
Hierfür bedürfte es der Erteilung noch weitergehender Aussagegenehmigungen für die Angeklagten gegenüber ihren Verteidigern und gegenüber dem Gericht. Für diesen Fall müsste das Gericht dann gegebenenfalls zur Wahrung staatlicher Geheimhaltungsinteressen die in der bisherigen Hauptverhandlung vorgesehenen Maßnahmen treffen (vgl. zum strafrechtlichen Schutz § 353d StGB). Die Verteidiger wären an einer Offenbarung des ihnen von ihren Mandanten Anvertrauten durch ihre berufliche Verschwiegenheitspflicht gehindert (vgl. zum strafrechtlichen Schutz § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB), von der die Angeklagten, soweit deren amtliche Verschwiegenheitspflicht reicht, sie nicht entbinden dürften (vgl. auch § 353b StGB).
24
2. Für die Beurteilung von Fällen der hier vorliegenden Art gilt allgemein Folgendes:
25
a) Die Einschränkung der einem Angeklagten erteilten Aussagegenehmigung aufgrund beamtenrechtlicher Vorschriften kann das Recht auf umfassende Verteidigung mehr oder weniger beeinträchtigen. Wie der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für seine strafrechtliche Verurteilung zu liefern, hat dieses Recht Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 56, 37, 49). Es gehört zu den fundamentalen Attributen menschlicher Würde und zu den grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaats. Eine Beschränkung der Aussagegenehmigung, die das Recht auf Verteidigung in seinem Wesensgehalt antastet, kann als Verstoß gegen die Grundnorm des Art. 1 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen nicht hingenommen werden. Sie träfe einen obersten in seiner Substanz nicht zur Disposition stehenden Wert (vgl. BGHSt 36, 44, 48 m.w.N.). Daraus folgt, dass ein Strafverfahren nicht durchgeführt werden darf, wenn staatliche Geheimhaltungsinteressen von großem Gewicht nicht anders als durch die Beschneidung wesentlicher Verteidigungsmöglichkeiten gewahrt werden können. Die aufgrund dieser Alternative vom Tatgericht geforderte prospektive Betrachtung wird sich vor allem an dem bestehenden oder fehlenden argumentativen Zusammenhang zwischen der von der Aussagebeschränkung betroffenen Thematik und dem historischen Geschehen, das Gegenstand der Kognition ist, orientieren müssen (BGH aaO).
26
Dort, wo das Recht auf Verteidigung nur in seinem Randbereich betroffen wird, darf es indes eingeschränkt werden, wenn seine uneingeschränkte Ausübung die Wahrnehmung sehr gewichtiger, verfassungsmäßig legitimierter Aufgaben, die zu ihrer Erfüllung der Geheimhaltung bedürfen, unmöglich machen oder erschweren könnte (vgl. BGHSt 36, 44, 48 f.). Hierzu gehört auch der Einsatz von Vertrauenspersonen zur Aufklärung von Bandenstrukturen im Bereich des Handels mit Betäubungsmitteln (vgl. BVerfGE 57, 250, 284). Erforderlich ist aber stets eine sorgfältige Abwägung der im Widerstreit stehenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter unter Berücksichtigung des gesamten konkreten Sachverhalts (vgl. BVerwGE 66, 39, 44). Denn das Staatswohl und die Wahrung der öffentlichen Belange erfordern es, sowohl die Grundrechte Einzelner zu schützen und niemanden einer ungerechtfertigten Verurteilung auszuliefern als auch den Strafanspruch des Staates durchzusetzen (BVerfG aaO). Dabei darf nicht aus dem Blick geraten , dass die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten ein wesentlicher Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens ist (vgl. BVerfGE 109, 279, 336; 107, 299, 316; 100, 313, 389; 80, 367, 375; 77, 65, 76).
27
Die Pflicht zur Abwägung trifft auch und in erster Linie die Behörde, deren Erklärung oder Entscheidung zu einer Einschränkung des Rechts des Angeklagten auf umfassende Verteidigung führt. Sie hat nicht nur die von ihr wahrzunehmenden Aufgaben zu beachten, die zu ihrer Erfüllung der Geheimhaltung bedürfen, sondern muss auch dem hohen Rang des Verteidigungsinteresses Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 57, 250, 283 f.). Diesen Anforderungen genügt § 27 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 des Landesbeamtengesetzes (Berlin), der die Versagung der Aussagegenehmigung für beschuldigte Beamte nur in ganz engen Grenzen zulässt. Danach darf einem Beschuldigten die Genehmigung, in einem gerichtlichen Verfahren auszusagen, nur dann versagt werden, wenn die Aussage dem Wohle des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten oder die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ernstlich gefährden oder erheblich erschweren würde und wenn die dienstlichen Rücksichten dies unabweisbar erfordern. Aus diesem Grund müssen Staatsanwaltschaft und Tatgericht durch entsprechende Anträge an den Dienstherrn der Angeklagten und vorgesetzte Behörden sowie gegebenenfalls mit Gegenvorstellungen darauf hinwirken, dass die für eine umfassende Verteidigung erforderlichen Aussagegenehmigungen erteilt werden.
28
Bleibt solches erfolglos, kommt eine Klage des Angeklagten gegen den Dienstherrn im Verwaltungsrechtsweg auf Erteilung der Aussagegenehmigung in Betracht, wenn der Dienstherr auch auf die Gegenvorstellung des Gerichts hin die beantragte Aussagegenehmigung nicht erteilt. Um dem zur Klage bereiten Angeklagten hierzu Gelegenheit zu geben, kann im Einzelfall auch die Aussetzung des Strafverfahrens in Betracht kommen (vgl. dazu Senge in KK-StPO 5. Aufl. § 54 Rdn. 20 f.). Ob gegebenenfalls in solchen Fällen die Justizorgane als klagebefugt anzusehen wären (abl. Beulke, Strafprozessrecht 9. Aufl. Rdn. 190 sowie Pfeiffer, StPO 5. Aufl. § 96 Rdn. 4 und HK-Lemke, StPO 3. Aufl. § 96 Rdn. 16; abw. Ellbogen NStZ 2007, 310), ob sogar ein verteidigungs- und einlassungswilliger Angeklagter zu einer solchen Klage zu veranlassen wäre, erscheint höchst problematisch.
29
Jedenfalls gilt, dass eine Verweigerung der Aussagegenehmigung, wenn der Kernbereich der Verteidigung betroffen ist, angesichts auch strafrechtlicher Absicherungsmöglichkeiten gegen unbefugte Offenbarungen nur bei überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern in Betracht käme, so bei einer erheblichen Lebens- oder Gesundheitsgefährdung von Personen, etwa auch Vertrauensleuten der Ermittlungsbehörden. Halten Gericht und Staatsanwaltschaft die Versagung der Aussagegenehmigung für rechtswidrig, haben sie nach Ausschöpfung aller sonstigen Möglichkeiten zur Herbeiführung einer abweichenden Entscheidung die oberste Justizbehörde mit dem Ziel einzuschalten, an die oberste Innenbehörde eine Gegenvorstellung zu richten. Die oberste Justizbehörde wird nach dem Grundsatz, dass über Sperrungen , die eine ordnungsgemäße Durchführung von Strafverfahren gefährden , an höchster Stelle zu entscheiden ist (vgl. BVerfGE 57, 250, 289), bei fortdauernder Weigerung der Innenbehörde eine Entscheidung der Landesregierung durch Kabinettsbeschluss herbeizuführen haben.
30
Eine Einstellung des Strafverfahrens kommt jedenfalls vor Ausschöpfung dieser Möglichkeiten nicht in Betracht. Der Senat braucht nicht zu entscheiden , ob für den Fall, dass tatsächlich einmal überragend wichtige Gemeinschaftsgüter der skizzierten Qualität im Widerstreit zur unerlässlich gebotenen Durchführung eines Strafverfahrens stehen sollten, der Angeklagte eine schwer wiegende Einschränkung seiner Verteidigungsmöglichkeiten hinnehmen müsste und ihm als Schutz nur das Gebot zu außerordentlich zurückhaltender belastender Beweiswürdigung verbliebe (vgl. BGHSt 49, 112). Von einer derartigen Extremsituation ist das vorliegende Verfahren sowohl nach der Bedeutung der Tatvorwürfe als auch nach den in Frage stehenden Geheimhaltungsbelangen weit entfernt.
31
b) Zunächst hat der Tatrichter, wenn einem Angeklagten – wie auch im vorliegenden Fall – mehrere Straftaten zur Last liegen, die sich in Art und Schwere oder hinsichtlich der Beweislage unterscheiden, regelmäßig für jeden Tatvorwurf gesondert zu prüfen, ob die Versagung der Aussagegeneh- migung den Kernbereich oder lediglich den Randbereich des Rechts auf umfassende Verteidigung betrifft. Dasselbe gilt – wenn lediglich der Randbereich betroffen ist – für die gebotene Abwägung der im Widerstreit stehenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter.
32
Vorliegend erscheint der pauschale Ansatz des Landgerichts, der nicht nach einzelnen Tatvorwürfen differenziert, zweifelhaft, weil es für die einzelnen Straftaten den bestehenden oder fehlenden argumentativen Zusammenhang zwischen der von der Aussagebeschränkung betroffenen Thematik und dem Tatvorwurf (vgl. BGHSt 36, 44, 48) nicht näher in den Blick nimmt. Besonders schwer nachvollziehbar ist, aus welchem Grund hier polizeiinterne Richtlinien für die Verteidigung gegen den Tatvorwurf der Anstiftung zur Manipulation eines privaten Premiere-Decoders von Bedeutung sein sollen. Jenseits davon liegt es zwar fern, dass polizeiinterne Dienstanweisungen einen Verstoß gegen die Strafgesetze und die Strafprozessordnung erlauben könnten. Gleichwohl erscheint es bei den übrigen gegen die Angeklagten erhobenen Vorwürfen jedenfalls im Ansatz nicht ausgeschlossen, dass der Kernbereich der Verteidigung betroffen sein könnte. Im Bereich von Betäubungsmitteldelikten – wie auch bei Strafvereitelung – ist zum wirkungsvollen Einsatz von Vertrauensleuten die Annahme eines weiten Handlungsspielraumes nicht undenkbar, wonach ein unmittelbar deliktisch anmutendes Verhalten in Ermangelung der tatbestandlich verlangten Zielsetzung – u. a. Betäubungsmittelumsatz – als nicht strafbar bewertet werden könnte. Bei Aus- sagedelikten kämen problematische Kollisionen zwischen der Verpflichtung zu vollständiger Aussage und Verschwiegenheitspflichten, bei Amtsdelikten relevante dienstliche Genehmigungen in Betracht.
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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 524/10
vom
4. Mai 2011
in der Strafsache
gegen
wegen Betrugs
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 4. Mai 2011,
an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Schmitt,
Dr. Berger,
Prof. Dr. Krehl,
Dr. Eschelbach,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
der Angeklagte in Person,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 5. Juli 2010 wird als unzulässig verworfen, soweit es die Fälle 9) und 10) des Urteils betrifft. Im Übrigen wird die Revision als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat das Verfahren gegen den Angeklagten gemäß § 260 Abs. 3 StPO mit der Begründung eingestellt, die Anklageschrift genüge nicht den an sie gemäß § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO zu stellenden Anforderungen. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er vor allem den Eintritt der Verfolgungsverjährung geltend macht.
2
1) In den Fällen 1) bis 8) der Anklageschrift ist die Revision zulässig, aber unbegründet.
3
a) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist die Revision des Angeklagten insoweit nicht bereits mangels Beschwer unzulässig. Zwar ist der Angeklagte durch die Verfahrenseinstellung wegen eines Prozesshindernisses in der Regel nicht beschwert (BGHSt 23, 257, 259; BGH NJW 2007, 3010, 3011). Eine Beschwer des Angeklagten kann aber dann bestehen, wenn die Einstellung wegen eines behebbaren Verfahrenshindernisses erfolgt (Meyer-Goßner 53. Aufl. vor § 296 StPO Rdn. 14; BayObLG JR 1989, 487; OLG Stuttgart NJW 1963, 1417) und der Angeklagte behauptet, es liege ein weiteres, nicht behebbares Prozesshindernis vor. In einem solchen Fall kann der Angeklagte mit der Revision ein rechtliches Interesse daran geltend machen , dass das Verfahren endgültig eingestellt wird.
4
So verhält es sich hier. Die Einstellung durch das Landgericht erfolgte – insoweit rechtsfehlerhaft (siehe das auf Revision der Staatsanwaltschaft ergangene Urteil des Senates vom 2. März 2011 - 2 StR 524/10) - wegen Mängeln der Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift. Dabei handelt es sich um ein Prozesshindernis, das grundsätzlich im weiteren Verfahren behoben werden kann. Es ist jederzeit möglich, eine neue, den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO genügende Anklage zu erheben. Dagegen macht der Angeklagte geltend, die ihm vorgeworfenen Straftaten seien verjährt. Träfe dies zu, müsste das Verfahren gegen ihn endgültig eingestellt werden, da es sich bei der Verjährung um ein nicht behebbares Verfahrenshindernis handelt.
5
b) Die Revision ist in den Fällen 1) - 8) jedoch unbegründet. Die Prüfung durch den Senat ergibt, dass die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten nicht verjährt sind.
6
Die Anklage der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 21. Juli 2008 legt dem Angeklagten Betrug in zehn Fällen in der Zeit vom 1. Juli 2000 bis zum 30. April 2003 zur Last. In den Fällen 1) bis 8) wurde die fünfjährige Verjährungsfrist (§§ 78 Abs. 1 Nr. 4, 263 Abs. 1 StGB) durch den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 15. Oktober 2004 rechtzeitig unterbrochen (§ 78c Abs. 1 Nr. 4 StGB). Dieser erfasst entgegen der Ansicht der Revision auch die Straftaten, die der Angeklagte in dem genannten Zeit- raum im Sinne der Anklage als faktischer Geschäftsführer der Firma S. GmbH begangen haben soll.
7
Grundsätzlich bestimmt der Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörden die sachliche Reichweite der Unterbrechungswirkung (vgl. BGH NStZ 2004, 275 m.N.). Dabei kommt es in erster Linie auf den Inhalt des Durchsuchungsbeschlusses und vor allem auf die dort vorgenommene Beschreibung des strafbaren Verhaltens des Angeklagten an.
8
Im Durchsuchungsbeschluss vom 15. Oktober 2004 ist der Angeklagte nur als faktischer Geschäftsführer der Firma M. genannt; ein Hinweis auf seine Tätigkeit für die Firma S. findet sich nicht. Aus dem Durchsuchungsbeschluss ergibt sich jedoch, dass der Verfolgungswille der Ermittlungsbehörden umfassend auf alle betrügerischen Aktivitäten des Angeklagten im Zusammenhang mit der Versendung von Informationsbriefen gerichtet war. Die Durchsuchungsanordnung wird mit einer Darstellung des „Geschäftsmodells“ des Angeklagten begründet, mit dem er die Abnehmer seiner Informationen betrügerisch geschädigt haben soll. Diese Beschreibung erfasste alle gleichartigen Handlungen des Angeklagten unabhängig davon, unter welchem Firmennamen er aufgetreten war. Der Durchsuchungsbeschluss war darüber hinaus nicht auf die Geschäftsräume der Firma M. beschränkt, sondern erstreckte sich auf die Person des Angeklagten und auf seine Wohnanschrift. Auch dieser Umstand macht den umfassenden, auf die im Durchsuchungsbeschluss geschilderte Begehungsweise gerichteten Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft deutlich. Bei jeweils identischer deliktischer Vorgehensweise kommt es auf das Handeln des Beschuldigten als Person an, nicht darauf, welcher Firmennamen er sich, möglicherweise zur Verschleierung seiner Verantwortlichkeit , im Einzelnen bediente.

9
Für die Bestimmung des Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft ist im Übrigen allein auf den Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses am 15. Oktober 2004 abzustellen. Deshalb ist es entgegen der Auffassung der Revision auch ohne Belang, dass die Staatsanwaltschaft in den Jahren zuvor einzelne, die Verantwortlichen der Firma S. GmbH betreffende Ermittlungsverfahren aus Rechtsgründen gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt hatte. Die vom Beschwerdeführer beantragte Beiziehung der entsprechenden Ermittlungsakten ist nicht veranlasst. Die Einstellungsverfügungen begründeten ohnehin keinen Vertrauenstatbestand zugunsten des Angeklagten und entfalteten keine wie auch immer geartete Rechtskraftwirkung; das Verfahren konnte vielmehr jederzeit – formlos - wieder aufgenommen werden, wenn aus Sicht der Ermittlungsbehörden Anlass dazu bestand (Meyer-Goßner StPO 53. Aufl. § 170 Rdn. 9; KK-Schmid StPO 6. Aufl. § 170 Rdn. 23; SK-StPO Wohlers 4. Aufl. § 170 Rdn. 61; HK-StPO Zöller 4. Aufl. § 170 Rdn. 6). Hierzu - und für den Eintritt der Unterbrechungswirkung nach § 78c Abs. 1 Nr. 4 StGB - genügte es, dass sich der Durchsuchungsbeschluss vom 15. Oktober 2004 auch gegen den Angeklagten als Person richtete und der darin enthaltene Tatvorwurf in gleicher Weise sein Vorgehen als Geschäftsführer der Firma S. erfasste. Im Übrigen hat auch die Bestätigung der Durchsuchungsanordnung durch Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main vom 28. September 2005, in der der Angeklagte ausdrücklich als faktischer Geschäftsführer der Firma S. bezeichnet ist (Bd. II 181), die Verjährung zumindest bezüglich der Taten unterbrochen , die der Angeklagte nach dem 28. September 2000 begangen haben soll.
10
2) In den Fällen 9) und 10) ist die Revision dagegen bereits unzulässig. Insofern ist der Angeklagte durch das angegriffene Urteil nicht beschwert, weil es bereits an der Prozessvoraussetzung einer wirksamen Anklage fehlt, auf deren Grundlage der Beschwerdeführer sein Prozessziel - die Einstellung des Verfahrens wegen Verfolgungsverjährung - erreichen könnte. In den genannten Fällen liegt keine den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entsprechende Anklage vor, da sie ihrer Umgrenzungsfunktion nicht genügt (siehe im Einzelnen das auf Revision der Staatsanwaltschaft ergangene Urteil des Senates vom 2. März 2011 - 2 StR 524/10). Fischer Schmitt Berger Krehl Eschelbach

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 493/06
vom
29. November 2006
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
__________________
MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d, StPO § 168c
Zum Recht auf konfrontative Befragung nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK (in
Fortführung von BGHSt 46, 93).
BGH, Beschluss vom 29. November 2006 - 1 StR 493/06 - LG München I
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen zu 1.: Vergewaltigung u.a.
zu 2.: Beihilfe zum Menschenhandel u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. November 2006 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 12. April 2006 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagten verurteilt worden sind. Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten S. K. wegen Vergewaltigung und Menschenhandels in Tateinheit mit ausbeuterischer und dirigierender Zuhälterei zur Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten, den Angeklagten D. Ko. wegen Beihilfe zum Menschenhandel und Bedrohung zur Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es die Angeklagten freigesprochen.
2
Die Revisionen der Angeklagten haben mit einer auf der Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Buchst. d MRK) gestützten Verfahrensrüge Erfolg. Auf die weiteren Verfahrenrügen und die Sachbeschwerde kommt es daher nicht mehr an.

I.

3
Zentral für die Überführung der Angeklagten, die in der Hauptverhandlung von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machten und während des Ermittlungsverfahrens die Taten bestritten hatten, sind die Angaben der Geschädigten E. P. gegenüber der Polizei und vor dem Ermittlungsrichter. In der Hauptverhandlung wurden vier Protokolle über polizeiliche Vernehmungen verlesen und eine Bild-Ton-Aufzeichnung über eine Vernehmung vor dem Ermittlungsrichter vorgeführt. Zudem hörte das Landgericht drei Polizeibeamte und den Ermittlungsrichter. Die Geschädigte, eine polnische Staatsangehörige , war unmittelbar nach der letzten Vernehmung nach Polen zurückgekehrt. Aufgrund ihres Nichterscheinens zur Hauptverhandlung trotz formloser Ladung sowie ihrer Unmutsäußerungen gegenüber dem Ermittlungsrichter behandelte sie das Landgericht als unerreichbar.
4
1. Die Revisionen machen die Verletzung des Rechts auf konfrontative Befragung nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK geltend. Die Angeklagten und ihre Verteidiger hätten zu keinem Zeitpunkt - weder während des Ermittlungsverfahrens noch in der Hauptverhandlung - die Gelegenheit gehabt, der Geschädigten Fragen zu stellen oder Vorhalte zu machen. Insbesondere auch bei ihrer Aussage vor dem Ermittlungsrichter sei ihnen eine konfrontative Befragung versagt gewesen. Der Angeklagte S. K. sei zwar anwesend gewesen, jedoch von der weiteren Vernehmung ausgeschlossen worden, bevor er sein Fragerecht hätte ausüben können. Sein (Wahl-)Verteidiger sei nicht benachrichtigt worden. Der Angeklagte D. Ko. , gegen den damals - trotz bestehenden Anfangsverdachts - das Ermittlungsverfahren formal noch nicht geführt worden sei, sei ebenfalls nicht benachrichtigt worden. Ihm sei auch kein Pflichtverteidiger beigeordnet worden.
5
2. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
6
Am 2. August 2005 gegen 11.00 Uhr wurden zwei Fahrgäste der Münchener Trambahn auf eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten S. K. und der Geschädigten aufmerksam. Der Angeklagte versuchte, die Geschädigte gegen ihren Willen aus dem Fahrgastraum zu zerren und zu tragen. Als der Angeklagte der Aufforderung der beiden Fahrgäste, die Geschädigte loszulassen, nicht nachkam, drohten sie ihm an, die Polizei zu rufen. Während der Angeklagte daraufhin erklärte, dies sei nicht erforderlich, da es sich lediglich um einen Beziehungsstreit handele, äußerte die Geschädigte "polizia, ja, ja". Daraufhin wurde die Polizei informiert.
7
Eine Polizeibeamtin, die der polnischen Sprache mächtig ist, führte mit der Geschädigten noch an der Trambahnstation ein informatorisches Gespräch. Anschließend wurde die Geschädigte einer sachverständigen Ärztin vorgestellt und in der Folgezeit bis zum 11. August 2005 fünfmal polizeilich vernommen. Der Angeklagte S. K. wurde noch am 2. August 2005 festgenommen und befindet sich aufgrund Haftbefehls vom 3. August 2005 seither ununterbrochen in Untersuchungshaft. Von der Staatsanwaltschaft wurde das Ermittlungsverfahren formal zunächst nur gegen ihn, nicht gegen den Angeklagten D. Ko. geführt, obwohl die Zeugin auch diesen schon bei den Vernehmungen am 2. und 3. August 2005 belastete und der Haftbefehl ihn als anderweitig Verfolgten bezeichnet.
8
Am 9. August 2005 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Geschädigte ermittlungsrichterlich zu vernehmen und den Angeklagten S. K. hierzu zu laden. Die Vernehmung, zu der der Angeklagte S. K. , nicht aber der - damals noch nicht als Beschuldigter eingetragene - Angeklagte D. Ko. geladen wurde, wurde am 16. August 2005 durchgeführt. Sie wurde auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet und dem in einem Nebenraum befindlichen Angeklagten S. K. zeitgleich in Bild und Ton übertragen. Während ihrer Aussage äußerte die - "lustlos und emotionslos" wirkende - Zeugin, dass sie "das alles nicht mitmachen" möchte, sie "nur zurück nach Polen" wolle und es sie sehr störe, wenn der Angeklagte zuhöre; sie versuchte, den Vernehmungsraum zu verlassen. Daraufhin schloss der Ermittlungsrichter den Angeklagten , ohne dass dieser zuvor hätte zu Wort kommen können, von der weiteren Vernehmung aus.
9
Bereits mit an die Staatsanwaltschaft München I adressiertem Schreiben vom 3. August 2005 hatte sich Rechtsanwalt W. als Verteidiger des Angeklagten S. K. angezeigt. Das Schreiben war am 4. August 2005 bei der allgemeinen Eingangsstelle der Justizbehörden in München und am 5. August 2005 bei der Staatsanwaltschaft München I eingegangen. Es wurde der sachbearbeitenden Staatsanwältin allerdings erst am 19. August 2005, dem zuständigen Ermittlungsrichter erst am 24. August 2005 vorgelegt, sodass er den Verteidiger vom Vernehmungstermin nicht mehr benachrichtigen konnte. Zu weiteren die Vernehmung der Geschädigten betreffenden Maßnahmen sah der Ermittlungsrichter keine Veranlassung, zumal diese zwischenzeitlich ausgereist war.
10
3. Im Rahmen der Beweiswürdigung begründet das Landgericht seine Überzeugung von der Schuld der Angeklagten wie folgt:
11
Die Angeklagten seien durch die Angaben der Geschädigten überführt. Die - über die Protokolle, die Bild-Ton-Aufzeichnung und die Vernehmungspersonen eingeführte - Aussage sei glaubhaft, weil sie in einer unvorhergesehenen Stresssituation entstanden, detailreich, in einen vielschichtigen Kontext einge- bunden, konstant und frei von Belastungseifer sei. In mehreren Punkten würden die Angaben durch andere Beweismittel bestätigt.
12
Die Überzeugung des Landgerichts von der Glaubhaftigkeit der Aussage stützt sich dabei wesentlich auf deren "Entstehungsgeschichte": Die zwei Fahrgäste sagten in der Hauptverhandlung zu der Auseinandersetzung in der Trambahn aus. Die die polnische Sprache beherrschende Polizeibeamtin wurde zu dem informatorischen Gespräch vernommen; sie berichtete, die Geschädigte habe ihr bereits das wesentliche Tatgeschehen geschildert: Die Geschädigte sei vom Angeklagten D. Ko. ca. ein Monat zuvor von Polen nach Deutschland gebracht und in München dem Angeklagten S. K. übergeben worden. Dieser halte sie seither in seiner Wohnung fest, habe sie vergewaltigt und zwangsprostituiert. Außerdem habe die Geschädigte geäußert, dass sie, weil sie auf Druck Milchausfluss aus der Brust sowie Schmierblutungen habe , befürchte, vom Angeklagten S. K. schwanger zu sein. Die sachverständige Ärztin berichtete über - offensichtlich durch die Auseinandersetzung in der Trambahn verursachte - Hautverfärbungen bei der Geschädigten; bei der Untersuchung habe diese gesagt, sie habe deshalb in der Trambahn sitzen bleiben wollen, weil der Angeklagte sie zu einem Freier habe bringen wollen.
13
Ferner stellt das Landgericht fest, dass die Angaben der Geschädigten von Zeugen bestätigt wurden, soweit sie von einer Fahrt des Angeklagten D. Ko. nach Polen im Juni 2005 sowie von ihrem Besuch in einer Gaststätte etwa am 25. Juli 2005 berichtete.
14
Schließlich setzt sich das Landgericht eingehend mit möglicherweise entlastenden Umständen auseinander und zeigt Widersprüche zwischen den polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen der beiden Angeklagten auf. In diesem Zusammenhang teilt das Urteil mit, dass der Angeklagte S. K. sich dahingehend eingelassen hatte, er habe die Geschädigte auf Bitten des Angeklagten D. Ko. bei sich aufgenommen und ab dem zweiten Tag nach ihrer Ankunft täglich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt.

II.

15
Die Revisionen machen mit Recht geltend, dass infolge von Fehlern im Ermittlungsverfahren das Recht der Angeklagten auf konfrontative Befragung der Geschädigten nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK verletzt wurde. Da die Angaben der Geschädigten nicht durch gewichtige Gesichtspunkte außerhalb ihrer Aussage gestützt werden, kann das Urteil keinen Bestand haben.
16
1. Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantiert - als eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK - das Recht des Angeklagten, "Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen". Die Befragung des Zeugen hat dabei grundsätzlich, aber nicht zwingend in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten zu erfolgen. Ist ein Zeuge lediglich im Ermittlungsverfahren oder sonst außerhalb der Hauptverhandlung vernommen worden, muss dem Angeklagten entweder zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium die Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen selbst zu befragen, unter Umständen über seinen Verteidiger befragen zu lassen. Selbst wenn der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt die Gelegenheit zur konfrontativen Befragung des Zeugen hatte, verstößt dies jedoch nicht ohne weiteres gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. d i.V.m. Abs. 1 Satz 1 MRK. Entscheidend ist vielmehr, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung fair war (st. Rspr.; vgl. EGMR, Urteile vom 19. Dezember 1990 - Nr. 26/1989/186/246 - Delta gegen Frankreich = ÖJZ 1991, 425, 426; vom 28. August 1992 - Nr. 39/1991/291/362 - Artner gegen Ös- terreich = EuGRZ 1992, 476; vom 7. August 1996 - Nr. 48/1995/554/640 - Ferrantelli und Santangelo gegen Italien = ÖJZ 1997, 151, 152; vom 14. Dezember 1999 - Nr. 37019/97 - A.M. gegen Italien = StraFo 2000, 374, 375; vom 18. Oktober 2001 - Nr. 37225/97 - N.F.B. gegen Deutschland = NJW 2003, 2297; vom 20. Dezember 2001 - Nr. 33900/96 - P.S. gegen Deutschland = NJW 2003, 2893, 2894; vom 23. November 2005 - Nr. 73047/01 - Haas gegen Deutschland = JR 2006, 289, 291; BGHSt 46, 93, 94 ff. m. w. Nachw.; BGH NStZ 2004, 505, 506; 2005, 224, 225; NStZ-RR 2005, 321).
17
Bei der Prüfung, ob insgesamt ein faires Verfahren vorlag, kommt es nach der Rechtsprechung des EGMR insbesondere auch darauf an, ob der Umstand, dass der Angeklagte keine Gelegenheit zur konfrontativen Befragung hatte, der Justiz zuzurechnen ist (EGMR [Ferrantelli & Santangelo] ÖJZ 1997, 151, 152; [Haas] JR 2006, 289, 291). Zwar muss die Justiz auch aktive Schritte unternehmen, um den Angeklagten in die Lage zu versetzen, Zeugen zu befragen oder zumindest befragen zu lassen. Allerdings ist sie nicht zu Unmöglichem verpflichtet (impossibilium nulla est obligatio). Vorausgesetzt, dass ihr keine mangelnde Sorgfalt bei den Bemühungen vorzuwerfen ist, dem Angeklagten die konfrontative Befragung von Zeugen zu ermöglichen, ist im Fall deren Unerreichbarkeit die fehlende Gelegenheit zur Befragung hinzunehmen (EGMR [Haas] aaO m. w. Nachw.).
18
Davon, ob die unterbliebene konfrontative Befragung eines Zeugen der Justiz zuzurechnen ist, ist nach der Rechtsprechung des EGMR der Beweiswert der Angaben dieses Zeugen abhängig. So hat der EGMR entschieden, dass im Fall ausreichender, jedoch fehlgeschlagener Bemühungen seitens der Justiz eine Verurteilung aufgrund der Angaben eines nicht kontradiktorisch vernommenen Zeugen - bei äußerst sorgfältiger ("extreme care") Würdigung - möglich ist, solange sie nicht einzig und allein ("solely") auf diesen Angaben beruht (EGMR [Artner] EuGRZ 1992, 476; [Haas] JR 2006, 289, 291). Insbesondere bei Vorliegen von Verfahrensfehlern hat er demgegenüber bereits dann einen Konventionsverstoß angenommen, wenn sich die Verurteilung zwar nicht allein, aber in einem entscheidenden Ausmaß ("to a decisive extent") auf Angaben eines solchen Zeugen stützt (EGMR [Delta] ÖJZ 1991, 425, 426; [A.M.] StraFo 2000, 374, 375; [P.S.] NJW 2003, 2893, 2894).
19
Bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts ist die MRK in der Auslegung, die sie durch Rechtsprechung des EGMR erfahren hat, zu berücksichtigen (BVerfG NJW 2004, 3407; BGHSt 45, 321, 328 f.). Daher gilt für die tatrichterliche Beweiswürdigung: Ist die unterbliebene konfrontative Befragung eines Zeugen der Justiz zuzurechnen, kann eine Verurteilung auf dessen Angaben nur gestützt werden, wenn diese durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden (BGHSt 46, 93, 106; BGH NStZ 2005, 224, 225; NStZ-RR 2005, 321; vgl. auch BGH NJW 2003, 3142, 3144; NStZ 2004, 505, 506 f.).
20
2. Dass die Angeklagten keine Gelegenheit hatten, die Geschädigte zu befragen, beruht, wie die Strafkammer zutreffend festgestellt hat, auf Fehlern im Ermittlungsverfahren. Ob sie die Unerreichbarkeit der Geschädigten in der Hauptverhandlung mit Recht bejaht hat, braucht der Senat daher nicht zu entscheiden.
21
a) Entgegen § 168c Abs. 5 Satz 1 StPO wurde der Verteidiger des Angeklagten S. K. nicht von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten am 16. August 2005 benachrichtigt. Dies beruht auf einem Verschulden der Justiz, da die am 4. August 2005 bei den Justizbehörden in München eingegangene schriftliche Verteidigungsanzeige erst am 19. August 2005 der sachbearbeitenden Staatsanwältin und erst am 24. August 2005 dem zu- ständigen Ermittlungsrichter vorgelegt wurde. Für den Rechtsverstoß macht es keinen Unterschied, ob die erforderliche Benachrichtigung absichtlich, versehentlich oder unter Verkennung der gesetzlichen Voraussetzungen unterblieben ist (BVerfG [Kammer] NJW 2006, 672, 673; BGH NJW 2003, 3142, 3143 m. w. Nachw.).
22
Weiterhin wurde der - zunächst anwesende - Angeklagte S. K. selbst nach Unmutsäußerungen der Geschädigten und ihrem Versuch, den Vernehmungsraum zu verlassen, von der weiteren ermittlungsrichterlichen Vernehmung ausgeschlossen, bevor er von seinem Fragerecht hätte Gebrauch machen können. Nach der Würdigung der Strafkammer war indessen ein - hier auch fern liegender - Ausschlussgrund nach § 168c Abs. 3 StPO nicht gegeben. Der Ausschluss des Angeklagten drängte im Übrigen auch dazu, die Wahrnehmung seines Fragerechts durch einen Verteidiger sicherzustellen (BGHSt 46, 93, 97 ff.).
23
b) Der Angeklagte D. Ko. wurde von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten ebenfalls entgegen § 168c Abs. 5 Satz 1 StPO nicht benachrichtigt. Obwohl das Ermittlungsverfahren formal nicht gegen ihn geführt wurde, hatte er bereits den Status eines Beschuldigten. Da die Geschädigte ihn bei den polizeilichen Vernehmungen am 2. und 3. August 2005 belastet hatte, wurde er Beschuldigter spätestens durch den Antrag der Staatsanwaltschaft auf ihre ermittlungsrichterliche Vernehmung, weil dieser auf die Sicherung der Aussage auch ihn betreffend gerichtet war. Ein Verdächtiger wird zum Beschuldigten, wenn die Ermittlungsbehörden faktisch Maßnahmen ergreifen , die erkennbar darauf abzielen, gegen ihn wegen einer Straftat vorzugehen (BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 3; BGH NJW 2003, 3142, 3143). Dass gegen den Angeklagten D. Ko. ebenfalls wegen der von der Geschädigten geschilderten Straftaten ermittelt werden sollte, ergibt sich zudem aus dem gegen den Angeklagten S. K. erlassenen Haftbefehl vom 3. August 2005, in dem der Angeklagte D. Ko. als anderweitig Verfolgter bezeichnet ist. Die Staatsanwaltschaft hätte daher auch auf die Benachrichtigung dieses Angeklagten hinwirken müssen.
24
Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Benachrichtigung nach § 168c Abs. 5 Satz 2 StPO lagen in Anbetracht der nach §§ 168e, 58a StPO getrennt durchgeführten Vernehmung fern und wurden von der Strafkammer infolgedessen nicht geprüft (hierzu BGH NJW 2003, 3142, 3144), zumal dann wiederum die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich geworden wäre.
25
3. Die Strafkammer ist zwar - auf der Grundlage von BGHSt 46, 93, 103 ff. - im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass der Tatnachweis voraussetzt , dass die Angaben der Geschädigten durch gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden. Sie legt diesbezüglich aber nicht die hier gebotenen strengen Maßstäbe an, so dass das Urteil sich im Ergebnis als rechtsfehlerhaft erweist.
26
Die Strafkammer hat eine fachkundige - für sich genommen rechtsfehlerfreie - Aussageanalyse vorgenommen. Schon hierbei wäre allerdings zu bedenken gewesen, dass gerade den Merkmalen, dass die Angaben "detailreich" und "in einen vielschichtigen Kontext eingebunden" sind, infolge des Fehlens einer kontradiktorischen Erörterung ein geringeres Gewicht zukommt (Senat, Urteil vom 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00 - Umdr. S. 27 f., in BGHSt 46, 93 nicht abgedruckt

).

27
Die weiteren Beweismittel, die das Urteil zur Bestätigung der Aussage anführt, genügen hier im Hinblick darauf, dass die unterbliebene konfrontative Befragung der Justiz zuzurechnen ist, den sich daraus ergebenden besonderen Beweiswürdigungs- und Begründungsanforderungen nicht. Die Überzeugung der Kammer stützt sich wesentlich auf die "Entstehungsgeschichte" der Aussage , die Auseinandersetzung in der Trambahn und die ersten zeitnah erfolgten Äußerungen der Geschädigten; beides wird durch Zeugen- und Sachverständigenbeweis bestätigt. Was die Auseinandersetzung in der Trambahn anbelangt, so ließe sie sich jedoch auch mit einem vom Angeklagten - gleichfalls zeitnah - behaupteten Beziehungsstreit in Einklang bringen. Dies gilt umso mehr, als nach den Urteilsfeststellungen die Geschädigte selbst aussagte, sie habe etwa vor den Familienmitgliedern so getan, als habe sie eine Beziehung mit dem Angeklagten S. K. . Dass die Auseinandersetzung bei den beiden Fahrgästen nicht den "Eindruck eines Beziehungsstreits erweckte", ist indessen nicht ausreichend mit Tatsachen belegt und stellt ein bloßes Werturteil dieser Zeugen dar. Die ersten Äußerungen der Geschädigten gegenüber der Polizei sprechen zwar - als wichtiger Teil der Aussagegenese - für die Glaubhaftigkeit der Aussage; es handelt sich hierbei aber nicht um Gesichtspunkte, die außerhalb der Aussage liegen. Die auf eine Schwangerschaft der Geschädigten hindeutenden Umstände (Milchausfluss und Schmierblutungen) sind zudem nicht aussagekräftig bezüglich der Feststellung, dass der Geschlechtsverkehr nicht einvernehmlich stattfand.
28
Soweit sich die Überzeugung der Strafkammer darauf stützt, dass die Angaben der Geschädigten von Zeugen insofern bestätigt wurden, als sie von einer Fahrt des Angeklagten D. Ko. nach Polen im Juni 2005 sowie von ihrem Besuch in einer Gaststätte etwa am 25. Juli 2005 berichtete, fehlt es an einem hinreichenden Bezug zu den festgestellten Taten. Auch teilt das Urteil nicht mit, ob und wie sich die Angeklagten bei ihren polizeilichen Vernehmungen hierzu eingelassen hatten.
29
Augenzeugen, die Angaben zum Kerngeschehen machen konnten, standen dem Landgericht nicht zur Verfügung. Auch objektive Beweismittel, mit denen die von der Geschädigten geschilderten Taten bestätigt worden wären, waren nicht vorhanden (vgl. Senat aaO S. 28).
30
4. Auf dem Rechtsfehler beruht das angegriffene Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO). Ein Freispruch durch den Senat selbst kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil eine erneute Vernehmung der Geschädigten, die dem Fragerecht der Angeklagten nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK Rechnung trägt, nicht auszuschließen ist. Nack Wahl Boetticher Kolz Elf
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
______________________
StPO § 141 Abs. 3, MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d
1. Ist abzusehen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren
notwendig sein wird, so ist § 141 Abs. 3 StPO im Lichte des von Art. 6 Abs. 3
Buchst. d MRK garantierten Fragerechts dahin auszulegen, daß dem unverteidigten
Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten
ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger
zu bestellen ist, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser
Vernehmung ausgeschlossen ist.
2. Der Verteidiger muß regelmäßig Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit
dem Beschuldigten zu besprechen.
3. Das Unterlassen der Bestellung des Verteidigers mindert den Beweiswert des
Vernehmungsergebnisses. Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine
Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen
durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.
BGH, Urt. vom 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00 - LG Ravensburg

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 169/00
vom
25. Juli 2000
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Juli 2000,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Maul,
Nack,
Dr. Boetticher,
Dr. Kolz,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwälte ,
und Rechtsanwältin
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 16. Dezember 1999 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Sexualdelikten (u.a. Vergewaltigung ) zum Nachteil seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer auf den Verstoß gegen das faire Verfahren (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) gestützten Verfahrensrüge Erfolg.

I.


Zentral für die Überführung des die Tat bestreitenden Angeklagten ist die Aussage der Geschädigten vor dem Ermittlungsrichter. Dieser wurde als Zeuge gehört, nachdem die Geschädigte in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte.
Die Revision macht mit einer Verfahrensrüge geltend, die ermittlungsrichterliche Vernehmung leide an einem schwerwiegenden Mangel. Bei der Vernehmung der Geschädigten habe der Ermittlungsrichter den nicht in Freiheit befindlichen und noch nicht verteidigten Angeklagten nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen und zugleich nach § 168c Abs. 5 Satz 2 StPO angeordnet, daß eine Benachrichtigung von dem Vernehmungstermin zu unterbleiben habe. Eine Verteidigerbestellung vor der Vernehmung sei nicht erfolgt. Gleichwohl habe das Landgericht die Verurteilung entscheidend auf die Bekundungen der Geschädigten vor dem Ermittlungsrichter gestützt , wobei keine anderen wichtigen Beweismittel vorgelegen hätten. In dieser Vorgehensweise liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK in Verbindung mit § 141 Abs. 3 StPO. Die Revision bezieht sich insoweit auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24. November 1986 (EuGRZ 1987, 147 – Fall Unterpertinger).
Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Anfang November 1997, kurz nach der letzten Tat, flüchtete die Geschädigte zu ihrer Tante, der sie von dem sexuellen Mißbrauch berichtete. Die Tante erstattete am 7. November 1997 Strafanzeige. Gegen den Angeklagten wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Vergewaltigung in 304 Fällen eingeleitet. Noch am selben Tage wurde die Geschädigte polizeilich vernommen. Am 8. November 1997 wurde der Angeklagte vorläufig festgenommen und – nach Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO – polizeilich vernommen. Am 9. November 1997 erließ das Amtsgericht Haftbefehl. Dem Angeklagten wurde eine Vielzahl von Vergehen des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes und von Verbrechen der sexuellen Nötigung und der Vergewalti-
gung zur Last gelegt. Bei der am selben Tag erfolgten Anhörung durch den Haftrichter wurde der Angeklagte ”darüber belehrt, daß er, bevor er sich entschließe zum Vorwurf Stellung zu nehmen, einen Anwalt seiner Wahl zu Rate ziehen könne". Der Angeklagte äußerte sich dazu nicht. Zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen machte er keine Angaben.
Noch bevor der Angeklagte einen Verteidiger beauftragt hatte, stellte die Staatsanwaltschaft am 10. November 1997 beim Amtsgericht den Antrag, die Geschädigte richterlich zu vernehmen. Dabei sollte der Angeklagte nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen werden; auch eine Benachrichtigung sollte unterbleiben. Diesem Antrag folgte der Ermittlungsrichter und vernahm die Geschädigte am selben Tag. Die Geschädigte machte nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht Angaben, die den Angeklagten belasteten.
Am 17. November beauftragte der Angeklagte einen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung, der sich am Folgetag beim Amtsgericht legitimierte und um alsbaldige Akteneinsicht und vorab um die Einsichtnahme in die privilegierten Aktenteile nach § 147 Abs. 3 StPO bat. Mitte Dezember 1997 gab die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger Gelegenheit, das Protokoll der richterlichen Vernehmung der Geschädigten einzusehen. Vollständige Akteneinsicht erhielt der Verteidiger erst Anfang April 1998. Im Rahmen eines Haftbeschwerdeverfahrens wies der Verteidiger am 20. März 1998 darauf hin, daß es unklar sei, ob die Geschädigte in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen würde. Wenn dieser Fall eintreten würde, hätte der Angeklagte keine Möglichkeit zur Befragung der Zeugin gehabt, zumal ihm bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten kein Verteidiger bestellt worden sei.
Am 30. März 1998 wurden die Ehefrau des Angeklagten und die Schwester der Geschädigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Ermittlungsrichter vernommen. Auch von der Anwesenheit bei diesen Vernehmungen wurde der Angeklagte antragsgemäß ausgeschlossen. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft wurde jedoch der Verteidiger des Angeklagten von den Terminen benachrichtigt; er nahm an den Vernehmungen teil.
Vor Beginn der Hauptverhandlung teilten die Geschädigte, ihre Schwester sowie die Ehefrau des Angeklagten dem Gericht mit, sie würden von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Das Landgericht hat deshalb den Ermittlungsrichter als Zeugen gehört, der bekundete, was diese Zeugen des Angeklagten bei ihm ausgesagt hatten. Gegen den v or der Vernehmung des Ermittlungsrichters erhobenen Widerspruch des Verteidigers wurde die Aussage des Ermittlungsrichters verwertet.

II.


1. Nach Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (der im Wortlaut mit Art. 14 Abs. 3 Buchst. e IPbürgR übereinstimmt) hat der Angeklagte das Recht, ”Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen”.
Dieses Fragerecht hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in zahlreichen Entscheidungen konkretisiert: Urteile vom 24. November 1986 – 1/1985/87/134 – Unterpertinger gegen Österreich = EuGRZ 1987, 147; vom 6. Dezember 1988 – 24/1986/122/171-173 – Barberà gegen Spanien; vom 7. Juli 1989 – 19/1987/142/196 – Bricmont gegen Belgien; vom
20. November 1989 – 10/1988/154/208 – Kostovski gegen Niederlande = StV 1990, 481; vom 27. September 1990 – 25/1989/185/245 – Windisch gegen Österreich = StV 1991, 193; vom 19. Dezember 1990 – 26/1989/186/246 – Delta gegen Frankreich; vom 19. Februar 1991 – 1/1990/192/252 – Isgrò gegen Italien; vom 19. März 1991 – 24/1990/215/277 – Cardot gegen Frankreich = EuGRZ 1992, 437; vom 26. April 1991 – 30/1990/221/283 – Asch gegen Österreich = EuGRZ 1992, 474; vom 28. August 1992 – 39/1991/291/362 – Artner gegen Österreich = EuGRZ 1992, 476; vom 20. September 1993 – 33/1992/378/452 – Saïdi gegen Frankreich; vom 26. März 1996 – 54/1994/501/583 – Doorson gegen Niederlande und vom 7. August 1996 – 48/1995/554/640 – Ferrantelli and Santangelo gegen Italien. Danach gilt:

a) Die Garantie des Fragerechts ist eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens – ”specific aspect of the general concept of fair trial – (Fälle Unterpertinger Nr. 29; Barberà Nr. 67; Kostovski Nr. 39; Windisch Nr. 23; Asch Nr. 25; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Dabei wird das Fragerecht auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Recht der Verteidigung insgesamt verstanden (BGH StV 1996, 471).

b) Die Ausgestaltung des Fragerechts ist primär dem nationalen Recht überlassen (Fälle Kostovski Nr. 39; Windisch Nr. 25; Asch Nr. 26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; siehe auch BGHSt 45, 321 und Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. Art. 6 MRK Rdn. 216). Das gesamte Beweisverfahren muß allerdings im Lichte des durch die Konvention garantierten Fragerechts gesehen werden: ”the whole matter of the taking and presentation of evidence must be looked at in the light of paragraphs ... 3 of Article 6 of the convention” (Fall Barberà Nr. 76).
Die Vertragsstaaten müssen daher das Fragerecht entsprechend ausgestalten : ”Paragraph 1 of Article 6 taken together with paragraph 3, also requires the Contracting States to take positive steps, in particular ... to enable him [the accused] to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him" (Fall Barberà Nr. 78).

c) Für die Frage eines Konventionsverstoßes kommt es nach ständiger Rechtsprechung des EGMR darauf an, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung fair gewesen ist: ”The Court’s task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair” (Fälle Barberà Nr. 89; Windisch Nr. 25; Asch Nr. 26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; ebenso Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 216). Insoweit sind maßgebliche Kriterien:
aa) Die Beweisgewinnung muß grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung erfolgen: ”The Court infers, as the Commission did, that all the evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument” (Fälle Barberà Nr. 78; Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Der Angeklagte muß grundsätzlich Zeugen befragen können: ”... the hearing of witnesses must in general be adversarial” (Fall Barberà Nr. 78).
bb) Das bedeutet allerdings nicht, daß die Zeugenaussage stets vor Gericht und öffentlich gemacht werden muß; auch kann aus Art. 6 Abs. 3
Buchst. d MRK kein Recht abgleitet werden, bei der Zeugenvernehmung im Vorverfahren anwesend zu sein (Vogler, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Art. 6 Rdn. 551). Die Verwertung von Aussagen, die im Vorverfahren gemacht wurden, ist als solche nicht konventionswidrig (Fälle Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Asch Nr. 27; siehe dazu auch Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar 2. Aufl. Art. 6 Rdn. 200). Das polizeiliche Vernehmungsprotokoll darf als Surrogat verlesen werden (Fälle Unterpertinger Nr. 31; Asch Nr. 25), und auch die Vernehmungspersonen dürfen als Zeugen vom Hörensagen vernommen werden (Fälle Kostovski Nr. 42; Asch Nr. 25).
Bei bestimmten Konstellationen darf auf eine Konfrontation des Zeugen mit dem Angeklagten verzichtet werden, etwa aus Gründen des Zeugenschutzes (Fälle Unterpertinger Nr. 30; Doorson Nr. 70), oder wenn zu befürchten ist, daß der Zeuge in Gegenwart des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde (Vogler aaO Rdn. 552). Eine Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen ist daher nicht in jedem Fall zwingend geboten, um die Aussage verwertbar zu machen (Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 225; vgl. auch Fälle Bricmont Nrn. 79, 86; Ferrantelli u.a. Nr. 52).
cc) Allerdings muß die Justiz eine solche Einschränkung des Fragerechts durch andere Maßnahmen kompensieren: ” ... principles of fair trial also require that in appropriate cases the interests of the defence are balanced against those of witnesses or victims called upon to testify.... Nevertheless, no violation of Article 6 para. 1 taken together with Article 6 para. 3 (d) of the Convention can be found if it is established that the handicaps under which the defence laboured were sufficiently counterbalanced by the procedures followed
by the judicial authorities" (Fall Doorson Nrn. 70, 72; vgl. auch Fall Kostovski Nr. 43).
Dem Angeklagten muß regelmäßig – entweder zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium – eine angemessene und geeignete Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen entweder selbst zu befragen oder befragen zu lassen: ”As a rule, these rights require that an accused should be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either at the time the witness was making his statement or at some later stage of the proceedings” (Fall Kostovski Nr. 41; siehe auch die Fälle Unterpertinger Nr. 31; Barberà Nr. 86; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Gollwitzer (aaO Art. 6 MRK Rdn. 227) interpretiert dies zutreffend dahin, daß dem auch nachträglich, etwa durch eine nochmalige Vernehmung des Zeugen, Rechnung getragen werden kann. Dabei reicht es nicht aus, nur die Vernehmungsperson befragen zu können, denn Zeuge im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK ist die originäre Auskunftsperson (Fälle Kostovski Nr. 40; Asch Nr. 25; ebenso BGH StV 1996, 471; BGH NStZ 1993, 292; Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 214, 223).
Unter Umständen kann die Einschränkung des Fragerechts seitens des Angeklagten dadurch kompensiert werden, daß wenigstens der Verteidiger bei der Zeugenvernehmung anwesend ist und den Zeugen befragen kann (Fall Doorson Nrn. 68, 73: anonymer Zeuge; Vogler aaO Art. 6 Rdn. 552).
dd) Für die Frage eines Konventionsverstoßes ist es auch bedeutsam, ob der Angeklagte auf die Befragung des Zeugen rechtzeitig beantragt hat (vgl.
einerseits die Fälle Windisch Nr. 37; Delta Nr. 37: ausdrücklicher Antrag und andererseits die Fälle Cardot Nr. 35; Asch Nr. 29: keinen Antrag gestellt; siehe auch Vogler aaO Art. 6 Rdn. 551), und ob die Ablehnung der Befragung begründet wurde (Fall Bricmont Nr. 89).

d) Eine ähnliche Fallgestaltung wie die vorliegende – Rückgriff auf frühere Bekundungen eines Zeugen, der in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht – liegt den österreichischen Fällen Unterpertinger und Asch zugrunde.
aa) Alois Unterpertinger wurde vom Landesgericht Innsbruck wegen zwei Fällen der Körperverletzung verurteilt. Im ersten Fall hatte er seiner Stieftochter im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten (seine Frau hatte ihn einen ”Zuchthäusler” genannt) eine Kratzwunde am Auge zugefügt. Im zweiten Fall hatte er seiner Ehefrau einen Fußtritt gegen die Hand versetzt und ihr dabei den Daumen gebrochen. Zu dem ersten Vorfall vernahm das Gendarmeriepostenkommando Wörgl die Ehefrau als Verdächtige und die Stieftochter als Beteiligte. Wegen des zweiten Vorfalls erstattete die Ehefrau Anzeige beim Gendarmeriepostenkommando Wörgl. Das Bezirksgericht in Kufstein leitete Vorerhebungen wegen der beiden Vorfälle ein. Die Ehefrau wurde vor dem Untersuchungsrichter als Zeugin vernommen und bestätigte – nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht – ihre bisherigen Angaben.
In der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck machten die Ehefrau und die Stieftochter von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Aufgrund der Zeugnisverweigerung durfte nach § 252 Abs. 1 der Österreichi-
schen Strafprozeßordnung das Protokoll über die Vernehmung der Ehefrau vor dem Untersuchungsrichter nicht verlesen werden. Nach Österreichischem Recht (OGH ÖJZ 1975, 304) mußten jedoch auf Antrag der Staatsanwaltschaft Schriftstücke anderer Art (§ 252 Abs. 2 StPO), insbesondere die Aussagen der Zeuginnen vor der Gendarmerie, zu Beweiszwecken verlesen werden. Das Oberlandesgericht Innsbruck verwarf die Berufung des Angeklagten. Bei der Wiederholung und Ergänzung der Beweisaufnahme konnte die als Entlastungszeugin gehörte Schwägerin des Angeklagten nichts relevantes bekunden ; weitere Zeugen wurden nicht gehört, da sie nur zu unwesentlichen Nebenumständen benannt worden waren.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise kein faires Verfahren und entschied , daß durch diese Vorgehensweise Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK verletzt worden seien. Durch die Zeugnisverweigerung vor Gericht hätten die Zeuginnen den Angeklagten daran gehindert, ihnen Fragen zu den vor der Gendarmerie gemachten Bekundungen zu stellen oder stellen zu lassen. Zwar habe er Erklärungen dazu abgeben können, aber das Berufungsgericht sei seinen Beweisanträgen zur Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen nicht nachgegangen. Auch wenn die Bekundungen der Zeuginnen nicht die einzigen Beweismittel gewesen seien, so habe das Berufungsgericht doch sein Urteil entscheidend auf deren Angaben gestützt. In bezug auf diese Aussagen seien seine Verteidigungsrechte verletzt worden, weil er in keinem Stadium des vorausgegangenen Verfahrens die Möglichkeit gehabt habe, Fragen an die Belastungszeuginnen zu stellen.
bb) Johann Asch wurde vom Kreisgericht St. Pölten wegen Nötigung und Körperverletzung verurteilt. Er hatte seine Lebensgefährtin mit einem Gürtel
geschlagen. Am nächsten Tag schickte der Arzt die Geschädigte in ein Krankenhaus ; die Ä rzte attestierten ihre Verletzungen. Danach zeigte die Lebensgefährtin den Angeklagten bei der Gendarmerie Brand-Laaben an. Über ihre Bekundungen wurde ein Protokoll aufgenommen. Wenige Tage später erschien die Lebensgefährtin bei der Gendarmerie und wollte ihre Anzeige zurückziehen. Am selben Tag wurde der Angeklagte bei der Gendarmerie angehört.
In der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht machte die Lebensgefährtin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Das Kreisgericht hörte daraufhin den Vernehmungsbeamten der Gendarmerie, der über die ihm gegenüber gemachten Angaben der Lebensgefährtin und von den ihm dabei gezeigten Verletzungen berichtete. Auch verlas es das Vernehmungsprotokoll. Das Kreisgericht stützte sich bei seiner Überzeugung unter anderem auf die Angaben des Vernehmungsbeamten und die ärztlichen Atteste. Das Oberlandesgericht Wien verwarf die Berufung des Angeklagten. Es hielt die Angaben der Lebensgefährtin vor der Gendarmerie nach § 252 StPO für verwertbar. Den Antrag des Angeklagten auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens lehnte das Oberlandesgericht ab.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise keine Verletzung des fairen Verfahrens. Es wäre sicherlich vorzuziehen gewesen, wenn die persönliche Anhörung der Zeugin möglich gewesen wäre. Aber das Recht, auf das sie sich zur Zeugnisverweigerung berief, könne nicht dazu dienen, die Strafverfolgung lahmzulegen. Wenn nur die Rechte der Verteidigung beachtet würden, habe das nationale Gericht die Aussage der Zeugin verwerten können, insbesondere im Hinblick darauf, daß die Aussage durch weitere Beweismittel, namentlich die
ärztlichen Atteste, gestützt wurde. Zudem habe der Angeklagte sowohl bei der Gendarmerie als auch vor Gericht Gelegenheit gehabt, zu den Angaben der Zeugin Stellung zu nehmen; dabei habe er widersprüchliche Angaben gemacht , die seine eigene Glaubwürdigkeit erschütterten. Außerdem habe der Angeklagte weder den Vernehmungsbeamten befragt, noch andere Zeugen benannt. Ein medizinisches Sachverständigengutachten habe er erst in der Berufungsinstanz beantragt, zu einem Zeitpunkt, als Verletzungsspuren nicht mehr feststellbar waren. Vor allem aber sei klar, daß die Angaben der Zeugin vor der Gendarmerie nicht das einzige Beweismittel gewesen seien, auf das sich das Kreisgericht gestützt habe. Das Gericht habe neben anderen Beweismitteln auch den persönlichen Eindruck des Vernehmungsbeamten und die ärztlichen Atteste berücksichtigt. Insofern unterscheide sich der vorliegende Fall von den Fällen Unterpertinger und Delta.
2. Diese Auslegung der MRK durch den EGMR ist bei der Anwendung des deutschen Strafprozeßrechts zu berücksichtigen. Der Senat hat dazu im Urteil vom 18. November 1999 (Tatprovokation, Umsetzung der Entscheidung Teixeira = NJW 2000, 1123, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 321) ausgeführt:
”Es entspricht den Grundregeln des Verfahrens vor dem EGMR, daß sich seine Entscheidung darauf beschränkt zu erklären, daß das Gerichtsurteil einer Vertragspartei der MRK in Widerspruch mit den Verpflichtungen aus dieser Konvention steht. Gestatten die innerstaatlichen Gesetze der Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Entscheidung , so hat der EGMR nach Art. 50 MRK (aufgrund der am 1. November 1998 in Kraft getretenen Ä nderung der Konvention durch das Protokoll Nr. 11 [BGBl.
II 1995 S. 578] nunmehr Art. 41 MRK) der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zuzubilligen. Dem EGMR obliegt es somit nicht, nationale Regeln für die Zulässigkeit von Beweismitteln aufzustellen. Der Gerichtshof betont dementsprechend, die Zulässigkeit von Beweismitteln werde in erster Linie durch die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts geregelt und es sei grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, die von ihnen zusammengetragenen Beweise zu würdigen. Die Aufgabe des Gerichtshofs bestehe darin festzustellen , ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Darstellung der Beweismittel fair gewesen sei.
Die MRK, die nach Art. II des Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1952 Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist und dabei im Rang eines (einfachen ) Bundesgesetzes steht (BVerfGE 74, 358, 370), ist als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei den in einem Strafverfahren angewendeten Gesetzen stets zu prüfen, ob die Anwendung und Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland steht, 'denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will’ (BVerfGE aaO; vgl. Ulsamer, FS Zeidler [1987] 1799, 1800).”

III.


Die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozeßrechts – hier § 141 Abs. 3 StPO – führt dazu, daß in Fällen der vorliegenden Art dem
Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des wichtigen Belastungszeugen ein Verteidiger bestellt werden muß.
1. Das Gesetz schreibt, wie § 141 Abs. 3 Satz 1 StPO zeigt, auch in Fällen, in denen später im gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird, für das Vorverfahren nicht ausnahmslos die Bestellung eines Verteidigers vor. Nach § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO ”beantragt” die Staatsanwaltschaft jedoch schon während des Vorverfahrens die Bestellung eines Verteidigers, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird.

a) In der traditionellen Sprache des Gesetzes (vgl. auch § 201 Abs. 1 StPO: ”Der Vorsitzende des Gerichts teilt die Anklageschrift dem Angeschuldigten mit” und § 349 Abs. 3 Satz 1 StPO) bedeutet dies, daß die Staatsanwaltschaft den Antrag stellen muß, sobald die Mitwirkung des Verteidigers notwendig sein wird (ähnlich Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 141 Rdn. 5; Pfeiffer, StPO 2. Aufl. § 141 Rdn. 2). ”Notwendig sein wird” heißt, daß die Pflicht zur Antragstellung schon dann entsteht, wenn abzusehen ist, daß die Mitwirkung notwendig werden wird (Laufhütte in KK 4. Aufl. § 141 Rdn. 3). Das zeigt auch die Entstehungsgeschichte des § 141 Abs. 3 StPO zur Verteidigerbestellung im Vorverfahren. Das StPÄ G 1964 fügte an den damals bestehenden Satz, daß der Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden kann (heutiger Satz 1 des Abs. 3), die Sätze an: ”Nach dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169a Abs. 1) ist er auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag stellen, falls die
Gewährung des Schlußgehörs in Betracht kommt und nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 notwendig sein wird.” Seine heutige Fassung erhielt § 141 Abs. 3 StPO durch das 1. StVRG vom 9. Dezember 1974. Die Erweiterung der Verteidigerbestellung und die immer strengeren Formulierungen der Anweisung an die Staatsanwaltschaft (von einer Kann- zu einer Soll-Bestimmung und schließlich zu den Worten ”beantragt dies”) machen deutlich, daß der Gesetzgeber die Mitwirkung des Verteidigers im Vorverfahren stärker ausbauen wollte und deshalb eine Antragspflicht gesetzlich vorgeschrieben hat. Zwar bestimmt § 117 Abs. 4 Satz 1 StPO, daß dem unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger für die Dauer der Untersuchungshaft bestellt wird, wenn deren Vollzug mindestens drei Monate gedauert hat und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter es beantragt. Daraus kann indes nicht der Schluß gezogen werden, daß die Staatsanwaltschaft mit der Antragstellung stets drei Monate zuwarten darf. Diese Regelung stellt angesichts der Gesetzesentwicklung zu § 141 Abs. 3 StPO nur eine Mindestgarantie dar (vgl. Rundverfügung des Hessischen Generalstaatsanwalts vom 11. Januar 1994 zur Pflichtverteidigung nach einem Monat U-Haft, abgedruckt in StV 1994, 223).

b) Ob es bei prognostizierter notwendiger Verteidigung überhaupt Fälle geben kann, in denen davon abgesehen werden darf, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen, kann hier dahinstehen.
aa) Jedenfalls dann, wenn die ermittlungsrichterliche Vernehmung eines wichtigen Belastungszeugen ansteht, bei der der Beschuldigte kein Anwesen-
heitsrecht hat, wird in der Regel geboten sein zu prüfen, ob dem nicht verteidigten Beschuldigten zuvor ein Verteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO zu bestellen ist, der die Rechte des Beschuldigten bei der Vernehmung wahrnimmt (Wache in KK 4. Aufl. § 168c Rdn. 8; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 168c Rdn. 4; vgl. auch Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 168c Rdn. 9). Diese Prüfung obliegt nach § 141 Abs. 3 StPO in erster Linie der Staatsanwaltschaft. Dies entbindet den Ermittlungsrichter indes nicht von der Verantwortung, für ein konventionsgerechtes Verfahren mit Sorge zu tragen.
bb) Wird darüber hinaus der zentrale zeugnisverweigerungsberechtigte Belastungszeuge unter Ausschluß des Beschuldigten aus Gründen der Beweissicherung ermittlungsrichterlich vernommen, so reduziert sich das Ermessen bei der Frage der Bestellung eines Verteidigers auf Null. Anderes mag dann gelten, wenn die durch die Zuziehung eines Verteidigers bedingte zeitliche Verzögerung den Untersuchungserfolg gefährden würde. Nur diese Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO ist mit der Vorgabe der MRK vereinbar. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß das von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierte Fragerecht auch im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht gewährleistet werden kann.
2. Hier durfte der Angeklagte zwar von der Anwesenheit bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten ausgeschlossen werden und auch seine Benachrichtigung konnte unterbleiben (§ 168c StPO). Sowohl der Ermittlungsrichter als auch das erkennende Gericht haben die Gefährdung des Untersuchungserfolgs geprüft und bejaht. Die revisionsgerichtliche Prüfung (vgl. dazu BGHSt 29, 1) läßt Rechtsfehler nicht erkennen, insbesondere liegt
keine Überschreitung der dem tatrichterlichen Ermessen gesetzten Schranken vor. Daß so verfahren werden kann, entspricht auch der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 MRK (siehe oben). Ein Verteidiger konnte nicht benachrichtigt werden, denn der Angeklagte war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verteidigt.
3. Dieses gesetzlich zulässige ”handicap” bei der Einschränkung des Fragerechts hätte die Justiz dann aber durch die Bestellung eines Verteidigers für den unverteidigten Angeklagten ausgleichen müssen.
Bei der im Hinblick auf das faire Verfahren vorzunehmenden Gesamtbetrachtung ist auch das Vorverfahren – und damit das Handeln der Staatsanwaltschaft – in den Blick zu nehmen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6 MRK: ”dem Staat zuzurechnenden Verfahrensgestaltung”). In Fällen der vorliegenden Art muß die Justiz von sich aus aktiv werden mit dem Ziel, daß die Verteidigung (zum Begriff siehe BGH StV 1996, 471) Gelegenheit hat, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen (”requires the Contracting States to take positive steps”: EGMR Fall Barberà Nr. 78).
Das Fragerecht wäre gewährleistet gewesen, wenn ein Verteidiger bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung anwesend gewesen wäre. Da der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt keinen Verteidiger hatte, wäre die Staatsanwaltschaft verpflichtet gewesen, vor der Vernehmung der Zeugin die Bestellung eines Verteidigers zu beantragen (§ 141 Abs. 3 Satz 2 StPO).
Hier war im Zeitpunkt der richterlichen Vernehmung bereits abzusehen, daß im gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO vorliegen würden. Dem Angeklagten wurden bei der Einleitung des Ermitt-
lungsverfahrens zahlreiche Sexualverbrechen (§ 140 Abs. 1 Nr. 2) zur Last gelegt. Die polizeiliche Vernehmung der Geschädigten hatte einen hohen Beweiswert. Zu Recht hat deshalb der Haftrichter einen dringenden Tatverdacht bejaht. Damit war aber auch schon zu diesem Zeitpunkt abzusehen, daß in dem hochwahrscheinlich zu erwartenden gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung vorliegen würden.
Eine Verletzung des Fragerechts war hier zu besorgen, nachdem der Angeklagte – auf Antrag der Staatsanwaltschaft – nicht benachrichtigt und von der Anwesenheit ausgeschlossen wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte den Antrag gestellt, die Zeugin ”möglichst bald” richterlich zu vernehmen, da befürchtet werden müsse, der Angeklagte werde ”alles unternehmen, möglicherweise auch durch Dritte, um seine Tochter von der Aussage abzuhalten”. Das weist aus, daß die ermittlungsrichterliche Vernehmung insbesondere dem legitimen (vgl. Nr. 10, 19a, 221, 222 RiStBV) Zweck der Beweissicherung – Rückgriff auf den Vernehmungsrichter – für den Fall einer späteren Zeugnisverweigerung dienen sollte. Wenn aber dieser auch von der Staatsanwaltschaft für naheliegend gehaltene Fall eintreten würde, dann war abzusehen, daß das Fragerecht nicht zu gewährleisten war.
4. Die im Hinblick auf die Garantie des Fragerechts Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK vorzunehmende Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO führt daher dazu, daß die Staatsanwaltschaft verpflichtet war, die Bestellung eines Verteidigers nach dieser Vorschrift (also nicht nur für die einzelne Ermittlungshandlung ) noch vor der Zeugenvernehmung zu beantragen. Hier sind keine Umstände erkennbar, die es gerechtfertigt hätten, daß auch die Benachrichtigung des bestellten Verteidigers unterbleiben konnte (die Entscheidung BGHSt 29, 1
betrifft einen anderen Fall: ein bereits tätiger Verteidiger wurde aus Gründen, die in seiner Person lagen, nicht benachrichtigt).

a) Angemessen und geeignet ist dieser Ausgleich grundsätzlich aber nur, wenn der Verteidiger zu einer sachgerechten Mitwirkung an der Vernehmung auch in der Lage war.
In Fällen der vorliegenden Art läßt sich die Zuverlässigkeit der Belastungsaussage des einzigen Tatzeugen in der Regel nur dann beurteilen – insbesondere kann nur so die Hypothese einer bewußten Falschbeschuldigung ausgeschlossen werden –, wenn der Inhalt der Aussage einer Analyse unterzogen werden kann (sog. Aussageanalyse, grundlegend dazu BGHSt 45, 164). Zentral dafür ist die Detailliertheit der Aussage. Eine Aussage kann mittels der Aussageanalyse nur dann als glaubhaft beurteilt werden, wenn sie signifikante Realitätskriterien aufweist. In bezug auf das Fragerecht muß dabei den Detailkriterien besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, namentlich den Realkennzeichen , die eine Verflechtung mit objektivierbaren zeitlichen und örtlichen Umständen belegen.
Deshalb muß der Verteidiger – soll das Fragerecht nicht beeinträchtigt sein – regelmäßíg Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu besprechen, weil er nur so in der Lage ist, sachkundige Fragen, insbesondere Kontrollfragen, wie Situationsfragen (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2. Aufl. Band II Rdn. 610) zu stellen. Solche Fragen – nicht notwendig zum engen Kern des Tatvorwurfs –, mit denen insbesondere die zeitliche und räumliche Verflechtung der Aussagedetails überprüft
wird, können regelmäßig nur mit einem entsprechenden Hintergrundwissen gestellt werden.

b) Auch wenn der Verteidiger die Möglichkeit der Rücksprache mit dem Beschuldigten hatte, können ergänzende Fragen an den Zeugen erforderlich sein, deren Notwendigkeit sich erst ergibt, nachdem der Beschuldigte vom Inhalt der Zeugenaussage Kenntnis erlangt hat. Hier kann eine durch die Abwesenheit des Beschuldigten bedingte Beeinträchtigung des Fragerechts dadurch ausgeglichen werden, daß die Verteidigung Gelegenheit erhält, auch nachträglich Fragen an den Zeugen zu stellen oder stellen zu lassen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 227). Die nachträgliche Befragung kann auch durch Vorlage eines schriftlichen Fragenkatalogs erfolgen, zumal auf diese Weise weitgehend ausgeschlossen werden kann, daß der Untersuchungszweck gefährdet wird. Da in Fällen der vorliegenden Art der Zeuge nicht anonym ist, kommen die Bedenken des EGMR (vgl. die Fälle Kostovski Nr. 42; Windisch Nr. 28 einerseits und den Fall Isgrò Nr. 35 andererseits) zur schriftlichen Befragung des anonymen Zeugen nicht zum Tragen.

c) Der Senat hat hier nicht über den – möglicherweise anders zu beurteilenden – Fall zu entscheiden, daß durch ein Zusammenwirken des Verteidigers mit dem Beschuldigten (vgl. BGHSt 29, 1) oder auch nur allein als Folge der Konsultation der Untersuchungszweck gefährdet sein könnte. Hier könnte allerdings wenigstens eine nachträgliche (schriftliche) Befragung angezeigt sein.

d) In künftigen Fällen kann auch eine Vernehmung mittels Videokonferenz nach § 168e StPO eine angemessene und geeignete, und oft sogar die beste Möglichkeit sein, um das Fragerecht zu gewährleisten.

IV.


Das Unterlassen der rechtzeitigen Bestellung eines Verteidigers hat das Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung beeinträchtigt. Dieses Versäumnis mindert den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses , das durch den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter zur Grundlage der Urteilsfindung wurde. Damit wirkte der im Vorverfahren begangene Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung fort; das unterliegt der revisionsgerichtlichen Prüfung (§ 337 StPO; vgl. BGHR StPO § 349 Abs. 1 Unzulässigkeit

1).


1. Der Senat hält eine Beweiswürdigungs-Lösung für sachgerechter als ein Verwertungsverbot für den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter. Bei der Beweiswürdigungs-Lösung darf zwar auf den Vernehmungsrichter zurückgegriffen werden, allerdings sind dann – ähnlich wie beim anonymen Zeugen (grundlegend BGHSt 17, 382; vgl. zuletzt BGH NStZ 1998, 97; StV 1999, 7; NStZ 2000, 265; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 27; siehe auch BVerfG – Kammer – NJW 1997, 999 sowie BGHSt 45, 321: konventionswidrige Tatprovokation) – besonders strenge Beweis- und Begründungsanforderungen aufzustellen.

a) Auch das grundsätzlich bestehende Verwertungsverbot des § 252 StPO (vgl. BGH NJW 2000, 596, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt
45, 203 und BGH NJW 2000, 1247, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 342) gilt nicht uneingeschränkt.
Zwar kann der Rückgriff auf den Vernehmungsrichter ausgeschlossen sein, wenn gegen die Benachrichtigungspflicht der §§ 168c, 224 StPO verstoßen wurde (BGHSt 9, 24; 29, 1; 26, 332; 29, 131, 140; 42, 86; 42, 391; BGH NStZ 1987, 132; 1989, 282).
In seiner neueren Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten aber mehr auf die Beeinträchtigung des Beweiswerts abgestellt und deshalb eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung bevorzugt, indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll nach § 252 Abs. 2 Satz 2 StPO mit geringerem Beweiswert ”herabgestuft” wird (BGHSt 34, 231, 234, 235; BGH StV 1992, 232; BGH NStZ 1998, 312).
Auch hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 29, 1; 42, 391) bei einem berechtigten Ausschluß von der Anwesenheit oder einer berechtigten Nichtbenachrichtigung kein Verwertungsverbot aufgrund fehlender Beteiligungsrechte angenommen.

b) Für die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozeßrechts ist eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens vorzunehmen. Dazu gehört, daß das gesamte Beweisverfahren im Lichte des Fragerechts gesehen werden muß (vgl. Fall Barberà Nr. 76). Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es dabei zudem auch auf die Art und Weise der Beweiserhebung an. Unter diesem Gesichtspunkt stellt der EGMR zwar in erster Linie auf das Beweisverfah-
ren und weniger auf die Beweiswürdigung selbst ab. Jedoch findet im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch die Beweiswürdigung Berücksichtigung, wie gerade die Differenzierung des EGMR in den Fällen Unterpertinger und Asch zeigt. Da die Gesamtbetrachtung vom jeweiligen Einzelfall abhängt, liegt es nahe, eine dem konkreten Fall gerecht werdende Lösung zu finden. Das ist mit der Beweiswürdigungs-Lösung am besten zu erreichen; sie hält der Senat deshalb für vorzugswürdig.
Bei der Beweiswürdigungs-Lösung ist zwar zu bedenken, daß auf ein Vernehmungsergebnis zurückgegriffen wird, an dessen Zustandekommen die Verteidigung unter Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs nicht mitwirken konnte. Aber insofern ist die Verteidigung in einer ähnlichen Lage wie bei dem ”im Dunkel bleibenden” (BGHSt 17, 382, 386) anonymen Zeugen. Dort ist die Beeinträchtigung des Fragerechts häufig sogar noch stärker, weil nicht einmal die Person des Zeugen bekannt ist und weil auf bestimmte Fragen oft keine Antwort gegeben wird. Wenn daher die Beweiswürdigungs-Lösung beim anonymen Zeugen ein konventionsgemäßer Ausgleich ist, muß dies auch für die vorliegende Fallgestaltung gelten.
Auf die Vergleichbarkeit der Problematik des Fragerechts hat der Bundesgerichtshof bereits in BGHSt 17, 382, 385 f. hingewiesen: ”Einem anonymen Gewährsmann gegenüber versagen jedoch nicht nur die Rechte aus den §§ 240, 257 StPO – insoweit ist die Lage nicht wesentlich anders, als wenn der Wissensträger zwar bekannt ist, in der Hauptverhandlung aber nicht vernommen werden kann –...”.
Die Verneinung eines Verwertungsverbots erweist sich auch systemkonform mit der Strafzumessungs-Lösung bei einem Konventionsverstoß aufgrund einer unzulässigen Tatprovokation (BGHSt 45, 321).
2. Daß das Vernehmungsergebnis infolge unterbliebener Verteidigerbestellung fehlerhaft zustande gekommen ist, muß daher bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung besondere Beachtung finden. Diese muß vor allem zwei Anforderungen genügen:

a) Zunächst ist zu beachten, daß der originäre Zeuge in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung steht. Dazu gilt, was der Bundesgerichtshof schon 1962 (BGHSt 17, 382, 385) ausgeführt hat: ”Bei einem Zeugen vom Hörensagen besteht zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht. Je größer die Zahl der Zwischenglieder, desto geringer ist der Beweiswert der Aussage. Schon dieser Gesichtspunkt mahnt zur Vorsicht”.
Hier ist zwar der unmittelbar gehörte Zeuge ein Ermittlungsrichter, dessen Vernehmungsergebnis grundsätzlich, auch wegen der in § 168c Abs. 2 bestimmten Beteiligungsrechte, eine gewichtige Beweiskraft zukommt (vgl. BGHSt 45, 342; BGH NStZ 1998, 312). Die Verteidigung hatte aber keine Möglichkeit zur Befragung des originären Zeugen. Insofern muß der Tatrichter zusätzlich beachten, daß die Glaubwürdigkeitsbeurteilung mit dem Instrumentarium der Aussageanalyse begrenzt ist, weil die Aussage durch das Fehlen eines kontradiktorischen Verhörs (§ 69 Abs. 2 StPO) nur beschränkt aufgeklärt und vervollständigt werden kann.

b) Deshalb gilt auch hier wie beim gesperrten Zeugen (BGHSt 17, 382, 386): Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.

c) Daß eine – sorgfältigste (BGHSt 17, 382, 386) – Überprüfung der von dem Vernehmungsrichter wiedergegebenen Aussage nach diesen Maßstäben erfolgt ist, muß der Tatrichter in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise im Urteil deutlich machen.
3. Diesen – bislang allerdings vom Bundesgerichtshof noch nicht aufgestellten besonderen Beweiswürdigungs- und Begründungsanforderungen – genügt das angefochtene Urteil nicht. Insbesondere liegen keine anderen wichtigen Gesichtspunkte außerhalb der Aussage vor, die das eigentliche Tatgeschehen bestätigen.
Das Landgericht hat eine Beweiswürdigung vorgenommen, die ersichtlich davon ausging – und insoweit auch rechtsfehlerfrei ist –, den Beweiswürdigungs - und Begründungsanforderungen bei Fällen von ”Aussage gegen Aussage” zu genügen. Es hat seine Überzeugung ganz entscheidend auf die Angaben der Geschädigten beim Ermittlungsrichter gestützt. Dabei hat es auch eine fachkundige Analyse des Inhalts der dort getätigten Aussage vorgenommen und insbesondere auf Detailkriterien abgestellt.
Schon hierbei wäre allerdings zu bedenken gewesen, daß gerade das Gewicht der ”Einbettung in den Gesamtlebenssachverhalt” und der Schilderung ”von Details und Begleiterscheinungen” durch das Fehlen eines kontradiktori-
schen Verhörs beschränkt war. Daß weitere Beweismittel die ”Kammer in ihrer Überzeugungsbildung stützen und diese abrunden”, reicht im Hinblick auf das fehlerhaft zustande gekommene ermittlungsrichterliche Vernehmungsergebnis nicht aus, um der vom Senat daraus abgeleiteten Anforderung zu genügen, daß die Aussage durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt wird. Die anderen Zeugen waren keine Augenzeugen des sexuellen Kerngeschehens und teilweise Zeugen vom Hörensagen. Auch objektive Beweismittel von Gewicht, mit denen die von der Geschädigten bekundeten sexuellen Handlungen bestätigt worden wären, standen nicht zur Verfügung.
Auf diesem Rechtsfehler beruht das angefochtene Urteil. Der Senat hat nicht selbst auf Freispruch erkannt (§ 354 Abs. 1 StPO), denn er kann nicht ausschließen, daß bei einer Zurückverweisung in einer erneuten Hauptverhandlung noch Tatsachen festgestellt werden könnten, die für eine Verurteilung tragfähig wären.
Schäfer Maul Nack Boetticher Kolz

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
______________________
StPO § 141 Abs. 3, MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d
1. Ist abzusehen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren
notwendig sein wird, so ist § 141 Abs. 3 StPO im Lichte des von Art. 6 Abs. 3
Buchst. d MRK garantierten Fragerechts dahin auszulegen, daß dem unverteidigten
Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten
ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger
zu bestellen ist, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser
Vernehmung ausgeschlossen ist.
2. Der Verteidiger muß regelmäßig Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit
dem Beschuldigten zu besprechen.
3. Das Unterlassen der Bestellung des Verteidigers mindert den Beweiswert des
Vernehmungsergebnisses. Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine
Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen
durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.
BGH, Urt. vom 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00 - LG Ravensburg

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 169/00
vom
25. Juli 2000
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Juli 2000,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Maul,
Nack,
Dr. Boetticher,
Dr. Kolz,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwälte ,
und Rechtsanwältin
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 16. Dezember 1999 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Sexualdelikten (u.a. Vergewaltigung ) zum Nachteil seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer auf den Verstoß gegen das faire Verfahren (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) gestützten Verfahrensrüge Erfolg.

I.


Zentral für die Überführung des die Tat bestreitenden Angeklagten ist die Aussage der Geschädigten vor dem Ermittlungsrichter. Dieser wurde als Zeuge gehört, nachdem die Geschädigte in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte.
Die Revision macht mit einer Verfahrensrüge geltend, die ermittlungsrichterliche Vernehmung leide an einem schwerwiegenden Mangel. Bei der Vernehmung der Geschädigten habe der Ermittlungsrichter den nicht in Freiheit befindlichen und noch nicht verteidigten Angeklagten nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen und zugleich nach § 168c Abs. 5 Satz 2 StPO angeordnet, daß eine Benachrichtigung von dem Vernehmungstermin zu unterbleiben habe. Eine Verteidigerbestellung vor der Vernehmung sei nicht erfolgt. Gleichwohl habe das Landgericht die Verurteilung entscheidend auf die Bekundungen der Geschädigten vor dem Ermittlungsrichter gestützt , wobei keine anderen wichtigen Beweismittel vorgelegen hätten. In dieser Vorgehensweise liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK in Verbindung mit § 141 Abs. 3 StPO. Die Revision bezieht sich insoweit auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24. November 1986 (EuGRZ 1987, 147 – Fall Unterpertinger).
Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Anfang November 1997, kurz nach der letzten Tat, flüchtete die Geschädigte zu ihrer Tante, der sie von dem sexuellen Mißbrauch berichtete. Die Tante erstattete am 7. November 1997 Strafanzeige. Gegen den Angeklagten wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Vergewaltigung in 304 Fällen eingeleitet. Noch am selben Tage wurde die Geschädigte polizeilich vernommen. Am 8. November 1997 wurde der Angeklagte vorläufig festgenommen und – nach Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO – polizeilich vernommen. Am 9. November 1997 erließ das Amtsgericht Haftbefehl. Dem Angeklagten wurde eine Vielzahl von Vergehen des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes und von Verbrechen der sexuellen Nötigung und der Vergewalti-
gung zur Last gelegt. Bei der am selben Tag erfolgten Anhörung durch den Haftrichter wurde der Angeklagte ”darüber belehrt, daß er, bevor er sich entschließe zum Vorwurf Stellung zu nehmen, einen Anwalt seiner Wahl zu Rate ziehen könne". Der Angeklagte äußerte sich dazu nicht. Zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen machte er keine Angaben.
Noch bevor der Angeklagte einen Verteidiger beauftragt hatte, stellte die Staatsanwaltschaft am 10. November 1997 beim Amtsgericht den Antrag, die Geschädigte richterlich zu vernehmen. Dabei sollte der Angeklagte nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit ausgeschlossen werden; auch eine Benachrichtigung sollte unterbleiben. Diesem Antrag folgte der Ermittlungsrichter und vernahm die Geschädigte am selben Tag. Die Geschädigte machte nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht Angaben, die den Angeklagten belasteten.
Am 17. November beauftragte der Angeklagte einen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung, der sich am Folgetag beim Amtsgericht legitimierte und um alsbaldige Akteneinsicht und vorab um die Einsichtnahme in die privilegierten Aktenteile nach § 147 Abs. 3 StPO bat. Mitte Dezember 1997 gab die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger Gelegenheit, das Protokoll der richterlichen Vernehmung der Geschädigten einzusehen. Vollständige Akteneinsicht erhielt der Verteidiger erst Anfang April 1998. Im Rahmen eines Haftbeschwerdeverfahrens wies der Verteidiger am 20. März 1998 darauf hin, daß es unklar sei, ob die Geschädigte in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen würde. Wenn dieser Fall eintreten würde, hätte der Angeklagte keine Möglichkeit zur Befragung der Zeugin gehabt, zumal ihm bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten kein Verteidiger bestellt worden sei.
Am 30. März 1998 wurden die Ehefrau des Angeklagten und die Schwester der Geschädigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Ermittlungsrichter vernommen. Auch von der Anwesenheit bei diesen Vernehmungen wurde der Angeklagte antragsgemäß ausgeschlossen. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft wurde jedoch der Verteidiger des Angeklagten von den Terminen benachrichtigt; er nahm an den Vernehmungen teil.
Vor Beginn der Hauptverhandlung teilten die Geschädigte, ihre Schwester sowie die Ehefrau des Angeklagten dem Gericht mit, sie würden von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Das Landgericht hat deshalb den Ermittlungsrichter als Zeugen gehört, der bekundete, was diese Zeugen des Angeklagten bei ihm ausgesagt hatten. Gegen den v or der Vernehmung des Ermittlungsrichters erhobenen Widerspruch des Verteidigers wurde die Aussage des Ermittlungsrichters verwertet.

II.


1. Nach Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (der im Wortlaut mit Art. 14 Abs. 3 Buchst. e IPbürgR übereinstimmt) hat der Angeklagte das Recht, ”Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen”.
Dieses Fragerecht hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in zahlreichen Entscheidungen konkretisiert: Urteile vom 24. November 1986 – 1/1985/87/134 – Unterpertinger gegen Österreich = EuGRZ 1987, 147; vom 6. Dezember 1988 – 24/1986/122/171-173 – Barberà gegen Spanien; vom 7. Juli 1989 – 19/1987/142/196 – Bricmont gegen Belgien; vom
20. November 1989 – 10/1988/154/208 – Kostovski gegen Niederlande = StV 1990, 481; vom 27. September 1990 – 25/1989/185/245 – Windisch gegen Österreich = StV 1991, 193; vom 19. Dezember 1990 – 26/1989/186/246 – Delta gegen Frankreich; vom 19. Februar 1991 – 1/1990/192/252 – Isgrò gegen Italien; vom 19. März 1991 – 24/1990/215/277 – Cardot gegen Frankreich = EuGRZ 1992, 437; vom 26. April 1991 – 30/1990/221/283 – Asch gegen Österreich = EuGRZ 1992, 474; vom 28. August 1992 – 39/1991/291/362 – Artner gegen Österreich = EuGRZ 1992, 476; vom 20. September 1993 – 33/1992/378/452 – Saïdi gegen Frankreich; vom 26. März 1996 – 54/1994/501/583 – Doorson gegen Niederlande und vom 7. August 1996 – 48/1995/554/640 – Ferrantelli and Santangelo gegen Italien. Danach gilt:

a) Die Garantie des Fragerechts ist eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens – ”specific aspect of the general concept of fair trial – (Fälle Unterpertinger Nr. 29; Barberà Nr. 67; Kostovski Nr. 39; Windisch Nr. 23; Asch Nr. 25; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Dabei wird das Fragerecht auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Recht der Verteidigung insgesamt verstanden (BGH StV 1996, 471).

b) Die Ausgestaltung des Fragerechts ist primär dem nationalen Recht überlassen (Fälle Kostovski Nr. 39; Windisch Nr. 25; Asch Nr. 26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; siehe auch BGHSt 45, 321 und Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. Art. 6 MRK Rdn. 216). Das gesamte Beweisverfahren muß allerdings im Lichte des durch die Konvention garantierten Fragerechts gesehen werden: ”the whole matter of the taking and presentation of evidence must be looked at in the light of paragraphs ... 3 of Article 6 of the convention” (Fall Barberà Nr. 76).
Die Vertragsstaaten müssen daher das Fragerecht entsprechend ausgestalten : ”Paragraph 1 of Article 6 taken together with paragraph 3, also requires the Contracting States to take positive steps, in particular ... to enable him [the accused] to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him" (Fall Barberà Nr. 78).

c) Für die Frage eines Konventionsverstoßes kommt es nach ständiger Rechtsprechung des EGMR darauf an, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung fair gewesen ist: ”The Court’s task is to ascertain whether the proceedings considered as a whole, including the way in which evidence was taken, were fair” (Fälle Barberà Nr. 89; Windisch Nr. 25; Asch Nr. 26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; ebenso Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 216). Insoweit sind maßgebliche Kriterien:
aa) Die Beweisgewinnung muß grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung erfolgen: ”The Court infers, as the Commission did, that all the evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument” (Fälle Barberà Nr. 78; Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Der Angeklagte muß grundsätzlich Zeugen befragen können: ”... the hearing of witnesses must in general be adversarial” (Fall Barberà Nr. 78).
bb) Das bedeutet allerdings nicht, daß die Zeugenaussage stets vor Gericht und öffentlich gemacht werden muß; auch kann aus Art. 6 Abs. 3
Buchst. d MRK kein Recht abgleitet werden, bei der Zeugenvernehmung im Vorverfahren anwesend zu sein (Vogler, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Art. 6 Rdn. 551). Die Verwertung von Aussagen, die im Vorverfahren gemacht wurden, ist als solche nicht konventionswidrig (Fälle Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Asch Nr. 27; siehe dazu auch Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar 2. Aufl. Art. 6 Rdn. 200). Das polizeiliche Vernehmungsprotokoll darf als Surrogat verlesen werden (Fälle Unterpertinger Nr. 31; Asch Nr. 25), und auch die Vernehmungspersonen dürfen als Zeugen vom Hörensagen vernommen werden (Fälle Kostovski Nr. 42; Asch Nr. 25).
Bei bestimmten Konstellationen darf auf eine Konfrontation des Zeugen mit dem Angeklagten verzichtet werden, etwa aus Gründen des Zeugenschutzes (Fälle Unterpertinger Nr. 30; Doorson Nr. 70), oder wenn zu befürchten ist, daß der Zeuge in Gegenwart des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde (Vogler aaO Rdn. 552). Eine Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen ist daher nicht in jedem Fall zwingend geboten, um die Aussage verwertbar zu machen (Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 225; vgl. auch Fälle Bricmont Nrn. 79, 86; Ferrantelli u.a. Nr. 52).
cc) Allerdings muß die Justiz eine solche Einschränkung des Fragerechts durch andere Maßnahmen kompensieren: ” ... principles of fair trial also require that in appropriate cases the interests of the defence are balanced against those of witnesses or victims called upon to testify.... Nevertheless, no violation of Article 6 para. 1 taken together with Article 6 para. 3 (d) of the Convention can be found if it is established that the handicaps under which the defence laboured were sufficiently counterbalanced by the procedures followed
by the judicial authorities" (Fall Doorson Nrn. 70, 72; vgl. auch Fall Kostovski Nr. 43).
Dem Angeklagten muß regelmäßig – entweder zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium – eine angemessene und geeignete Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen entweder selbst zu befragen oder befragen zu lassen: ”As a rule, these rights require that an accused should be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him, either at the time the witness was making his statement or at some later stage of the proceedings” (Fall Kostovski Nr. 41; siehe auch die Fälle Unterpertinger Nr. 31; Barberà Nr. 86; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36; Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Gollwitzer (aaO Art. 6 MRK Rdn. 227) interpretiert dies zutreffend dahin, daß dem auch nachträglich, etwa durch eine nochmalige Vernehmung des Zeugen, Rechnung getragen werden kann. Dabei reicht es nicht aus, nur die Vernehmungsperson befragen zu können, denn Zeuge im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK ist die originäre Auskunftsperson (Fälle Kostovski Nr. 40; Asch Nr. 25; ebenso BGH StV 1996, 471; BGH NStZ 1993, 292; Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 214, 223).
Unter Umständen kann die Einschränkung des Fragerechts seitens des Angeklagten dadurch kompensiert werden, daß wenigstens der Verteidiger bei der Zeugenvernehmung anwesend ist und den Zeugen befragen kann (Fall Doorson Nrn. 68, 73: anonymer Zeuge; Vogler aaO Art. 6 Rdn. 552).
dd) Für die Frage eines Konventionsverstoßes ist es auch bedeutsam, ob der Angeklagte auf die Befragung des Zeugen rechtzeitig beantragt hat (vgl.
einerseits die Fälle Windisch Nr. 37; Delta Nr. 37: ausdrücklicher Antrag und andererseits die Fälle Cardot Nr. 35; Asch Nr. 29: keinen Antrag gestellt; siehe auch Vogler aaO Art. 6 Rdn. 551), und ob die Ablehnung der Befragung begründet wurde (Fall Bricmont Nr. 89).

d) Eine ähnliche Fallgestaltung wie die vorliegende – Rückgriff auf frühere Bekundungen eines Zeugen, der in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht – liegt den österreichischen Fällen Unterpertinger und Asch zugrunde.
aa) Alois Unterpertinger wurde vom Landesgericht Innsbruck wegen zwei Fällen der Körperverletzung verurteilt. Im ersten Fall hatte er seiner Stieftochter im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten (seine Frau hatte ihn einen ”Zuchthäusler” genannt) eine Kratzwunde am Auge zugefügt. Im zweiten Fall hatte er seiner Ehefrau einen Fußtritt gegen die Hand versetzt und ihr dabei den Daumen gebrochen. Zu dem ersten Vorfall vernahm das Gendarmeriepostenkommando Wörgl die Ehefrau als Verdächtige und die Stieftochter als Beteiligte. Wegen des zweiten Vorfalls erstattete die Ehefrau Anzeige beim Gendarmeriepostenkommando Wörgl. Das Bezirksgericht in Kufstein leitete Vorerhebungen wegen der beiden Vorfälle ein. Die Ehefrau wurde vor dem Untersuchungsrichter als Zeugin vernommen und bestätigte – nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht – ihre bisherigen Angaben.
In der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck machten die Ehefrau und die Stieftochter von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Aufgrund der Zeugnisverweigerung durfte nach § 252 Abs. 1 der Österreichi-
schen Strafprozeßordnung das Protokoll über die Vernehmung der Ehefrau vor dem Untersuchungsrichter nicht verlesen werden. Nach Österreichischem Recht (OGH ÖJZ 1975, 304) mußten jedoch auf Antrag der Staatsanwaltschaft Schriftstücke anderer Art (§ 252 Abs. 2 StPO), insbesondere die Aussagen der Zeuginnen vor der Gendarmerie, zu Beweiszwecken verlesen werden. Das Oberlandesgericht Innsbruck verwarf die Berufung des Angeklagten. Bei der Wiederholung und Ergänzung der Beweisaufnahme konnte die als Entlastungszeugin gehörte Schwägerin des Angeklagten nichts relevantes bekunden ; weitere Zeugen wurden nicht gehört, da sie nur zu unwesentlichen Nebenumständen benannt worden waren.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise kein faires Verfahren und entschied , daß durch diese Vorgehensweise Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK verletzt worden seien. Durch die Zeugnisverweigerung vor Gericht hätten die Zeuginnen den Angeklagten daran gehindert, ihnen Fragen zu den vor der Gendarmerie gemachten Bekundungen zu stellen oder stellen zu lassen. Zwar habe er Erklärungen dazu abgeben können, aber das Berufungsgericht sei seinen Beweisanträgen zur Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen nicht nachgegangen. Auch wenn die Bekundungen der Zeuginnen nicht die einzigen Beweismittel gewesen seien, so habe das Berufungsgericht doch sein Urteil entscheidend auf deren Angaben gestützt. In bezug auf diese Aussagen seien seine Verteidigungsrechte verletzt worden, weil er in keinem Stadium des vorausgegangenen Verfahrens die Möglichkeit gehabt habe, Fragen an die Belastungszeuginnen zu stellen.
bb) Johann Asch wurde vom Kreisgericht St. Pölten wegen Nötigung und Körperverletzung verurteilt. Er hatte seine Lebensgefährtin mit einem Gürtel
geschlagen. Am nächsten Tag schickte der Arzt die Geschädigte in ein Krankenhaus ; die Ä rzte attestierten ihre Verletzungen. Danach zeigte die Lebensgefährtin den Angeklagten bei der Gendarmerie Brand-Laaben an. Über ihre Bekundungen wurde ein Protokoll aufgenommen. Wenige Tage später erschien die Lebensgefährtin bei der Gendarmerie und wollte ihre Anzeige zurückziehen. Am selben Tag wurde der Angeklagte bei der Gendarmerie angehört.
In der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht machte die Lebensgefährtin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Das Kreisgericht hörte daraufhin den Vernehmungsbeamten der Gendarmerie, der über die ihm gegenüber gemachten Angaben der Lebensgefährtin und von den ihm dabei gezeigten Verletzungen berichtete. Auch verlas es das Vernehmungsprotokoll. Das Kreisgericht stützte sich bei seiner Überzeugung unter anderem auf die Angaben des Vernehmungsbeamten und die ärztlichen Atteste. Das Oberlandesgericht Wien verwarf die Berufung des Angeklagten. Es hielt die Angaben der Lebensgefährtin vor der Gendarmerie nach § 252 StPO für verwertbar. Den Antrag des Angeklagten auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens lehnte das Oberlandesgericht ab.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise keine Verletzung des fairen Verfahrens. Es wäre sicherlich vorzuziehen gewesen, wenn die persönliche Anhörung der Zeugin möglich gewesen wäre. Aber das Recht, auf das sie sich zur Zeugnisverweigerung berief, könne nicht dazu dienen, die Strafverfolgung lahmzulegen. Wenn nur die Rechte der Verteidigung beachtet würden, habe das nationale Gericht die Aussage der Zeugin verwerten können, insbesondere im Hinblick darauf, daß die Aussage durch weitere Beweismittel, namentlich die
ärztlichen Atteste, gestützt wurde. Zudem habe der Angeklagte sowohl bei der Gendarmerie als auch vor Gericht Gelegenheit gehabt, zu den Angaben der Zeugin Stellung zu nehmen; dabei habe er widersprüchliche Angaben gemacht , die seine eigene Glaubwürdigkeit erschütterten. Außerdem habe der Angeklagte weder den Vernehmungsbeamten befragt, noch andere Zeugen benannt. Ein medizinisches Sachverständigengutachten habe er erst in der Berufungsinstanz beantragt, zu einem Zeitpunkt, als Verletzungsspuren nicht mehr feststellbar waren. Vor allem aber sei klar, daß die Angaben der Zeugin vor der Gendarmerie nicht das einzige Beweismittel gewesen seien, auf das sich das Kreisgericht gestützt habe. Das Gericht habe neben anderen Beweismitteln auch den persönlichen Eindruck des Vernehmungsbeamten und die ärztlichen Atteste berücksichtigt. Insofern unterscheide sich der vorliegende Fall von den Fällen Unterpertinger und Delta.
2. Diese Auslegung der MRK durch den EGMR ist bei der Anwendung des deutschen Strafprozeßrechts zu berücksichtigen. Der Senat hat dazu im Urteil vom 18. November 1999 (Tatprovokation, Umsetzung der Entscheidung Teixeira = NJW 2000, 1123, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 321) ausgeführt:
”Es entspricht den Grundregeln des Verfahrens vor dem EGMR, daß sich seine Entscheidung darauf beschränkt zu erklären, daß das Gerichtsurteil einer Vertragspartei der MRK in Widerspruch mit den Verpflichtungen aus dieser Konvention steht. Gestatten die innerstaatlichen Gesetze der Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Entscheidung , so hat der EGMR nach Art. 50 MRK (aufgrund der am 1. November 1998 in Kraft getretenen Ä nderung der Konvention durch das Protokoll Nr. 11 [BGBl.
II 1995 S. 578] nunmehr Art. 41 MRK) der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zuzubilligen. Dem EGMR obliegt es somit nicht, nationale Regeln für die Zulässigkeit von Beweismitteln aufzustellen. Der Gerichtshof betont dementsprechend, die Zulässigkeit von Beweismitteln werde in erster Linie durch die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts geregelt und es sei grundsätzlich Sache der nationalen Gerichte, die von ihnen zusammengetragenen Beweise zu würdigen. Die Aufgabe des Gerichtshofs bestehe darin festzustellen , ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Darstellung der Beweismittel fair gewesen sei.
Die MRK, die nach Art. II des Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1952 Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist und dabei im Rang eines (einfachen ) Bundesgesetzes steht (BVerfGE 74, 358, 370), ist als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei den in einem Strafverfahren angewendeten Gesetzen stets zu prüfen, ob die Anwendung und Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland steht, 'denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will’ (BVerfGE aaO; vgl. Ulsamer, FS Zeidler [1987] 1799, 1800).”

III.


Die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozeßrechts – hier § 141 Abs. 3 StPO – führt dazu, daß in Fällen der vorliegenden Art dem
Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des wichtigen Belastungszeugen ein Verteidiger bestellt werden muß.
1. Das Gesetz schreibt, wie § 141 Abs. 3 Satz 1 StPO zeigt, auch in Fällen, in denen später im gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird, für das Vorverfahren nicht ausnahmslos die Bestellung eines Verteidigers vor. Nach § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO ”beantragt” die Staatsanwaltschaft jedoch schon während des Vorverfahrens die Bestellung eines Verteidigers, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird.

a) In der traditionellen Sprache des Gesetzes (vgl. auch § 201 Abs. 1 StPO: ”Der Vorsitzende des Gerichts teilt die Anklageschrift dem Angeschuldigten mit” und § 349 Abs. 3 Satz 1 StPO) bedeutet dies, daß die Staatsanwaltschaft den Antrag stellen muß, sobald die Mitwirkung des Verteidigers notwendig sein wird (ähnlich Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 141 Rdn. 5; Pfeiffer, StPO 2. Aufl. § 141 Rdn. 2). ”Notwendig sein wird” heißt, daß die Pflicht zur Antragstellung schon dann entsteht, wenn abzusehen ist, daß die Mitwirkung notwendig werden wird (Laufhütte in KK 4. Aufl. § 141 Rdn. 3). Das zeigt auch die Entstehungsgeschichte des § 141 Abs. 3 StPO zur Verteidigerbestellung im Vorverfahren. Das StPÄ G 1964 fügte an den damals bestehenden Satz, daß der Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden kann (heutiger Satz 1 des Abs. 3), die Sätze an: ”Nach dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169a Abs. 1) ist er auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag stellen, falls die
Gewährung des Schlußgehörs in Betracht kommt und nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 notwendig sein wird.” Seine heutige Fassung erhielt § 141 Abs. 3 StPO durch das 1. StVRG vom 9. Dezember 1974. Die Erweiterung der Verteidigerbestellung und die immer strengeren Formulierungen der Anweisung an die Staatsanwaltschaft (von einer Kann- zu einer Soll-Bestimmung und schließlich zu den Worten ”beantragt dies”) machen deutlich, daß der Gesetzgeber die Mitwirkung des Verteidigers im Vorverfahren stärker ausbauen wollte und deshalb eine Antragspflicht gesetzlich vorgeschrieben hat. Zwar bestimmt § 117 Abs. 4 Satz 1 StPO, daß dem unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger für die Dauer der Untersuchungshaft bestellt wird, wenn deren Vollzug mindestens drei Monate gedauert hat und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter es beantragt. Daraus kann indes nicht der Schluß gezogen werden, daß die Staatsanwaltschaft mit der Antragstellung stets drei Monate zuwarten darf. Diese Regelung stellt angesichts der Gesetzesentwicklung zu § 141 Abs. 3 StPO nur eine Mindestgarantie dar (vgl. Rundverfügung des Hessischen Generalstaatsanwalts vom 11. Januar 1994 zur Pflichtverteidigung nach einem Monat U-Haft, abgedruckt in StV 1994, 223).

b) Ob es bei prognostizierter notwendiger Verteidigung überhaupt Fälle geben kann, in denen davon abgesehen werden darf, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen, kann hier dahinstehen.
aa) Jedenfalls dann, wenn die ermittlungsrichterliche Vernehmung eines wichtigen Belastungszeugen ansteht, bei der der Beschuldigte kein Anwesen-
heitsrecht hat, wird in der Regel geboten sein zu prüfen, ob dem nicht verteidigten Beschuldigten zuvor ein Verteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO zu bestellen ist, der die Rechte des Beschuldigten bei der Vernehmung wahrnimmt (Wache in KK 4. Aufl. § 168c Rdn. 8; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 168c Rdn. 4; vgl. auch Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 168c Rdn. 9). Diese Prüfung obliegt nach § 141 Abs. 3 StPO in erster Linie der Staatsanwaltschaft. Dies entbindet den Ermittlungsrichter indes nicht von der Verantwortung, für ein konventionsgerechtes Verfahren mit Sorge zu tragen.
bb) Wird darüber hinaus der zentrale zeugnisverweigerungsberechtigte Belastungszeuge unter Ausschluß des Beschuldigten aus Gründen der Beweissicherung ermittlungsrichterlich vernommen, so reduziert sich das Ermessen bei der Frage der Bestellung eines Verteidigers auf Null. Anderes mag dann gelten, wenn die durch die Zuziehung eines Verteidigers bedingte zeitliche Verzögerung den Untersuchungserfolg gefährden würde. Nur diese Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO ist mit der Vorgabe der MRK vereinbar. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß das von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierte Fragerecht auch im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht gewährleistet werden kann.
2. Hier durfte der Angeklagte zwar von der Anwesenheit bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten ausgeschlossen werden und auch seine Benachrichtigung konnte unterbleiben (§ 168c StPO). Sowohl der Ermittlungsrichter als auch das erkennende Gericht haben die Gefährdung des Untersuchungserfolgs geprüft und bejaht. Die revisionsgerichtliche Prüfung (vgl. dazu BGHSt 29, 1) läßt Rechtsfehler nicht erkennen, insbesondere liegt
keine Überschreitung der dem tatrichterlichen Ermessen gesetzten Schranken vor. Daß so verfahren werden kann, entspricht auch der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 MRK (siehe oben). Ein Verteidiger konnte nicht benachrichtigt werden, denn der Angeklagte war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verteidigt.
3. Dieses gesetzlich zulässige ”handicap” bei der Einschränkung des Fragerechts hätte die Justiz dann aber durch die Bestellung eines Verteidigers für den unverteidigten Angeklagten ausgleichen müssen.
Bei der im Hinblick auf das faire Verfahren vorzunehmenden Gesamtbetrachtung ist auch das Vorverfahren – und damit das Handeln der Staatsanwaltschaft – in den Blick zu nehmen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6 MRK: ”dem Staat zuzurechnenden Verfahrensgestaltung”). In Fällen der vorliegenden Art muß die Justiz von sich aus aktiv werden mit dem Ziel, daß die Verteidigung (zum Begriff siehe BGH StV 1996, 471) Gelegenheit hat, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen (”requires the Contracting States to take positive steps”: EGMR Fall Barberà Nr. 78).
Das Fragerecht wäre gewährleistet gewesen, wenn ein Verteidiger bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung anwesend gewesen wäre. Da der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt keinen Verteidiger hatte, wäre die Staatsanwaltschaft verpflichtet gewesen, vor der Vernehmung der Zeugin die Bestellung eines Verteidigers zu beantragen (§ 141 Abs. 3 Satz 2 StPO).
Hier war im Zeitpunkt der richterlichen Vernehmung bereits abzusehen, daß im gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO vorliegen würden. Dem Angeklagten wurden bei der Einleitung des Ermitt-
lungsverfahrens zahlreiche Sexualverbrechen (§ 140 Abs. 1 Nr. 2) zur Last gelegt. Die polizeiliche Vernehmung der Geschädigten hatte einen hohen Beweiswert. Zu Recht hat deshalb der Haftrichter einen dringenden Tatverdacht bejaht. Damit war aber auch schon zu diesem Zeitpunkt abzusehen, daß in dem hochwahrscheinlich zu erwartenden gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung vorliegen würden.
Eine Verletzung des Fragerechts war hier zu besorgen, nachdem der Angeklagte – auf Antrag der Staatsanwaltschaft – nicht benachrichtigt und von der Anwesenheit ausgeschlossen wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte den Antrag gestellt, die Zeugin ”möglichst bald” richterlich zu vernehmen, da befürchtet werden müsse, der Angeklagte werde ”alles unternehmen, möglicherweise auch durch Dritte, um seine Tochter von der Aussage abzuhalten”. Das weist aus, daß die ermittlungsrichterliche Vernehmung insbesondere dem legitimen (vgl. Nr. 10, 19a, 221, 222 RiStBV) Zweck der Beweissicherung – Rückgriff auf den Vernehmungsrichter – für den Fall einer späteren Zeugnisverweigerung dienen sollte. Wenn aber dieser auch von der Staatsanwaltschaft für naheliegend gehaltene Fall eintreten würde, dann war abzusehen, daß das Fragerecht nicht zu gewährleisten war.
4. Die im Hinblick auf die Garantie des Fragerechts Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK vorzunehmende Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO führt daher dazu, daß die Staatsanwaltschaft verpflichtet war, die Bestellung eines Verteidigers nach dieser Vorschrift (also nicht nur für die einzelne Ermittlungshandlung ) noch vor der Zeugenvernehmung zu beantragen. Hier sind keine Umstände erkennbar, die es gerechtfertigt hätten, daß auch die Benachrichtigung des bestellten Verteidigers unterbleiben konnte (die Entscheidung BGHSt 29, 1
betrifft einen anderen Fall: ein bereits tätiger Verteidiger wurde aus Gründen, die in seiner Person lagen, nicht benachrichtigt).

a) Angemessen und geeignet ist dieser Ausgleich grundsätzlich aber nur, wenn der Verteidiger zu einer sachgerechten Mitwirkung an der Vernehmung auch in der Lage war.
In Fällen der vorliegenden Art läßt sich die Zuverlässigkeit der Belastungsaussage des einzigen Tatzeugen in der Regel nur dann beurteilen – insbesondere kann nur so die Hypothese einer bewußten Falschbeschuldigung ausgeschlossen werden –, wenn der Inhalt der Aussage einer Analyse unterzogen werden kann (sog. Aussageanalyse, grundlegend dazu BGHSt 45, 164). Zentral dafür ist die Detailliertheit der Aussage. Eine Aussage kann mittels der Aussageanalyse nur dann als glaubhaft beurteilt werden, wenn sie signifikante Realitätskriterien aufweist. In bezug auf das Fragerecht muß dabei den Detailkriterien besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, namentlich den Realkennzeichen , die eine Verflechtung mit objektivierbaren zeitlichen und örtlichen Umständen belegen.
Deshalb muß der Verteidiger – soll das Fragerecht nicht beeinträchtigt sein – regelmäßíg Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu besprechen, weil er nur so in der Lage ist, sachkundige Fragen, insbesondere Kontrollfragen, wie Situationsfragen (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2. Aufl. Band II Rdn. 610) zu stellen. Solche Fragen – nicht notwendig zum engen Kern des Tatvorwurfs –, mit denen insbesondere die zeitliche und räumliche Verflechtung der Aussagedetails überprüft
wird, können regelmäßig nur mit einem entsprechenden Hintergrundwissen gestellt werden.

b) Auch wenn der Verteidiger die Möglichkeit der Rücksprache mit dem Beschuldigten hatte, können ergänzende Fragen an den Zeugen erforderlich sein, deren Notwendigkeit sich erst ergibt, nachdem der Beschuldigte vom Inhalt der Zeugenaussage Kenntnis erlangt hat. Hier kann eine durch die Abwesenheit des Beschuldigten bedingte Beeinträchtigung des Fragerechts dadurch ausgeglichen werden, daß die Verteidigung Gelegenheit erhält, auch nachträglich Fragen an den Zeugen zu stellen oder stellen zu lassen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 227). Die nachträgliche Befragung kann auch durch Vorlage eines schriftlichen Fragenkatalogs erfolgen, zumal auf diese Weise weitgehend ausgeschlossen werden kann, daß der Untersuchungszweck gefährdet wird. Da in Fällen der vorliegenden Art der Zeuge nicht anonym ist, kommen die Bedenken des EGMR (vgl. die Fälle Kostovski Nr. 42; Windisch Nr. 28 einerseits und den Fall Isgrò Nr. 35 andererseits) zur schriftlichen Befragung des anonymen Zeugen nicht zum Tragen.

c) Der Senat hat hier nicht über den – möglicherweise anders zu beurteilenden – Fall zu entscheiden, daß durch ein Zusammenwirken des Verteidigers mit dem Beschuldigten (vgl. BGHSt 29, 1) oder auch nur allein als Folge der Konsultation der Untersuchungszweck gefährdet sein könnte. Hier könnte allerdings wenigstens eine nachträgliche (schriftliche) Befragung angezeigt sein.

d) In künftigen Fällen kann auch eine Vernehmung mittels Videokonferenz nach § 168e StPO eine angemessene und geeignete, und oft sogar die beste Möglichkeit sein, um das Fragerecht zu gewährleisten.

IV.


Das Unterlassen der rechtzeitigen Bestellung eines Verteidigers hat das Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung beeinträchtigt. Dieses Versäumnis mindert den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses , das durch den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter zur Grundlage der Urteilsfindung wurde. Damit wirkte der im Vorverfahren begangene Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung fort; das unterliegt der revisionsgerichtlichen Prüfung (§ 337 StPO; vgl. BGHR StPO § 349 Abs. 1 Unzulässigkeit

1).


1. Der Senat hält eine Beweiswürdigungs-Lösung für sachgerechter als ein Verwertungsverbot für den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter. Bei der Beweiswürdigungs-Lösung darf zwar auf den Vernehmungsrichter zurückgegriffen werden, allerdings sind dann – ähnlich wie beim anonymen Zeugen (grundlegend BGHSt 17, 382; vgl. zuletzt BGH NStZ 1998, 97; StV 1999, 7; NStZ 2000, 265; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 27; siehe auch BVerfG – Kammer – NJW 1997, 999 sowie BGHSt 45, 321: konventionswidrige Tatprovokation) – besonders strenge Beweis- und Begründungsanforderungen aufzustellen.

a) Auch das grundsätzlich bestehende Verwertungsverbot des § 252 StPO (vgl. BGH NJW 2000, 596, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt
45, 203 und BGH NJW 2000, 1247, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 342) gilt nicht uneingeschränkt.
Zwar kann der Rückgriff auf den Vernehmungsrichter ausgeschlossen sein, wenn gegen die Benachrichtigungspflicht der §§ 168c, 224 StPO verstoßen wurde (BGHSt 9, 24; 29, 1; 26, 332; 29, 131, 140; 42, 86; 42, 391; BGH NStZ 1987, 132; 1989, 282).
In seiner neueren Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten aber mehr auf die Beeinträchtigung des Beweiswerts abgestellt und deshalb eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung bevorzugt, indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll nach § 252 Abs. 2 Satz 2 StPO mit geringerem Beweiswert ”herabgestuft” wird (BGHSt 34, 231, 234, 235; BGH StV 1992, 232; BGH NStZ 1998, 312).
Auch hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 29, 1; 42, 391) bei einem berechtigten Ausschluß von der Anwesenheit oder einer berechtigten Nichtbenachrichtigung kein Verwertungsverbot aufgrund fehlender Beteiligungsrechte angenommen.

b) Für die konventionskonforme Auslegung des deutschen Strafprozeßrechts ist eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens vorzunehmen. Dazu gehört, daß das gesamte Beweisverfahren im Lichte des Fragerechts gesehen werden muß (vgl. Fall Barberà Nr. 76). Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es dabei zudem auch auf die Art und Weise der Beweiserhebung an. Unter diesem Gesichtspunkt stellt der EGMR zwar in erster Linie auf das Beweisverfah-
ren und weniger auf die Beweiswürdigung selbst ab. Jedoch findet im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch die Beweiswürdigung Berücksichtigung, wie gerade die Differenzierung des EGMR in den Fällen Unterpertinger und Asch zeigt. Da die Gesamtbetrachtung vom jeweiligen Einzelfall abhängt, liegt es nahe, eine dem konkreten Fall gerecht werdende Lösung zu finden. Das ist mit der Beweiswürdigungs-Lösung am besten zu erreichen; sie hält der Senat deshalb für vorzugswürdig.
Bei der Beweiswürdigungs-Lösung ist zwar zu bedenken, daß auf ein Vernehmungsergebnis zurückgegriffen wird, an dessen Zustandekommen die Verteidigung unter Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs nicht mitwirken konnte. Aber insofern ist die Verteidigung in einer ähnlichen Lage wie bei dem ”im Dunkel bleibenden” (BGHSt 17, 382, 386) anonymen Zeugen. Dort ist die Beeinträchtigung des Fragerechts häufig sogar noch stärker, weil nicht einmal die Person des Zeugen bekannt ist und weil auf bestimmte Fragen oft keine Antwort gegeben wird. Wenn daher die Beweiswürdigungs-Lösung beim anonymen Zeugen ein konventionsgemäßer Ausgleich ist, muß dies auch für die vorliegende Fallgestaltung gelten.
Auf die Vergleichbarkeit der Problematik des Fragerechts hat der Bundesgerichtshof bereits in BGHSt 17, 382, 385 f. hingewiesen: ”Einem anonymen Gewährsmann gegenüber versagen jedoch nicht nur die Rechte aus den §§ 240, 257 StPO – insoweit ist die Lage nicht wesentlich anders, als wenn der Wissensträger zwar bekannt ist, in der Hauptverhandlung aber nicht vernommen werden kann –...”.
Die Verneinung eines Verwertungsverbots erweist sich auch systemkonform mit der Strafzumessungs-Lösung bei einem Konventionsverstoß aufgrund einer unzulässigen Tatprovokation (BGHSt 45, 321).
2. Daß das Vernehmungsergebnis infolge unterbliebener Verteidigerbestellung fehlerhaft zustande gekommen ist, muß daher bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung besondere Beachtung finden. Diese muß vor allem zwei Anforderungen genügen:

a) Zunächst ist zu beachten, daß der originäre Zeuge in der Hauptverhandlung nicht zur Verfügung steht. Dazu gilt, was der Bundesgerichtshof schon 1962 (BGHSt 17, 382, 385) ausgeführt hat: ”Bei einem Zeugen vom Hörensagen besteht zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht. Je größer die Zahl der Zwischenglieder, desto geringer ist der Beweiswert der Aussage. Schon dieser Gesichtspunkt mahnt zur Vorsicht”.
Hier ist zwar der unmittelbar gehörte Zeuge ein Ermittlungsrichter, dessen Vernehmungsergebnis grundsätzlich, auch wegen der in § 168c Abs. 2 bestimmten Beteiligungsrechte, eine gewichtige Beweiskraft zukommt (vgl. BGHSt 45, 342; BGH NStZ 1998, 312). Die Verteidigung hatte aber keine Möglichkeit zur Befragung des originären Zeugen. Insofern muß der Tatrichter zusätzlich beachten, daß die Glaubwürdigkeitsbeurteilung mit dem Instrumentarium der Aussageanalyse begrenzt ist, weil die Aussage durch das Fehlen eines kontradiktorischen Verhörs (§ 69 Abs. 2 StPO) nur beschränkt aufgeklärt und vervollständigt werden kann.

b) Deshalb gilt auch hier wie beim gesperrten Zeugen (BGHSt 17, 382, 386): Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.

c) Daß eine – sorgfältigste (BGHSt 17, 382, 386) – Überprüfung der von dem Vernehmungsrichter wiedergegebenen Aussage nach diesen Maßstäben erfolgt ist, muß der Tatrichter in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise im Urteil deutlich machen.
3. Diesen – bislang allerdings vom Bundesgerichtshof noch nicht aufgestellten besonderen Beweiswürdigungs- und Begründungsanforderungen – genügt das angefochtene Urteil nicht. Insbesondere liegen keine anderen wichtigen Gesichtspunkte außerhalb der Aussage vor, die das eigentliche Tatgeschehen bestätigen.
Das Landgericht hat eine Beweiswürdigung vorgenommen, die ersichtlich davon ausging – und insoweit auch rechtsfehlerfrei ist –, den Beweiswürdigungs - und Begründungsanforderungen bei Fällen von ”Aussage gegen Aussage” zu genügen. Es hat seine Überzeugung ganz entscheidend auf die Angaben der Geschädigten beim Ermittlungsrichter gestützt. Dabei hat es auch eine fachkundige Analyse des Inhalts der dort getätigten Aussage vorgenommen und insbesondere auf Detailkriterien abgestellt.
Schon hierbei wäre allerdings zu bedenken gewesen, daß gerade das Gewicht der ”Einbettung in den Gesamtlebenssachverhalt” und der Schilderung ”von Details und Begleiterscheinungen” durch das Fehlen eines kontradiktori-
schen Verhörs beschränkt war. Daß weitere Beweismittel die ”Kammer in ihrer Überzeugungsbildung stützen und diese abrunden”, reicht im Hinblick auf das fehlerhaft zustande gekommene ermittlungsrichterliche Vernehmungsergebnis nicht aus, um der vom Senat daraus abgeleiteten Anforderung zu genügen, daß die Aussage durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt wird. Die anderen Zeugen waren keine Augenzeugen des sexuellen Kerngeschehens und teilweise Zeugen vom Hörensagen. Auch objektive Beweismittel von Gewicht, mit denen die von der Geschädigten bekundeten sexuellen Handlungen bestätigt worden wären, standen nicht zur Verfügung.
Auf diesem Rechtsfehler beruht das angefochtene Urteil. Der Senat hat nicht selbst auf Freispruch erkannt (§ 354 Abs. 1 StPO), denn er kann nicht ausschließen, daß bei einer Zurückverweisung in einer erneuten Hauptverhandlung noch Tatsachen festgestellt werden könnten, die für eine Verurteilung tragfähig wären.
Schäfer Maul Nack Boetticher Kolz

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : nein
Veröffentlichung : ja
GG Art. 1; Art. 20 Abs. 3; MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1;
BerlLBG § 27 Abs. 3
Zur Abwägung der im Widerstreit stehenden verfassungsrechtlichen
Rechtsgüter bei der Beschränkung des Rechts auf umfassende
Verteidigung aufgrund beamtenrechtlicher Vorschriften.
BGH, Beschluss vom 5. Juni 2007 – 5 StR 383/06
LG Berlin –

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 5. Juni 2007
in der Strafsache
gegen
1.
2.
3.
wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in
nicht geringer Menge u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. Juni 2007

beschlossen:
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. Januar 2006 werden nach § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten der Revisionen der Staatsanwaltschaft und die den Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen. Jeder Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat das Verfahren gegen die Angeklagten wegen eines Verfahrenshindernisses durch Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft, die – vertreten vom Generalbundesanwalt – die Aufhebung des Einstellungsurteils und Fortführung des Verfahrens erstrebt, sowie der Angeklagten, die ihre Freisprechung erreichen wollen, sind unzulässig.

I.


2
Mit unverändert zur Hauptverhandlung zugelassener Anklage wurde den Angeklagten eine größere Zahl von Straftaten zur Last gelegt, die sie im Zeitraum von Juni 2001 bis zum 30. Juli 2004 im Zusammenhang mit ihrer bis Sommer 2003 andauernden Tätigkeit als Polizeibeamte bei der Berliner Polizei im Bereich der Fahndung, Aufklärung und Observation, insbesondere im Umgang mit Informanten bzw. bei der Führung von Vertrauenspersonen, begangen haben sollen.
3
Im Einzelnen handelt es sich um Tatvorwürfe der Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einer Vielzahl von Fällen (alle Angeklagte), der versuchten Strafvereitelung im Amt (Angeklagter N. ), der Vorteilsannahme und der uneidlichen Falschaussage (Angeklagte N. und H. ) sowie des Meineides und der Anstiftung zur Fälschung beweiserheblicher Daten (Angeklagter H.

).


II.


4
Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Angeklagte N. seit September 1999 in der Direktion 5 (FAO) der Berliner Polizei als Teamführer im Bereich der Führung von Vertrauenspersonen und Informanten eingesetzt. Seine Aufgabenstellung war die „Strukturerhellung“ von ethnischen Gruppen, insbesondere arabischen Großfamilien, im Bereich der Schwerstkriminalität. Der Angeklagte Hö. war seit 1999 im Team des Angeklagten N. mit der Führung von Informanten und Vertrauenspersonen betraut. Zur Tätigkeit des Angeklagten H. , der sich weder zu seinen persönlichen Verhältnissen noch zur Sache eingelassen hat, sind keine Feststellungen getroffen. Alle Angeklagten sind seit Sommer 2003 mit einem Verbot der Amtsausübung belegt.

III.


5
Der Verfahrenseinstellung ging nach den Feststellungen des Landgerichts folgendes Prozessgeschehen voraus:
6
1. Die Angeklagten N. und Hö. haben die gegen sie erhobenen Tatvorwürfe bestritten und durch ihre Verteidiger erklären lassen, sie sähen sich als Polizeibeamte wegen ihrer Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit daran gehindert, sich gegen die nicht zutreffenden und willkürlich aus dem Zusammenhang gerissenen Anklagevorwürfe substantiiert zu verteidigen. Auch verbiete ihnen diese Pflicht, die Sach- und Rechtslage mit ihren Verteidigern zu erörtern. Insbesondere um Gesamtzusammenhänge und mögliche Interessen Dritter an ihrer Diskreditierung zu dokumentieren, seien Angaben zu Sachverhalten unabdingbar, die grundsätzlich der Geheimhaltung unterlägen. Dazu gehörten Kriminaltaktik – auch und gerade im Hinblick auf Einzelfälle –, Polizeiinterna wie der Aufbau der VP- und Informantenführung bei der Direktion 5 (FAO) und die spätere zentrale Organisation der VPFührung bei dem LKA 15 einschließlich der damit einhergehenden Kompetenzstreitigkeiten sowie nach dem 11. September 2001 geltende polizeiinterne Anweisungen und geheime dienstliche Vorschriften zur Führung von Quellen arabischer Herkunft.
7
2. Der Angeklagte N. hat beantragt, ihm eine „erweiterte“ Aussagegenehmigung zu erteilen, hilfsweise erst nach vorherigem Ausschluss der Öffentlichkeit und Verpflichtung der Prozessbeteiligten zur Verschwiegenheit. Auf diesen Antrag hin hat das Landgericht für die Dauer der von dem Angeklagten N. beabsichtigten Sacheinlassung und einer sich gegebenenfalls daran anschließenden Vernehmung zur Sache gemäß § 172 Nr. 1 GVG die Öffentlichkeit ausgeschlossen, die Anfertigung von Mitschriften durch den Prozessbeobachter des Polizeipräsidenten untersagt (§ 175 Abs. 2 Satz 1 GVG) und alle nach Ausschluss der Öffentlichkeit anwesenden Personen zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 174 Abs. 3 Satz 1 GVG).
8
3. Gleichwohl haben auf Anfragen von Verteidigern, Ersuchen des Strafkammervorsitzenden und schließlich eine Gegenvorstellung der Strafkammer , die den Hinweis auf ein andernfalls drohendes Prozesshindernis enthielt, der Polizeipräsident in Berlin und sodann auch die Senatsverwaltung für Inneres des Landes Berlin die Erteilung einer umfassenden Aussagegenehmigung an die Angeklagten für Angaben gegenüber dem Gericht und gegenüber ihren Verteidigern abgelehnt. Die Angeklagten könnten sich aufgrund ihnen erteilter eingeschränkter Aussagegenehmigungen zu allen Punkten der Anklage gegenüber dem Gericht und ihren Verteidigern äußern, soweit nicht bislang unbekannte Vertrauenspersonen oder Informanten oder geheimhaltungsbedürftige polizeiinterne Regelungen zu Kriminaltaktik und zur Führung von Vertrauenspersonen und Informanten betroffen seien. Die erteilten Aussagegenehmigungen umfassten sämtliche rechtlichen Grundlagen der Inanspruchnahme von Informanten und des Einsatzes von Vertrauenspersonen mit Ausnahme als Verschlusssache eingestufter polizeiinterner Geschäftsanweisungen. Für den Fall, dass sich bestimmte Regelungen hierin doch als verteidigungsrelevant erweisen sollten, bestehe die Möglichkeit, zu konkreten Fragen eine erweiterte Aussagegenehmigung zu erhalten. Auch könne ein als sachverständiger Zeuge benannter Mitarbeiter der Polizei zu diesen Angelegenheiten befragt werden. Da das vorliegende Verfahren wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln untrennbar mit der organisierten Betäubungsmittelszene der Region verbunden sei, komme indes eine umfassende Aussagegenehmigung nicht in Betracht. Die Belange der umfassenden gerichtlichen Wahrheitsfindung müssten in einem solchen Deliktsfeld zurückstehen, soweit dies der Einsatz der besonderen Ermittlungsmethoden des Einsatzes von Vertrauenspersonen und Informanten unbedingt erfordere. Denn diese Ermittlungsmethoden seien unverzichtbar und dürften nicht auf Dauer vereitelt werden.

IV.


9
Das Landgericht hat das Strafverfahren durch Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO mit der Begründung eingestellt, dass das Grundrecht der Angeklagten auf umfassende Verteidigung der Fortführung des Verfahrens entgegenstehe. Denn der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch der Angeklagten aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 MRK auf ein faires , rechtsstaatliches Verfahren sei durch die Versagung der unbeschränkten Aussagegenehmigungen durch die Senatsverwaltung für Inneres im Kernbe- reich tangiert. Dem könne hier nur durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen Rechnung getragen werden.
10
1. Zwar dürfe das Recht auf Verteidigung, dem Verfassungsrang zukomme , dann eingeschränkt werden, wenn es nur in seinem Randbereich betroffen werde. Eine Beschränkung der Aussagegenehmigung, die das Recht auf Verteidigung in seinem Wesensgehalt antaste, könne dagegen nicht hingenommen werden. Der Inhalt und die Auslegung polizeiinterner Regelwerke beträfen hier den Schuldvorwurf gegen die Angeklagten im Kern und ließen allein die Beantwortung zentraler Fragestellungen zu. Den angeklagten Amtsträgern sei nicht zuzumuten, ihre Einlassung Satz für Satz danach abzutasten, ob sie im Einzelnen fremde Rechte verletzen könnte; sie müssten ihren Vortrag frei und im Zusammenhang halten und relevante Tatsachen mitteilen können. Ihnen sei auch nicht zuzumuten, das Risiko disziplinar - und strafrechtlicher Vorwürfe auf sich zu nehmen, wenn sie ohne eine umfassend erteilte Aussagegenehmigung Sachverhalte offenbarten, die der Amtsverschwiegenheit unterliegen. Zudem sei es in Ansehung des verfassungsrechtlichen Stellenwerts des Äußerungsrechts der Angeklagten nicht hinzunehmen, dass diese vor der Beratung mit ihren Verteidigern mit der Senatsverwaltung für Inneres oder mit der Polizei Rücksprache zu nehmen hätten. Dies stelle eine externe Steuerung des Strafprozesses durch die Exekutive dar, die dem Rechtsstaat fremd sei. Auch würden den Angeklagten schwere Straftaten vorgeworfen, so dass ihnen Freiheitsstrafen sowie der Verlust ihres Amtes und ihrer beruflichen Reputation drohten.
11
2. Zwar würden die durch eine verweigerte Aussagegenehmigung eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten regelmäßig ein ausreichendes Regulativ durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO und das Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten“ erfahren. Dies gelte jedoch nur dann, wenn sich das Strafverfahren trotz der Verkürzung der Beweisgrundlage in seiner Gesamtheit als rechtsstaatlich und fair erweise. Das sei hier jedoch nicht mehr der Fall.

V.


12
Die gegen die Verfahrenseinstellung durch Urteil gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft sind als unzulässig zu verwerfen, weil die allein erhobene Verfahrensrüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.
13
1. Zur Begründung der Verfahrensrüge ist der Beschwerdeführer verpflichtet , „die den Mangel enthaltenden Tatsachen“ anzugeben. Diese Angaben haben mit Bestimmtheit und so genau und vollständig zu geschehen, dass das Revisionsgericht allein auf Grund der Revisionsrechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (vgl. BVerfG NJW 2005, 1999, 2001; BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 7). Daran fehlt es hier.
14
a) Die Staatsanwaltschaft beanstandet allein, das Landgericht habe einen Beweisantrag auf Vernehmung von drei Polizeibeamten als Zeugen mit Unrecht als aus rechtlichen Gründen ohne Bedeutung (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) abgelehnt. Sie ist der Auffassung, die Strafkammer hätte die beantragte Beweiserhebung vornehmen müssen, da sich hieraus ergeben hätte, dass das vom Landgericht angenommene Prozesshindernis nicht bestanden habe.
15
b) Der Senat kann hier nicht allein aufgrund der Revisionsrechtfertigungsschrift prüfen, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen wahr wären. Denn die Staatsanwaltschaft hat an mehreren Stellen zur Darlegung des von ihr geltend gemachten Verfahrensfehlers auf bei den Akten befindliche Schriftstücke Bezug genommen, ohne diese in ihrem Wortlaut oder ihrem wesentlichen Inhalt nach in der Revisionsrechtfertigungsschrift mitzuteilen (vgl. BGHSt 40, 3, 5; BGH NStZ-RR 2006, 48, 49; BGH, Beschluss vom 30. September 2003 – 4 StR 315/03 – und vom 1. Juni 2006 – 4 StR 75/06, insoweit in NStZ-RR 2007, 107 nicht abgedruckt). Der Umstand, dass die Bezugnahme unter Benennung der Blattzahlen in den Strafakten erfolgt ist, ändert hieran nichts (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 48, 49).
16
Zwar steht eine Bezugnahme auf Aktenteile der Zulässigkeit einer Verfahrensrüge dann nicht entgegen, wenn die Bezugnahme ohne Bedeutung für den geltend gemachten Verfahrensverstoß ist (vgl. BGHSt 40, 3, 5). So verhält es sich hier indes nicht. Vielmehr hat die Staatsanwaltschaft erkennbar deswegen mehrfach auf die in den Strafakten befindliche, in der Revisionsrechtfertigungsschrift aber nicht mitgeteilte schriftliche Einlassung des Angeklagten N. Bezug genommen, um die nach ihrer Ansicht bestehende tatsächliche oder rechtliche Bedeutsamkeit bestimmter Umstände für die Frage zu untermauern, ob – entgegen der Annahme des Landgerichts bei Ablehnung des Beweisantrags – die Voraussetzungen für ein Verfahrenshindernis durch die begehrte Beweisaufnahme zu widerlegen sind. Insgesamt will die Staatsanwaltschaft mit ihren Bezugnahmen die Richtigkeit ihrer Auffassung belegen, „dass der Zusammenhang zwischen den in Rede stehenden Straftaten und den internen Regelungen über die Arbeit mit Quellen fehl(e)“ (Revisionsbegründungsschrift S. 30). Dafür war die vollständige Mitteilung der in Bezug genommenen Aktenstellen unverzichtbar.
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2. Die Sachrüge ist nicht erhoben worden. Zwar genügt es, wenn sich aus den Einzelausführungen die den Inhalt der Sachrüge ausmachende schlüssige Behauptung ergibt, dass auf den im Urteil festgestellten Sachverhalt materielles Recht falsch angewendet worden sei (BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 1 Revisionsbegründung 2). Dies ist hier indes nicht der Fall. Vielmehr rügt die Staatsanwaltschaft ausdrücklich nur die Verletzung formellen Rechts und macht lediglich geltend, das Landgericht wäre auf der Grundlage des von ihr gestellten Beweisantrags zu anderen Feststellungen gelangt , die die Annahme eines Verfahrenshindernisses nicht gerechtfertigt hätten. Hätte die Staatsanwaltschaft neben ihrer Verfahrensbeanstandung auch die Sachrüge erheben wollen, hätte sie diese Angriffsrichtung eindeutig zum Ausdruck bringen müssen (vgl. BGH NStE Nr. 9 zu § 344 StPO; vgl. auch zu unklarem Anfechtungsziel BGH NJW 2003, 839 und BGH, Beschluss vom 21. Mai 2003 – 5 StR 69/03).
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3. Die Unzulässigkeit der Verfahrensrüge führt bei Fehlen der Sachrüge zur Unzulässigkeit der Revision insgesamt (BGH NJW 1995, 2047; BGH, Beschluss vom 22. November 2005 – 1 StR 432/05 – und vom 17. Oktober 2000 – 1 StR 413/00). Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind daher gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen. Der Senat ist somit an der Prüfung gehindert, ob die Strafkammer zu Recht von einem Verfahrenshindernis ausgegangen ist.

VI.


19
Auch die Revisionen der Angeklagten sind, wie insoweit vom Generalbundesanwalt zutreffend beantragt, unzulässig (§ 349 Abs. 1 StPO). Die Angeklagten sind durch die Einstellung des Verfahrens durch Prozessurteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO nicht beschwert. Eine Beschwer wird durch ein das Verfahren einstellendes Urteil regelmäßig nicht bewirkt (vgl. BGHSt 23, 257, 259; vgl. auch BGHR StPO § 333 Beschwer 2 betreffend Nebenentscheidungen

).


20
Wollte man aus einer verminderten Rechtskraftwirkung – Verfahrenseinstellung durch Prozessurteil wegen eines behebbaren Verfahrenshindernisses (vgl. Meyer-Goßner StPO 49. Aufl. § 260 Rdn. 48) – eine Beschwer der Angeklagten herleiten, wären die Revisionen aus den vom Generalbundesanwalt für die Unzulässigkeit angeführten Gründen – nach einstimmiger Auffassung des Senats – offensichtlich unbegründet. Ein Fall, in dem der Freispruch Vorrang vor der Einstellung des Verfahrens hat, liegt nicht vor. Der Sachverhalt ist infolge des angenommenen Verfahrenshindernisses gerade nicht abschließend im Sinne eines Freispruchs geklärt worden (vgl. Meyer-Goßner aaO Rdn. 44 m.w.N.).

VII.


21
Der Senat weist auf Folgendes hin:
22
1. Ungeachtet nicht eingetretenen Strafklageverbrauchs bewirkt die materielle Rechtskraft der Verfahrenseinstellung, dass die Angeklagten nicht verfolgt werden dürfen, solange sich die Umstände, die nach Auffassung des Landgerichts zur Annahme des Verfahrenshindernisses geführt haben, nicht verändert haben (vgl. dazu Meyer-Goßner aaO Einl. Rdn. 142 ff., 172).
23
Hierfür bedürfte es der Erteilung noch weitergehender Aussagegenehmigungen für die Angeklagten gegenüber ihren Verteidigern und gegenüber dem Gericht. Für diesen Fall müsste das Gericht dann gegebenenfalls zur Wahrung staatlicher Geheimhaltungsinteressen die in der bisherigen Hauptverhandlung vorgesehenen Maßnahmen treffen (vgl. zum strafrechtlichen Schutz § 353d StGB). Die Verteidiger wären an einer Offenbarung des ihnen von ihren Mandanten Anvertrauten durch ihre berufliche Verschwiegenheitspflicht gehindert (vgl. zum strafrechtlichen Schutz § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB), von der die Angeklagten, soweit deren amtliche Verschwiegenheitspflicht reicht, sie nicht entbinden dürften (vgl. auch § 353b StGB).
24
2. Für die Beurteilung von Fällen der hier vorliegenden Art gilt allgemein Folgendes:
25
a) Die Einschränkung der einem Angeklagten erteilten Aussagegenehmigung aufgrund beamtenrechtlicher Vorschriften kann das Recht auf umfassende Verteidigung mehr oder weniger beeinträchtigen. Wie der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für seine strafrechtliche Verurteilung zu liefern, hat dieses Recht Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 56, 37, 49). Es gehört zu den fundamentalen Attributen menschlicher Würde und zu den grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaats. Eine Beschränkung der Aussagegenehmigung, die das Recht auf Verteidigung in seinem Wesensgehalt antastet, kann als Verstoß gegen die Grundnorm des Art. 1 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen nicht hingenommen werden. Sie träfe einen obersten in seiner Substanz nicht zur Disposition stehenden Wert (vgl. BGHSt 36, 44, 48 m.w.N.). Daraus folgt, dass ein Strafverfahren nicht durchgeführt werden darf, wenn staatliche Geheimhaltungsinteressen von großem Gewicht nicht anders als durch die Beschneidung wesentlicher Verteidigungsmöglichkeiten gewahrt werden können. Die aufgrund dieser Alternative vom Tatgericht geforderte prospektive Betrachtung wird sich vor allem an dem bestehenden oder fehlenden argumentativen Zusammenhang zwischen der von der Aussagebeschränkung betroffenen Thematik und dem historischen Geschehen, das Gegenstand der Kognition ist, orientieren müssen (BGH aaO).
26
Dort, wo das Recht auf Verteidigung nur in seinem Randbereich betroffen wird, darf es indes eingeschränkt werden, wenn seine uneingeschränkte Ausübung die Wahrnehmung sehr gewichtiger, verfassungsmäßig legitimierter Aufgaben, die zu ihrer Erfüllung der Geheimhaltung bedürfen, unmöglich machen oder erschweren könnte (vgl. BGHSt 36, 44, 48 f.). Hierzu gehört auch der Einsatz von Vertrauenspersonen zur Aufklärung von Bandenstrukturen im Bereich des Handels mit Betäubungsmitteln (vgl. BVerfGE 57, 250, 284). Erforderlich ist aber stets eine sorgfältige Abwägung der im Widerstreit stehenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter unter Berücksichtigung des gesamten konkreten Sachverhalts (vgl. BVerwGE 66, 39, 44). Denn das Staatswohl und die Wahrung der öffentlichen Belange erfordern es, sowohl die Grundrechte Einzelner zu schützen und niemanden einer ungerechtfertigten Verurteilung auszuliefern als auch den Strafanspruch des Staates durchzusetzen (BVerfG aaO). Dabei darf nicht aus dem Blick geraten , dass die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten ein wesentlicher Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens ist (vgl. BVerfGE 109, 279, 336; 107, 299, 316; 100, 313, 389; 80, 367, 375; 77, 65, 76).
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Die Pflicht zur Abwägung trifft auch und in erster Linie die Behörde, deren Erklärung oder Entscheidung zu einer Einschränkung des Rechts des Angeklagten auf umfassende Verteidigung führt. Sie hat nicht nur die von ihr wahrzunehmenden Aufgaben zu beachten, die zu ihrer Erfüllung der Geheimhaltung bedürfen, sondern muss auch dem hohen Rang des Verteidigungsinteresses Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 57, 250, 283 f.). Diesen Anforderungen genügt § 27 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 des Landesbeamtengesetzes (Berlin), der die Versagung der Aussagegenehmigung für beschuldigte Beamte nur in ganz engen Grenzen zulässt. Danach darf einem Beschuldigten die Genehmigung, in einem gerichtlichen Verfahren auszusagen, nur dann versagt werden, wenn die Aussage dem Wohle des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten oder die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ernstlich gefährden oder erheblich erschweren würde und wenn die dienstlichen Rücksichten dies unabweisbar erfordern. Aus diesem Grund müssen Staatsanwaltschaft und Tatgericht durch entsprechende Anträge an den Dienstherrn der Angeklagten und vorgesetzte Behörden sowie gegebenenfalls mit Gegenvorstellungen darauf hinwirken, dass die für eine umfassende Verteidigung erforderlichen Aussagegenehmigungen erteilt werden.
28
Bleibt solches erfolglos, kommt eine Klage des Angeklagten gegen den Dienstherrn im Verwaltungsrechtsweg auf Erteilung der Aussagegenehmigung in Betracht, wenn der Dienstherr auch auf die Gegenvorstellung des Gerichts hin die beantragte Aussagegenehmigung nicht erteilt. Um dem zur Klage bereiten Angeklagten hierzu Gelegenheit zu geben, kann im Einzelfall auch die Aussetzung des Strafverfahrens in Betracht kommen (vgl. dazu Senge in KK-StPO 5. Aufl. § 54 Rdn. 20 f.). Ob gegebenenfalls in solchen Fällen die Justizorgane als klagebefugt anzusehen wären (abl. Beulke, Strafprozessrecht 9. Aufl. Rdn. 190 sowie Pfeiffer, StPO 5. Aufl. § 96 Rdn. 4 und HK-Lemke, StPO 3. Aufl. § 96 Rdn. 16; abw. Ellbogen NStZ 2007, 310), ob sogar ein verteidigungs- und einlassungswilliger Angeklagter zu einer solchen Klage zu veranlassen wäre, erscheint höchst problematisch.
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Jedenfalls gilt, dass eine Verweigerung der Aussagegenehmigung, wenn der Kernbereich der Verteidigung betroffen ist, angesichts auch strafrechtlicher Absicherungsmöglichkeiten gegen unbefugte Offenbarungen nur bei überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern in Betracht käme, so bei einer erheblichen Lebens- oder Gesundheitsgefährdung von Personen, etwa auch Vertrauensleuten der Ermittlungsbehörden. Halten Gericht und Staatsanwaltschaft die Versagung der Aussagegenehmigung für rechtswidrig, haben sie nach Ausschöpfung aller sonstigen Möglichkeiten zur Herbeiführung einer abweichenden Entscheidung die oberste Justizbehörde mit dem Ziel einzuschalten, an die oberste Innenbehörde eine Gegenvorstellung zu richten. Die oberste Justizbehörde wird nach dem Grundsatz, dass über Sperrungen , die eine ordnungsgemäße Durchführung von Strafverfahren gefährden , an höchster Stelle zu entscheiden ist (vgl. BVerfGE 57, 250, 289), bei fortdauernder Weigerung der Innenbehörde eine Entscheidung der Landesregierung durch Kabinettsbeschluss herbeizuführen haben.
30
Eine Einstellung des Strafverfahrens kommt jedenfalls vor Ausschöpfung dieser Möglichkeiten nicht in Betracht. Der Senat braucht nicht zu entscheiden , ob für den Fall, dass tatsächlich einmal überragend wichtige Gemeinschaftsgüter der skizzierten Qualität im Widerstreit zur unerlässlich gebotenen Durchführung eines Strafverfahrens stehen sollten, der Angeklagte eine schwer wiegende Einschränkung seiner Verteidigungsmöglichkeiten hinnehmen müsste und ihm als Schutz nur das Gebot zu außerordentlich zurückhaltender belastender Beweiswürdigung verbliebe (vgl. BGHSt 49, 112). Von einer derartigen Extremsituation ist das vorliegende Verfahren sowohl nach der Bedeutung der Tatvorwürfe als auch nach den in Frage stehenden Geheimhaltungsbelangen weit entfernt.
31
b) Zunächst hat der Tatrichter, wenn einem Angeklagten – wie auch im vorliegenden Fall – mehrere Straftaten zur Last liegen, die sich in Art und Schwere oder hinsichtlich der Beweislage unterscheiden, regelmäßig für jeden Tatvorwurf gesondert zu prüfen, ob die Versagung der Aussagegeneh- migung den Kernbereich oder lediglich den Randbereich des Rechts auf umfassende Verteidigung betrifft. Dasselbe gilt – wenn lediglich der Randbereich betroffen ist – für die gebotene Abwägung der im Widerstreit stehenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter.
32
Vorliegend erscheint der pauschale Ansatz des Landgerichts, der nicht nach einzelnen Tatvorwürfen differenziert, zweifelhaft, weil es für die einzelnen Straftaten den bestehenden oder fehlenden argumentativen Zusammenhang zwischen der von der Aussagebeschränkung betroffenen Thematik und dem Tatvorwurf (vgl. BGHSt 36, 44, 48) nicht näher in den Blick nimmt. Besonders schwer nachvollziehbar ist, aus welchem Grund hier polizeiinterne Richtlinien für die Verteidigung gegen den Tatvorwurf der Anstiftung zur Manipulation eines privaten Premiere-Decoders von Bedeutung sein sollen. Jenseits davon liegt es zwar fern, dass polizeiinterne Dienstanweisungen einen Verstoß gegen die Strafgesetze und die Strafprozessordnung erlauben könnten. Gleichwohl erscheint es bei den übrigen gegen die Angeklagten erhobenen Vorwürfen jedenfalls im Ansatz nicht ausgeschlossen, dass der Kernbereich der Verteidigung betroffen sein könnte. Im Bereich von Betäubungsmitteldelikten – wie auch bei Strafvereitelung – ist zum wirkungsvollen Einsatz von Vertrauensleuten die Annahme eines weiten Handlungsspielraumes nicht undenkbar, wonach ein unmittelbar deliktisch anmutendes Verhalten in Ermangelung der tatbestandlich verlangten Zielsetzung – u. a. Betäubungsmittelumsatz – als nicht strafbar bewertet werden könnte. Bei Aus- sagedelikten kämen problematische Kollisionen zwischen der Verpflichtung zu vollständiger Aussage und Verschwiegenheitspflichten, bei Amtsdelikten relevante dienstliche Genehmigungen in Betracht.
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