Landgericht Wuppertal Urteil, 03. Apr. 2014 - 9 S 175/13
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts Wuppertal, 34 C 25/12, vom 22.08.2013 teilweise abgeändert und – unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels - insgesamt wie folgt neu gefasst:Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger3.001,68 € nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.1.2012und 359,50 € nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 8.3.2012 zu zahlen.Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.Die Kosten des Rechtsstreites werden den Beklagten auferlegt.Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar
1
Gründe
2I.
3Die Parteien streiten über die haftungsrechtlichen Folgen eines Verkehrsunfalles, der sich am 23.11.2011 auf der A 46 im Stadtbereich V ereignete. An der Unfallstelle war seinerzeit eine Baustelle eingerichtet, weswegen die beiden Fahrspuren nach rechts verschwenkt wurden. Das Fahrzeug des Klägers wurde über die rechte Fahrspur geführt, während der Beklagte zu 1) auf die Autobahn auffuhr. Es kam zur seitlichen Berührung der Fahrzeuge. Vorgerichtlich zahlten die Beklagten an den Kläger eine Entschädigung nach einer Quote von 50 %, wobei sie bei der Schadensberechnung Abzüge vorgenommen hatten.Der Kläger hat behauptet, das Beklagtenfahrzeug sei sofort vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrbahn herübergezogen worden.Das Amtsgericht hat nach der Erhebung von Beweisen die Klage abgewiesen. Es sei nicht aufklärbar, welches Fahrzeug seine Fahrspur verlassen habe, weshalb von einer Haftungsquote von 50 % auszugehen sei. Die Reparaturkosten lägen niedriger als vom Kläger behauptet.Hiergegen richtet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er ist der Auffassung, dass nach dem Beweis des ersten Anscheins eine alleinige Haftung der Beklagten anzunehmen sei. Verbringungskosten seien ersatzfähig, weil es, wie vom Amtsgericht bestätigt, im Raum V Fachwerkstätten gebe, die nicht über eigene Lackiererei verfügten.Im Übrigen wird von der Darstellung eines Tatbestandes gemäß §§ 540 II, 313a ZPO, 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO abgesehen.II.Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung hat auch in der Sache überwiegend Erfolg. Die Beklagten sind dem Kläger als Gesamtschuldner im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Zahlung weiteren Schadensersatzes verpflichtet.
41. Anspruchsgrund:
5Der Kläger hat gemäß §§ 7 I, 17, 18 I, III StVG, 823 I, II BGB i. V. m. 18 III StVO, 115 I 1 Nr. 1 VVG, 426, 249 BGB gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Anspruch auf Ersatz von 100 % seines unfallbedingten Schadens.§ 17 StVG ist anwendbar. Denn der Unfall ist für keine der Parteien durch höhere Gewalt - von außen wirkende betriebsfremde Ereignisse aufgrund elementarer Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen - verursacht oder auch bei Wahrung äußerst möglicher Sorgfalt nicht abzuwenden gewesen (unabwendbares Ereignis), so dass die Ersatzpflicht der einen oder anderen Seite nicht von vornherein gemäß §§ 7 II, 17 III StVG, 115 I 1 Nr.1 VVG ausgeschlossen ist.Gemäß §§ 17 I, II, 18 I, III StVG hängt die Verpflichtung zum Schadensersatz, wie auch der Umfang der Ersatzpflicht von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Halter und Fahrer der beteiligten Fahrzeuge und unter Berücksichtigung der von beiden Kraftfahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nach §§ 17 I, II, 18 I, III StVG, 254 BGB sind neben unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises Anwendung finden.Danach ist es vorliegend gerechtfertigt, dass der Kläger 100 % seines unfallbedingten Schadens ersetzt erhält.Denn es spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass der Beklagte zu 1) die dem Kläger gemäß § 18 III StVO zustehende Vorfahrt verletzt hat.Die Annahme eines Anscheinsbeweises setzt voraus, dass das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass ein Verkehrsteilnehmer im Rahmen des Unfallereignisses schuldhaft gehandelt hat (BGH VI ZR 15/10). Zwar verhalten sich die von dem Kläger zitierten Urteile ebenso wie die sonst ersichtliche Rechtsprechung bislang nur zu Fallgestaltungen, bei denen feststeht, dass der auf die Autobahn Einfahrende bereits auf die (meist: rechte) Fahrbahn gewechselt hatte und es dort zur Kollision gekommen ist. Jedenfalls wenn, wie hier, der Beschleunigungsstreifen baustellenbedingt durch Fahrbahnmarkierungen zum Teil der rechten Fahrspur zugeschlagen worden ist, ist es aber darüber hinaus typischerweise so, dass der auf dem Beschleunigungsstreifen Fahrende entweder die Fahrbahnmarkierungen nicht hinreichend beachtet oder sorgfaltspflichtwidrig angesetzt hatte, auf die Fahrspur zu wechseln, wenn es zu einem seitlichen Streifschaden mit einem auf der rechten Fahrspur der Autobahn befindlichen Fahrzeug kommt.Dieser danach gerechtfertigte Beweis des ersten Anscheins ist durch die erstinstanzlich erhobenen Beweise auch nicht erschüttert worden. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Fahrerin des Fahrzeuges des Klägers ihrerseits zu weit nach rechts und über die Fahrbahnmarkierungen hinaus gefahren ist, haben sich nicht ergeben.Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile tritt die auf Seiten des Klägers allein zu berücksichtigende Betriebsgefahr seines Fahrzeuges gegenüber dem unfallursächlichen Verschulden, dass sich die Beklagten zurechnen lassen müssen, zurück.
62. Anspruchshöhe:
7Der Gesamtschaden beläuft sich auf insgesamt 5.399,99 €. Er setzt sich zusammen aus den tatsächlich angefallenen Reparaturkosten i.H.v. 4.175,29 EUR, einem merkantilen Minderwert i.H.v. 450 EUR, vorgerichtlichen Gutachterkosten i.H.v. 517,65 EUR, Mietwagenkosten i.H.v. 232,05 EUR und einer Kostenpauschale i.H.v. 25 EUR.Für die Entscheidung der Kammer zur Schadenshöhe war insoweit entgegen der Auffassung des Amtsgerichts in der angefochtenen Entscheidung nicht die Kalkulation des Sachverständigen Dipl.-Ing. B und der von ihm ermittelte Betrag von 2.842,01 € netto (Bl. 93 -95 d.A.), sondern die Rechnung der Firma I GmbH über 4.175,29 € brutto (Bl. 25ff d.A.) maßgeblich.Nachdem der Kläger in der Berufungsbegründungsschrift ausgeführt hatte, der Geschädigte, der fiktive (Unterstreichung durch die Kammer) Reparaturkosten abrechnet, dürfe der Schadensberechnung ebenso die Verbringungskosten zugrundelegen, auch wenn keine (Unterstreichung durch die Kammer) Reparatur durchgeführt worden sei, hat er in der mündlichen Verhandlung vom 27.2.2014 korrigierend bzw. klarstellend ausgeführt, das Fahrzeug sei repariert worden. Davon war auch bereits in erster Instanz die Gegenseite ausgegangen, die ihrer Schadensberechnung nämlich ebenfalls im Ausgangspunkt die Rechnung der Firma I GmbH zu Grunde gelegt hatte (Klageerwiderung, Seite 3f = Bl. 44f d.A.).Abzüge von der Rechnung der Firma I waren nicht vorzunehmen. Das betrifft die Position Verbringungskosten, die in der Reparaturrechnung im Übrigen auch gar nicht erscheint, den 25%igen Abzug für die Lackierung angrenzender Bauteile, den Ausbau der Seitenscheibe sowie den Ersatz der Radvollblende im vorderen Bereich sowie die Umsatzsteuer. Dem steht nicht entgegen, dass der Sachverständige B überzeugend und von den Parteien unangegriffen ausgeführt hatte, die Abzüge für angrenzende Teile würden sich aus den Werksvorgaben des Herstellers Citroën ergeben.Denn entscheidend ist, was der Kläger für die Reparatur aufgewandt hat. Das Prognose- und Reparaturfehlerrisiko trägt nämlich nicht der Geschädigte. Es ist ihm nicht zuzumuten, sich – von Fällen offensichtlicher Berechnungsfehler, deren klaglose Korrektur zu erwarten ist, abgesehen – auf eine Auseinandersetzung mit dem von ihm wirklich beauftragten Reparatur über die Angemessenheit seiner Preise einzulassen und für ihre Dauer eine Zurückbehaltung der reparierten Sache hinzunehmen. Anderes gilt nur, wenn dem Geschädigten, wofür vorliegend keinerlei Anhaltspunkte bestehen, ein Auswahlverschulden anzulasten ist (Knerr in: Geigel, der Haftpflichtprozess, 25. Auflage, Kap. 3, Rn. 14, mit weiteren Nachweisen). Soweit die Firma I mithin zu Unrecht den Abzug für angrenzende Bauteile nicht berücksichtigt oder sonst unnötigen Aufwand betrieben hat und dem Kläger gegen diese ein Zahlungsanspruch insbesondere aus Bereicherung oder aus schadensersatzrechtlichen Gründen zustehen sollte, könnten die Beklagten lediglich die Abtretung eines solchen Anspruches verlangen (vergleiche § 255 BGB).Werden von dem oben genannten Gesamtschaden von 5.399,99 € die bereits gezahlten – nicht 2.514,36 €, sondern – 2.398,31 € in Abzug gebracht, verbleibt der aus dem Tenor ersichtliche Betrag.
83. Nebenforderungen
9Die Zinsansprüche beruhen auf §§ 280,286, 288 I, 291 BGB.Die Geltendmachung der außergerichtlichen Anwaltskosten im Wege der gewillkürten Prozessstandschaft ist zulässig (vgl. OLG Köln, 9 U 237/92, bei Juris) und - analog zur Hauptforderung - erfolgreich. Die Rechtsschutzversicherung des Klägers hat diesen, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigten, gebeten, die Geschäftsgebühr im Hauptsacheverfahren mit geltend zu machen (Bl. 49 d.A.). Die Kosten der Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe zur Durchsetzung des Schadensersatzanspruches sind als adäquat kausal durch das Unfallereignis verursacht ersatzfähig.III.Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 II Nr. 1 und 97 ZPO einerseits und §§ 708 Nr. 10, 711 und 713 ZPO andererseits.Streitwert für das Berufungsverfahren: bis 3.100 € (§§ 43 I, 48 I GKG, 6 S. 1 ZPO)
10Anlass, die Revision zuzulassen, bestand nicht.
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Landgericht Wuppertal Urteil, 03. Apr. 2014 - 9 S 175/13 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).
(1) Wird ein Schaden durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht und sind die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet, so hängt im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.
(2) Wenn der Schaden einem der beteiligten Fahrzeughalter entstanden ist, gilt Absatz 1 auch für die Haftung der Fahrzeughalter untereinander.
(3) Die Verpflichtung zum Ersatz nach den Absätzen 1 und 2 ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wird, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Kraftfahrzeugs noch auf einem Versagen seiner Vorrichtungen beruht. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Der Ausschluss gilt auch für die Ersatzpflicht gegenüber dem Eigentümer eines Kraftfahrzeugs, der nicht Halter ist.
(4) Die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 sind entsprechend anzuwenden, wenn der Schaden durch ein Kraftfahrzeug und ein Tier oder durch ein Kraftfahrzeug und eine Eisenbahn verursacht wird.
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Parteien machen mit Klage und Widerklage wechselseitig Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 5. November 2008 auf der Ausfahrt einer Bundesautobahn ereignet hat. Der Beklagte zu 1 befuhr mit dem Fahrzeug des Widerklägers, einem Opel Astra, der bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert ist, die Autobahn und wechselte an der Ausfahrt auf den Verzögerungsstreifen, um dort die Autobahn zu verlassen. Der Widerbeklagte zu 1 befand sich mit dem Fahrzeug der Klägerin, einem VWBus , der bei der Widerbeklagten zu 2 haftpflichtversichert ist, zunächst hinter dem Beklagten zu 1, überholte diesen jedoch im weiteren Verlauf, wobei der konkrete zeitliche Ablauf zwischen den Parteien streitig ist. In der lang gezogenen Ausfahrt bremste der Widerbeklagte zu 1 den VW-Bus dann plötzlich bis zum Stillstand ab, wobei der Beklagte zu 1 nicht mehr rechtzeitig zu reagieren vermochte und mit dem Opel Astra auf das Fahrzeug der Klägerin auffuhr. Hierdurch wurde der VW-Bus hinten rechts und der Opel Astra vorne links beschädigt. Die Klägerin und die Widerbeklagten haben behauptet, der Widerbeklagte zu 1 habe mit dem VW-Bus den Opel Astra bereits 300 m vor der Ausfahrt überholt. Der spätere Unfall habe hiermit in keinem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang gestanden. Die Beklagten und die Widerkläger haben behauptet , der Verkehrsunfall sei dadurch verursacht worden, dass der Widerbeklagte zu 1 mit dem VW-Bus, der ihn zuvor überholt habe, unvermittelt wieder auf die rechte Spur vor den vom Beklagten zu 1 geführten Opel Astra gewechselt sei.
- 2
- Das Amtsgericht hat der Klage und der Widerklage jeweils zur Hälfte stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin und der Widerbeklagten hatte lediglich hinsichtlich des Kostenausspruchs teilweise Erfolg. Im Übrigen hat das Landgericht die Berufung zurückgewiesen. Es hat die Revision im Hinblick auf die in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittene Frage der Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen zugelassen. Mit ihrer Revision verfolgen die Klägerin und die Widerbeklagten ihr Klage- bzw. Klageabweisungsbegehren weiter, soweit das Berufungsgericht zu ihrem Nachteil entschieden hat.
Entscheidungsgründe:
I.
- 3
- Das Berufungsgericht hat sich gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Feststellungen des Amtsgerichts gebunden gesehen, welches nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme den von der Beklagtenseite behaupteten Spur- wechsel für ebenso wahrscheinlich hielt, wie den von der Klägerseite behaupteten Unfallhergang. Gegen den Beklagten zu1 spreche insbesondere nicht der Beweis des ersten Anscheins. Allein das Kerngeschehen eines Heckanstoßes als solches reiche als Grundlage eines Anscheinsbeweises dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt seien, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprächen. Im Fall eines unstreitig oder erwiesenermaßen unmittelbar zuvor erfolgten Spurwechsels des Vorausfahrenden spreche der Beweis des ersten Anscheins nicht gegen den Auffahrenden, sondern vielmehr dafür, dass der vorausfahrende Verkehrsteilnehmer unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO die Fahrspur gewechselt habe. In der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte sei umstritten, ob ein (behaupteter) vorheriger Spurwechsel des Vorausfahrenden schon die Typizität des Auffahrunfalls in Frage stelle oder lediglich auf der nachfolgenden Stufe den Anscheinsbeweis erschüttere. Dabei verdiene die Auffassung den Vorzug, wonach der Vorausfahrende bei einem Fahrstreifenwechsel für die Unfallschäden mithafte, wenn er nicht vortragen und notfalls beweisen könne, dass er so lange im gleichgerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren sei, dass der Hintermann zum Aufbau des erforderlichen Sicherheitsabstandes in der Lage gewesen sei. Zumindest dann, wenn der Auffahrende nachvollziehbar und widerspruchsfrei darlege, dass der Vorausfahrende unmittelbar vor der Kollision die Spur gewechselt und hierdurch den Unfall verursacht habe, sei nicht mehr von einem typischen Geschehensablauf auszugehen. Andernfalls stehe derjenige, der grob verkehrswidrig die Fahrspur wechsle, prozessual besser als der Auffahrende, der in entsprechenden Fällen stets den Spurwechsel des Vorausfahrenden beweisen müsse. Das erstinstanzlich bindend festgestellte "non liquet" rechtfertige daher die angenommene hälftige Haftungsverteilung.
II.
- 4
- Das Berufungsurteil hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.
- 5
- 1. In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird zum Teil bei Auffahrunfällen auf der Autobahn bereits ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Auffahrenden verneint und - in der Regel - eine hälftige Schadensteilung angenommen , wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat, aber streitig und nicht aufklärbar ist, ob die Fahrspur unmittelbar vor dem Anstoß gewechselt worden ist und sich dies unfallursächlich ausgewirkt hat (vgl. etwa OLG München, Urteil vom 4. September 2009 - 10 U 3291/09, juris, Rn. 21; KG, Beschluss vom 14. Mai 2007 - 12 U 195/06, NZV 2008, 198, 199 und Urteil vom 21. November 2005 - 12 U 214/04, NZV 2006, 374, 375; OLG Düsseldorf, Urteil vom 8. März 2004 - 1 U 97/03, juris, 2. Orientierungssatz, Rn. 10, 19; OLG Hamm, Urteil vom 8. Dezember 1997 - 6 U 103/97, MDR 1998, 712, 713 und OLG Celle, Urteil vom 26. November 1981 - 5 U 79/81, VersR 1982, 960 f.). Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug nur dann das typische Gepräge eines Auffahrunfalls trage, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf zu schnelles Fahren, mangelnde Aufmerksamkeit und/oder einen unzureichenden Sicherheitsabstand des Hintermannes zulasse, wenn feststehe, dass sich das vorausfahrende Fahrzeug schon "eine gewisse Zeit" vor dem nachfolgenden PKW befunden und diesem die Möglichkeit gegeben habe, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen (vgl. etwa OLG München, Urteil vom 21. April 1989 - 10 U 3383/88, NZV 1989, 438).
- 6
- 2. Ein anderer Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung vertritt die Auffassung , dass nur die seitens des Auffahrenden bewiesene ernsthafte Möglichkeit , dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt sei, den Anscheinsbeweis erschüttern könne (vgl. etwa OLG Saarbrücken, Urteile vom 19. Mai 2009 - 4 U 347/08, NZV 2009, 556, 557 f. und vom 19. Juli 2005 - 9 U 290/04, MDR 2006, 329; OLG Zweibrücken, Urteil vom 30. Juli 2008 - 1 U 19/08, SP 2009, 175 und OLG Köln, Urteil vom 29. Juni 2004 - 9 U 176/03, RuS 2005, 127; ebenso wohl auch OLG Naumburg, Urteil vom 6. Juni 2008 - 10 U 72/07, NZV 2008, 618, 620; OLG Karlsruhe, Urteil vom 24. Juni 2008 - 1 U 5/08, SP 2009, 66, 67; OLG Frankfurt, Urteil vom 2. März 2006 - 3 U 220/05, VersR 2006, 668, 669 und OLG Koblenz, Urteil vom 3. August 1992 - 12 U 798/91, NZV 1993, 28). Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten mit der Folge, dass es nunmehr Sache des Vorausfahrenden sei, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf im Sinne einer beweisrechtlichen "Vorleistung" auszuschließen (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 19. Juli 2005 - 4 U 209/04, 31/05, juris, Rn. 2; KG, Beschluss vom 9. Oktober 2008 - 12 U 168/08, NZV 2009, 458 459). Vielmehr müssen sich nach dieser Ansicht aus den unstreitigen oder bewiesenen Umständen zumindest konkrete Anhaltspunkte und Indizien für den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Fahrspurwechsel und dem Auffahrunfall ergeben, um den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern (vgl. OLG Köln, Urteil vom 29. Juni 2004 - 9 U 176/03, aaO). Auch nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung greift der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen nur dann nicht zu Lasten des Auffahrenden ein, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen feststeht oder unstreitig ist, dass der Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall erfolgt ist (vgl. Burmann in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 4 StVO Rn. 24; Buschbell in Münchener Anwaltshandbuch Straßenverkehrsrecht, 3. Aufl., § 23 Rn. 284; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 4 StVO Rn. 18 und Zieres in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl., Kap. 27, Rn. 149).
- 7
- 3. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 18. Oktober 1988 - VI ZR 223/87, VersR 1989, 54, 55 an seiner bis dahin ergangenen Rechtsprechung festgehalten, dass bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen kann (vgl. etwa Senatsurteile vom 6. April 1982 - VI ZR 152/80, VersR 1982, 672 und vom 23. Juni 1987 - VI ZR 188/86, VersR 1987, 1241). Dies setzt allerdings nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststeht (vgl. etwa Senatsurteil vom 19. Januar 2010 - VI ZR 33/09, VersR 2010, 392 m.w.N.). Hieran fehlt es im Streitfall.
- 8
- Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Widerbeklagte zu 1 nach eigenen Angaben mit dem VW-Bus den vor ihm fahrenden, vom Beklagten zu 1 geführten Opel Astra ca. 300 m vor der Ausfahrt, an der beide Unfallbeteiligten die Autobahn verlassen haben, überholt und ist danach vor diesem auf dessen Fahrspur gewechselt. Nach § 7 Abs. 5 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies setzt u. a. voraus, dass der überholte Kraftfahrer nach dem Wiedereinscheren des ihn überholenden Fahrzeuges in der Lage ist, zu diesem einen ausreichenden Sicherheitsabstand im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO aufzubauen, was im Streitfall offen geblieben ist. Ein Anscheinsbeweis spricht hierfür nicht. Steht mithin lediglich fest, dass sich der Auffahrunfall in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Überholvorgang kurz vor der Ausfahrt einer Autobahn ereignet hat, an der beide Verkehrsteilnehmer die Autobahn verlassen haben, liegt eine Verkehrssituation vor, die sich von derjenigen, die den Schluss auf ein Verschulden des Auffahrenden zulässt, grundlegend unterscheidet (vgl. Senatsurteil vom 6. April 1982 - VI ZR 152/80, VersR 1982, 672). Darüber hinaus lag nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ein Schräganstoß vor, bei dem der VW-Bus hinten rechts und der Opel Astra vorne links beschädigt wurde. In einer solchen Situation gilt nicht mehr der Erfahrungssatz, dass der Auffahrende diesen Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit , Unaufmerksamkeit und/oder unzureichendem Sicherheitsabstand verschuldet hat. Mindestens ebenso nahe liegt der Schluss, dass der Überholende zuvor gegen die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO verstoßen und sich im Bereich der Ausfahrt in einem so geringen Abstand vor das überholte Fahrzeug gesetzt hat, dass der Sicherheitsabstand vom Überholten nicht mehr rechtzeitig vergrößert werden konnte und beim plötzlichen Abbremsen des Überholenden nicht mehr ausreichte.
- 9
- Nach diesen Grundsätzen ist auf der Grundlage der vom Berufungsgericht in tatrichterlicher Würdigung angenommenen Nichterweislichkeit des ge- nauen Unfallhergangs eine hälftige Schadensteilung aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Galke Zoll Wellner Diederichsen Stöhr
AG Aachen, Entscheidung vom 01.10.2009 - 117 C 133/09 -
LG Aachen, Entscheidung vom 08.01.2010 - 6 S 168/09 -
Wer für den Verlust einer Sache oder eines Rechts Schadensersatz zu leisten hat, ist zum Ersatz nur gegen Abtretung der Ansprüche verpflichtet, die dem Ersatzberechtigten auf Grund des Eigentums an der Sache oder auf Grund des Rechts gegen Dritte zustehen.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.