Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Okt. 2016 - A 11 K 698/16

bei uns veröffentlicht am14.10.2016

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die am ...1943 geborene Klägerin reiste am 30.12.1998 in das Bundesgebiet ein. Am 02.03.1999 beantragte sie die Gewährung von Asyl.
Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17.06.1999 wurde der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte abgelehnt und festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Mit einer Ausreisefrist von einem Monat wurde der Klägerin die Abschiebung in den Iran angedroht. Die daraufhin eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (VG Stuttgart, Urt. v. 20.01.2000 - A 11 K 12175/99; VGH Mannheim, Beschl. v. 03.03.2000 - A 3 S 452/00). Die Klägerin wurde in der Folgezeit im Bundesgebiet geduldet.
Mit Schreiben vom 28.11.2013 bat die Ausländerbehörde der Stadt Waiblingen die Beklagte unter Vorlage medizinischer Unterlagen um die Prüfung, ob sich aus Krankheitsgründen ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot ergebe. In dem vorgelegten aktuellsten ärztlichen Attest von Dr. D vom 12.01.2012 ist ausgeführt, die Klägerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, an einer rezidivierenden depressiven Störung und an einer schweren depressiven Episode. In Belastungssituationen dekompensiere sie. Sie sei völlig unfähig, sich selbst zu versorgen. Die Klägerin esse nichts, wenn sie auf sich allein gestellt sei, was im Zusammenhang mit ihrem Diabetes lebensgefährliche Folgen haben könne.
Im ärztlichen Attest von Dr. S vom 27.12.2011 ist ausgeführt, die Klägerin werde wegen ihrem Diabetes, ihrer depressiven Verstimmung und der Risikofaktoren in Bezug auf den Diabetes behandelt. Der Diabetes werde mit Medikamenten behandelt und sei unter Betreuung der Tochter der Klägerin und der ärztlichen Versorgung in einem relativ ordentlichen und kontrollierten Zustand.
Mit Schreiben vom 11.12.2013 hat die Beklagte die Klägerin informiert, dass ein Wiederaufgreifensverfahren von Amts wegen durchgeführt werde.
Mit Bescheid vom 15.01.2016 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung sei nicht nachvollziehbar. Unabdingbare Voraussetzung für das Vorliegen einer PTBS sei das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses. Die Diagnose einer PTBS in den vorgelegten ärztlichen Attesten beruhe aber nur auf den eigenen Angaben der Klägerin, ohne dass diese auch nur ansatzweise kritisch hinterfragt worden seien. Im Erstasylverfahren seien die Angaben der Klägerin als unglaubhaft eingestuft worden. Deshalb könnten die diagnostizierte depressive Störung und die schwere Episode nicht auf traumatisierenden Erlebnissen im Heimatland beruhen. Im Übrigen seien die psychischen Beeinträchtigungen und der diagnostizierte Diabetes im Iran behandelbar. Der Diabetes werde im Iran medikamentös behandelt. Im Iran seien auch die erforderlichen Medikamente zur Behandlung psychischer Erkrankungen, auch einer PTBS, vorhanden und diese Krankheiten würden medikamentös und psychotherapeutisch behandelt. Zur Behandlung eines psychischen Krankheitsbildes gebe es im Iran genügend Psychologen, Psychiater oder psychiatrische Krankenhäuser mit adäquaten ambulanten oder stationären Behandlungsmöglichkeiten. Die Klägerin sei im Falle einer Rückkehr in den Iran auch nicht auf sich alleine gestellt. Sie habe sich nach ihren Angaben im Erstasylverfahren viel bei Verwandten, vor allem bei ihrer Schwester und dessen Sohn, aufgehalten. Im Iran gebe es zudem Alten- und Pflegeheime sowie Pflegedienste. Die Klägerin könne auch auf die von Familienangehörigen zu finanzierende private häusliche (ambulante) Pflege zurückgreifen. Sie habe nach ihren Angaben im Erstasylverfahren auch ohne Rente und ohne Krankenschutz über eine gesicherte Existenz im Iran verfügt. Der Klägerin drohe im Iran auch keine, durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder sonstige relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.
Am 08.02.2016 hat die Klägerin Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, alle ihre Kinder hielten sich in Deutschland auf. Ihr Ehemann sei verstorben. Ihre Betreuung erfolge durch die im Großraum Stuttgart lebenden Kinder. Bei einer Rückkehr in den Iran sei eine Versorgung nicht mehr gewährleistet. Im Iran befänden sich keine näheren Verwandten. Als Christin sei sie von den staatlichen Alten- und Pflegeeinrichtungen weitestgehend ausgeschlossen. Sie leide an einer schweren depressiven Erkrankung. Ihr labiler psychischer Zustand werde sich bei einer Rückkehr in den Iran erheblich verschlechtern. Eine ambulante oder stationäre Psychotherapie gebe es im Iran nicht. Die angebotenen psychotherapeutischen und sozialtherapeutischen Maßnahmen seien zudem sehr kostspielig und müssten von den Patienten bezahlt werden. Medikamente müssten im Iran grundsätzlich selbst bezahlt werden. Selbst wenn sie einen Versicherungsschutz erhielte, wäre sie auf hohe Eigenaufwendungen angewiesen, da die Behandlungskosten deutlich über den Versicherungsleistungen lägen und Medikamente selbst bezahlt werden müssten. Sie verfüge im Iran über keine finanziellen Reserven. Angehörige im Iran, die eine finanzielle Unterstützung gewährleisten könnten, seien nicht vorhanden. Bei einer Rückkehr in den Iran fehle auch das stabilisierende Umfeld durch die in Deutschland lebenden Kinder. Im Iran gebe es für sie keine Familienstruktur oder ein soziales Netz. Sie sei im Hinblick auf ihre Krankheiten und das fortgeschrittene Alter dauerhaft nicht fähig, ihren Tagesablauf zu strukturieren und für sich selbst zu sorgen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15.01.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt.
10 
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.
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In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin auf Fragen des Gerichts vorgetragen, sie wohne in Waiblingen alleine in einer ca. 40 m² großen Wohnung. Sie beziehe Sozialhilfe. Morgens stehe sie zwischen 7:30 Uhr und 8:00 Uhr auf. Vor dem Frühstück müsse sie ihre Tabletten einnehmen. Das Mittagessen bereite sie sich selbst zu, wenn ihre Kinder ein Essen nicht vorbei gebracht hätten. Nach dem Mittagessen ruhe sie sich aus oder gehe für 15 bis 20 Minuten an die frische Luft. Nachmittags esse sie eine Kleinigkeit und trinke Tee. Wenn es ihr gut gehe, setze sie ihre Näharbeiten fort. Derzeit stelle sie eine Decke her. Das Abendessen nehme sie gegen 18:00 Uhr ein. Auch zum Abendessen müsse sie Medikamente einnehmen. Nach dem Abendessen schaue sie deutsches Fernsehen, obwohl sie kein Wort Deutsch verstehe. Zum Einkaufen gehe sie nicht alleine, sondern nur in Begleitung ihrer Tochter. Zum Treffen der assyrischen Gemeinde werde sich hin und zurückgefahren. Zu ihrem Hausarzt Dr. S gehe sie einmal wöchentlich, wenn ihr Zustand schlecht sei, ansonsten einmal im Quartal. Dieser Arzt behandele sie wegen Diabetes. Sie nehme diesbezüglich Tabletten und spritze seit zwei Jahren Insulin. Beim Arztbesuch werde sie immer von ihrer Tochter begleitet. Zu Dr. D gehe sie einmal im Quartal wegen Schlaflosigkeit und wegen ihres sonstigen psychischen Zustandes. Die Ärztin untersuche ihr Blut und ihre Nieren und verschreibe Tabletten. Auch bei diesem Arztbesuch werde sie regelmäßig von ihrer Tochter begleitet. Sie habe vier Kinder, die sich alle in Deutschland aufhielten. Drei ihrer vier Kinder seien berufstätig. Sie habe keine Geschwister. Soweit sie im Erstasylverfahren von einer Schwester gesprochen habe, handele es sich um die Schwester ihres verstorbenen Ehemannes. Sie wisse nicht, ob diese noch lebe oder wo sie wohne. Ihr Ehemann habe zwei Schwestern, mit einer von ihnen habe sie im Iran Kontakt gehabt.
14 
Im Klageverfahren hat die Klägerin weitere ärztliche Atteste von Dr. S (Facharzt für Allgemeinmedizin/Homöopathie) vom 18.02.2016 und von Dr. D (Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie - Verhaltenstherapie -) vom 05.02.2016 vorgelegt. Dr. S führt in seinem Attest aus, die Klägerin werde seit vielen Jahren wegen ihrem Diabetes mellitus sowie arterieller Hypertonie betreut. Sie werde medikamentös behandelt und regelmäßig kontrolliert. Unter regelmäßiger Medikation und Diät seien die Laborwerte im ordentlichen Bereich. Ferner bestehe eine Hypothyreose, die eine Substitution mit Schilddrüsenhormon bedürfe. Alle Erkrankungen gefährdeten die Klägerin, sollte sie Deutschland verlassen müssen.
15 
Dr. D führt in ihrem fachärztlichen Attest aus, die Klägerin befinde sich bei ihr regelmäßig seit 10.07.2008 in psychiatrischer Behandlung. Es lägen folgende Diagnosen vor: Posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode. Eine antidepressive Psychopharmakotherapie erfolge seit Jahren. Nach wie vor dekompensiere sie in Belastungssituationen. Sie sei völlig unfähig, sich selbst zu versorgen. Deshalb sei es unbedingt notwendig, dass sie hier in der Nähe ihrer Kinder bleiben könne, da ansonsten ihre Gesundheit ernstlich gefährdet sei. Die Klägerin esse z.B. nichts, wenn sie auf sich allein gestellt sei, was in Zusammenhang mit ihrem Diabetes lebensgefährliche Folgen haben könne. Sie schlafe in Belastungssituationen nicht, spreche dann auch nicht. So könne sie im Iran nicht leben.
16 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörende Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
17 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens von Beteiligten über die Sache verhandeln und entscheiden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO).
18 
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Dies ist im angefochtenen Bescheid ausführlich und zutreffend dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird deshalb auf den angegriffenen Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist lediglich auszuführen:
19 
Der Klägerin droht bei einer Rückkehr in den Iran keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe im Sinne des Art. 3 EMRK, so dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ausscheidet. Dass sich die iranischen Sicherheitskräfte an der fast 73 Jahre alten Klägerin, die nach den rechtskräftigen Feststellungen des Gerichts im Erstasylverfahren den Iran ohne erlittene oder drohende Verfolgung verlassen hat, vergreifen könnten, ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
20 
Die Klägerin hat auch im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand keinen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrer Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
21 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - BVerwGE 99, 324).
22 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.07.1999 - 9 C 2/99 - juris -). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1/02 - DVBl 2003, 463 und Beschl. v. 29.04.2002 - 1 B 59/02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urt. v. 24.06.2003 - 7 UE 3606/99.A - AuAS 2004, 20). Unerheblich ist indes, ob die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.10.2001 - 1 B 185/01 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51). Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dient nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 14.06.2005 - 11 A 4518/02.A - AuAS 2005, 189).
23 
Die von Dr. S diagnostizierte arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus sowie Hypothyreose und die von Dr. D diagnostizierte depressive Störung und schwere depressive Episode begründen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Denn diese Krankheiten können im Iran behandelt werden und eventuell erforderliche Medikamente sind im Iran erhältlich (vgl. Deutsche Botschaft, Auskunft vom 13.02.2003 an Bundesamt, vom 09.06.2001 an VG Leipzig und vom 19.08.2004 an VG Hannover; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 31.03.2005 an BAMF). Die Aussage von Dr. S in seinem ärztlichen Attest vom 18.02.2016, wonach alle Erkrankungen die Klägerin gefährdeten, sollte sie Deutschland verlassen müssen, ist durch nichts belegt und im Hinblick auf die dargelegte Erkenntnislage unmaßgeblich. Es ist schon erstaunlich, dass ein Arzt eine Gefahrenprognose stellt, ohne die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland auch nur im Ansatz zur Kenntnis zu nehmen bzw. zu würdigen.
24 
Zwar dürfte die Klägerin die erforderlichen Medikamente im Iran selbst bezahlen müssen (vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 22.12.2003 an VG Aachen), außerdem muss sie voraussichtlich Vorauszahlungen leisten, damit eine Behandlung in Angriff genommen wird (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 20.11.2008). Das Gericht geht jedoch davon aus, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Iran mit einer verlässlichen finanziellen Unterstützung ihrer in Deutschland lebenden vier Kinder rechnen kann. Die Familien dieser vier Kinder besitzen sämtlich einen gesicherten Aufenthaltsstatus und regelmäßige Einkünfte. Es gibt einen Erfahrungssatz dahingehend, dass Kinder mit arabischem Migrationshintergrund ihre Eltern bei finanzieller Not unterstützen. Dies wurde von der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Tochter der Klägerin auch nicht in Abrede gestellt. Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin die erforderliche ärztliche und medikamentöse Behandlung im Iran nicht erhalten wird.
25 
Soweit Dr. D im Attest vom 05.02.2016 zudem eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert, ist das Gericht nicht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass diese Erkrankung bei der Klägerin vorliegt.
26 
Bei der PTBS handelt es sich um ein innerpsychisches Erlebnis, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht. Es kommt deshalb in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Betreffenden hinsichtlich des das Trauma auslösenden Ereignisses, einer alternativen Hypothesenbildung sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282 ff; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff). Nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10)“ entsteht die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (traumatisierendes Ereignis, sog. A-Kriterium). Somit ist für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung der Nachweis eines traumatischen Ereignisses Voraussetzung. Es gibt keine posttraumatische Belastungsstörung ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 752; Steller in: Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41; OVG Magdeburg, Beschl. v. 01.12.2014 - 2 M 119/14 - juris -; VGH München, Beschl. v. 28.09.2006 - 19 CE 06.2690 - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 14.01.2008 - A 11 K 4941/07 - InfAuslR 2008, 323). Die Feststellung des behaupteten traumatisierenden Ereignisses ist Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Ein traumatisierendes Ereignis wurde weder von der Klägerin im Erstasylverfahren oder in der mündlichen Verhandlung vom 14.10.2016 geltend gemacht noch von Dr. D im Attest vom 05.02.2016 dargelegt. Fehlt es damit am Nachweis eines traumatisierenden Ereignisses, ist das Symptomspektrum einer PTBS nicht ausgefüllt.
27 
Im Übrigen genügt das vorgelegte Attest von Dr. D vom 05.02.2016 auch nicht den Mindestanforderungen, die an ein fachärztliches Attest gestellt werden.
28 
Angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes der PTBS sowie seiner vielfältigen Symptome muss ein fachärztliches Attest gewissen Mindestanforderungen genügen. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist. Diese Vorgaben an die Substantiierung ergeben sich aus der Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO), die in besonderem Maße für Umstände gilt, die in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251 und Beschl. v. 26.07.2012 - 10 B 21/12 - juris -).
29 
Diesen Anforderungen wird das vorgelegte ärztliche Attest von Dr. D nicht gerecht. In dem Attest vom 05.02.2016 fehlen jegliche Angaben dazu, wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt und inwiefern die von der Klägerin geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Das Attest gibt auch keinen Aufschluss über die Schwere der Krankheit und den bisherigen Behandlungsverlauf.
30 
Die Diagnose einer PTBS ist auch nicht in nachvollziehbarer Weise gestellt. Typische Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks) oder in Träumen vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten; hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. S. 750ff; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff.). Dem ärztlichen Attest von Dr. D vom 05.02.2016 ist jedoch nicht zu entnehmen, dass diese Merkmale bei der Klägerin vorliegen.
31 
Die aufgezeigten Defizite im vorgelegten ärztlichen Attest vom 05.02.2016 sprechen dafür, dass Dr. D die für eine sichere Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung erforderliche umfangreiche klinische Erfahrung einschließlich spezieller Kenntnisse in Psychotraumatologie nicht besitzt (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. S. 748; Gierlichs, Deutsches Ärzteblatt 2002, 403).
32 
Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin - entgegen der Behauptung ihres Prozessbevollmächtigten - im Iran nicht fähig ist, für sich selbst zu sorgen. In der mündlichen Verhandlung trug die Klägerin vor, sie wohne in Waiblingen alleine in einer Wohnung. Sie bereite sich eigenständig das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen zu und gehe auch in der Regel alleine täglich 15 bis 20 Minuten an die frische Luft. Diese Angaben zeigen, dass die Klägerin nicht betreuungsbedürftig und bei den Verrichtungen des täglichen Lebens nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist. Da im Iran Sprachbarrieren nicht bestehen, könnte sie dort die notwendigen Einkäufe auch selbst tätigen. Die Ausführungen von Dr. Dr in ihrem fachärztlichen Attest vom 05.02.2016 führen zu keiner anderen Beurteilung. Ihre Aussagen, die Klägerin sei völlig unfähig, sich selbst zu versorgen, die Klägerin esse nichts, wenn sie auf sich allein gestellt sei und so könne sie im Iran nicht leben, sind durch nichts belegt und widersprechen den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung. Vor diesem Hintergrund stellen die genannten Ausführungen von Dr. D in ihrem Attest vom 05.02.2016 sich als bloße Gefälligkeitsbescheinigung dar. Das Gericht braucht deshalb nicht zu entscheiden, ob es sich bei Hilfebedürftigkeit von älteren Menschen um eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG handelt (zu der in diesem Fall erforderlichen extremen Gefahrenlage vgl. BVerwG, Urt. v. 29.09.2011 - 10 C 24/10 - NVwZ 2012, 451).
33 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
17 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens von Beteiligten über die Sache verhandeln und entscheiden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO).
18 
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Dies ist im angefochtenen Bescheid ausführlich und zutreffend dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird deshalb auf den angegriffenen Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist lediglich auszuführen:
19 
Der Klägerin droht bei einer Rückkehr in den Iran keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe im Sinne des Art. 3 EMRK, so dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ausscheidet. Dass sich die iranischen Sicherheitskräfte an der fast 73 Jahre alten Klägerin, die nach den rechtskräftigen Feststellungen des Gerichts im Erstasylverfahren den Iran ohne erlittene oder drohende Verfolgung verlassen hat, vergreifen könnten, ist weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
20 
Die Klägerin hat auch im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand keinen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrer Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
21 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - BVerwGE 99, 324).
22 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.07.1999 - 9 C 2/99 - juris -). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1/02 - DVBl 2003, 463 und Beschl. v. 29.04.2002 - 1 B 59/02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urt. v. 24.06.2003 - 7 UE 3606/99.A - AuAS 2004, 20). Unerheblich ist indes, ob die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.10.2001 - 1 B 185/01 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51). Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dient nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 14.06.2005 - 11 A 4518/02.A - AuAS 2005, 189).
23 
Die von Dr. S diagnostizierte arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus sowie Hypothyreose und die von Dr. D diagnostizierte depressive Störung und schwere depressive Episode begründen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Denn diese Krankheiten können im Iran behandelt werden und eventuell erforderliche Medikamente sind im Iran erhältlich (vgl. Deutsche Botschaft, Auskunft vom 13.02.2003 an Bundesamt, vom 09.06.2001 an VG Leipzig und vom 19.08.2004 an VG Hannover; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 31.03.2005 an BAMF). Die Aussage von Dr. S in seinem ärztlichen Attest vom 18.02.2016, wonach alle Erkrankungen die Klägerin gefährdeten, sollte sie Deutschland verlassen müssen, ist durch nichts belegt und im Hinblick auf die dargelegte Erkenntnislage unmaßgeblich. Es ist schon erstaunlich, dass ein Arzt eine Gefahrenprognose stellt, ohne die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland auch nur im Ansatz zur Kenntnis zu nehmen bzw. zu würdigen.
24 
Zwar dürfte die Klägerin die erforderlichen Medikamente im Iran selbst bezahlen müssen (vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 22.12.2003 an VG Aachen), außerdem muss sie voraussichtlich Vorauszahlungen leisten, damit eine Behandlung in Angriff genommen wird (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 20.11.2008). Das Gericht geht jedoch davon aus, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Iran mit einer verlässlichen finanziellen Unterstützung ihrer in Deutschland lebenden vier Kinder rechnen kann. Die Familien dieser vier Kinder besitzen sämtlich einen gesicherten Aufenthaltsstatus und regelmäßige Einkünfte. Es gibt einen Erfahrungssatz dahingehend, dass Kinder mit arabischem Migrationshintergrund ihre Eltern bei finanzieller Not unterstützen. Dies wurde von der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Tochter der Klägerin auch nicht in Abrede gestellt. Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin die erforderliche ärztliche und medikamentöse Behandlung im Iran nicht erhalten wird.
25 
Soweit Dr. D im Attest vom 05.02.2016 zudem eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert, ist das Gericht nicht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass diese Erkrankung bei der Klägerin vorliegt.
26 
Bei der PTBS handelt es sich um ein innerpsychisches Erlebnis, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht. Es kommt deshalb in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Betreffenden hinsichtlich des das Trauma auslösenden Ereignisses, einer alternativen Hypothesenbildung sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282 ff; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff). Nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10)“ entsteht die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (traumatisierendes Ereignis, sog. A-Kriterium). Somit ist für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung der Nachweis eines traumatischen Ereignisses Voraussetzung. Es gibt keine posttraumatische Belastungsstörung ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 752; Steller in: Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41; OVG Magdeburg, Beschl. v. 01.12.2014 - 2 M 119/14 - juris -; VGH München, Beschl. v. 28.09.2006 - 19 CE 06.2690 - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 14.01.2008 - A 11 K 4941/07 - InfAuslR 2008, 323). Die Feststellung des behaupteten traumatisierenden Ereignisses ist Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Ein traumatisierendes Ereignis wurde weder von der Klägerin im Erstasylverfahren oder in der mündlichen Verhandlung vom 14.10.2016 geltend gemacht noch von Dr. D im Attest vom 05.02.2016 dargelegt. Fehlt es damit am Nachweis eines traumatisierenden Ereignisses, ist das Symptomspektrum einer PTBS nicht ausgefüllt.
27 
Im Übrigen genügt das vorgelegte Attest von Dr. D vom 05.02.2016 auch nicht den Mindestanforderungen, die an ein fachärztliches Attest gestellt werden.
28 
Angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes der PTBS sowie seiner vielfältigen Symptome muss ein fachärztliches Attest gewissen Mindestanforderungen genügen. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist. Diese Vorgaben an die Substantiierung ergeben sich aus der Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO), die in besonderem Maße für Umstände gilt, die in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251 und Beschl. v. 26.07.2012 - 10 B 21/12 - juris -).
29 
Diesen Anforderungen wird das vorgelegte ärztliche Attest von Dr. D nicht gerecht. In dem Attest vom 05.02.2016 fehlen jegliche Angaben dazu, wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt und inwiefern die von der Klägerin geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Das Attest gibt auch keinen Aufschluss über die Schwere der Krankheit und den bisherigen Behandlungsverlauf.
30 
Die Diagnose einer PTBS ist auch nicht in nachvollziehbarer Weise gestellt. Typische Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks) oder in Träumen vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten; hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. S. 750ff; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff.). Dem ärztlichen Attest von Dr. D vom 05.02.2016 ist jedoch nicht zu entnehmen, dass diese Merkmale bei der Klägerin vorliegen.
31 
Die aufgezeigten Defizite im vorgelegten ärztlichen Attest vom 05.02.2016 sprechen dafür, dass Dr. D die für eine sichere Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung erforderliche umfangreiche klinische Erfahrung einschließlich spezieller Kenntnisse in Psychotraumatologie nicht besitzt (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. S. 748; Gierlichs, Deutsches Ärzteblatt 2002, 403).
32 
Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin - entgegen der Behauptung ihres Prozessbevollmächtigten - im Iran nicht fähig ist, für sich selbst zu sorgen. In der mündlichen Verhandlung trug die Klägerin vor, sie wohne in Waiblingen alleine in einer Wohnung. Sie bereite sich eigenständig das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen zu und gehe auch in der Regel alleine täglich 15 bis 20 Minuten an die frische Luft. Diese Angaben zeigen, dass die Klägerin nicht betreuungsbedürftig und bei den Verrichtungen des täglichen Lebens nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist. Da im Iran Sprachbarrieren nicht bestehen, könnte sie dort die notwendigen Einkäufe auch selbst tätigen. Die Ausführungen von Dr. Dr in ihrem fachärztlichen Attest vom 05.02.2016 führen zu keiner anderen Beurteilung. Ihre Aussagen, die Klägerin sei völlig unfähig, sich selbst zu versorgen, die Klägerin esse nichts, wenn sie auf sich allein gestellt sei und so könne sie im Iran nicht leben, sind durch nichts belegt und widersprechen den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung. Vor diesem Hintergrund stellen die genannten Ausführungen von Dr. D in ihrem Attest vom 05.02.2016 sich als bloße Gefälligkeitsbescheinigung dar. Das Gericht braucht deshalb nicht zu entscheiden, ob es sich bei Hilfebedürftigkeit von älteren Menschen um eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG handelt (zu der in diesem Fall erforderlichen extremen Gefahrenlage vgl. BVerwG, Urt. v. 29.09.2011 - 10 C 24/10 - NVwZ 2012, 451).
33 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Okt. 2016 - A 11 K 698/16

Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Okt. 2016 - A 11 K 698/16

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 83b Gerichtskosten, Gegenstandswert


Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 77 Entscheidung des Gerichts


(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefä
Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Okt. 2016 - A 11 K 698/16 zitiert 7 §§.

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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 83b Gerichtskosten, Gegenstandswert


Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 77 Entscheidung des Gerichts


(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefä

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 108


(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) Das Urteil darf nur auf Tatsache

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 102


(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende di

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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Okt. 2016 - A 11 K 698/16 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).

Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Okt. 2016 - A 11 K 698/16 zitiert 3 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Beschluss, 01. Dez. 2014 - 2 M 119/14

bei uns veröffentlicht am 01.12.2014

Gründe 1 I. Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg. 2 Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Ausreise aufgrund inlandsbezogener Vollstreckungshind

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 29. Sept. 2011 - 10 C 24/10

bei uns veröffentlicht am 29.09.2011

Tatbestand 1 Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf des ihm zuerkannten Abschiebungsschutzes hinsichtlich Afghanistans.

Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Jan. 2008 - A 11 K 4941/07

bei uns veröffentlicht am 14.01.2008

Tenor Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 wird aufgehoben, soweit

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

I. Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg.

2

Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Ausreise aufgrund inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse infolge einer Erkrankung des Antragstellers zu 1 unmöglich sei. Es sei nicht davon auszugehen, dass bei diesem eine Reiseunfähigkeit vorliege. Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen seien unzureichend. Die Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. enthalte weder eine Anamnese noch eine nachvollziehbare Diagnose. Die Bescheinigungen der Psychologinnen S. und K. seien zwar ausführlicher, beruhten aber nur auf den Angaben des Antragstellers zu 1, so dass die Schlussfolgerung, eine vorgetäuschte Diagnose könne ausgeschlossen werden, nicht überzeuge. Auch werde nicht darauf eingegangen, ob die vom Antragsteller zu 1 geschilderten Symptome in Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten oder Halluzinogenen stünden. Auffällig sei, dass die vom Antragsteller zu 1 geäußerten Kriegserlebnisse im Rahmen der Anhörungen vor dem Bundesamt nicht geschildert worden seien. Zudem falle auf, dass sich der Antragsteller zu 1 erst nach Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen in psychiatrische Behandlung begeben habe, obwohl er sich bereits seit 2010 in Deutschland aufhalte. Die Bescheinigungen zögen auch keinerlei Alternativursachen in Betracht, obwohl dies angesichts der geschilderten Ängste des Antragstellers zu 1 naheliegend sei. Als Alternativursache komme ein schweres Entwurzelungssyndrom in Betracht. Dies werde weder erwähnt noch im Rahmen einer Differentialdiagnose diskutiert. Die psychologischen Stellungnahmen seien ersichtlich darauf angelegt, dem Antragsteller zu 1 zum beantragten Abschiebungsschutz zu verhelfen. Die äußerst kurzen Stellungnahmen der Amtsärztinnen S. und M. enthielten keinerlei medizinische Substanz. Es werde nicht einmal erläutert, um was für eine psychische Erkrankung es sich handeln soll, die beim Antragsteller zu 1 bestehe. Es sei auch nicht ersichtlich, dass dieser aufgrund einer akuten und schwerwiegenden Erkrankung an posttraumatischer Belastungsstörung dringend auf ärztliche Behandlung gerade in Deutschland angewiesen sei. Ziehe man in Betracht, dass bei einer Rückkehr des Antragstellers zu 1 in seine Heimat sowohl die Sprachbarriere, die einer aussichtsreichen Heilung psychischer Probleme in Deutschland entgegenstehe, als auch die soziale Isolation entfielen, sei von zusätzlichen Erschwernissen durch die Verneinung von Abschiebungshindernissen nicht auszugehen. Aufgrund der aufgezeigten Mängel sei auch nicht davon auszugehen, dass eine akute Suizidalität mit Eigen- und Fremdgefährdung bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 bestehe. Möglichen Gefährdungen sei durch geeignete Vorkehrungen und Modalitäten bei der Abschiebung zu begegnen. Der Antragsgegner habe für sichere Abschiebemodalitäten und eine Begleitung durch Fachpersonal (Arzt/Sanitäter) Sorge zu tragen. Ebenso sei nach Eintreffen des Rücktransports in der Heimat des Antragstellers zu 1 durch vorherige Kontaktaufnahme mit den Heimatbehörden dessen nahtlose ärztliche und psychologische Begleitung und Versorgung sicherzustellen und eine Zurverfügungstellung von Medikamenten zu veranlassen. Dadurch werde der dem Antragsteller zu 1 bescheinigten Suizidgefahr im Rahmen der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen mit angemessenen Mitteln begegnet. Hinzu komme, dass eine Rückführung in die Heimat gerade zu einer Besserung der Gesamtsymptomatik führen könne: Die auch für seelisch Gesunde – zumal nach langjährigen Auslandsaufenthalt – bestehende starke Belastung einer drohenden Abschiebung entfalle nach dem Vollzug, was dafür spreche, dieses schwierige Phase nicht hinauszuzögern, sondern abzukürzen.

3

Dieser Würdigung durch das Verwaltungsgericht tritt die Beschwerde mit Erfolg entgegen.

4

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung). Anordnungsanspruch und -grund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Für den Anordnungsanspruch einer Sicherungsanordnung genügt dabei die Glaubhaftmachung von Tatsachen, aus denen sich zumindest ergibt, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist; ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht, wenn eine vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten materiellen Anspruchs zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich ist (Beschl. d. Senats v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 –, Juris RdNr. 8 m.w.N.).

5

Diese Voraussetzungen für den Erlass der von den Antragstellern begehrten einstweiligen Anordnung sind erfüllt. Es besteht die Gefahr, dass die vom Antragsgegner in Aussicht genommene Abschiebung der Antragsteller ohne eine vorherige gutachtliche Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen die Verwirklichung eines ihnen in der Hauptsache möglicherweise zustehenden Anspruchs auf weitere Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vereitelt.

6

1. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist offen, ob durch die Abschiebung eine wesentliche Verschlechterung der beim Antragsteller zu 1 nach den vorliegenden ärztlichen bzw. psychologischen Stellungnahmen vorhandenen psychischen Erkrankung eintreten und sich dadurch die auf dieser Krankheit beruhende (latente) Selbstmordgefahr in einer Weise erhöhen wird, dass eine Abschiebung nicht verantwortet werden kann.

7

Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 – a.a.O. RdNr. 5) kann auch eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in zwei Fallgruppen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d. h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens" wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 – 24 CE 07.484 –, Juris RdNr. 21). Die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung – wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung – ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, lässt sich erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (OVG NW, Beschl. v. 09.05.2007 – 19 B 352/07 –, Juris RdNr. 7).

8

Macht ein Ausländer eine solche Reiseunfähigkeit geltend oder ergeben sich sonst konkrete Hinweise darauf, ist die für die Aussetzung der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde verpflichtet, den aufgeworfenen Tatsachenfragen, zu deren Beantwortung im Regelfall medizinische Sachkunde erforderlich ist, im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA nachzugehen, wobei der Ausländer zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 82 AufenthG). Kann die Reiseunfähigkeit trotz Vorliegens ärztlicher oder psychologischer Fachberichte nicht als erwiesen angesehen werden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für die Ausländerbehörde kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Sie bleibt nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA verpflichtet, den Sachverhalt selbst weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus den ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung oder die Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens angezeigt sein, da der Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten die erforderliche medizinische Sachkunde zur Beurteilung einer mit der Abschiebung einhergehenden Gesundheitsgefahr und auch der Frage fehlen dürfte, mit welchen Vorkehrungen diese Gefahr ausgeschlossen oder gemindert werden könnte (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 –, Juris RdNr. 9).

9

Im Fall des Antragstellers zu 1 ist ein solcher weiterer Aufklärungsbedarf gegeben. Die vorliegenden ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen gehen zwar davon aus, dass der Antragsteller zu 1 an einer psychischen Erkrankung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) leidet und im Falle einer Abschiebung eine erhöhte Suizidgefahr besteht. Ob dies zutrifft, ist jedoch auch im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht erhobenen Einwände zweifelhaft. Die Problematik muss daher erst in einem ergänzenden fachärztlichen Gutachten abschließend geklärt werden.

10

Die Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. von der (…)-Praxis GmbH vom 12.03.2014 (GA Bl. 30) diagnostiziert bei dem Antragsteller zu 1 zwar eine posttraumatische Belastungsstörung, lässt aber nicht erkennen, auf Grund welcher Befundtatsachen die angesprochene Diagnose gestellt wurde, und legt auch nicht dar, welche Folgen sich aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Damit erfüllt sie die Anforderungen nicht, die nach der Rechtsprechung des Senats an die Glaubhaftmachung einer Krankheit als rechtliches Abschiebungshindernis zu stellen sind (vgl. Beschl. v. 08.02.2012 – 2 M 29/12 –, Juris RdNr. 11).

11

Die psychologischen Stellungnahmen der Psychologin S. vom 20.03.2013 (GA Bl. 35 – 36) sowie der Psychologin K. und des Systemischen Therapeuten D. vom Psychosozialen Zentrum für Migrantinnen und Migranten in Sachsen-Anhalt vom 21.05.2014 (GA Bl. 89 – 93) diagnostizieren bei dem Antragsteller zu 1 eine posttraumatische Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression. Eine vorgetäuschte Diagnose schließen sie aus. Eine Abschiebungsankündigung bzw. eine Rückkehr in den Kosovo werde mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar psychische Dekompensation(en) und suizidale Verhaltensweisen zur Folge haben. Auch ein erweiterter Suizid erscheine möglich. Aus psychologisch-therapeutischer Sicht wäre eine Abschiebungsandrohung bzw. eine Rückkehr mit einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zur Stimulation einer Selbstgefährdung des Antragstellers zu 1 verbunden. In der Stellungnahme vom 21.05.2014 wird darüber hinaus ausführlich dargestellt, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde. Mit dem Antragsteller zu 1 seien seit dem 01.02.2013 insgesamt zehn Gespräche zur Diagnostik, Stabilisierung und unmittelbaren Krisenintervention geführt worden. Befund und Spontanangaben werden ausführlich wiedergegeben. Auf dieser Grundlage wird sowohl die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression gestellt als auch die Behandlungsbedürftigkeit beurteilt. Diese Stellungnahmen enthalten zwar ernst zu nehmende Hinweise auf eine mögliche Suizidgefahr bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 in den Kosovo. Sie sind jedoch auch gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Zunächst enthält insbesondere die zuletzt vorgelegte psychologische Stellungnahme vom 21.05.2014 keinen überzeugenden Nachweis eines Traumas. Voraussetzung für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ist jedoch der Nachweis eines traumatischen Ereignisses (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, 41 <42>; Gierlichs u.a., Grenzen und Möglichkeiten klinischer Gutachten im Ausländerrecht, ZAR 2005, 158 <161>). Da die einschlägigen fachärztlichen bzw. psychologischen Gutachten wesentlich auf den Angaben des Betroffenen beruhen, bedarf es insoweit der Prüfung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Betroffenen (VGH BW, Beschl. v. 02.05.2000 – 11 S 1963/99 –, Juris RdNr. 7; SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 –, Juris RdNr. 5; Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2005, 150 <151>). Von Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist dabei der Umstand, dass bestimmte Ereignisse, die im Rahmen der klinischen Begutachtung als traumatisierend dargestellt werden, bei der vorherigen Anhörung vor dem Bundesamt nicht angegeben wurden. Wird das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt, die schon längere Zeit zurückliegen, ist eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 – a.a.O. RdNr. 5 unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 – BVerwG 10 C 8.07 –, Juris RdNr. 15). Nach diesen Grundsätzen ist die Stellungnahme vom 21.05.2014 dem fachlichen Einwand ausgesetzt, dass nicht klar wird, worin das die posttraumatische Belastungsstörung auslösende Trauma liegen soll. Im Rahmen der Biographischen Anamnese werden Ereignisse aus dem Jahr 1999 nach Ausbruch des Kosovokrieges geschildert, aber auch zeitlich nachfolgende Bedrohungen und Misshandlungen in Serbien, Übergriffe von albanisch sprechenden Männern nach der Rückkehr der Antragsteller in das Kosovo sowie eine Bedrohung des Sohnes des Antragstellers zu 1 mit einer Pistole durch Nachbarn. Soweit die Ereignisse während des Kosovokrieges im Jahr 1999 als maßgeblich für das Trauma anzusehen sein sollten, wäre zu begründen, warum diese Umstände nicht schon während der Anhörung des Antragstellers zu 1 am 29.03.2010 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgetragen wurden. Begründungsbedürftig ist ferner der Umstand, dass der Antragsteller zu 1 das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung erst im Jahr 2013 geltend gemacht hat, obwohl er bereits seit dem Jahr 2010 aus seiner Heimat ausgereist ist. Ein weiterer Mangel der Stellungnahme vom 21.05.2014 liegt darin, dass nicht explizit angegeben wird, nach welchen Kriterien eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde (vgl. dazu Ebert/Kindt, a.a.O. S. 42). Schließlich stellt sich noch die Frage, ob die beim Antragsteller zu 1 festgestellten Symptome nicht auch andere Ursachen als eine posttraumatische Belastungsstörung haben können, etwa die unkontrollierte Einnahme von Medikamenten und Halluzinogenen oder ein schweres Entwurzelungssyndrom.

12

Die Stellungnahmen der Amtsärztin S. vom 08.07.2013 und 10.03.2014 sowie der Amtsärztin M. vom 29.04.2014 und 20.05.2014 lassen ebenfalls keine abschließende Beurteilung der hier relevanten Fragestellung zu. In dem amtsärztlichen Gutachten zur Beurteilung der Flug- und Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1 vom 08.07.2013 (GA Bl. 50) heißt es, dieser leide an einer psychischen Erkrankung, die akut exazerbiert sei. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehe die akute Gefahr eines Suizids bzw. erweiterten Suizids. In der Stellungnahme vom 10.03.2014 (GA Bl. 49) heißt es, die Reisefähigkeit im weiteren Sinne sei aufgrund der psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1 nicht gegeben. In der Stellungnahme vom 29.04.2014 (GA Bl. 62) wird ausgeführt, es könnten keine wesentlichen Veränderungen der gesundheitlichen Situation des Antragstellers zu 1 festgestellt werden. Er habe weiterhin eine unbändige Angst vor der Abschiebung in sein Heimatland. Er reagiere damit, im Abschiebungsfall sich und seine Familie umzubringen. Die Flug- und Reisetauglichkeit sei nach wie vor unsicher, da in keiner Weise abzuschätzen sei, ob der Antragsteller zu 1 seine Drohungen wahr mache. In der Stellungnahme vom 20.05.2014 (GA Bl. 61) wird ergänzend ausgeführt, bei der Vorstellung im Gesundheitsamt habe der Antragsteller zu 1 überzeugend den Eindruck gemacht, dass er im Falle einer Abschiebung sich und seiner Familie etwas antun werde. Es bestehe eine bedingte Flug- und Reisefähigkeit. Bedingung sei die Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung. Die sei durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und eine fachärztliche Begleitung während des Fluges zu gewährleisten. In diesen Stellungnahmen wird weder angegeben, aufgrund welcher tatsächlichen Umstände die fachliche Beurteilung erfolgt ist, noch enthalten sie eine nachvollziehbare medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes oder eine nachvollziehbare Darlegung der Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Die in der Stellungnahme vom 20.05.2014 vertretene Annahme, eine hinreichende Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung könne durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und Gewährleistung einer fachärztlichen Begleitung während des Fluges sichergestellt werden, wird nicht näher begründet und stellt sich als reine Spekulation dar. Zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen sind diese amtsärztlichen Stellungnahmen ungeeignet.

13

Vor diesem Hintergrund liegen zwar Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller zu 1 unter einer posttraumatische Belastungsstörung leidet und eine Abschiebung zu einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führt. Es verbleiben jedoch Zweifel. Bei dieser Sachlage kann über das Vorliegen des geltend gemachten Duldungsgrundes ohne fachärztliches Gutachten zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen nicht entschieden werden. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist damit offen, so dass ein Anordnungsanspruch gegeben ist.

14

2. Auch die Antragstellerin zu 2 und die Antragsteller zu 3 – 6 haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Eine rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa mit Blick auf Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind. Der Schutz des Art. 6 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben. Sich hieraus ergebende schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers dann entgegen stehen, wenn es ihm nicht zuzumuten ist, seine tatsächlichen Bindungen zu berechtigterweise im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (Beschl. d. Senats v. 14.08.2014 – 2 L 115/13 – m.w.N.). Derartige schutzwürdige Belange liegen im Fall der Antragstellerin zu 2 und der Antragsteller zu 3 – 6 vor. Aufgrund der oben dargestellten Umstände besteht bei dem Antragsteller zu 1 möglicherweise ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Die übrigen Familienmitglieder können daher einstweilen eine gewünschte familiäre Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Heimatland nicht führen. Eine alleinige auch nur kurzfristige Rückkehr ohne Begleitung durch den Antragsteller zu 1 in das Kosovo ist ihnen ebenfalls nicht zuzumuten.

15

3. Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Antragsgegner beabsichtigt, die Antragsteller ohne vorherige Einholung eines fachärztlichen Gutachtens zur Suizidgefahr abzuschieben. Die vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten Duldungsanspruchs ist daher zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich. Denn der Duldungsanspruch erlischt ebenso wie die Aussetzung selbst (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG) mit der Ausreise (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 – a.a.O. RdNr. 14). Er würde durch die Abschiebung daher vereitelt. Zudem ist eine Abschiebung ohne vorherige fachärztliche Begutachtung der damit nach den vorliegenden Erkenntnissen möglicherweise einhergehenden gesundheitlichen Risiken mit der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren.

16

II. Den Antragstellern ist auch die beantragte Prozesskostenhilfe zu gewähren, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sind, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint und aus den vorstehend ausgeführten Gründen hinreichende Erfolgsaussichten zu bejahen sind (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).

17

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

18

VI. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des beschließenden Senats, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes den halben Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG je Antragsteller festzusetzen, soweit Streitgegenstand – wie hier – die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ist.


Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste am 08.12.2002 in das Bundesgebiet ein. Am 09.01.2003 beantragte Sie die Gewährung von Asyl.
Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19.03.2003 wurde der Asylantrag abgelehnt und festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, sowie mit einer Ausreisefrist von einem Monat die Abschiebung angedroht. Die hierauf eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 25.10.2005 - A 15 K 10904/03 - und VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.04.2006 - A 12 S 1096/05 -).
Mit Schriftsatz vom 10.05.2007 stellte die Klägerin einen Asylfolgeantrag und brachte zur Begründung vor, ihr Gesundheitszustand habe sich erheblich verschlimmert. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes bestehe im Falle einer Abschiebung in die Türkei eine Gefahr für Leib und Leben. In der Türkei habe sie in massiver Weise Verfolgung und menschenrechtswidrige Behandlung erlitten; hierdurch sei sie in ihrer psychischen Integrität erheblich verletzt und traumatisiert worden. Gleichzeitig legte die Klägerin ein ärztliches Attest der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie Dr. Beier-Fügel vom 12.06.2006, ein Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 sowie ein Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 12.04.2007 vor.
Mit Bescheid vom 07.09.2007 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 19.03.2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG seien nicht erfüllt. Die vorgelegten ärztlichen Gutachten und Atteste könnten die Feststellungen im Urteil des VG Stuttgart vom 25.10.2005 nicht erschüttern. Bei den vorgelegten ärztlichen Gutachten und Attesten handele es sich um fachpsychiatrische Aussagen über den gegenwärtigen Gesundheitszustand der Klägerin und nicht um belastbare, verlässliche Analysen der Erlebnisse der Klägerin in der Türkei. Die Aussagen der Klägerin seien von den ärztlichen Gutachtern keiner nachvollziehbaren wissenschaftlichen Bewertung unterzogen worden. Am Wahrheitsgehalt des gesteigerten Sachvortrags der Klägerin bestünden Zweifel, da sie bereits im Erstasylverfahren trotz eingehender psychiatrischer Untersuchung die erlittene Vergewaltigung nicht erwähnt habe. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liege nicht vor. Die Klägerin könne auf die zur Behandlung ihres Krankheitsbildes in der Türkei zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten verwiesen werden.
Am 17.09.2007 hat die Klägerin Klage erhoben.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung.
11 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörenden Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Gründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf des ihm zuerkannten Abschiebungsschutzes hinsichtlich Afghanistans.

2

Der 1986 in Kabul geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit. Er reiste Ende 2000 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - im Juli 2001 ab. Zugleich stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG nicht vorliegen. Allerdings stellte es fest, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans vorliegt. Diese Feststellung stützte das Bundesamt auf die dem damals noch minderjährigen Kläger drohende Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder die Nordallianz.

3

Mit Bescheid vom 28. September 2006 widerrief das Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (Nr. 1) und stellte zugleich fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die innenpolitische Situation in Afghanistan seit dem Sturz der Talibanherrschaft im November 2001 grundlegend geändert habe. Es sei nicht zu erwarten, dass das zerschlagene Talibanregime wieder an die Macht gelange, so dass von den Taliban wieder eine Verfolgungsgefahr ausgehen könne. Es bestünden für Rückkehrer aus Deutschland aufgrund der allgemeinen Versorgungs- und Sicherheitslage auch keine extremen Gefahren, die bei verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach dieser Vorschrift führten.

4

Das Verwaltungsgericht hat den Widerrufsbescheid im Februar 2008 aufgehoben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof im Januar 2010 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG für den Widerruf des dem Kläger zugebilligten Abschiebungsverbots lägen nicht vor. Es bestehe für ihn im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Kabul, eine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Diese erfordere die Gewährung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der Kläger habe in Afghanistan keine ordnungsgemäße Schulausbildung erhalten und könne seine Heimatsprache Dari nur eingeschränkt lesen und schreiben. Er sei bei seiner Ausreise erst 14 Jahre alt gewesen und habe in Afghanistan weder eine Ausbildung erhalten noch eine Berufstätigkeit ausgeübt. Nach seinem mehr als neunjährigen Aufenthalt in Deutschland erscheine es kaum denkbar, dass er sein Überleben in den chaotischen Verhältnissen Kabuls selbst sichern könne. Auch seine Sicherheit sei dort hochgradig gefährdet. Er könne nicht auf eine familiäre Unterstützung zurückgreifen. Selbst wenn er aus dem Ausland ab und zu finanzielle Hilfen erhielte, wäre dies nicht geeignet, seine Existenz wirksam zu gewährleisten.

5

Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage. Sie macht geltend, dass der Widerruf des Abschiebungsverbots rechtmäßig sei. Der Verwaltungsgerichtshof verfehle die Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts für die Annahme einer Extremgefahr. Außerdem verletzte er die Anforderungen des § 108 Abs. 1 VwGO an die richterliche Überzeugungsbildung, wenn er es für die Annahme einer derartigen Gefahr ausreichen lasse, dass bestimmte Tatsachen "plausibel" erscheinen, ohne sich hierzu eine Überzeugung zu bilden.

6

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich an dem Verfahren beteiligt und unterstützt die Revision.

Entscheidungsgründe

7

Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters des Klägers verhandeln und entscheiden, da dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

8

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Berufungsentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat den auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerrufsbescheid deshalb als rechtswidrig angesehen, weil es der Auffassung war, dass dem Kläger in Bezug auf Afghanistan weiterhin Abschiebungsschutz nach nationalem Recht - nunmehr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG - zusteht. Die hierfür angeführte Begründung ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts konnte der Senat nicht selbst abschließend in der Sache entscheiden. Das Verfahren war daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

9

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass Gegenstand des Verfahrens zunächst das Hauptbegehren des Klägers auf Aufhebung des auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerrufsbescheids ist. Dieses - hier in erster und zweiter Instanz erfolgreiche - Begehren ist begründet, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für den Widerruf nicht erfüllt sind. Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG setzt der Widerruf des nach nationalem Recht gewährten Abschiebungsschutzes voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot (hier nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990) nachträglich entfallen sind und auch nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (jetzt nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3) zu gewähren ist. Dabei sind alle Rechtsgrundlagen für den nationalen Abschiebungsschutz, der jedenfalls seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand bildet, in die Prüfung einzubeziehen.

10

Darüber hinaus ist im Falle des Widerrufs eines Abschiebungsschutzes nach nationalem Recht seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes grundsätzlich auch über den neu hinzugekommenen unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz zu entscheiden, der seinerseits einen selbstständigen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand bildet (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 11). Soweit in Übergangsfällen - wie hier - der Widerrufsbescheid des Bundesamts vor dem 28. August 2007 ergangen ist und deshalb den unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz noch nicht berücksichtigt, ist das Bestehen eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutzes im gerichtlichen Verfahren jedenfalls dann (erstmals) zu prüfen, wenn der Widerruf des an sich nachrangigen nationalen Abschiebungsschutzes durchgreift. Denn in diesem Fall ist das Klagebegehren des Klägers regelmäßig - und so auch hier - sachdienlich dahin auszulegen, dass er zumindest hilfsweise für den Fall des Wegfalls des nationalen Abschiebungsschutzes die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots erreichen will. Der vorherigen Durchführung eines Verwaltungsverfahrens beim Bundesamt bedarf es insoweit nicht. Weiterhin kann in diesen Übergangsfällen der Anspruch auf unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz im Rechtsstreit um den Widerruf des nationalen Abschiebungsschutzes auch mit einem weiteren Hauptantrag und damit unabhängig von dem Wegfall oder Fortbestand des nationalen Abschiebungsschutzes geltend gemacht werden (zur Zulässigkeit eines solchen Antrags: Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 16 bis 18). Eine Verpflichtung zur Stellung eines solchen weiteren Hauptantrags zur Durchsetzung des grundsätzlich vorrangigen unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutzes besteht allerdings in den in die Übergangszeit fallenden Widerrufsfällen wie dem vorliegenden nicht, da es Sache des Klägers ist, ob er sich mit dem Fortbestand des bisher gewährten nationalen Abschiebungsschutzes begnügen oder daneben zusätzlich den unionsrechtlichen Abschiebungsschutz erstreiten will. Anders als bei der Verpflichtungsklage auf erstmalige Feststellung von Abschiebungsverboten bedarf es beim Streit um die Rechtmäßigkeit des Widerrufs eines nach nationalem Recht gewährten Abschiebungsschutzes mit Blick auf die dem Asylverfahrensgesetz zugrunde liegende Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime nicht notwendig der Klärung, ob neben dem einmal gewährten nationalen Abschiebungsschutz auch noch ein unionsrechtlich begründeter besteht (vgl. aber zur Notwendigkeit gestufter Klageanträge in Erst- oder Folgeschutzverfahren: Urteil vom 8. September 2011 - BVerwG 10 C 14.10 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen Rn. 13).

11

1. Der Widerruf des Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG im Bescheid vom 28. September 2006 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Maßgeblich ist hierfür die Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheids (Beschluss vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 46.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 24 Rn. 15). Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG in der auch derzeit noch unverändert geltenden Fassung vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

12

Dem Widerruf nach § 73 Abs. 3 AsylVfG steht die einjährige Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht entgegen. Denn diese Frist beginnt erst mit dem Abschluss des Anhörungsverfahrens - hier eingeleitet im Juni 2006 - zu laufen (vgl. Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 <292>), so dass zum Zeitpunkt des Widerrufs noch kein Jahr verstrichen war. Die einjährige Ausschlussfrist findet im Übrigen aber für das Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG auch keine Anwendung. Das ergibt sich aus der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der in § 73 AsylVfG getroffenen Regelungen.

13

Die Frage, ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG auch im Rahmen des Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG a.F. galt, hatte das Bundesverwaltungsgericht zunächst stets offenlassen können, weil es in den zu entscheidenden Fällen nicht darauf ankam. Nach Einführung der Dreijahresfrist für die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen mit der Folge des gegebenenfalls zwingenden Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung durch § 73 Abs. 2a AsylVfG zum 1. Januar 2005 hat es allerdings entschieden, dass die Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung findet, in denen die Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Dreijahresfrist nach Unanfechtbarkeit der Anerkennungsentscheidung widerrufen wird (Urteil vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 14 f.). Maßgeblich hierfür war die Erwägung, dass der Gesetzgeber mit der Dreijahresfrist dem Bundesamt einen bestimmten, auf die Besonderheiten des Asyl- und Ausländerrechts abgestimmten zeitlichen Rahmen vorgegeben hat, der nach dem Sinn und Zweck der Regelung erkennbar abschließend ist und nicht durch weitere (allgemeine) Fristen wieder verengt werden sollte. Ob dies auch für den Widerruf von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen nach Ablauf der Dreijahresfrist gilt, hat der Senat offengelassen. Für den Widerruf der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG, der in § 73 Abs. 3 AsylVfG zwingend und ohne jede Einschränkung vorgeschrieben ist, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen, folgt daraus, dass auch hier von einer abschließenden spezialgesetzlichen Regelung auszugehen ist, die eine Anwendung der Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG verbietet. Zwar ist für den Widerruf der Feststellung von Abschiebungsverboten kein besonderer zeitlicher Rahmen wie in § 73 Abs. 2a AsylVfG vorgesehen. Es wäre aber ein Wertungswiderspruch, wenn die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung innerhalb der ersten drei Jahre nach ihrer Unanfechtbarkeit unter leichteren formellen Vorraussetzungen, nämlich ohne Beachtung der Jahresfrist, widerrufen werden könnte als eine Gewährung von sonstigem, nachrangigem Abschiebungsschutz. Dies hat der Gesetzgeber, der - wie § 73 Abs. 3 AsylVfG zeigt - den Fortbestand von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG besonders eng und unmittelbar an die materielle Schutzbedürftigkeit binden wollte, erkennbar nicht gewollt. Der Widerruf von Abschiebungsschutz nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist deshalb auch nach Ablauf eines Jahres nach Kenntnis des Bundesamts von den Widerrufsgründen zulässig (so im Ergebnis auch OVG Münster, Beschluss vom 15. Oktober 2010 - 13 A 1639/10.A - juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. November 2010 - 3 N 46.09 - juris Rn. 6; OVG Hamburg, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 4 Bf 40/05.AZ - juris).

14

Dass die einjährige Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG für das Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG keine Anwendung findet, gilt im Übrigen auch für die Rechtslage nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007. Durch das Richtlinienumsetzungsgesetz wurden sogar weitere Spezialregelungen zu Widerruf und Rücknahme nach § 73 AsylVfG getroffen (vgl. etwa § 73 Abs. 2b und c, Abs. 4 und 7 AsylVfG). Das bestätigt, dass der Gesetzgeber den Widerruf von Abschiebungsverboten im Asylverfahrensgesetz auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht abschließend regeln wollte.

15

2a) Ob der Widerruf den materiellen Voraussetzungen entspricht, bestimmt sich nach § 73 Abs. 3 AsylVfG i.d.F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970). Danach ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Der dem Kläger gewährte nationale Abschiebungsschutz ist somit zu widerrufen, wenn sich die Sachlage so verändert hat, dass die Voraussetzungen für das vom Bundesamt im Juli 2001 festgestellte Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 entfallen sind (1) und auch keine anderen nationalen Abschiebungsverbote vorliegen (2).

16

(1) § 73 Abs. 3 AsylVfG verlangt für den Widerruf eines Abschiebungshindernisses eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Durch neue Tatsachen muss sich eine andere Grundlage für die Gefahrenprognose bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot ergeben. Deshalb reicht für den Widerruf eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990 in verfassungskonformer Anwendung (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG) allein der Umstand, dass für den Betroffenen keine verfassungswidrige Schutzlücke mehr besteht, etwa weil er nunmehr unionsrechtlichen Abschiebungsschutz z.B. gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beanspruchen kann oder die Abschiebung nachträglich durch Ländererlass gemäß § 60a AufenthG vorübergehend ausgesetzt wird, nicht aus. Zwar kann das genannte Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung im Wege einer Durchbrechung der in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angeordneten Sperrwirkung für allgemeine Gefahren nur festgestellt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG unvereinbare Schutzlücke bestünde (Urteile vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226 Rn. 12 und vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Die damit einhergehende Subsidiarität dieses Abschiebungsverbots hat indes im Falle des Widerrufs nicht das gleiche Gewicht. Die Voraussetzungen für die Feststellung dieses Abschiebungsverbots einerseits und den Widerruf andererseits sind deshalb insoweit nicht vollends deckungsgleich.

17

(2) Sind die tatsächlichen Voraussetzungen für das konkret festgestellte Abschiebungsverbot entfallen, ist zu prüfen, ob nationaler Abschiebungsschutz aus anderen Gründen besteht (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3). Des Weiteren bestimmt sich der Widerruf ausschließlich nach den Vorschriften des nationalen Rechts. Weder dem Gesetzestext noch den Materialien zum Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber Vorgaben des Unionsrechts - namentlich Art. 16 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 zum Erlöschen des subsidiären Schutzes - über die unionsrechtlich begründeten Tatbestände des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG hinaus auch auf den nationalen Abschiebungsschutz erstrecken wollte.

18

b) Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen im Fall des Klägers mit einer Begründung verneint, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist. Denn er hat zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG wegen Vorliegens einer Extremgefahr bejaht, dabei aber die in der Rechtsprechung des Senats entwickelten Voraussetzungen für die Annahme eines solchen Abschiebungsverbots verfehlt.

19

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

20

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. Urteil vom 29. Juni 2010 a.a.O. Rn. 15 m.w.N.).

21

Der Verwaltungsgerichtshof hat diese rechtlichen Maßstäbe für die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in wesentlichen Teilen verkannt. Er bezieht sich zwar ausdrücklich auf den Maßstab der Extremgefahr und zitiert in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (UA S. 6). Bei der Rechtsanwendung indes füllt er ihn mit Merkmalen auf, die weit hinter den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Anforderungen zurückbleiben.

22

Das Vorliegen einer Extremgefahr begründet der Verwaltungsgerichtshof damit, es erscheine kaum denkbar, dass der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan sein Überleben "in den chaotischen Verhältnissen Kabuls" sichern könne (UA S. 9). Auch eine gelegentliche finanzielle Unterstützung aus dem Ausland sei "letztlich nicht geeignet, seine Existenz wirksam zu gewährleisten" (UA S. 10). Diese im Rahmen der Subsumtion herangezogenen Tatsachen lassen jedoch nicht den Schluss darauf zu, dass der Kläger dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, wie das den Anforderungen an eine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entspricht. Denn die fehlende Möglichkeit einer wirksamen Existenzsicherung führt nicht zwangsläufig zur Existenzvernichtung oder zu schwersten Gesundheitsschäden. Damit verfehlt das Berufungsurteil den Begriff der Extremgefahr.

23

Der Verwaltungsgerichtshof hat seiner Entscheidung zudem nicht die weiteren für eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG erforderlichen Voraussetzungen zugrunde gelegt, dass sich die Gefahr mit hoher Wahrscheinlichkeit und alsbald nach der Rückkehr des Klägers realisieren muss. Auf diese Voraussetzungen geht das Berufungsurteil überhaupt nicht ein. Die gewählte Formulierung, eine Sicherung des Überlebens erscheine "kaum denkbar" (UA S. 9) entspricht nicht dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dass gleichsam sehenden Auges der sichere Tod oder schwerste Verletzungen drohen müssen. Gegen das Erfordernis der alsbaldigen Realisierung der Gefahr spricht, dass das Gericht eine wirksame Existenzsicherung für erforderlich hält, um die Extremgefahr abzuwenden, und damit für die Verneinung der Gefahr auf eine längerfristige Zeitperspektive abstellt.

24

3a) Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache wird das Berufungsgericht unter Zugrundelegung der für die erneute Entscheidung maßgeblichen Erkenntnislage zu prüfen haben, ob die für die ursprüngliche Zubilligung nationalen Abschiebungsschutzes durch das Bundesamt ausschlaggebende Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Taliban bei Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich entfallen ist (vgl. hierzu etwa den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 9. Februar 2011 S. 22 und die Auskunft von Amnesty International an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 21. Dezember 2010).

25

b) Sollte die Gefahr der Zwangsrekrutierung für den Kläger entfallen sein, ist das Berufungsgericht gehalten, sich bei der erneuten Prüfung eines Abschiebungsverbots wegen Vorliegens einer Extremgefahr in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG die vom Bundesverwaltungsgericht hierzu entwickelten rechtlichen Maßstäbe zu beachten und seiner Überzeugungsbildung zugrunde zu legen. Dabei wird es sich auch mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinanderzusetzen haben (vgl. etwa Urteil des VGH München vom 3. Februar 2011 - 13 a B 10.30394 - juris, das sich seinerseits allerdings auch nicht mit der gegenteiligen Rechtsprechung des Berufungsgerichts auseinandersetzt; vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 29. Juni 2010 a.a.O. Rn. 22).

26

c) Sollte es für das Vorliegen einer Extremgefahr weiterhin entscheidungserheblich auf die individuellen Möglichkeiten des Klägers ankommen, sich Nahrungsmittel zu beschaffen, wird der Verwaltungsgerichtshof der Frage nachzugehen haben, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Kläger mit finanzieller Unterstützung durch seine im Ausland lebenden Eltern und sonstigen Familienangehörigen rechnen kann, unter anderem durch seine in Deutschland lebende Schwester. Sofern sich für den Verwaltungsgerichtshof weiterhin die Frage stellt, ob der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan einer erhöhten Gefährdung seiner Sicherheit durch eine erfolgte Beschlagnahme eines Hauses seines Vaters in Kabul durch einen Mudschaheddin-General ausgesetzt wäre (UA S. 9), wird zu untersuchen sein, aufgrund welcher konkreten Umstände sich hieraus eine Gefahr für den Kläger auch ohne Geltendmachung eigener Ansprüche an dem Haus ergeben kann.

27

d) Sollte der Hauptantrag des Klägers, der auf die Aufhebung des Widerrufs des nationalen Abschiebungsschutzes gerichtet ist, keinen Erfolg haben, wird der Verwaltungsgerichtshof über den Hilfsantrag auf Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots zu entscheiden haben. Einen entsprechenden Antrag hat der Kläger schon in seiner Klageschrift angekündigt. Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof brauchten hierüber bisher nicht entscheiden, da es dem Kläger vorrangig um den Erhalt des ihm bereits gewährten nationalen Abschiebungsschutzes geht, den ihm die Instanzgerichte zugesprochen haben. Der Kläger durfte sein Begehren auch in dieser Form in einen Haupt- und Hilfsantrag kleiden (siehe oben Rn. 10).

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

I. Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg.

2

Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Ausreise aufgrund inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse infolge einer Erkrankung des Antragstellers zu 1 unmöglich sei. Es sei nicht davon auszugehen, dass bei diesem eine Reiseunfähigkeit vorliege. Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen seien unzureichend. Die Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. enthalte weder eine Anamnese noch eine nachvollziehbare Diagnose. Die Bescheinigungen der Psychologinnen S. und K. seien zwar ausführlicher, beruhten aber nur auf den Angaben des Antragstellers zu 1, so dass die Schlussfolgerung, eine vorgetäuschte Diagnose könne ausgeschlossen werden, nicht überzeuge. Auch werde nicht darauf eingegangen, ob die vom Antragsteller zu 1 geschilderten Symptome in Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten oder Halluzinogenen stünden. Auffällig sei, dass die vom Antragsteller zu 1 geäußerten Kriegserlebnisse im Rahmen der Anhörungen vor dem Bundesamt nicht geschildert worden seien. Zudem falle auf, dass sich der Antragsteller zu 1 erst nach Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen in psychiatrische Behandlung begeben habe, obwohl er sich bereits seit 2010 in Deutschland aufhalte. Die Bescheinigungen zögen auch keinerlei Alternativursachen in Betracht, obwohl dies angesichts der geschilderten Ängste des Antragstellers zu 1 naheliegend sei. Als Alternativursache komme ein schweres Entwurzelungssyndrom in Betracht. Dies werde weder erwähnt noch im Rahmen einer Differentialdiagnose diskutiert. Die psychologischen Stellungnahmen seien ersichtlich darauf angelegt, dem Antragsteller zu 1 zum beantragten Abschiebungsschutz zu verhelfen. Die äußerst kurzen Stellungnahmen der Amtsärztinnen S. und M. enthielten keinerlei medizinische Substanz. Es werde nicht einmal erläutert, um was für eine psychische Erkrankung es sich handeln soll, die beim Antragsteller zu 1 bestehe. Es sei auch nicht ersichtlich, dass dieser aufgrund einer akuten und schwerwiegenden Erkrankung an posttraumatischer Belastungsstörung dringend auf ärztliche Behandlung gerade in Deutschland angewiesen sei. Ziehe man in Betracht, dass bei einer Rückkehr des Antragstellers zu 1 in seine Heimat sowohl die Sprachbarriere, die einer aussichtsreichen Heilung psychischer Probleme in Deutschland entgegenstehe, als auch die soziale Isolation entfielen, sei von zusätzlichen Erschwernissen durch die Verneinung von Abschiebungshindernissen nicht auszugehen. Aufgrund der aufgezeigten Mängel sei auch nicht davon auszugehen, dass eine akute Suizidalität mit Eigen- und Fremdgefährdung bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 bestehe. Möglichen Gefährdungen sei durch geeignete Vorkehrungen und Modalitäten bei der Abschiebung zu begegnen. Der Antragsgegner habe für sichere Abschiebemodalitäten und eine Begleitung durch Fachpersonal (Arzt/Sanitäter) Sorge zu tragen. Ebenso sei nach Eintreffen des Rücktransports in der Heimat des Antragstellers zu 1 durch vorherige Kontaktaufnahme mit den Heimatbehörden dessen nahtlose ärztliche und psychologische Begleitung und Versorgung sicherzustellen und eine Zurverfügungstellung von Medikamenten zu veranlassen. Dadurch werde der dem Antragsteller zu 1 bescheinigten Suizidgefahr im Rahmen der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen mit angemessenen Mitteln begegnet. Hinzu komme, dass eine Rückführung in die Heimat gerade zu einer Besserung der Gesamtsymptomatik führen könne: Die auch für seelisch Gesunde – zumal nach langjährigen Auslandsaufenthalt – bestehende starke Belastung einer drohenden Abschiebung entfalle nach dem Vollzug, was dafür spreche, dieses schwierige Phase nicht hinauszuzögern, sondern abzukürzen.

3

Dieser Würdigung durch das Verwaltungsgericht tritt die Beschwerde mit Erfolg entgegen.

4

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung). Anordnungsanspruch und -grund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Für den Anordnungsanspruch einer Sicherungsanordnung genügt dabei die Glaubhaftmachung von Tatsachen, aus denen sich zumindest ergibt, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist; ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht, wenn eine vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten materiellen Anspruchs zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich ist (Beschl. d. Senats v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 –, Juris RdNr. 8 m.w.N.).

5

Diese Voraussetzungen für den Erlass der von den Antragstellern begehrten einstweiligen Anordnung sind erfüllt. Es besteht die Gefahr, dass die vom Antragsgegner in Aussicht genommene Abschiebung der Antragsteller ohne eine vorherige gutachtliche Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen die Verwirklichung eines ihnen in der Hauptsache möglicherweise zustehenden Anspruchs auf weitere Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vereitelt.

6

1. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist offen, ob durch die Abschiebung eine wesentliche Verschlechterung der beim Antragsteller zu 1 nach den vorliegenden ärztlichen bzw. psychologischen Stellungnahmen vorhandenen psychischen Erkrankung eintreten und sich dadurch die auf dieser Krankheit beruhende (latente) Selbstmordgefahr in einer Weise erhöhen wird, dass eine Abschiebung nicht verantwortet werden kann.

7

Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 – a.a.O. RdNr. 5) kann auch eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in zwei Fallgruppen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d. h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens" wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 – 24 CE 07.484 –, Juris RdNr. 21). Die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung – wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung – ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, lässt sich erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (OVG NW, Beschl. v. 09.05.2007 – 19 B 352/07 –, Juris RdNr. 7).

8

Macht ein Ausländer eine solche Reiseunfähigkeit geltend oder ergeben sich sonst konkrete Hinweise darauf, ist die für die Aussetzung der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde verpflichtet, den aufgeworfenen Tatsachenfragen, zu deren Beantwortung im Regelfall medizinische Sachkunde erforderlich ist, im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA nachzugehen, wobei der Ausländer zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 82 AufenthG). Kann die Reiseunfähigkeit trotz Vorliegens ärztlicher oder psychologischer Fachberichte nicht als erwiesen angesehen werden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für die Ausländerbehörde kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Sie bleibt nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA verpflichtet, den Sachverhalt selbst weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus den ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung oder die Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens angezeigt sein, da der Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten die erforderliche medizinische Sachkunde zur Beurteilung einer mit der Abschiebung einhergehenden Gesundheitsgefahr und auch der Frage fehlen dürfte, mit welchen Vorkehrungen diese Gefahr ausgeschlossen oder gemindert werden könnte (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 –, Juris RdNr. 9).

9

Im Fall des Antragstellers zu 1 ist ein solcher weiterer Aufklärungsbedarf gegeben. Die vorliegenden ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen gehen zwar davon aus, dass der Antragsteller zu 1 an einer psychischen Erkrankung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) leidet und im Falle einer Abschiebung eine erhöhte Suizidgefahr besteht. Ob dies zutrifft, ist jedoch auch im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht erhobenen Einwände zweifelhaft. Die Problematik muss daher erst in einem ergänzenden fachärztlichen Gutachten abschließend geklärt werden.

10

Die Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. von der (…)-Praxis GmbH vom 12.03.2014 (GA Bl. 30) diagnostiziert bei dem Antragsteller zu 1 zwar eine posttraumatische Belastungsstörung, lässt aber nicht erkennen, auf Grund welcher Befundtatsachen die angesprochene Diagnose gestellt wurde, und legt auch nicht dar, welche Folgen sich aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Damit erfüllt sie die Anforderungen nicht, die nach der Rechtsprechung des Senats an die Glaubhaftmachung einer Krankheit als rechtliches Abschiebungshindernis zu stellen sind (vgl. Beschl. v. 08.02.2012 – 2 M 29/12 –, Juris RdNr. 11).

11

Die psychologischen Stellungnahmen der Psychologin S. vom 20.03.2013 (GA Bl. 35 – 36) sowie der Psychologin K. und des Systemischen Therapeuten D. vom Psychosozialen Zentrum für Migrantinnen und Migranten in Sachsen-Anhalt vom 21.05.2014 (GA Bl. 89 – 93) diagnostizieren bei dem Antragsteller zu 1 eine posttraumatische Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression. Eine vorgetäuschte Diagnose schließen sie aus. Eine Abschiebungsankündigung bzw. eine Rückkehr in den Kosovo werde mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar psychische Dekompensation(en) und suizidale Verhaltensweisen zur Folge haben. Auch ein erweiterter Suizid erscheine möglich. Aus psychologisch-therapeutischer Sicht wäre eine Abschiebungsandrohung bzw. eine Rückkehr mit einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zur Stimulation einer Selbstgefährdung des Antragstellers zu 1 verbunden. In der Stellungnahme vom 21.05.2014 wird darüber hinaus ausführlich dargestellt, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde. Mit dem Antragsteller zu 1 seien seit dem 01.02.2013 insgesamt zehn Gespräche zur Diagnostik, Stabilisierung und unmittelbaren Krisenintervention geführt worden. Befund und Spontanangaben werden ausführlich wiedergegeben. Auf dieser Grundlage wird sowohl die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression gestellt als auch die Behandlungsbedürftigkeit beurteilt. Diese Stellungnahmen enthalten zwar ernst zu nehmende Hinweise auf eine mögliche Suizidgefahr bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 in den Kosovo. Sie sind jedoch auch gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Zunächst enthält insbesondere die zuletzt vorgelegte psychologische Stellungnahme vom 21.05.2014 keinen überzeugenden Nachweis eines Traumas. Voraussetzung für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ist jedoch der Nachweis eines traumatischen Ereignisses (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, 41 <42>; Gierlichs u.a., Grenzen und Möglichkeiten klinischer Gutachten im Ausländerrecht, ZAR 2005, 158 <161>). Da die einschlägigen fachärztlichen bzw. psychologischen Gutachten wesentlich auf den Angaben des Betroffenen beruhen, bedarf es insoweit der Prüfung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Betroffenen (VGH BW, Beschl. v. 02.05.2000 – 11 S 1963/99 –, Juris RdNr. 7; SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 –, Juris RdNr. 5; Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2005, 150 <151>). Von Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist dabei der Umstand, dass bestimmte Ereignisse, die im Rahmen der klinischen Begutachtung als traumatisierend dargestellt werden, bei der vorherigen Anhörung vor dem Bundesamt nicht angegeben wurden. Wird das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt, die schon längere Zeit zurückliegen, ist eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 – a.a.O. RdNr. 5 unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 – BVerwG 10 C 8.07 –, Juris RdNr. 15). Nach diesen Grundsätzen ist die Stellungnahme vom 21.05.2014 dem fachlichen Einwand ausgesetzt, dass nicht klar wird, worin das die posttraumatische Belastungsstörung auslösende Trauma liegen soll. Im Rahmen der Biographischen Anamnese werden Ereignisse aus dem Jahr 1999 nach Ausbruch des Kosovokrieges geschildert, aber auch zeitlich nachfolgende Bedrohungen und Misshandlungen in Serbien, Übergriffe von albanisch sprechenden Männern nach der Rückkehr der Antragsteller in das Kosovo sowie eine Bedrohung des Sohnes des Antragstellers zu 1 mit einer Pistole durch Nachbarn. Soweit die Ereignisse während des Kosovokrieges im Jahr 1999 als maßgeblich für das Trauma anzusehen sein sollten, wäre zu begründen, warum diese Umstände nicht schon während der Anhörung des Antragstellers zu 1 am 29.03.2010 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgetragen wurden. Begründungsbedürftig ist ferner der Umstand, dass der Antragsteller zu 1 das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung erst im Jahr 2013 geltend gemacht hat, obwohl er bereits seit dem Jahr 2010 aus seiner Heimat ausgereist ist. Ein weiterer Mangel der Stellungnahme vom 21.05.2014 liegt darin, dass nicht explizit angegeben wird, nach welchen Kriterien eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde (vgl. dazu Ebert/Kindt, a.a.O. S. 42). Schließlich stellt sich noch die Frage, ob die beim Antragsteller zu 1 festgestellten Symptome nicht auch andere Ursachen als eine posttraumatische Belastungsstörung haben können, etwa die unkontrollierte Einnahme von Medikamenten und Halluzinogenen oder ein schweres Entwurzelungssyndrom.

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Die Stellungnahmen der Amtsärztin S. vom 08.07.2013 und 10.03.2014 sowie der Amtsärztin M. vom 29.04.2014 und 20.05.2014 lassen ebenfalls keine abschließende Beurteilung der hier relevanten Fragestellung zu. In dem amtsärztlichen Gutachten zur Beurteilung der Flug- und Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1 vom 08.07.2013 (GA Bl. 50) heißt es, dieser leide an einer psychischen Erkrankung, die akut exazerbiert sei. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehe die akute Gefahr eines Suizids bzw. erweiterten Suizids. In der Stellungnahme vom 10.03.2014 (GA Bl. 49) heißt es, die Reisefähigkeit im weiteren Sinne sei aufgrund der psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1 nicht gegeben. In der Stellungnahme vom 29.04.2014 (GA Bl. 62) wird ausgeführt, es könnten keine wesentlichen Veränderungen der gesundheitlichen Situation des Antragstellers zu 1 festgestellt werden. Er habe weiterhin eine unbändige Angst vor der Abschiebung in sein Heimatland. Er reagiere damit, im Abschiebungsfall sich und seine Familie umzubringen. Die Flug- und Reisetauglichkeit sei nach wie vor unsicher, da in keiner Weise abzuschätzen sei, ob der Antragsteller zu 1 seine Drohungen wahr mache. In der Stellungnahme vom 20.05.2014 (GA Bl. 61) wird ergänzend ausgeführt, bei der Vorstellung im Gesundheitsamt habe der Antragsteller zu 1 überzeugend den Eindruck gemacht, dass er im Falle einer Abschiebung sich und seiner Familie etwas antun werde. Es bestehe eine bedingte Flug- und Reisefähigkeit. Bedingung sei die Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung. Die sei durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und eine fachärztliche Begleitung während des Fluges zu gewährleisten. In diesen Stellungnahmen wird weder angegeben, aufgrund welcher tatsächlichen Umstände die fachliche Beurteilung erfolgt ist, noch enthalten sie eine nachvollziehbare medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes oder eine nachvollziehbare Darlegung der Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Die in der Stellungnahme vom 20.05.2014 vertretene Annahme, eine hinreichende Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung könne durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und Gewährleistung einer fachärztlichen Begleitung während des Fluges sichergestellt werden, wird nicht näher begründet und stellt sich als reine Spekulation dar. Zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen sind diese amtsärztlichen Stellungnahmen ungeeignet.

13

Vor diesem Hintergrund liegen zwar Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller zu 1 unter einer posttraumatische Belastungsstörung leidet und eine Abschiebung zu einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führt. Es verbleiben jedoch Zweifel. Bei dieser Sachlage kann über das Vorliegen des geltend gemachten Duldungsgrundes ohne fachärztliches Gutachten zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen nicht entschieden werden. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist damit offen, so dass ein Anordnungsanspruch gegeben ist.

14

2. Auch die Antragstellerin zu 2 und die Antragsteller zu 3 – 6 haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Eine rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa mit Blick auf Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind. Der Schutz des Art. 6 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben. Sich hieraus ergebende schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers dann entgegen stehen, wenn es ihm nicht zuzumuten ist, seine tatsächlichen Bindungen zu berechtigterweise im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (Beschl. d. Senats v. 14.08.2014 – 2 L 115/13 – m.w.N.). Derartige schutzwürdige Belange liegen im Fall der Antragstellerin zu 2 und der Antragsteller zu 3 – 6 vor. Aufgrund der oben dargestellten Umstände besteht bei dem Antragsteller zu 1 möglicherweise ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Die übrigen Familienmitglieder können daher einstweilen eine gewünschte familiäre Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Heimatland nicht führen. Eine alleinige auch nur kurzfristige Rückkehr ohne Begleitung durch den Antragsteller zu 1 in das Kosovo ist ihnen ebenfalls nicht zuzumuten.

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3. Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Antragsgegner beabsichtigt, die Antragsteller ohne vorherige Einholung eines fachärztlichen Gutachtens zur Suizidgefahr abzuschieben. Die vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten Duldungsanspruchs ist daher zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich. Denn der Duldungsanspruch erlischt ebenso wie die Aussetzung selbst (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG) mit der Ausreise (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 – a.a.O. RdNr. 14). Er würde durch die Abschiebung daher vereitelt. Zudem ist eine Abschiebung ohne vorherige fachärztliche Begutachtung der damit nach den vorliegenden Erkenntnissen möglicherweise einhergehenden gesundheitlichen Risiken mit der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren.

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II. Den Antragstellern ist auch die beantragte Prozesskostenhilfe zu gewähren, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sind, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint und aus den vorstehend ausgeführten Gründen hinreichende Erfolgsaussichten zu bejahen sind (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).

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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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VI. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des beschließenden Senats, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes den halben Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG je Antragsteller festzusetzen, soweit Streitgegenstand – wie hier – die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ist.


Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste am 08.12.2002 in das Bundesgebiet ein. Am 09.01.2003 beantragte Sie die Gewährung von Asyl.
Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19.03.2003 wurde der Asylantrag abgelehnt und festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, sowie mit einer Ausreisefrist von einem Monat die Abschiebung angedroht. Die hierauf eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 25.10.2005 - A 15 K 10904/03 - und VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.04.2006 - A 12 S 1096/05 -).
Mit Schriftsatz vom 10.05.2007 stellte die Klägerin einen Asylfolgeantrag und brachte zur Begründung vor, ihr Gesundheitszustand habe sich erheblich verschlimmert. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes bestehe im Falle einer Abschiebung in die Türkei eine Gefahr für Leib und Leben. In der Türkei habe sie in massiver Weise Verfolgung und menschenrechtswidrige Behandlung erlitten; hierdurch sei sie in ihrer psychischen Integrität erheblich verletzt und traumatisiert worden. Gleichzeitig legte die Klägerin ein ärztliches Attest der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie Dr. Beier-Fügel vom 12.06.2006, ein Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 sowie ein Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 12.04.2007 vor.
Mit Bescheid vom 07.09.2007 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 19.03.2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG seien nicht erfüllt. Die vorgelegten ärztlichen Gutachten und Atteste könnten die Feststellungen im Urteil des VG Stuttgart vom 25.10.2005 nicht erschüttern. Bei den vorgelegten ärztlichen Gutachten und Attesten handele es sich um fachpsychiatrische Aussagen über den gegenwärtigen Gesundheitszustand der Klägerin und nicht um belastbare, verlässliche Analysen der Erlebnisse der Klägerin in der Türkei. Die Aussagen der Klägerin seien von den ärztlichen Gutachtern keiner nachvollziehbaren wissenschaftlichen Bewertung unterzogen worden. Am Wahrheitsgehalt des gesteigerten Sachvortrags der Klägerin bestünden Zweifel, da sie bereits im Erstasylverfahren trotz eingehender psychiatrischer Untersuchung die erlittene Vergewaltigung nicht erwähnt habe. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liege nicht vor. Die Klägerin könne auf die zur Behandlung ihres Krankheitsbildes in der Türkei zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten verwiesen werden.
Am 17.09.2007 hat die Klägerin Klage erhoben.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung.
11 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörenden Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Gründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf des ihm zuerkannten Abschiebungsschutzes hinsichtlich Afghanistans.

2

Der 1986 in Kabul geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit. Er reiste Ende 2000 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - im Juli 2001 ab. Zugleich stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG nicht vorliegen. Allerdings stellte es fest, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans vorliegt. Diese Feststellung stützte das Bundesamt auf die dem damals noch minderjährigen Kläger drohende Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder die Nordallianz.

3

Mit Bescheid vom 28. September 2006 widerrief das Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (Nr. 1) und stellte zugleich fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die innenpolitische Situation in Afghanistan seit dem Sturz der Talibanherrschaft im November 2001 grundlegend geändert habe. Es sei nicht zu erwarten, dass das zerschlagene Talibanregime wieder an die Macht gelange, so dass von den Taliban wieder eine Verfolgungsgefahr ausgehen könne. Es bestünden für Rückkehrer aus Deutschland aufgrund der allgemeinen Versorgungs- und Sicherheitslage auch keine extremen Gefahren, die bei verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach dieser Vorschrift führten.

4

Das Verwaltungsgericht hat den Widerrufsbescheid im Februar 2008 aufgehoben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof im Januar 2010 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG für den Widerruf des dem Kläger zugebilligten Abschiebungsverbots lägen nicht vor. Es bestehe für ihn im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Kabul, eine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Diese erfordere die Gewährung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der Kläger habe in Afghanistan keine ordnungsgemäße Schulausbildung erhalten und könne seine Heimatsprache Dari nur eingeschränkt lesen und schreiben. Er sei bei seiner Ausreise erst 14 Jahre alt gewesen und habe in Afghanistan weder eine Ausbildung erhalten noch eine Berufstätigkeit ausgeübt. Nach seinem mehr als neunjährigen Aufenthalt in Deutschland erscheine es kaum denkbar, dass er sein Überleben in den chaotischen Verhältnissen Kabuls selbst sichern könne. Auch seine Sicherheit sei dort hochgradig gefährdet. Er könne nicht auf eine familiäre Unterstützung zurückgreifen. Selbst wenn er aus dem Ausland ab und zu finanzielle Hilfen erhielte, wäre dies nicht geeignet, seine Existenz wirksam zu gewährleisten.

5

Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage. Sie macht geltend, dass der Widerruf des Abschiebungsverbots rechtmäßig sei. Der Verwaltungsgerichtshof verfehle die Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts für die Annahme einer Extremgefahr. Außerdem verletzte er die Anforderungen des § 108 Abs. 1 VwGO an die richterliche Überzeugungsbildung, wenn er es für die Annahme einer derartigen Gefahr ausreichen lasse, dass bestimmte Tatsachen "plausibel" erscheinen, ohne sich hierzu eine Überzeugung zu bilden.

6

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich an dem Verfahren beteiligt und unterstützt die Revision.

Entscheidungsgründe

7

Der Senat konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters des Klägers verhandeln und entscheiden, da dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

8

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Berufungsentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat den auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerrufsbescheid deshalb als rechtswidrig angesehen, weil es der Auffassung war, dass dem Kläger in Bezug auf Afghanistan weiterhin Abschiebungsschutz nach nationalem Recht - nunmehr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG - zusteht. Die hierfür angeführte Begründung ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts konnte der Senat nicht selbst abschließend in der Sache entscheiden. Das Verfahren war daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

9

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass Gegenstand des Verfahrens zunächst das Hauptbegehren des Klägers auf Aufhebung des auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerrufsbescheids ist. Dieses - hier in erster und zweiter Instanz erfolgreiche - Begehren ist begründet, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für den Widerruf nicht erfüllt sind. Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG setzt der Widerruf des nach nationalem Recht gewährten Abschiebungsschutzes voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot (hier nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990) nachträglich entfallen sind und auch nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (jetzt nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3) zu gewähren ist. Dabei sind alle Rechtsgrundlagen für den nationalen Abschiebungsschutz, der jedenfalls seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand bildet, in die Prüfung einzubeziehen.

10

Darüber hinaus ist im Falle des Widerrufs eines Abschiebungsschutzes nach nationalem Recht seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes grundsätzlich auch über den neu hinzugekommenen unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz zu entscheiden, der seinerseits einen selbstständigen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand bildet (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 11). Soweit in Übergangsfällen - wie hier - der Widerrufsbescheid des Bundesamts vor dem 28. August 2007 ergangen ist und deshalb den unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz noch nicht berücksichtigt, ist das Bestehen eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutzes im gerichtlichen Verfahren jedenfalls dann (erstmals) zu prüfen, wenn der Widerruf des an sich nachrangigen nationalen Abschiebungsschutzes durchgreift. Denn in diesem Fall ist das Klagebegehren des Klägers regelmäßig - und so auch hier - sachdienlich dahin auszulegen, dass er zumindest hilfsweise für den Fall des Wegfalls des nationalen Abschiebungsschutzes die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots erreichen will. Der vorherigen Durchführung eines Verwaltungsverfahrens beim Bundesamt bedarf es insoweit nicht. Weiterhin kann in diesen Übergangsfällen der Anspruch auf unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutz im Rechtsstreit um den Widerruf des nationalen Abschiebungsschutzes auch mit einem weiteren Hauptantrag und damit unabhängig von dem Wegfall oder Fortbestand des nationalen Abschiebungsschutzes geltend gemacht werden (zur Zulässigkeit eines solchen Antrags: Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 16 bis 18). Eine Verpflichtung zur Stellung eines solchen weiteren Hauptantrags zur Durchsetzung des grundsätzlich vorrangigen unionsrechtlich begründeten Abschiebungsschutzes besteht allerdings in den in die Übergangszeit fallenden Widerrufsfällen wie dem vorliegenden nicht, da es Sache des Klägers ist, ob er sich mit dem Fortbestand des bisher gewährten nationalen Abschiebungsschutzes begnügen oder daneben zusätzlich den unionsrechtlichen Abschiebungsschutz erstreiten will. Anders als bei der Verpflichtungsklage auf erstmalige Feststellung von Abschiebungsverboten bedarf es beim Streit um die Rechtmäßigkeit des Widerrufs eines nach nationalem Recht gewährten Abschiebungsschutzes mit Blick auf die dem Asylverfahrensgesetz zugrunde liegende Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime nicht notwendig der Klärung, ob neben dem einmal gewährten nationalen Abschiebungsschutz auch noch ein unionsrechtlich begründeter besteht (vgl. aber zur Notwendigkeit gestufter Klageanträge in Erst- oder Folgeschutzverfahren: Urteil vom 8. September 2011 - BVerwG 10 C 14.10 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen Rn. 13).

11

1. Der Widerruf des Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG im Bescheid vom 28. September 2006 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Maßgeblich ist hierfür die Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheids (Beschluss vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 46.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 24 Rn. 15). Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG in der auch derzeit noch unverändert geltenden Fassung vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

12

Dem Widerruf nach § 73 Abs. 3 AsylVfG steht die einjährige Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht entgegen. Denn diese Frist beginnt erst mit dem Abschluss des Anhörungsverfahrens - hier eingeleitet im Juni 2006 - zu laufen (vgl. Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 <292>), so dass zum Zeitpunkt des Widerrufs noch kein Jahr verstrichen war. Die einjährige Ausschlussfrist findet im Übrigen aber für das Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG auch keine Anwendung. Das ergibt sich aus der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der in § 73 AsylVfG getroffenen Regelungen.

13

Die Frage, ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG auch im Rahmen des Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG a.F. galt, hatte das Bundesverwaltungsgericht zunächst stets offenlassen können, weil es in den zu entscheidenden Fällen nicht darauf ankam. Nach Einführung der Dreijahresfrist für die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen mit der Folge des gegebenenfalls zwingenden Widerrufs der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung durch § 73 Abs. 2a AsylVfG zum 1. Januar 2005 hat es allerdings entschieden, dass die Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung findet, in denen die Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Dreijahresfrist nach Unanfechtbarkeit der Anerkennungsentscheidung widerrufen wird (Urteil vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 14 f.). Maßgeblich hierfür war die Erwägung, dass der Gesetzgeber mit der Dreijahresfrist dem Bundesamt einen bestimmten, auf die Besonderheiten des Asyl- und Ausländerrechts abgestimmten zeitlichen Rahmen vorgegeben hat, der nach dem Sinn und Zweck der Regelung erkennbar abschließend ist und nicht durch weitere (allgemeine) Fristen wieder verengt werden sollte. Ob dies auch für den Widerruf von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen nach Ablauf der Dreijahresfrist gilt, hat der Senat offengelassen. Für den Widerruf der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG, der in § 73 Abs. 3 AsylVfG zwingend und ohne jede Einschränkung vorgeschrieben ist, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen, folgt daraus, dass auch hier von einer abschließenden spezialgesetzlichen Regelung auszugehen ist, die eine Anwendung der Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG verbietet. Zwar ist für den Widerruf der Feststellung von Abschiebungsverboten kein besonderer zeitlicher Rahmen wie in § 73 Abs. 2a AsylVfG vorgesehen. Es wäre aber ein Wertungswiderspruch, wenn die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung innerhalb der ersten drei Jahre nach ihrer Unanfechtbarkeit unter leichteren formellen Vorraussetzungen, nämlich ohne Beachtung der Jahresfrist, widerrufen werden könnte als eine Gewährung von sonstigem, nachrangigem Abschiebungsschutz. Dies hat der Gesetzgeber, der - wie § 73 Abs. 3 AsylVfG zeigt - den Fortbestand von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG besonders eng und unmittelbar an die materielle Schutzbedürftigkeit binden wollte, erkennbar nicht gewollt. Der Widerruf von Abschiebungsschutz nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist deshalb auch nach Ablauf eines Jahres nach Kenntnis des Bundesamts von den Widerrufsgründen zulässig (so im Ergebnis auch OVG Münster, Beschluss vom 15. Oktober 2010 - 13 A 1639/10.A - juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. November 2010 - 3 N 46.09 - juris Rn. 6; OVG Hamburg, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 4 Bf 40/05.AZ - juris).

14

Dass die einjährige Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG für das Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 3 AsylVfG keine Anwendung findet, gilt im Übrigen auch für die Rechtslage nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007. Durch das Richtlinienumsetzungsgesetz wurden sogar weitere Spezialregelungen zu Widerruf und Rücknahme nach § 73 AsylVfG getroffen (vgl. etwa § 73 Abs. 2b und c, Abs. 4 und 7 AsylVfG). Das bestätigt, dass der Gesetzgeber den Widerruf von Abschiebungsverboten im Asylverfahrensgesetz auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht abschließend regeln wollte.

15

2a) Ob der Widerruf den materiellen Voraussetzungen entspricht, bestimmt sich nach § 73 Abs. 3 AsylVfG i.d.F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970). Danach ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Der dem Kläger gewährte nationale Abschiebungsschutz ist somit zu widerrufen, wenn sich die Sachlage so verändert hat, dass die Voraussetzungen für das vom Bundesamt im Juli 2001 festgestellte Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 entfallen sind (1) und auch keine anderen nationalen Abschiebungsverbote vorliegen (2).

16

(1) § 73 Abs. 3 AsylVfG verlangt für den Widerruf eines Abschiebungshindernisses eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Durch neue Tatsachen muss sich eine andere Grundlage für die Gefahrenprognose bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot ergeben. Deshalb reicht für den Widerruf eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990 in verfassungskonformer Anwendung (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG) allein der Umstand, dass für den Betroffenen keine verfassungswidrige Schutzlücke mehr besteht, etwa weil er nunmehr unionsrechtlichen Abschiebungsschutz z.B. gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beanspruchen kann oder die Abschiebung nachträglich durch Ländererlass gemäß § 60a AufenthG vorübergehend ausgesetzt wird, nicht aus. Zwar kann das genannte Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung im Wege einer Durchbrechung der in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angeordneten Sperrwirkung für allgemeine Gefahren nur festgestellt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG unvereinbare Schutzlücke bestünde (Urteile vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226 Rn. 12 und vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Die damit einhergehende Subsidiarität dieses Abschiebungsverbots hat indes im Falle des Widerrufs nicht das gleiche Gewicht. Die Voraussetzungen für die Feststellung dieses Abschiebungsverbots einerseits und den Widerruf andererseits sind deshalb insoweit nicht vollends deckungsgleich.

17

(2) Sind die tatsächlichen Voraussetzungen für das konkret festgestellte Abschiebungsverbot entfallen, ist zu prüfen, ob nationaler Abschiebungsschutz aus anderen Gründen besteht (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3). Des Weiteren bestimmt sich der Widerruf ausschließlich nach den Vorschriften des nationalen Rechts. Weder dem Gesetzestext noch den Materialien zum Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber Vorgaben des Unionsrechts - namentlich Art. 16 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 zum Erlöschen des subsidiären Schutzes - über die unionsrechtlich begründeten Tatbestände des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG hinaus auch auf den nationalen Abschiebungsschutz erstrecken wollte.

18

b) Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen im Fall des Klägers mit einer Begründung verneint, die mit Bundesrecht nicht vereinbar ist. Denn er hat zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG wegen Vorliegens einer Extremgefahr bejaht, dabei aber die in der Rechtsprechung des Senats entwickelten Voraussetzungen für die Annahme eines solchen Abschiebungsverbots verfehlt.

19

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

20

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. Urteil vom 29. Juni 2010 a.a.O. Rn. 15 m.w.N.).

21

Der Verwaltungsgerichtshof hat diese rechtlichen Maßstäbe für die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in wesentlichen Teilen verkannt. Er bezieht sich zwar ausdrücklich auf den Maßstab der Extremgefahr und zitiert in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (UA S. 6). Bei der Rechtsanwendung indes füllt er ihn mit Merkmalen auf, die weit hinter den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Anforderungen zurückbleiben.

22

Das Vorliegen einer Extremgefahr begründet der Verwaltungsgerichtshof damit, es erscheine kaum denkbar, dass der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan sein Überleben "in den chaotischen Verhältnissen Kabuls" sichern könne (UA S. 9). Auch eine gelegentliche finanzielle Unterstützung aus dem Ausland sei "letztlich nicht geeignet, seine Existenz wirksam zu gewährleisten" (UA S. 10). Diese im Rahmen der Subsumtion herangezogenen Tatsachen lassen jedoch nicht den Schluss darauf zu, dass der Kläger dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, wie das den Anforderungen an eine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entspricht. Denn die fehlende Möglichkeit einer wirksamen Existenzsicherung führt nicht zwangsläufig zur Existenzvernichtung oder zu schwersten Gesundheitsschäden. Damit verfehlt das Berufungsurteil den Begriff der Extremgefahr.

23

Der Verwaltungsgerichtshof hat seiner Entscheidung zudem nicht die weiteren für eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG erforderlichen Voraussetzungen zugrunde gelegt, dass sich die Gefahr mit hoher Wahrscheinlichkeit und alsbald nach der Rückkehr des Klägers realisieren muss. Auf diese Voraussetzungen geht das Berufungsurteil überhaupt nicht ein. Die gewählte Formulierung, eine Sicherung des Überlebens erscheine "kaum denkbar" (UA S. 9) entspricht nicht dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dass gleichsam sehenden Auges der sichere Tod oder schwerste Verletzungen drohen müssen. Gegen das Erfordernis der alsbaldigen Realisierung der Gefahr spricht, dass das Gericht eine wirksame Existenzsicherung für erforderlich hält, um die Extremgefahr abzuwenden, und damit für die Verneinung der Gefahr auf eine längerfristige Zeitperspektive abstellt.

24

3a) Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache wird das Berufungsgericht unter Zugrundelegung der für die erneute Entscheidung maßgeblichen Erkenntnislage zu prüfen haben, ob die für die ursprüngliche Zubilligung nationalen Abschiebungsschutzes durch das Bundesamt ausschlaggebende Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Taliban bei Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich entfallen ist (vgl. hierzu etwa den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 9. Februar 2011 S. 22 und die Auskunft von Amnesty International an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 21. Dezember 2010).

25

b) Sollte die Gefahr der Zwangsrekrutierung für den Kläger entfallen sein, ist das Berufungsgericht gehalten, sich bei der erneuten Prüfung eines Abschiebungsverbots wegen Vorliegens einer Extremgefahr in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG die vom Bundesverwaltungsgericht hierzu entwickelten rechtlichen Maßstäbe zu beachten und seiner Überzeugungsbildung zugrunde zu legen. Dabei wird es sich auch mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinanderzusetzen haben (vgl. etwa Urteil des VGH München vom 3. Februar 2011 - 13 a B 10.30394 - juris, das sich seinerseits allerdings auch nicht mit der gegenteiligen Rechtsprechung des Berufungsgerichts auseinandersetzt; vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 29. Juni 2010 a.a.O. Rn. 22).

26

c) Sollte es für das Vorliegen einer Extremgefahr weiterhin entscheidungserheblich auf die individuellen Möglichkeiten des Klägers ankommen, sich Nahrungsmittel zu beschaffen, wird der Verwaltungsgerichtshof der Frage nachzugehen haben, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Kläger mit finanzieller Unterstützung durch seine im Ausland lebenden Eltern und sonstigen Familienangehörigen rechnen kann, unter anderem durch seine in Deutschland lebende Schwester. Sofern sich für den Verwaltungsgerichtshof weiterhin die Frage stellt, ob der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan einer erhöhten Gefährdung seiner Sicherheit durch eine erfolgte Beschlagnahme eines Hauses seines Vaters in Kabul durch einen Mudschaheddin-General ausgesetzt wäre (UA S. 9), wird zu untersuchen sein, aufgrund welcher konkreten Umstände sich hieraus eine Gefahr für den Kläger auch ohne Geltendmachung eigener Ansprüche an dem Haus ergeben kann.

27

d) Sollte der Hauptantrag des Klägers, der auf die Aufhebung des Widerrufs des nationalen Abschiebungsschutzes gerichtet ist, keinen Erfolg haben, wird der Verwaltungsgerichtshof über den Hilfsantrag auf Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots zu entscheiden haben. Einen entsprechenden Antrag hat der Kläger schon in seiner Klageschrift angekündigt. Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof brauchten hierüber bisher nicht entscheiden, da es dem Kläger vorrangig um den Erhalt des ihm bereits gewährten nationalen Abschiebungsschutzes geht, den ihm die Instanzgerichte zugesprochen haben. Der Kläger durfte sein Begehren auch in dieser Form in einen Haupt- und Hilfsantrag kleiden (siehe oben Rn. 10).

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.