Oberlandesgericht München Endurteil, 30. Juni 2017 - 10 U 4051/16

bei uns veröffentlicht am30.06.2017
vorgehend
Landgericht München II, 13 O 3024/15, 09.09.2016

Gericht

Oberlandesgericht München

Tenor

1. Die Berufung des Klägers vom 10.10.2016 gegen das Endurteil des LG München II vom 09.09.2016 (Az. 13 O 3024/15) wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Das vorgenannte Urteil des Landgerichts München II sowie dieses Urteil sind jeweils ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leisten.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Der Kläger macht gegen die Beklagten im Hinblick auf einen Verkehrsunfall vom 13.12.2014 in B. (Landkreis W.) Ansprüche auf samtverbindliche Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 1.794,48 € (nebst Zinsen), Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 20.000,00 € bis 30.000,00 € (nebst Zinsen) und außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 808,13 € geltend.

Der Kläger fuhr an diesem Tag mit seinem Kraftrad Aprilia in B. auf der S. Str. in westlicher Richtung (ortseinwärts). Der Beklagte zu 1) fuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw Skoda Oktavia auf der untergeordneten Sö. Str. in südlicher Richtung und beabsichtigte, nach links in die S. Str. abzubiegen. Als sich der Kläger der aus seiner Sicht rechts befindlichen Einmündung der Sö. Str. näherte, wich er nach links aus und stürzte, ohne dass es zu einer Berührung der Fahrzeuge kam.

Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1) sei beschleunigend auf die S. Str. zugefahren und habe keine Anstalten zum Anhalten gemacht. Wäre der Kläger nicht nach links ausgewichen, wäre es unvermeidlich zum Zusammenstoß der beiden streitgegenständlichen Fahrzeuge gekommen.

Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 1) sei langsam, ohne zu beschleunigen, an die Haltelinie herangefahren und habe seinen Wagen noch vor dieser Linie zum Stehen gebracht.

Hinsichtlich des weiteren Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz sowie der Anträge der Parteien in erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 09.09.2016 (Bl. 87/101 d.A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, und zwar mit der Begründung, dass das Gericht nicht davon überzeugt sei, dass der streitgegenständliche Unfall der Betriebsgefahr des Beklagten-Pkws zuzuordnen ist. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug bereits vor der Haltelinie zum Stillstand gebracht hatte und der Kläger nur auf Grund einer zu Unrecht angenommenen Fahrbewegung des Beklagten-Pkws ein Ausweichmanöver einleitete. Hinsichtlich der weiteren Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Gegen dieses dem Kläger am 14.09.2016 zugestellte Urteil hat die Kläger mit einem beim Oberlandesgericht München am 10.10.2016 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt (Bl. 108/109 d.A.) und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 14.12.2016 mit einem beim Oberlandesgericht München am 13.12.2016 eingegangenen Schriftsatz (Bl. 117/123 d.A.) begründet.

Der Kläger beantragt,

I. Das Urteil des Landgerichts München II vom 09.09.16 zu Aktenzeichen 13 O 3024/15 wird aufgehoben.

II. Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, an den Kläger 1.794,48 € nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit 15.01.2015 zu zahlen.

III. Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, an den Kläger ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit 01.01.15.

IV. Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, vorgerichtliche Kosten - nicht anrechenbare Anwaltsgebühren - in Höhe von 808,13 € zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

Die gegnerische Berufung wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2017 den Kläger, den Beklagten zu 1) und den Sachverständigen Dipl.-Ing. R. L. angehört. Auf das Sitzungsprotokoll (Bl. 148/157 d.A., insb. Bl. 149/155 d.A.) wird Bezug genommen.

Ergänzend wird auf die vorgenannte Berufungsbegründungsschrift, die Berufungserwiderung vom 16.02.2017 (Bl. 134/141 d.A.), die weiteren Schriftsätze der Parteien sowie das o.g. Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

B.

Die Berufung ist zurückzuweisen, weil sie zwar zulässig, aber unbegründet ist.

I.

Die Berufung ist unbegründet, weil die erstinstanzliche Klageabweisung im Ergebnis nicht zu beanstanden ist.

Aufgrund der, abgesehen von ihrer Ergänzungsbedürftigkeit, nicht zu beanstandenden und den Senat daher gem. § 529 I Nr. 1 ZPO bindenden Feststellungen des Erstgerichts in Verbindung mit dem Ergebnis der vom Senat ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme ist der Senat, wie auch schon das Landgericht, nicht mit der gem. § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit davon überzeugt, dass der streitgegenständliche Unfall auf einem Verschulden des Beklagten zu 1) beruht (§ 823 BGB) bzw. dass er zumindest der Betriebsgefahr des Beklagten-Pkws zuzuordnen ist (§ 7 I StVG). Die Beweislast trägt jeweils der Kläger.

Darüber hinaus ist der Senat aber sogar davon überzeugt, dass die o.g. klägerische Version nicht zutreffend ist. Soweit dies über den Hinweis des Senats in der Sitzung vom 30.06.2017 hinausgeht, spielt dies für das Ergebnis jedoch keine Rolle: In jedem Fall ist die Klage abzuweisen.

Träfe die Version des Klägers zu, so hätte der Beklagte zu 1) den Unfall verschuldet. Zudem wäre der Unfall der Betriebsgefahr des Beklagten-Pkws zuzuordnen.

Träfe hingegen die Version der Beklagten zu, so hätte der Beklagte zu 1) den Unfall nicht verschuldet. Auch wäre der Unfall nicht der Betriebsgefahr des Beklagten-Pkws zuzuordnen. Denn gem. der ständigen Rechtsprechung des BGH (vgl. z.B. Urteil vom 22.11.2016, Az.: VI ZR 533/15, juris) ist bei einem berührungslosen Unfall Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat. Wie der BGH im o.g. Urteil weiter überzeugend ausgeführt hat, ist es im Straßenverkehrsrecht anerkannt, dass maßgeblicher Zeitpunkt für Ursächlichkeit und Zurechnungszusammenhang der Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage ist, die unmittelbar zum Schaden führt. Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann.

Wäre nun der Beklagte zu 1), wie von den Beklagten behauptet, mit seinem Pkw nur langsam und ohne zu beschleunigen an die Haltelinie herangefahren, und zwar dergestalt, dass er den Pkw noch vor der Haltelinie zum Stehen brachte, hätte dies für den Kläger keinen Anhalt geboten, dass für ihn in Bezug auf den Beklagten-Pkw eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann.

Zunächst ist der Senat davon überzeugt, dass der Beklagten-Pkw in einem Abstand von mindestens einem halben Meter vor der Haltelinie zum Stehen gebracht worden war. So hat der Beklagte zu 1) im Laufe des Verfahrens stets glaubhaft bekundet, mit seinem Pkw noch vor der Haltelinie zum Stehen gekommen zu sein. Gem. seiner o.g. Anhörung vor dem Senat soll dies in einem Abstand von ca. einem Meter gewesen sein (vgl. S. 3 des o.g. Sitzungsprotokolls = Bl. 150 d.A.). Der Kläger wiederum hat zu keinem Zeitpunkt erklärt, er habe beobachtet, wie der Beklagten-Pkw über die Haltelinie hinausgefahren ist. Zuletzt hat er bei seiner o.g. Anhörung vor dem Senat nochmals klargestellt, er könne nicht sagen, ob der Beklagte zu 1) über die Haltelinie schon darüber gefahren ist (vgl. abermals S. 3 des o.g. Sitzungsprotokolls = Bl. 150 d.A.). Letztlich entscheidend aber sind die glaubhaften Aussagen der in erster Instanz vernommenen und vom Landgericht als glaubwürdig bewerteten, unbeteiligten Zeugen S. G. und J. G., denen zur Folge der Wagen noch hinter der Haltelinie stand, als sie unmittelbar nach dem Unfall am Unfallort eintrafen, und zwar ca. einen Meter (so der Zeuge J. G.; vgl. S. 6 des Protokolls der erstinstanzlichen Sitzung vom 10.06.2016 = Bl. 56 d.A.) bzw. ca. einen halben Meter oder auch mehr (so der Zeuge S. G.; vgl. S. 7 des o.g. Protokolls = Bl. 57 d.A.). Dass der Beklagten-Pkw in der Zwischenzeit wieder zurück hinter die Haltelinie bewegt worden wäre, wird von keiner Partei, insb. auch nicht dem Kläger, behauptet. Auch liegt kein sonstiger Anhaltspunkt dafür vor.

Weiterhin ist der Senat davon überzeugt, dass der Beklagte zu 1) seinen Wagen nicht noch kurz vor der Haltestelle beschleunigt hatte. Zwar hat der Kläger dies stets behauptet. Als er ihn zum ersten Mal gesehen habe, sei der Pkw „etwa drei Meter vom Kreuzungspunkt“ (vgl. die Zeugenvernehmung des Klägers in der Hauptverhandlung vom 24.09.2015 gegen den Beklagten zu 1) vor dem AG-Strafrichter-Weilheim i.OB, S. 7 des Protokolls = Bl. 71 der Strafakte 1 Cs 55 Js 6740/15) bzw. „so zwei Meter von der Sichtlinie“ (vgl. S. 2 des Protokolls der o.g. erstinstanzlichen Sitzung vom 10.06.2016 = Bl. 52 d.A.) entfernt gewesen. Von diesen mit ihm in der o.g. Sitzung des Oberlandesgerichts vom 30.06.2017 besprochenen Aussagen hat sich der Kläger bei seiner Anhörung nicht distanziert. Der Beklagte zu 1) hat ein Beschleunigen jedoch stets bestritten. Darüber hinaus, und insoweit waren die Feststellungen des Erstgerichts zu ergänzen, gilt gem. den überzeugenden Ausführungen des dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren als sachkundig bekannten Sachverständigen L. Folgendes: Es kann zwar aus technischer Sicht nicht bereits ausgeschlossen werden, dass der Beklagten-Pkw noch kurz vor der Haltelinie beschleunigt und sodann dennoch mindestens einen halben Meter vor der Haltelinie zum Stehen gebracht wurde (vgl. S. 5 des Protokolls der o.g. Sitzung vom 30.06.2017 = Bl. 152 d.A.). Der Senat bewertet dieses Szenario jedoch als, wenn auch möglich, so doch unwahrscheinlich: Denn gem. den Ausführungen des Sachverständigen (vgl. S. 6/7 des o.g. Protokolls = Bl. 153/154 d.A.) hätten dafür folgende Parameter zusammentreffen müssen: Der Beklagte zu 1) hätte mit der Beschleunigung nicht erst zwei Meter vor der Haltelinie beginnen dürfen; die Geschwindigkeit des Beklagten-Pkws hätte zu Beginn der Beschleunigung höchstens 5 km/h betragen dürfen; die Beschleunigung hätte mit maximal 1 m/s² auf höchstens 8 km/h erfolgen und nur eine Sekunde dauern dürfen. Wie auch der Sachverständige weiterhin festgestellt hat (vgl. S. 7 des o.g. Protokolls = Bl. 154 d.A.), ist es kaum wahrscheinlich, dass eine Beschleunigung von 5 km/h auf 8 km/h innerhalb einer Sekunde von jemandem an Stelle des Klägers überhaupt wahrgenommen wird, geschweige als Gefahr. Den weiteren Ausführungen des Sachverständigen (vgl. S. 7/8 des o.g. Protokolls = Bl. 154/155 d.A.) zur Folge kommt aber noch Folgendes hinzu: Geht man von einer Reaktionszeit des Klägers von 0,8 Sekunden aus, so ist es aufgrund der feststehenden Endlage des klägerischen Kraftrades und den sich daraus ergebenden Weg-/Zeitberechnungen technisch ausgeschlossen, dass der Kläger auf den von ihm behaupteten Beschleunigungsvorgang des Beklagten-Pkws reagiert hat. Vielmehr hätte er mit dem Ausweichmanöver bereits begonnen, als er den Beklagten-Pkw noch gar nicht sehen konnte. Geht man von einer Reaktionszeit von nur 0,65 Sekunden aus, kann der Kläger allenfalls die Front des Beklagten-Pkws, keineswegs aber bereits einen Beschleunigungsvorgang, gesehen haben, als er mit seinem Ausweichmanöver begann.

II.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 I ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

Urteilsbesprechung zu Oberlandesgericht München Endurteil, 30. Juni 2017 - 10 U 4051/16

Urteilsbesprechungen zu Oberlandesgericht München Endurteil, 30. Juni 2017 - 10 U 4051/16

Referenzen - Gesetze

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 823 Schadensersatzpflicht


(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. (2) Di

Zivilprozessordnung - ZPO | § 286 Freie Beweiswürdigung


(1) Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.
Oberlandesgericht München Endurteil, 30. Juni 2017 - 10 U 4051/16 zitiert 6 §§.

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Bundesgerichtshof Urteil, 22. Nov. 2016 - VI ZR 533/15

bei uns veröffentlicht am 22.11.2016

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL VI ZR 533/15 Verkündet am: 22. November 2016 Holmes Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR:

Referenzen

(1) Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden.

(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 533/15 Verkündet am:
22. November 2016
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Bei einem berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs
eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine
bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige
Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (Festhaltung
, Senatsurteil vom 21. September 2010 - VI ZR 263/09).
BGH, Urteil vom 22. November 2016 - VI ZR 533/15 - OLG Hamm
LG Paderborn
ECLI:DE:BGH:2016:221116UVIZR533.15.0

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Offenloch und die Richterinnen Dr. Oehler, Dr. Roloff und Müller
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 7. August 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

1
Der Kläger nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall auf Schmerzensgeld , Schadensersatz und Feststellung bei einer Haftungsquote von 75 % in Anspruch.
2
Am 10. April 2011 fuhr der Kläger auf seiner Ducati S 2 auf der B 83 von Beverungen Richtung Werden, wobei er dem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Motorrad der Beklagten zu 1 folgte. Die Beklagte zu 1 überholte unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn den Pkw des Zeugen B. Der Kläger wollte sowohl die Beklagte zu 1 als auch den Pkw überholen. Er fuhr weiter außen auf der Gegenfahrbahn und geriet, ohne dass es zu einer Fahrzeugbe- rührung gekommen wäre, in das Bankett. Dort verlor er die Kontrolle, stürzte und verletzte sich schwer.
3
Der Kläger behauptet, er habe die noch hinter dem Pkw des Zeugen B. fahrende Beklagte zu 1 fast schon überholt gehabt, als diese plötzlich ohne Schulterblick und Blinksignal nach links ausgeschert sei, und den Kläger zu einem kontinuierlichen Ausweichen nach links gezwungen habe. Die Beklagten tragen vor, die Beklagte zu 1 habe ordnungsgemäß den Pkw des Zeugen B. überholt und sei kurz vor dem Einscheren nach rechts von dem Kläger in zweiter Reihe verkehrsordnungswidrig überholt worden. Dabei sei er dem linken Fahrbahnrand zu nahe gekommen, ohne dass die Fahrweise der Beklagten zu 1 dazu Veranlassung gegeben habe.
4
Das Landgericht hat durch Grund- und Teilurteil die Haftung der Beklagten dem Grunde nach zu 50 % festgestellt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Berufungsgericht hat das Urteil auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Anschlussberufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche weiter.

Entscheidungsgründe:

I.

5
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt , der Kläger habe keinen Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG, weil sich nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen lasse, dass der ihm entstandene Schaden dem Betrieb des Motorrads der Beklagten zu 1 zuzurechnen sei. Ein offenes Beweisergebnis gehe hierbei zu Lasten des Klägers. Er habe nicht den Beweis geführt, dass ein Sach- und Personenschaden adäquat kausal "bei dem Betrieb" des Motorrads der Beklagten zu 1 entstanden sei.
6
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb" zwar grundsätzlich weit auszulegen und umfasse alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Ausreichend sei, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr verwirklicht habe und das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden sei. Erforderlich sei aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt werde, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handele, hinsichtlich derer der Verkehr schadlos gehalten werden müsse. Die Schadensfolge müsse in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden sei. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr komme es damit maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs stehe.
7
Ausgehend von diesen Grundsätzen könne die Betriebsgefahr des Motorrads der Beklagten zu 1 nicht dem Schadensereignis zugerechnet werden. Die Zurechnung scheitere zwar nicht schon daran, dass sich die beiden Motorräder nicht berührt hätten. Es lasse sich aber nicht feststellen, dass die Fahrweise der Beklagten zu 1 in einem engen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang auf die Schadensentstehung hingewirkt habe. Allein der Umstand, dass sich die Beklagte zu 1 wegen ihres eigenen Überholmanövers überhaupt auf der Gegenfahrbahn aufgehalten habe, habe keine Reaktion des Klägers im Sinne der angeführten Rechtsprechung ausgelöst.
8
Der Kläger habe nicht den Beweis geführt, dass er nur deshalb auf der Gegenfahrbahn weiter zum Fahrbahnrand geraten sei, weil er dabei auf eine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung der Beklagten zu 1 reagiert und neben dem eigentlichen Überholmanöver eine zusätzliche Ausweich- oder Abwehrreaktion vorgenommen habe. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Fahrlinie des Klägers allein auf seinem aktiven Entschluss beruht habe, die bereits im Gegenverkehr befindliche Beklagte zu 1 in einem Bogen zu umfahren, womit das Motorrad der Beklagten zu 1 ebenso wie das überholte Fahrzeug des Zeugen B. einfach nur auf der Straße gewesen wären. Die erstinstanzlich vernommenen Zeugen hätten weder die Darstellung des Klägers noch diejenige der Beklagten bestätigt. Sie hätten die beiden Motorräder erst zur Kenntnis genommen , als sie bereits nebeneinander auf Höhe des Fahrzeugs des Zeugen gewesen seien. Die Einleitung des jeweiligen Überholmanövers hätten sie daher nicht beschreiben können. Der vom Kläger behauptete Unfallhergang sei auch nicht durch das eingeholte schriftliche Sachverständigengutachten bewiesen. Die zeitliche Abfolge der Fahrmanöver habe sich mangels aussagekräftiger Unfallspuren nicht näher aufklären lassen, so dass sich zwar der Unfall dargestellt haben könne wie vom Kläger geschildert, aber die ebenfalls mögliche Unfallvariante der Beklagten nicht ausgeschlossen sei.

II.

9
Das hält den Rügen der Revision im Ergebnis nicht stand.
10
1. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass die Halterhaftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG und die Haftung des Fahrers aus vermutetem Verschulden gemäß § 7 Abs. 1 i.V.m. § 18 StVG nicht eingreifen, wenn ein in Betrieb befindliches Kraftfahrzeug lediglich an der Unfallstelle anwesend ist, ohne dass es durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat.
11
a) Das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb" ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Vorschrift weit auszulegen. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG umfasst daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Es genügt, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden ist. Ob dies der Fall ist, muss mittels einer am Schutzzweck der Haftungsnorm orientierten wertenden Betrachtung beurteilt werden. An diesem auch im Rahmen der Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang fehlt es, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will (Senatsurteil vom 26. April 2005 - VI ZR 168/04, VersR 2005, 992, 993 unter II 1 a mwN).
12
Für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr kommt es maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht. Allerdings hängt die Haftung gemäß § 7 StVG nicht davon ab, ob sich der Führer des im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten hat, und auch nicht davon, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist (Senatsurteil vom 26. April 2005, aaO mwN).
13
Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals "bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs" entspricht dem weiten Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG und findet darin ihre innere Rechtfertigung. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist sozusagen der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kfz - erlaubterweise - eine Gefahrenquelle eröffnet wird, und will daher alle durch den KfzVerkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann "bei dem Betrieb" eines Kfz entstanden, wenn sich von einem Kfz ausgehende Gefahren ausgewirkt haben (Senatsurteil vom 26. April 2005, aaO mwN).
14
Allerdings reicht die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Insbesondere bei einem sogenannten "Unfall ohne Berührung" ist daher Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat (Senatsurteile vom 22. Oktober 1968 - VI ZR 178/67, VersR 1969, 58; vom 29. Juni 1971 - VI ZR 271/69, VersR 1971, 1060; vom 11. Juli 1972 - VI ZR 86/71, NJW 1972, 1808 unter II 1 c), mithin, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (Senatsurteile vom 19. April 1988 - VI ZR 96/87, VersR 1988, 641 unter 1 a; vom 21. September 2010 - VI ZR 263/09, VersR 2010, 1614 Rn. 5; Galke, zfs 2011, 2, 5, 63; Laws/Lohmeyer /Vinke in Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR 2016, § 7 StVG Rn. 37; Schwab, DAR 2011, 11, 13; Bachmeier in Lütkes/Bachmeier/Müller/Rebler, Straßenverkehr, Stand April 2016, § 7 StVG Rn. 173; Burmann in Burmann/ Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 7 Rn. 13; Eggert in Ludovisy/Eggert/Burhoff, Praxis des Straßenverkehrsrechts, 6. Auflage, § 2 A Rn. 77 ff.; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 7 StVG Rn. 10).
15
b) So liegt es - jedenfalls nach den bisher von dem Berufungsgericht getroffenen Feststellungen - hier aber nicht. Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht - anders als das Berufungsgericht in der der Senatsentscheidung vom 21. September 2010 (VI ZR 263/09, aaO) zugrundeliegenden Fallgestaltung - nicht feststellen können, dass der Unfall - auch nur mittelbar - durch die Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) des Motorrads der Beklagten zu 1 verursacht worden ist. Entgegen der Ansicht der Revision genügt dafür der Umstand, dass die Beklagte zu 1 zeitlich parallel zu dem Unfallgeschehen ein Überholmanöver vorgenommen hat und der Kläger selbst nach dem Vorbringen der Beklagten einen Bogen gefahren ist, um in zweiter Reihe zu überholen, allein nicht.
16
aa) Jedes im Betrieb befindliche und an der Unfallstelle (lediglich) anwesende Fahrzeug nimmt parallel zu dem Unfallgeschehen ein - wie auch immer geartetes Fahrmanöver - vor. Aus diesem Grund kann der Unfall immer auch auf die Verkehrssituation in ihrer Gesamtheit zurückgeführt werden. Hier wäre der Unfall zwar auch nach dem Vorbringen der Beklagten ohne das Überholmanöver der Beklagten zu 1 nicht geschehen, weil die Fahrlinie des Klägers dann möglicherweise eine andere gewesen wäre. Das reicht indes für den gemäß § 7 Abs. 1 StVG erforderlichen Zurechnungszusammenhang nicht aus, weil die Zurechnung von dem Unfallgeschehen selbst nicht gelöst werden kann.
17
(1) Es ist im Straßenverkehrsrecht anerkannt, dass maßgeblicher Zeitpunkt für Ursächlichkeit und Zurechnungszusammenhang der Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage ist, die unmittelbar zum Schaden führt. Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (Senatsurteile vom 25. März 2003 - VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 784; vom 1. Dezember 2009 - VI ZR 221/08, VersR 2010, 642 Rn. 16, 21). Das gilt auch für die Gefährdungshaftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., Einleitung Rn. 101; § 7 StVG Rn. 13; § 17 Rn. 17).
18
(2) Nach diesen Grundsätzen war - den Vortrag der Beklagten zugrunde gelegt - eine kritische Verkehrslage durch den von der Beklagten zu 1 vorgenommenen Überholvorgang (allein) noch nicht eingetreten. Eine kritische Verkehrslage entstand frühestens dann, als der Kläger sich gleichzeitig mit ihr auf die Gegenfahrbahn begab. Auch dieser Umstand kann der Beklagten zu 1 indes nicht zugerechnet werden. Denn es stellt keine typische Gefahr eines Überholvorgangs dar, dass rückwärtiger Verkehr diesen seinerseits zum Überholen in zweiter Reihe nutzt und dabei - ohne dass eine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung des Überholenden dazu Anlass gegeben hätte - ins Schlingern gerät. Allein der Umstand, dass die Beklagte zu 1 überholte, reicht daher nicht aus, um eine im Rahmen des § 7 Abs. 1 StVG relevante Ursächlichkeit ihrer Fahrweise (oder sonstigen Verkehrsbeeinflussung) für den Unfall zu bejahen.
19
Wäre dies anders, würde letztlich die bloße Anwesenheit eines in Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs in der Nähe der Unfallstelle für eine Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG genügen. Dies führte zudem zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten , weil nicht nur die das Überholmanöver vornehmende Beklagte zu 1, sondern auch der Zeuge B. mit seinem Kraftfahrzeug die Verkehrssituation gleichermaßen (mit-)geprägt hat. Auch diesem ist der Kläger - unter Zugrundelegung des Vortrags der Beklagten - durch sein Überholmanöver letztlich "ausgewichen".
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bb) Insofern liegt es hier nach den (bisherigen) Feststellungen des Berufungsgerichts anders als in den bisher von dem Senat entschiedenen Fällen, in denen stets eine Verursachung des Unfalls durch eine wie auch immer geartete Verkehrsbeeinflussung des gegnerischen Fahrzeugs festgestellt war. So geht auf einer Bundesautobahn von einem verhältnismäßig sperrigen und langsam überholenden Fahrzeug oder auch nur einem Fahrverhalten, das als Beginn des Überholvorgangs oder seine Ankündigung aufgefasst werden kann, eine typische Gefahr für auf der Überholfahrbahn nachfolgende schnellere Verkehrsteilnehmer aus, die durch eine misslingende Abwehrreaktion zu Schaden kommen (Senatsurteil vom 29. Juni 1971, aaO). Eine typisch mit dem Betrieb eines Sattelschleppers verbundene Gefahr wirkt sich aus, wenn ein von diesem überholter Fahrer eines Motorfahrrades unsicher wird und deshalb stürzt (Senatsurteil vom 11. Juli 1972 - VI ZR 86/71, aaO unter II 1 c). In zurechenbarer Weise durch ein Kraftfahrzeug (mit-)veranlasst ist ein Unfall bei seinem Herannahen an entgegenkommenden Fahrradverkehr, wenn der Verkehrsraum zu eng zu werden droht und einer der Fahrradfahrer bei einem Ausweichmanöver stürzt (Senatsurteil vom 19. April 1988 - VI ZR 96/87, aaO unter 1 b). Selbst ein Unfall infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen - Abwehr- und Ausweichreaktion ist dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zuzurechnen, das diese Reaktion - im Streitfall durch einen kleinen Schlenker aus seiner Fahrspur hinaus - ausgelöst hat (Senatsurteil vom 26. April 2005 - VI ZR 168/04, aaO unter II 1 b). Dagegen rechtfertigt die bloße Anwesenheit eines anderen im Betrieb befindlichen Fahrzeugs an der Unfallstelle für sich allein noch nicht die Annahme, dass ein in seinem Ablauf ungeklärter Unfall bei dem Betrieb dieses Fahrzeugs entstanden ist (Senatsurteil vom 22. Oktober 1968 - VI ZR 178/67, VersR 1969,

58).

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2. Zu Recht rügt aber die Revision, dass das Berufungsgericht seiner Entscheidung den von den Beklagten geschilderten Unfallhergang zugrunde gelegt hat, ohne sich mit den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen ausreichend auseinanderzusetzen, § 286 ZPO.
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a) Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten , an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., Senatsurteil vom 16. April2013 - VI ZR 44/12, NJW 2014, 71 Rn. 13 mwN).
23
b) Einen solchen Fehler zeigt die Revisionsbegründung hier im Hinblick auf die Feststellungen des Berufungsgerichts auf. Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung den von den Beklagten geschilderten Unfallhergang zugrunde gelegt und gemeint, der insoweit darlegungs- und beweisbelastete (§ 7 Abs. 1 StVG) Kläger habe den von ihm behaupteten Geschehensablauf nicht beweisen können. Es ist daher davon ausgegangen, dass das Fahrverhalten des Klägers durch die Beklagte zu 1 in keiner Weise beeinflusst worden sei. Dabei hat es indes den Prozessstoff und die Beweisergebnisse nicht ausgeschöpft.
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aa) Zwar hatte das Berufungsgericht entgegen der Ansicht der Revision keinen Anlass, die Zeugen gemäß § 398 Abs. 1 ZPO erneut zu vernehmen (vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 2006 - IV ZR 130/05, NJW 2007, 372, 374 mwN; Voit in Musielak, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 529 Rn. 14 f.). Sowohl das Landgericht als auch das Berufungsgericht gehen davon aus, dass die Zeugenaussagen für die maßgebliche Frage, ob der Kläger aufgrund des Fahrverhaltens der Beklagten zu 1 ein Ausweichmanöver durchgeführt hatte, unergiebig sind.
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bb) Das Berufungsgericht hat bei seiner Würdigung aber - wie die Revision zu Recht rügt - eine wesentliche Aussage des Sachverständigen unbeachtet gelassen. Der Sachverständige hat ausgeführt, die Spurenlage lasse ein Ausweichmanöver des Klägers aus dem linken Randbereich der linken Fahrbahn (Gegenfahrbahn) weiter nach links mit Einleitung einer Notbremsung erkennen. Das Landgericht hatte, ohne dies zu hinterfragen, festgestellt, der Kläger sei durch das Fahrzeug der Beklagten zu 1 zu einem Ausweichmanöver veranlasst worden.
26
Vor diesem Hintergrund durfte das Berufungsgericht nicht ohne ergänzende Beweisaufnahme wie etwa einer Anhörung des Sachverständigen und gegebenenfalls einer erneuten Anhörung der Parteien in Anwesenheit des Sachverständigen davon ausgehen, dass der Überholvorgang des Klägers durch den der Beklagten zu 1 in keiner Weise beeinflusst worden sei (vgl. Senatsurteil vom 21. September 2010 - VI ZR 263/09, aaO Rn. 8). Dies gilt umso mehr, als die aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserhebliche Frage des Vorliegens eines Ausweichmanövers in erster Instanz weder für den Sachverständigen noch für das Gericht von maßgeblicher Bedeutung gewesen ist.

III.

27
Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben, sondern ist aufzuheben und mangels Entscheidungsreife zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Galke Offenloch Oehler Roloff Müller
Vorinstanzen:
LG Paderborn, Entscheidung vom 08.10.2014 - 3 O 60/13 -
OLG Hamm, Entscheidung vom 07.08.2015 - I-11 U 186/14 -

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.