Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1873/12

bei uns veröffentlicht am07.03.2013

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. Juni 2012 - A 9 K 122/12 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2012 verpflichtet, festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
1. Der nach seinen Angaben am ...1991 in Lagos geborene Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Ibo an, spricht Englisch und Ibo und ist christlichen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 16.11.2010 auf dem Landweg nach Deutschland ein und stellte am 14.12.2010 einen Asylantrag. Er wurde am 16.12.2010 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) angehört. Dort machte er im Wesentlichen geltend, er werde in Nigeria wegen seiner Homosexualität verfolgt. Er verhalte sich auf der Straße „wie ein Mädchen“ und werde deshalb beschimpft und gedemütigt. Im Jahr 2008 sei er wegen seiner weiblichen Art auf der Straße mit einem Messer angegriffen und verletzt worden. Wegen seiner weiteren Angaben wird auf das Anhörungsprotokoll in der Akte des Bundesamtes verwiesen.
Mit Bescheid vom 12.01.2012 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen. Des Weiteren wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Ihm wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht.
2. Der Kläger hat am 19.01.2012 Klage erhoben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. Er hat seinen bisherigen Vortrag ergänzt und vertieft. So hat er eine Fotografie von sich vorgelegt, auf der eine Narbe auf der rechten Brust zu sehen ist, und hat vorgebracht, sie stamme von einem Messerangriff am 20.12.2008 in Lagos-Surulere. In der mündlichen Verhandlung vom 21.06.2012 hat das Verwaltungsgericht den Kläger persönlich angehört. Wegen seiner dortigen Angaben wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung in der Akte des Verwaltungsgerichts verwiesen (A 9 K 122/12).
Mit Beschluss vom 21.06.2012 (A 9 K 123/12) hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Der vom Bundesamt angenommene Maßstab der offensichtlichen Unbegründetheit sei nicht einschlägig.
Mit Urteil vom gleichen Tage hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person in Bezug auf Nigeria die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Er habe nicht zur Überzeugung des Gerichts substantiiert vorgetragen, in Nigeria von staatlichen Organen oder individuell von nicht-staatlichen Akteuren aufgrund seiner behaupteten Homosexualität bedroht gewesen zu sein. Als konkrete Verfolgungshandlung habe er sowohl vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung lediglich einen Vorfall aus dem Jahr 2008 benannt und habe damit auf ein Geschehen verwiesen, das knapp zwei Jahre vor seiner Ausreise stattgefunden haben solle. Ungeachtet des deshalb nicht gegebenen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Angriff und Ausreise erweise sich das Ereignis nicht als asylrelevant. So habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst angegeben, bei dem Angriff Hilfe durch einen Polizisten erfahren zu haben. Es sei weiter nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die zuständigen nigerianischen Behörden von einer homosexuellen Betätigung des Klägers Kenntnis erlangten. Es sei davon auszugehen, dass es dem Kläger zuzumuten sei, seine homosexuelle Veranlagung und Betätigung nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen, sondern auf den Bereich seines engsten persönlichen Umfeldes zu beschränken. Es sei dem Kläger ebenso zumutbar, seinen Aufenthalt in einer der größeren Städte Nigerias, insbesondere in Lagos, zu nehmen. Es bestünden dort - insbesondere innerhalb der westlich ausgebildeten Elite und nigerianischen Oberschicht - Zentren einigermaßen tolerierter Homosexualität, die einen Umgang mit Homosexualität möglich machten. Aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei das Gericht davon überzeugt, dass er in der Lage sei, sich diesen Kreisen anzuschließen. So habe er angegeben, in der Vergangenheit bereits eine Beziehung zu einem Geschäftsmann aus Lagos gehabt zu haben.
3. Am 11.08.2012 hat der Kläger die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 11.09.2012 - zugestellt am 14.09.2012 - hat der Senat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Am 26.09.2012 hat der Kläger die Berufung begründet. Er ist der Ansicht, es sei unzutreffend, dass es in den größeren Städten Nigerias, zum Beispiel in Lagos, Zentren einigermaßen tolerierter Homosexualität gebe. Zudem sei es ihm nicht zumutbar, seine homosexuelle Veranlagung und Betätigung nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen und auf den Bereich seines engsten persönlichen Umfeldes zu beschränken. Das anspruchsabwehrende Argument eines Vermeidungsverhaltens in Bezug auf die sexuelle Identität beziehungsweise Orientierung laufe europäischen und internationalen Menschenrechtsstandards zuwider und verstoße ebenso gegen europäisches und internationales Flüchtlingsrecht, weil es dem Betroffenen das Verbergen gerade des Merkmals auferlege, dessen Schutz die Genfer Flüchtlingskonvention ebenso wie die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30.09.2004, S. 12, ber. ABl. L 204 vom 05.08.2005, S. 24 - im Folgenden: RL 2004/83/EG) bezwecke. Dies gelte sowohl für ein mögliches als auch für ein tatsächliches Vermeidungsverhalten. Der nigerianische Staat toleriere Homosexualität nicht. Homosexuelle, die ihre Homosexualität leben wollten, seien Verfolgung in Anknüpfung an ihre sexuelle Identität und auch von Seiten privater Dritter ausgesetzt, ohne dass der Staat Schutz bieten könne und wolle. Alle vom Senat eingeholten Auskünfte seien sich darin einig, dass die Praktizierung von Homosexualität in Nigeria strafbar sei, sei sie privat oder öffentlich. Einigkeit bestehe auch bezüglich der Strafverfolgung, sowie im Wesentlichen auch bezüglich des Gesetzgebungsverfahrens „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill, 2011“. Während Amnesty International und die Schweizerische Flüchtlingshilfe ein reales Verfolgungsrisiko auch bei einer diskreten Lebensweise annähmen, stehe dem die Einschätzung des Auswärtigen Amts entgegen, dass Homosexuelle in urbanen Orten, beispielsweise in Lagos, ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise Lebensweise einigermaßen gefahrlos leben könnten. Allerdings enthalte auch die Einschätzung des Auswärtigen Amtes die Einschränkung, dass die Betroffenen „dabei diskret bleiben“. Gerade diese Einschränkung mache deutlich, dass Homosexuelle in Nigeria in ständiger Angst vor einer Entdeckung leben müssten. Wenn man die übrigen Ausführungen zur Lage in Nigeria, insbesondere die Einstellung der Bevölkerung, die in allen drei Auskünften übereinstimmend geschildert werde, berücksichtige, sei das Risiko einer Entdeckung als „real risk“ im Sinne einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung zu verstehen.
Der Kläger beantragt,
10 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.2012 - A 9 K 122/12 - zu ändern und Ziffer 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.01.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise diese zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG vorliegt,
höchsthilfsweise diese zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
11 
Die Beklagte beantragt,
12 
die Berufung zurückzuweisen.
13 
Sie meint, eine strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen werde selten bekannt. Homosexuelle versuchten aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und weit verbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. Aus den Quellen ergebe sich ebenfalls nicht, dass eine systematische staatliche Verfolgung stattfinde, zum Beispiel durch gezielte Suche mittels Razzien in von Homosexuellen frequentierten Bars oder an deren sonstigen Treffpunkten. Vor diesem Hintergrund werde bereits die geringe Anzahl der Berichte über strafrechtliche und sonstige Verfolgungsfälle Homosexueller in Relation zu der anzunehmenden Zahl irreversibel auf Homosexualität geprägter nigerianischer Staatsangehöriger gegen ein als generell beachtlich wahrscheinlich einzustufendes Gefährdungsrisiko sprechen. Es möge im Einzelfall durchaus zu einer Strafverfolgung kommen können, etwa wenn der Betreffende bei den Behörden wegen tatsächlicher oder angeblicher homosexueller Betätigung angezeigt werde. Auch könne Verfolgung drohen, wenn die homosexuelle Prägung bekannt werde.
14 
Das Urteil des EuGH vom 05.09.2012 (Rs. C-71/11 u.a.) sei auf den vorliegenden Fall nur bedingt übertragbar. Es beziehe sich auf einen anderen Verfolgungsgrund. Gleichwohl habe sie, die Beklagte, entschieden, in Übertragung dieser Grundsätze einen Schutzsuchenden wegen seiner individuellen sexuellen Prägung nicht mehr auf eine mögliche Verhaltensanpassung zur Vermeidung einer Verfolgung zu verweisen. Dazu sei sie nach Art. 3 RL 2004/83/EG befugt. Notwendig sei eine doppelte Prognose: Zunächst zum konkret im Einzelfall tatsächlich nach Rückkehr zu erwartenden Verhalten und sodann zu den gerade hieran anknüpfenden Reaktionen seitens der in Betracht zu ziehenden Verfolgungsakteure. Der EuGH habe eine Prüfung und Feststellung im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen gefordert, ob er aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr laufe, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Eine begründete Furcht liege vor, sobald im Hinblick auf die persönlichen Umstände vernünftigerweise anzunehmen sei, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland Betätigungen vornehmen werde, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzten. Sei nach der Einzelfallprüfung davon auszugehen, dass der Kläger nach Rückkehr sich lediglich in zurückgenommener Weise verhalten werde und zeige sich nach der Quellenlage nicht, dass ein beachtliches Gefährdungsrisiko in Anknüpfung an dieses Verhalten bestehe, sei die Situation nicht anspruchsbegründend. Soweit die Verhaltensanpassung im Hinblick auf subjektive Befürchtungen für den Fall eines darüber hinausgehenden Handelns zurückzuführen sei, stelle dies zwar eine Beeinträchtigung des Einzelnen dar. Die Beeinträchtigung müsse jedoch eine Intensität im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG erreichen. Dies sei jedoch nicht erkennbar. Die Verhaltenseinschränkung erreiche nicht die Schwere einer Verletzung nach Art. 3 EMRK, weil die Verhaltensveränderung nicht erzwungen sei, sondern darauf zurückgehe, dass der Kläger - unabhängig von den dafür leitenden Motiven - es von sich aus für geboten halte, sein Verhalten entsprechend einzuschränken.
15 
Zu prüfen sei daher, wie sich der Kläger vor dem Verlassen seines Heimatlandes verhalten habe, wie er sich seither hier verhalte und ob sich dies bei der Gesamtbetrachtung als Konsequenz einer bestehenden Persönlichkeitsprägung zeige. Dabei könne es nicht allein auf die subjektive Sicht des Schutzsuchenden ankommen. Vielmehr sei auch nach der Rechtsprechung des EuGH zu prüfen, wie sich der Betreffende vernünftigerweise verhalten werde. Bislang sei nicht feststellbar, dass der Kläger in Nigeria kein den dortigen Verhältnissen angepasstes Leben führen werde, sondern darüber hinaus gehe. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger sich bei einer Rückkehr an der gesellschaftlichen Wirklichkeit in seinem Heimatland orientieren werde.
16 
4. Mit Beschluss vom 23.11.2012 hat der Senat dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung des Senats persönlich angehört worden. Insoweit wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
17 
Der Senat hat die Erkenntnismittel, die in der den Beteiligten am 04.02.2012 übermittelten Liste genannt sind, die im Internet veröffentlichten Länderinformationen des Auswärtigen Amtes zu Nigeria (Stand Oktober 2012) sowie Länderinformationen zu Nigeria auf der Homepage von „www.lexas.de“ zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Außerdem hat der Senat Auskunft eingeholt beim Auswärtigen Amt, bei Amnesty International und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Die Auskünfte sind den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden.
18 
Dem Senat liegt die den Kläger betreffende Akte des Bundesamts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akte, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie die eingeholten Auskünfte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die Berufung ist erfolgreich.
20 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) des Klägers ist begründet. Die vom Kläger im Hauptantrag erhobene Verpflichtungsklage auf Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und damit auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG), sowie die gegen Ziffer 4 des Bescheids vom 12.01.2012 erhobene Anfechtungsklage haben Erfolg.
I.
21 
Der Kläger hat nach dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
22 
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, weil nach Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
23 
Nach Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
24 
Die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung entsprechen den Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für das Vorliegen einer „Verfolgungsgefahr“ verlangt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, Juris Rn. 12). Sie liegen vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts" die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, BVerwGE 89, 162).
25 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBl. 1994, 524).
26 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237/80 -, Juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O., 99).
27 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. c und e RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, zu diesem Begriff: EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.03.2012, a.a.O, Rn. 12, und vom 18.04.1996 - 9 C 77/95 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).
28 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32/11 -, Juris Rn. 7).
29 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchst. b). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011, a.a.O., Rn. 7). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, Juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Das Konzept der Gruppenverfolgung steht mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, Juris; Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, Juris Rn. 27 ff.).
31 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung beziehungsweise keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20/08 -, Juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.02.2012 - A 3 S 1876/09 -, Juris Rn. 27 ff.).
32 
2. Bei Anwendung dieser Vorgaben hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.
33 
a) Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG gehört.
34 
aa) Homosexuelle bilden in Nigeria eine „soziale Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.
35 
(1) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine soziale Gruppe in diesem Sinne, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten.
36 
(a) Nach der vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht stellte nur die irreversible Homosexualität ein Persönlichkeitsmerkmal dar, an das Verfolgungsmaßnahmen ebenso wenig geknüpft werden durften wie beispielsweise an die in Art. 1 A Nr. 2 GK genannten Merkmale der Rasse, Nationalität, Religion oder politischen Überzeugung. In diesem Sinne asylrelevant war allerdings nicht bereits die bloße, auf gleichgeschlechtliche Betätigung gerichtete Neigung, der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Betreffenden steht, sondern nur die unumkehrbare Festlegung auf homosexuelle Triebbefriedigung. Nur eine homosexuelle Veranlagung, bei welcher der Betreffende außerstande ist, eine gleichgeschlechtliche Betätigung zu unterlassen, war den schicksalhaft zufallenden persönlichen Eigenschaften wie Rasse oder Nationalität vergleichbar. Hingegen war es nicht - auch - Merkmal der Irreversibilität der homosexuellen Veranlagung, dass der Umgang mit Sexualpartnern des gleichen Geschlechts die einzige Form ist, in der die betreffende Person sich sexuell zu betätigen vermag. Auch eine neben einer heterosexuellen Orientierung vorhandene homosexuelle Triebrichtung, welcher der Betreffende aus eigener Kraft auf Dauer und immer erneut nicht zu widerstehen beziehungsweise auszuweichen vermag und die deshalb immer wieder zur Vornahme homosexueller Handlungen führt, war irreversibel. Auch für eine gleichgeschlechtliche Veranlagung dieser Art trafen die Gründe zu, welche die irreversible Homosexualität zu einem asylrelevanten Persönlichkeitsmerkmal machten (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.03.1988 - 9 C 278/86 -,BVerwGE 79, 143, und vom 17.10.1989 - 9 C 25/78 -, NVwZ-RR 1990, 375; Beschluss vom 15.09.2005 - 1 B 12/05 -, Juris).
37 
Die EU-Kommission hat in der Begründung ihres Vorschlags für die RL 2004/83/EG die sexuelle Ausrichtung dagegen nicht zu den angeborenen oder unveränderlichen, sondern zu identitätsprägenden Merkmalen gezählt, deren Verzicht nicht verlangt werden soll. Zugleich hat sie ausgeführt, dass der Verweis auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung nicht implizierten, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten. Ob er Anwendung finden könne, hänge von den jeweiligen Umständen und der Situation im Herkunftsland sowie den Merkmalen der Verfolgung und des Verfolgten ab (KOM <2001> 510 endg., S. 24).
38 
Auch nach der nach Inkrafttreten der RL 2004/83/EG herrschenden Meinung werden die sexuelle Ausrichtung und mithin auch die Homosexualität zu den Merkmalen gerechnet, die für die Identität so bedeutsam sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, 23.10.2012, Rn. 44 ff., siehe zur Bedeutung der UNHCR Guidelines: Art. 35 Abs. 1 GFK und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, Juris Rn. 38; ferner: Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205, 210; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 2; Titze, ZAR 2012, 93, 95; Markard, Asylmagazin 2013, S. 74, 80; Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber AufenthG, 2010, § 60 Rn. 83; auch: VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 -, Juris Rn. 25; VG Frankfurt , Urteil vom 11.11.2010 - VG 4 K 772/10.A -; VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2011 - RN 5 K 11.30261 -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.08.2012 - A 8 K 344/11 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2012 - 23 K 3686/10.A -, Juris Rn. 51 ff.). Darauf, ob der Betroffene auf Homosexualität „unentrinnbar schicksalhaft festgelegt“ ist und er insoweit „irreversibel geprägt“ ist, kommt es nach der herrschenden Meinung nicht mehr an.
39 
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hatte Zweifel, ob Homosexualität als sexuelle Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 RL 2004/83/EG anzusehen ist und ein hinreichender Verfolgungsgrund sein kann oder ob es einer ergänzenden Präzisierung bedarf, und hat diese Frage dem EuGH vorgelegt (vgl. Beschluss vom 23.11.2010 - 13 A 1013/09.A -, Juris Rn. 40 ff.). Die Vorlage hat sich später erledigt, nachdem der EuGH den Namen des Klägers auf seiner Website öffentlich gemacht und das Bundesamt daraufhin dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2011 - 13 A 1013/09.A -, Juris). Derzeit sind beim EuGH mehrere, miteinander verbundene Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Raad von State vom 27.04.2012 anhängig (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12).
40 
(b) Eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV hält der Senat nicht für erforderlich, weil er keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der RL 2004/83/EG hat. Entscheidend für die Einordnung von Homosexualität und des Merkmals der „sexuellen Ausrichtung“ als identitätsprägendes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist, dass der EGMR Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und des Geschlechtslebens unter den von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Begriff des „Privatlebens“ subsumiert (vgl. EGMR, Urteil vom 27.09.1999 - 33985/96 u.a. - „Smith u. Grady“ -, NJW 2000, 2089 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 19 ff.). Sie fallen daher auch in den Schutzbereich von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU, die nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 bei der Auslegung und der Durchführung der RL 2004/83/EG zu beachten ist (vgl. Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2010, Art. 7 Rn. 8). Daher ist nicht eine unentrinnbare Neigung maßgebend, sondern die frei gewählte sexuelle Bestimmung (vgl. Marx, a.a.O., § 25 Rn. 4 ff.; Titze, a.a.O., S. 95). Die oben dargestellte einschränkende Bezugnahme der Kommission in der Begründung des Richtlinienentwurfs auf die Umstände des Herkunftslandes hat ihre Grundlage in der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzung, die selbständig zu prüfen ist.
41 
(2) Diese in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannte Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ist hinsichtlich Nigeria gegeben. In Nigeria ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine deutlich abgegrenzte Identität besitzen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ergibt sich aus allen vorliegenden Quellen unzweifelhaft, dass Homosexualität in Nigeria nicht für „normal“ gehalten wird.
42 
(3) Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen.
43 
(a) Darauf könnte zwar hindeuten, dass von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 1 RL 2004/83/EG nur solche identitätsprägenden Merkmale geschützt sind, die so bedeutsam sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem findet sich - anders als in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG mit Blick auf den Begriff „Religion“ - nicht der Hinweis, dass neben dem privaten Bereich auch die Praxis im öffentlichen Bereich geschützt sei. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass das Ausleben der sexuellen Ausrichtung nur hinsichtlich des Lebens im Verborgenen beziehungsweise im privaten Bereich geschützt sei. Dem Betreffenden sei es daher zumutbar, seine Veranlagung nur im nichtöffentlichen Bereich seines Heimatlandes auszuleben (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; vgl. zu entsprechenden Zweifeln: OVG NRW, Beschluss vom 23.11.2010, a.a.O.; auch: BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 19/09 -, Juris Rn. 34 und 52). So hatte das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahr 1988 entschieden, dass der strafrechtliche Zwang, sich entsprechend den im Herkunftsland geltenden herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hierdurch nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. darstelle. Das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 149 f.).
44 
(b) Ausgehend von der jüngsten Rechtsprechung des EuGH ist dieser Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG jedoch nicht zu folgen.
45 
Zwar gibt es auch Grenzen für den Schutzbereich des Merkmals „sexuelle Ausrichtung“. Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG darunter keine Handlungen fallen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Diese Einschränkung gilt freilich nur insoweit, als die betreffenden nationalen Regelungen vor Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU Bestand haben. Die einvernehmliche Betätigung unter Erwachsenen im Privatbereich ist danach grundsätzlich geschützt und darf strafrechtlich nicht geahndet werden (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 „Dudgeon“ -, NJW 1984, 541). Gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU kann allerdings die Ausübung sexueller Praktiken in der Öffentlichkeit - und zwar homo- und heterosexueller Art gleichermaßen (vgl. Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU) - weiterhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. etwa § 183a StGB) untersagt werden (vgl. Marx, a.a.O., Rn. 30).
46 
Für den Verfolgungsgrund der Religion hat der EuGH am 05.09.2012 entschieden, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf einen bestimmten Aspekt der Ausübung der Religionsfreiheit - etwa die öffentliche Ausübung - zu verzichten (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 „Y. und Z. ./. Deutschland“ -, Rn. 73 ff.). Die Unterscheidung, ob der Eingriff in einen Kernbereich („forum internum“) oder in die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfolgt, wurde vom EuGH für nicht vereinbar mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG befunden (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 63 ff.). Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung darf nicht darauf abgestellt werden, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird. Maßgeblich ist allein die Art und Schwere der Repression. Bei der Prüfung einer Gefahr muss die Behörde objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigen. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkung ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt für die Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Der EuGH hat weiter hervorgehoben, dass sich die Frage, ob eine Verfolgung durch Verzicht auf eine bestimmte Handlung vermieden werden kann, dann nicht stellt, wenn der Betroffene bereits verfolgt war oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 74).
47 
Diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 20.02.2013 gefolgt (10 C 20/12 u.a.). In der diesbezüglichen Pressemitteilung vom 20.02.2013 (die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) heißt es: Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird. Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung. Doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung zur Flüchtlingsanerkennung führen. Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Andernfalls bliebe der Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.
48 
Vor diesem Hintergrund können nach Auffassung des Senats auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG - abgesehen von den auch in den Mitgliedstaaten der EU strafbaren Handlungen (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG) - nicht bestimmte Verhaltensweisen von vornherein für verzichtbar angesehen werden (vgl. Titze, a.a.O.; Markard, a.a.O., 76 ff.; UNHCR, a.a.O., Rn. 30 ff.). Der Wortlaut der Richtlinie differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der RL 2004/83/EG sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben (vgl. Schlussantrag von Generalanwalt Bot vom 19.04.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, Rn. 103 ff.).
49 
(c) Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. Bei der auf einer Gesamtwürdigung der Person des Schutzsuchenden beruhenden Prognose des Verhaltens in seinem Herkunftsland ist nicht beachtlich, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG - etwa einer zu erwartenden Strafverfolgung - auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Denn hierbei handelt es sich um ein Vermeidungsverhalten, das vom Schutzsuchenden angesichts der Ziele der RL 2004/83/EG nicht verlangt werden kann, weil es kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einer drohenden Verfolgung beruht. Daher darf - entgegen der Auffassung des Bundesamtes - erst recht nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht bei der Beurteilung, ob der Schutzsuchende Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist, zu berücksichtigen (so auch für das Vereinigte Königreich: Supreme Court, Judgement vom 07.07.2010 <2010> UKSC 31, Lord Hope, Rn. 22 und Lord Rodger, Rn. 82; ebenso: Markard, a.a.O., 789; krit.: Titze, a.a.O., 98 f., und Weßels, International Journal of Refugee Law, Vol. 24 (2013), Nr. 4, S. 815; siehe zu möglichen Prüfkriterien bei der Gesamtwürdigung: UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63). Dabei darf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sexuelles Verhalten tendenziell im Privaten stattfindet, nicht ausgeblendet werden. Denn das Ziel des europäischen Asylsystems und der Genfer Flüchtlingskonvention besteht nicht darin, einem Einzelnen immer dann Schutz zu gewähren, wenn er in seinem Herkunftsland die in der Charta der Grundrechte der EU oder in der EMRK eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang tatsächlich ausüben kann, sondern darin, die Anerkennung als Flüchtling auf Personen zu beschränken, die der Gefahr einer schwerwiegenden oder systematischen Verletzung ihrer wichtigsten Rechte ausgesetzt sind und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist (so EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 58 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 28).
50 
bb) In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich die Homosexualität des Klägers und damit seine Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG sowie das von ihm bei einer Rückkehr zu erwartende, für seine Identität besonders wichtige Verhalten aus Folgendem:
51 
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist (vgl. auch die vom UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63, für bedeutsam gehaltenen Prüfelemente). Die Homosexualität des Klägers war in der mündlichen Verhandlung für den Senat offensichtlich. Er macht auf Dritte offensichtlich einen femininen Eindruck, der sich aus seiner Sprechweise, seiner Art, sich zu geben, und seinem gesamten Verhalten ergibt. Dass er einen solchen Eindruck hinterlässt, ist dem Kläger - wie er in seinen bisherigen Anhörungen mitgeteilt hat - bewusst. Der Kläger hat zudem glaubhaft angegeben, dass er die Homosexualität sein ganzes Leben lang gefühlt habe. Allerdings habe er zunächst nicht gewusst, was Homosexualität sei. Er habe jedoch immer nur Gefühle für „Jungs“ gehabt, sich feminin gefühlt. Dieses Gefühl habe sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Seine Geschwister hätten seine Veranlagung wohl vermutet. Sein Bruder habe ihn einmal direkt danach gefragt, auch seine Schwester. Er habe es ihnen gegenüber jedoch nicht zugegeben, weil er Angst gehabt habe, wie sein Bruder reagiere. Er sei sich nicht ganz sicher, ob der Bruder es nun wisse. Er selbst könne nicht anders sein. Er habe keine Möglichkeit, sich zu ändern oder mit seinem Verhalten aufzuhören. Ab April 2008 habe er in Nigeria für ein halbes Jahr eine homosexuelle Beziehung mit einem Mann namens E... gehabt und mit diesem zusammengewohnt. Danach sei es schwierig gewesen, jemand anderen zu finden.
52 
Der Kläger hat weiter detailreich und glaubhaft geschildert, dass er in Deutschland zwei homosexuelle Beziehungen gehabt habe. In der mündlichen Verhandlung war der derzeitige Freund des Klägers anwesend. Außerdem hat der Kläger mitgeteilt, dass in der von ihm bewohnten Asylbewerberunterkunft seine Homosexualität bekannt sei.
53 
Damit steht für den Senat fest, dass der Kläger seine homosexuelle Veranlagung als solche in der Öffentlichkeit nicht verbergen kann, sie ist vielmehr offensichtlich. Des Weiteren steht für den Senat fest, dass es dem Kläger wichtig ist, homosexuelle Beziehungen einzugehen und gegebenenfalls mit einer anderen Person zusammen zu wohnen. Dass dem Kläger darüber hinaus weitere öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen besonders wichtig sind, ist nach seinem Vorbringen nicht ersichtlich.
54 
b) Hiervon ausgehend droht dem Kläger derzeit in Nigeria weiterhin Verfolgung, wobei hinsichtlich der Verfolgungsprognose Besonderheiten gelten (dazu unter aa). Die Verfolgung geht jedoch nicht von staatlicher Seite (dazu unter bb), sondern von nichtstaatlichen Akteuren aus (dazu unter cc).
55 
aa) Auf der Grundlage des festgestellten homosexuellen Verhaltens beziehungsweise des Verfolgungsgrunds im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/843/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG droht. Dabei ist es unerlässlich, den Begriff der Verfolgungshandlung von allen anderen Arten diskriminierender Maßnahmen abzugrenzen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass eine Person bei der Ausübung eines ihrer Grundrechte einer Beschränkung oder einer Diskriminierung ausgesetzt ist und aus persönlichen Gründen oder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder ihres sozialen Status auswandert, und dem Fall, dass die Person einer so schwerwiegenden Beschränkung unterliegt, dass sie Gefahr läuft, dadurch ihrer wichtigsten Rechte beraubt zu werden, ohne den Schutz ihres Herkunftslands erlangen zu können (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 29). Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK darstellen, ohne deswegen dieses Recht zu verletzten, sind von vornherein ausgeschlossen, weil sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. Zudem können Handlungen, die zwar gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und Art. 1 A GFK gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 60 f.).
56 
Bei der Prüfung der Verfolgungsprognose kann allerdings eine scharfe Trennung zwischen einem in die Öffentlichkeit gerichteten beziehungsweise öffentlich bemerkbaren Verhalten, das geeignet ist, Verfolgungshandlungen (wie etwa Strafverfolgung) hervorzurufen, und einem diskreten Leben in der Praxis nicht leicht gezogen werden (vgl. auch Weßels, a.a.O.). Denn kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen.
57 
bb) Hiervon ausgehend droht dem Kläger allerdings von staatlicher Seite derzeit keine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a sowie Art. 6 Buchst. a und Art. 9 RL 2004/83/EG. Dies gilt insbesondere hinsichtlich einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG).
58 
(1) Der Kläger hat - trotz seiner offensichtlichen Homosexualität und eines entsprechenden Vorwurfs gegenüber einem Polizisten im Zusammenhang mit dem Messerangriff auf ihn am 20.12.2008 und trotz seines Zusammenlebens mit einem anderen Mann - noch keine solche Verfolgung erlitten oder war von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht. Der Kläger konnte sich gegenüber dem Polizisten mit der bloßen Aussage, er habe nichts getan, vor einer Strafverfolgung retten. Allerdings könnte sich diese Einschätzung bezüglich der dem Kläger von Seiten des Staates drohenden Verfolgungsgefahr zu seinen Lasten ändern, wenn die geplante Verschärfung des nigerianischen Strafrechts in Kraft tritt. Denn dann könnte bereits das bloße Zusammenleben mit einer anderen Person des gleichen Geschlechts, was mit Blick auf den Kläger wohl nicht auf Dauer unbemerkt bleiben würde, unter Strafe stehen (Nr. 5 Abs. 2 des „Same Sex Marriage Bill, 2011: „directly oder indirectly make public show of same sex amorous relationship“).
59 
(2) Homosexuelle - und damit der Kläger - unterlagen und unterliegen in Nigeria nach derzeitiger Erkenntnislage auch keiner staatlichen Gruppenverfolgung. Der Begriff der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist von der „Gruppe“ im Sinne des Konzepts der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Eine soziale Gruppe kann unabhängig davon vorliegen, ob alle Mitglieder verfolgt werden. Von der Verfolgungsdichte für alle Gruppenmitglieder würde jedoch die widerlegliche Verfolgungsvermutung für den einzelnen Schutzsuchenden abgeleitet (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., Rn. 82).
60 
(a) Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt sich zur Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG folgendes Bild:
61 
Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) aus:
62 
„Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht (dreimonatige bis dreijährige Freiheitsstrafe gem. § 217 Criminal Code, bei vollzogenem Analverkehr Freiheitsstrafe von 14 Jahren gem. § 214 Criminal Code) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen wird selten bekannt. Homosexuelle versuchen auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen und weitverbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. 2011 nahm der Senat eine weitere Verschärfung der Gesetze an. Danach könnte künftig bereits das Zusammenleben homosexueller Paare mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Personen, die davon erfahren, dass Homosexuelle zusammen leben und dies nicht den Behörden mitteilen, droht danach künftig eine bis zu fünfjährige Haftstrafe, was neben Familienangehörigen und Freunden insbesondere auch Mitarbeiter von NROs im Gesundheitsbereich (HIV/AIDS-Aufklärung) betreffen könnte. Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es noch durch das Repräsentantenhaus verabschiedet werden und durch den Präsidenten unterzeichnet werden.“
63 
In seiner Auskunft vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt gegenüber dem Senat ausgeführt:
64 
„In Nigeria ist Homosexualität strafbar, wenn sie privat oder öffentlich praktiziert wird. Die bloße Disposition ist per se nicht strafbar.
65 
Die Art der Strafverfolgung und die Schärfe der Verurteilung sind abhängig von dem Gebiet beziehungsweise dem Bundesstaat, in dem der Tatbestand begangen wurde beziehungsweise behandelt wird:
66 
In den südlichen Bundesstaaten Nigerias kann ein solches Vergehen (nach Paragraph 214, 215 und 217 des Strafgesetzbuchs) mit sieben bis 14 Jahren Gefängnis bestraft werden.
67 
In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias drohen (laut Paragraph 284, 405 und 407 <2> des dortigen Strafgesetzbuchs) bis zu 14 Jahre Gefängnis bzw. ein Bußgeld.
68 
In den 12 nördlichen Bundesstaaten, die die Sharia im Jahr 2000/2001 übernommen haben, drohen Gefängnis, zwischen 40 und 100 Peitschenhieben, oder die Todesstrafe durch Steinigung.
69 
Alle bisher von den erstinstanzlich zuständigen Sharia-Gerichten verhängten Steinigungsurteile wurden jedoch im Rechtsmittelverfahren aufgehoben.“
70 
Die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes auf dessen Homepage (Stand: 28.01.2013) weisen auf Folgendes hin:
71 
„Homosexuelle Handlungen sind in Nigeria strafbar. In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias sind nach islamischem Recht homosexuelle Handlungen mit schweren Strafen belegt. Körperliche Nähe zwischen Angehörigen desselben Geschlechts, insbesondere Männern, erregt in der Öffentlichkeit jedoch keinen Anstoß, sofern sie nicht offensichtlich sexuellen Charakter hat.“
72 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 Folgendes mitgeteilt:
73 
„Gemäß dem Strafgesetz ist Homosexualität illegal und wird mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten, wo die Scharia gilt, können Erwachsene durch Steinigung hingerichtet werden, die aufgrund homosexueller Handlungen als schuldig gelten.
74 
Criminal Code Act. Im Criminal Code Act ist unter dem Kapitel 'Zuwiderhandlung gegen die Moral' (Offences against Morality) im Artikel 214 festgehalten, dass jede Person, die mit einer Person oder einem Tier Geschlechtsverkehr 'unnatürlicher Art' hat oder einem Mann erlaubt, 'unnatürlichen Geschlechtsverkehr' mit ihm oder ihr auszuüben, eines schweren Verbrechens schuldig und mit 14 Jahren Gefängnis zu bestrafen ist. Nach Artikel 215 ist der Versuch von in Artikel 214 beschriebenen Handlungen mit einer siebenjährigen Haftstrafe zu ahnden. In Artikel 217 ist festgelegt, dass jeder Mann, ob öffentlich oder privat, der mit einem anderen Mann eine 'schwere Unanständigkeit' (gross indecency) begeht, oder einen Mann dazu anstachelt, eine 'Unanständigkeit' zu begehen, eines Verbrechens schuldig und mit dreijähriger Haft zu bestrafen ist. Gemäß dem Immigration and Refugee Board of Canada ist unter dem Begriff 'unnatural offences' Homosexualität, analer Geschlechtsverkehr und Zoophilie zu verstehen (sodomy, anal intercourse , bestiality).
75 
Scharia. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten gilt seit 2000 die Scharia, und homosexuelle Handlungen können mit Steinigung bestraft werden. Gemäß dem Strafgesetz des Bundesstaates Kano aus dem Jahr 2000, welches den Scharia-Gesetzgebungen in den anderen Bundesstaaten ähnlich ist, sind Straftatbestände gemäß Sektionen 128/129 zu Homosexualität (Sodomy, Liwat) folgendermaßen zu ahnden: Wer mit einer Frau oder einem Mann Analverkehr hat, begeht das Verbrechen der Sodomie und wird, wenn verheiratet, mit dem Tod durch Steinigung bestraft. Ist die Person nicht verheiratet, wird sie mit bis zu hundert Peitschenhieben und einem Jahr Haft bestraft. Auch lesbische Frauen sollen gemäß Sektion 183 zu Lesbentum (Sihaq) bestraft werden: Den Straftatbestand erfüllt eine Frau, die mit einer anderen Frau Geschlechtsverkehr hat, eine andere Frau sexuell stimuliert oder sexuell erregt. Ist die Täterin verheiratet, kann sie mit Steinigung bestraft werden.
76 
Auch einzelne lokale Gemeinden beschließen Maßnahmen gegen Homosexuelle. Im Jahr 2010 entschied die Ebem Ohafia Gemeinschaft im Bundesstaat Abia zusammen mit ihrem Stammesführer, dass jegliche Art von Homosexualität verboten sei und jedem Homosexuellen die Steinigung drohe.
77 
Zur Umsetzung der strafrechtlichen Bestimmungen hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 Folgendes mitgeteilt:
78 
„Auch auf internationaler Ebene verteidigen nigerianische Diplomaten und Politiker vehement die Umsetzung der Strafmaßnahmen gegen Homosexuelle. Bei der zweiten Session des UN Human Rights Councils im Jahr 2009 bezeichnete der nigerianische UN-Gesandte in Genf Hinrichtungen durch Steinigung als eine gerechte und angemessene Bestrafung für 'unnatürliche sexuelle Handlungen'. Der ehemalige nigerianische Präsident Olesegun Obasanjo stellte klar, dass Homosexualität eine Abscheulichkeit sei. Auch im Privatbereich müsse Homosexualität bestraft werden, schließlich sei auch Sex zum Beispiel mit einem Pferd im Privatbereich immer noch Sodomie und nicht rechtens.
79 
Es kommt immer wieder zu Verhaftungen von Personen, die verdächtigt werden, homosexuell zu sein. 2007 wurden in Bauchi 18 Männer festgenommen und der Homosexualität angeklagt. Später wurde die Anklage auf Landstreicherei und das Tragen von Frauenkleidern geändert. Bis Ende 2011 wurde das Verfahren gegen diese Männer mehrmals verschoben. Im September 2012 verurteilte ein Gericht in Abuja einen nigerianischen Schauspieler aufgrund 'having sexual intercourse with another man through the anus' zu drei Monaten Haft. Zwischen 2000 und 2006 wurden mehr als zwölf Personen aufgrund homosexueller Handlungen zur Steinigung verurteilt. Die Steinigungen wurden jedoch nicht ausgeführt. Das United States Department of State geht davon aus, dass auch 2011 keine Steinigungen durchgeführt wurden.
80 
Gemäß Davis Mac-Iyalla, des im Exil lebenden Direktors der lokalen NGO Changing Attitude, sind illegale Übergriffe gegen LGBT-Personen durch Polizisten häufiger als strafrechtliche Verfahren gegen diese. Dementsprechend rät das österreichische Außenministerium vor allem allein reisenden Homosexuellen, aber auch Heterosexuellen zur Vorsicht, da sie Opfer so genannter 'setups' werden können: Sie werden 'zufällig' von der Polizei bei sexuellen Handlungen ertappt und müssen sich dann freikaufen. Gaystarnews berichtet über einen schwulen Nigerianer, der in den USA lebt und Ferien in Nigeria verbrachte. Dort verriet ihn seine Tante aufgrund seiner Homosexualität an die Polizei, welche ihn festhielt, folterte und vergewaltigte.“
81 
Zur Strafbarkeit von Homosexualität hat Amnesty International in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat Folgendes ausgeführt und einen Auszug aus dem nigerianischen Strafgesetzbuch in englischer Sprache vorgelegt:
82 
„Homosexualität ist in Nigeria in jedem Fall strafbar, auch wenn sie diskret gelebt wird. Nach Kapitel 21, Artikel 214 des Strafgesetzbuchs (Code of Criminal Law) ist jede Person, die
83 
(1) Geschlechtsverkehr wider die Natur (…) mit einer anderen Person hat, oder
(2) Geschlechtsverkehr mit einem Tier hat, oder
(3) einer männlichen Person erlaubt, unnatürlichen Geschlechtsverkehr mit ihm oder ihr auszuüben
84 
eines schweren Verbrechens (felony) schuldig. Dies kann mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden.
85 
Ferner droht nach Artikel 215 eine siebenjährige Haftstrafe für Personen, die versuchen, eine der in Artikel 214 benannten Straftaten zu begehen.
86 
Schließlich sieht Artikel 217 drei Jahre Gefängnis vor für männliche Personen, die öffentlich oder privat einen Akt grober Unanständigkeit miteinander begehen oder versuchen, eine andere männliche Person zu einer solchen Handlung zu bewegen.
87 
Homosexualität in Nigeria offen zu leben, ist praktisch unmöglich, da sie sowohl strafrechtlich als auch gesellschaftlich verfolgt wird. Fälle von Lynchjustiz wurden in den vergangenen Jahren öffentlich und dokumentiert.
88 
Eine Haftstrafe ist in Nigeria mit äußerster Härte verbunden: Dazu zählt, dass Personen bis zu 10 Jahre in Untersuchungshaft bleiben. Einige Gefangene sind wegen Bagatelldelikten oder völlig unschuldig verhaftet worden, doch da sie selbst geringe Beiträge an Geldstrafe oder Kaution nicht aufbringen können und es zu keiner Verhandlung kommt, bleiben sie bis zu 10 Jahre lang inhaftiert. Weitere Probleme in den nigerianischen Gefängnissen sind Überfüllung, schlechte Sanitärversorgung, Korruption, schlechte Ernährung und mangelnde Gesundheitsversorgung.
89 
Nach offiziellen Zählungen befanden sich 2011 insgesamt 48.000 Gefangene in 200 Gefängnissen, womit die Kapazitätsgrenze um mehr als das Doppelte überschritten ist. Ca. 70 % warten auf den Beginn ihres Prozesses.
90 
Besonders die Situation der AIDS-Kranken, die durch Drogenkonsum und Sexualität in den Gefängnissen ansteigt, stellt sich als unmenschlich dar. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, die Gefangenen werden weder mit ausreichend Lebensmitteln noch medizinisch versorgt. Nur wenige können sich einen Anwalt leisten. Zudem müssen Homosexuelle zu jeder Zeit mit Übergriffen durch andere Häftlinge, aber auch durch Sicherheitskräfte rechnen.
91 
Die 1999 in den 12 nördlichen Bundesstaaten eingeführte Sharia-Strafgesetzgebung sieht noch härtere Strafen für Homosexualität vor als das nigerianische Strafgesetzbuch. Sie wird darin als 'Sodomie' bezeichnet. So beispielsweise in Kapitel III des Sharia-Strafgesetzbuchs des Bundesstaates Kano aus dem Jahr 2000 „Hudud und Hudud-ähnliche Vergehen“, Teil III 'Sodomy (Liwa)', Abschnitt 128-129. Der Bundesstaat Zamfara stellt auch die sexuelle Beziehung zwischen zwei Frauen (Sihaq) unter Strafe. Kapiel VIII, Artikel 135 des 'Zamfara State of Nigeria Shari’a Penal Code Law' sieht als Strafe für dieses Vergehen bis zu 50 Stockschläge und zusätzlich eine bis zu sechsmonatige Haftstrafe vor. Nach Art. 130 sind (männliche) Homosexualität und Sodomie (Liwat) gleichgestellt. Die dafür vorgesehene Strafe liegt nach Art. 131 bei unverheirateten Personen bei 100 Stockschlägen und einem Jahr Freiheitsentzug. Verheiratete Personen müssen mit der Steinigung rechnen. Theoretisch können von einem Scharia-Gericht Verurteilte auch vor einem staatlichen Gericht in Berufung gehen, doch ist dies praktisch kaum möglich, weil der Zugang zur Justiz in Nigeria grundsätzlich stark eingeschränkt ist.
92 
Im Bundesstaat Bauchi wurde ein Mann im September 2003 zum Tod durch Steinigung verurteilt, nachdem er der Sodomie für schuldig befunden worden war. Im August 2008 wurden mehrere Personen wegen mutmaßlich gleichgeschlechtlicher Beziehungen verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Männer konnten Berufung einlegen.“
93 
Ausgehend von diesen im Kern übereinstimmenden und deshalb für den Senat überzeugenden Erkenntnissen verschiedener Quellen hat sich die Lage hinsichtlich der Strafverfolgung von Homosexualität teilweise gewandelt. Noch im Jahr 2003 hat Amnesty International dem Verwaltungsgericht Oldenburg am 11.02.2003 mitgeteilt, dass keine Fälle bekannt seien, in denen die Strafvorschriften zu Anwendung gekommen seien. Unterschiedliche Quellen seien damals noch davon ausgegangen, dass freiwillige homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nicht mehr bestraft würden. Entsprechendes findet sich in einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.05.2004 an das Verwaltungsgericht Stuttgart. Danach müsse zudem danach unterschieden werden, ob ein solches Paar in einer Dorfgemeinschaft lebe oder in einer größeren Stadt, in der Homosexualität sicherlich problemlos ausgelebt werden könne. Eine aktive staatliche Suche oder gesellschaftliche Verfolgung beziehungsweise Suche nach homosexuellen Paaren finde nicht statt. Ab dem Jahr 2006 verschärfte sich jedoch der Umgang mit Homosexuellen (weitere Einzelheiten dazu in: Bundesamt, Informationszentrum für Asyl und Migration: „Nigeria - Homosexualität in Nigeria“ vom März 2007, S. 6 bis 11). Diese Entwicklung fand insbesondere darin Ausdruck, dass am 18.01.2006 eine Verschärfung der Strafverfolgung mit dem ersten Entwurf eines „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ initiiert wurde.
94 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu der geplanten Gesetzesverschärfung durch das „Same Sex Marriage (Prohibition) Bills mitgeteilt:
95 
„Bereits 2006 legte der damalige Justizminister Bayo Oja der Nationalversammlung eine Gesetzesvorlage zur härteren Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen vor. Hochrangige Mitglieder der anglikanischen Kirche, wie zum Beispiel der Erzbischof Peter Akinola, unterstützten die Vorlage. Die Kritik von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Akteuren werden als Grund genannt, dass die Gesetzesvorlage nicht umgesetzt wurde.
96 
Im März 2009 wurde erneut eine Gesetzesverschärfung lanciert, die Same Sex Marriage (Prohibition) Bill. Am 29. November 2011 beschloss der Senat einstimmig, die Same Sex Marriage (Prohibition) Bill anzunehmen. Die Nationalversammlung führte im Dezember eine erste Prüfung durch, doch die abschließende Wahl (sic!) wurde verschoben. Bis jetzt ist das Gesetz noch nicht verabschiedet.
97 
Mit der Verschärfung sollen gleichgeschlechtliche Beziehungen verboten und mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden. Auch Personen, die sich für LGBT-Personen einsetzen, droht eine Haftstrafe.
98 
(1.1) Ehen oder eingetragene Partnerschaften von gleichgeschlechtlichen Paaren sind verboten. (4.1) Registrierung, Betrieb oder Aufenthalt in einem Schwulenklub ist verboten. (4.2) In der Öffentlichkeit gleichgeschlechtliche Beziehungen zu leben, ist verboten. (5.1) Personen, die eine gleichgeschlechtliche Ehe oder Partnerschaft eingehen, werden mit 14 Jahren Haft bestraft. (5.2) Personen, die einen Schwulenklub registrieren, betreiben oder besuchen, oder die eine homosexuelle Beziehung haben, sollen mit zehn Jahren Haft bestraft werden. (5.3) Personen, die an einer homosexuellen Hochzeit oder an der Feier für eine zivilrechtliche gleichgeschlechtliche Partnerschaft teilnehmen, welche die Registrierung, Führung oder auch den Unterhalt eines Schwulenklubs unterstützen, einer Organisation, Prozession oder an einem Treffen von Schwulen in Nigeria teilnehmen, werden mit zehn Jahren Haft bestraft. Indem der Begriff 'civil union' sehr offen definiert wird, können, darunter alle gleichgeschlechtlichen Beziehungen verstanden und strafrechtlich verfolgt werden.
99 
Amnesty International und weitere Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Gesetzesverschärfung. Auch das Europäische Parlament beanstandete in einer Resolution zur Lage in Nigeria die homophobe Gesetzgebung und forderte das nigerianische Parlament auf, von der Prüfung des Gesetzentwurfs zum Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe abzusehen, da die LGBT-Gemeinschaft durch ein aus diesem Entwurf resultierendes Gesetz einem ernsthaften Gewalt- und Inhaftierungsrisiko ausgesetzt wäre.“
100 
Zur geplanten Gesetzesverschärfung hat Amnesty International mit seinen Auskünften vom 09. und 15.11.2012 an den Senat den Entwurf des bereits vom nigerianischen Senat beschlossenen „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ sowie eine detaillierte juristische Analyse dazu vorgelegt und Folgendes mitgeteilt:
101 
„Der Senat hat dem „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ am 29. November 2011 zugestimmt. Der Gesetzentwurf liegt derzeit im Repräsentantenhaus, wo es bereits im Dezember 2011 einmal gelesen wurde. Insgesamt muss es drei Lesungen geben, bevor der Entwurf auch in dieser Kammer verabschiedet werden kann. Anschließend kommt es zur Unterschrift durch den Präsidenten, der das Gesetz damit in Kraft setzt. Derzeit ist nicht absehbar, wann dies geschehen wird.
102 
Dem Entwurf entsprechend würde einer Person in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung weiterhin eine Gefängnisstrafe von bis zu 14 Jahren drohen. Allerdings würden auch Vereine, Organisationen oder Kirchengemeinden unter Strafe gestellt, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen. Der Entwurf sieht Strafen von bis zu 10 Jahren Haft sowie eine hohe Geldstrafe für all jene vor, die gleichgeschlechtliche Beziehungen 'begünstigen, fördern oder davon Kenntnis haben'. Gleiches gilt für die 'öffentliche Zurschaustellung einer Liebesbeziehung unter Gleichgeschlechtlichen'.
103 
Besonders problematisch ist insbesondere die Gefährdung von Personen, die sich für die Rechte von LGBTI-Personen in Nigeria einsetzen oder mit ihnen bekannt sind. Das betrifft Menschenrechtsverteidiger, Menschen im Bereich HIV/AIDS-Vorsorge und -behandlung, aber auch Freunde, Angehörige und Kollegen. Dabei reicht der bloße Verdacht aus.
104 
Amnesty International ist ebenso besorgt, dass das Gesetz den Anstrengungen Nigerias zuwider läuft, die Übertragungsrate von HIV/AIDS zu reduzieren, indem es Menschen, die ohnehin schon unter Diskriminierung zu leiden haben, wegen ihrer sexuellen Identität und Orientierung in den Untergrund drängt.
105 
Der Gesetzentwurf widerspricht internationalen Verträgen und Konventionen, die die nigerianische Regierung unterzeichnet hat - darunter die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte sowie die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker.“
106 
In seiner Auskunft vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt gegenüber dem Senat ebenfalls einen Entwurf des „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ vorgelegt und dazu ausgeführt:
107 
„Es ist derzeit nicht absehbar, wann die vom nigerianischen Senat Ende 2011 beschlossene Gesetzesänderung in Kraft treten wird. Am 13.11.2012 billigte das Repräsentantenhaus in zweiter Lesung das Gesetz. Um in Kraft treten zu können, bedarf es noch der Zustimmung durch das sogenannte 'house 'und der Unterzeichnung des Gesetzes durch den Präsidenten“.
108 
An dieser Rechtslage in Nigeria hat sich bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts geändert.
109 
(b) Da diese Erkenntnismittel die Lage Homosexueller in Nigeria im Kern übereinstimmend wiedergeben und auch die Beteiligten insoweit keine Einwendungen erhoben haben, legt der Senat die dargestellte Erkenntnislage seiner tatsächlichen und rechtlichen Prüfung zugrunde. Danach kann eine Gruppenverfolgung der Homosexuellen in Nigeria von staatlicher Seite mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der von staatlicher Seite drohenden Verfolgungsgefahr ein differenziertes Bild.
110 
(aa) Bei Homosexuellen, die in Nigeria offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar gegen strafrechtliche Bestimmungen - auch in einer weiten Auslegung durch die Strafverfolgungspraxis - verstoßen, ist jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme nach Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. c RL 2004/83/EG darstellt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Gesetzesverschärfung durch das „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ noch in Kraft tritt. Allerdings würde ein Inkrafttreten des Gesetzes zu einer Ausweitung des strafbaren Verhaltens und damit der Verfolgung führen, was bei der Prüfung zukünftiger Schutzbegehren zu berücksichtigen wäre.
111 
Da die Strafverfolgung an einen Verfolgungsgrund nach Art. 10 RL 2004/83/EG anknüpft (dazu: Marx, a.a.O., § 14 Rn. 105) und zudem nur für homosexuelle Handlungen gilt (vgl. dazu: Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU), ist sie diskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG. Die Strafvorschrift geht jedenfalls über dasjenige hinaus, was nach Art. 8 EMRK in den Mitgliedstaaten der EU strafrechtlich verfolgt werden dürfte (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, a.a.O., 543; implizit zur heutigen Rechtslage nach dem GG vgl. jüngst: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 - 1 BvR 3247/09 -; teilweise anders: BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 148 f.).
112 
Zudem widersprechen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
113 
Dies gilt landesweit. Auch in großen Städten bestehen diese Gefahren. Denn auch dort werden Personen wegen praktizierter Homosexualität verhaftet (vgl. dazu auch 2 c cc).
114 
(bb) Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auszugehen.
115 
Zwar dürften homophobe Äußerungen von Regierungsvertretern, soziale Ächtung und staatliche Diskriminierung das Recht auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU sowie Art. 8 EMRK tangieren. Allerdings sind solche Grundrechtsbeeinträchtigungen noch nicht so gravierend, dass sie zugleich einen Eingriff in die Rechte darstellen, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf. Hierzu zählt insbesondere Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Als unmenschliche Behandlung hat der EGMR eine Behandlung angesehen, wenn sie vorsätzlich war, ohne Unterbrechung länger andauerte und entweder eine Körperverletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursachte. Als erniedrigend kann eine Behandlung angesehen werden, wenn mit ihr die Absicht verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und die Behandlung ihn in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise in seiner Persönlichkeit getroffen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 3 Rn. 22).
116 
Allerdings kann es auch in Fällen einer nicht öffentlich bemerkbar gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuell Veranlagte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2994/83/EG erleiden wird. Insoweit ist die Zahl der Referenzfälle, die sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, im Verhältnis zur vermuteten Gesamtzahl an Homosexuellen in Nigeria zu gering. Den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass die Zahl derjenigen, die im vergangenen Jahr wegen des Verdachts einer Straftat im Sinne von Art. 214, 215 und 217 des Criminal Code verhaftet wurden, den unteren zweistelligen Bereich übersteigt. Auch die Zahl der berichteten körperlichen Übergriffe durch staatliche Stellen liegt jedenfalls nicht wesentlich höher.
117 
Das Auswärtige Amt geht in seinen Länderinformationen (Stand: Oktober 2012) davon aus, dass in Nigeria geschätzte 167 Millionen Menschen leben. Davon sind schätzungsweise rund die Hälfte im sexuell aktiven Alter zwischen 15 und 64 Jahren (vgl. http://www.lexas.de/afrika/nigeria/index). Hiervon ausgehend sowie unter Berücksichtigung von Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Stichwort „Homosexualität“, wonach 1-2 % der Frauen und 2-4 % der Männer ausschließlich auf homosexuelles Verhalten festgelegt sind, kommt man selbst bei der Annahme von nur 1 % an homosexuellen Frauen und Männern in Nigeria zu einer Zahl von 800.000 ausschließlich homosexuell veranlagten und potentiell Homosexualität praktizierenden Menschen. Verglichen mit dieser Zahl lassen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Referenzfälle, die sich tendenziell im unteren zweistelligen Bereich bewegen, nicht darauf schließen, dass sich die dort geschilderten Verfolgungshandlungen so wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden homosexuell Veranlagten nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dies gilt auch, wenn man die Schwere der drohenden Gefahr einer Inhaftierung, die häufig mit weiteren schweren Menschenrechtverletzungen einhergeht, würdigt.
118 
Eine staatliche Gruppenverfolgung kann daher derzeit nicht angenommen werden.
119 
(c) Die Anwendung des Konzepts der Gruppenverfolgung liegt im Übrigen hier auch deshalb nicht nahe, weil hinsichtlich der Frage, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegt, die durch das Merkmal der sexuellen Ausrichtung gebildet wird, immer das jeweils von dem betreffenden Schutzsuchenden zu erwartende Verhalten entsprechend der oben dargestellten Maßstäbe der Prüfung des Schutzbegehrens zugrunde zu legen ist. Dies entspricht auch dem Ansatz der RL 2004/83/EG, nach der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG grundsätzlich individuell zu prüfen sind. Die Richtlinie differenziert nicht danach, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.07.2012 - 10 B 19/12 u.a. -, Juris Rn. 4).
120 
Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller aus Nigeria geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose.
121 
cc) Dem Kläger droht in Nigeria jedoch wegen seiner Homosexualität Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG sowie Art. 6 Buchst. c RL 2004/83/EG, ohne dass ihm von dem nigerianischen Staat ausreichend Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG geboten wird.
122 
(1) Der Kläger war bereits verfolgt sowie von Verfolgung unmittelbar bedroht, was nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG einen ernsthaften Hinweis darauf darstellt, dass seine Furcht vor Verfolgung weiterhin begründet ist.
123 
(a) Der Senat ist überzeugt davon, dass der Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen in Nigeria (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG) durch nichtstaatliche Akteure eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG erlitten hat. Der Kläger wurde am 20.12.2008 auf der Straße von zwei Tätern zusammengeschlagen und mit einem Messer auf der Brust verletzt. Die Verletzung ist noch heute als Narbe sichtbar, sie ergibt sich aus einem bei den Akten des Verwaltungsgerichts befindlichen Foto. Der Kläger hat den Vorfall in der mündlichen Verhandlung lebensnah und glaubhaft geschildert. Seine Behauptungen entsprachen im Wesentlichen seinen Angaben beim Bundesamt und beim Verwaltungsgericht, nennenswerte Widersprüche und Ungereimtheiten waren nicht feststellbar.
124 
Die körperliche Misshandlung beruht auch kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einem Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 RL 2004/83/EG. Der Angriff erfolgte nach den überzeugenden Angaben des Klägers allein deshalb, weil er offensichtlich homosexuell ist und sich feminin bewegt und verhält sowie in einer femininen Weise spricht. Die Täter haben dies ausdrücklich als Grund für die Verletzung genannt. Sie hätten gesagt, er sei homosexuell und habe nicht verdient zu leben. Vor dem Bundesamt hat er weiter angegeben, der Täter habe gemeint, wenn er die Narbe sehe, werde er jedes Mal an diese Demütigung denken.
125 
(b) Entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts ist dieser Vorfall trotz des Umstands, dass ein Polizist dazugekommen ist, verfolgungsrelevant. Denn dem Kläger stand kein effektiver staatlicher Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zur Verfügung.
126 
(aa) Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn u.a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, können die zuständigen Behörden insbesondere die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem Land die Achtung der grundlegenden Menschenrechte gewährleistet ist, berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70 f.).
127 
Soweit ersichtlich ist vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht geklärt, ob damit das vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG von der Rechtsprechung vertretene Zurechnungsprinzip fortgilt oder ob nun auf die sog. „Schutzlehre“ abzustellen ist (so: VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, NVwZ 2005, 725; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 17, 26 ff.; Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 44; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 135 ). Fraglich ist damit, wie mit Schutzlücken umzugehen ist, obwohl der Staat an sich schutzwillig ist. Nach der RL 2004/83/EG muss der Einzelne jedenfalls wirksamen Zugang zum nationalen Schutzsystem haben, unabhängig davon, ob der Staat im Übrigen generell Schutz gewährleistet (vgl, EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 28). Dies impliziert wohl, dass das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen die Wirksamkeit des Schutzes nicht ausschließt, soweit diese effektiv geahndet werden (vgl. Wittkopp, ZAR 2010, 170, 173).
128 
(bb) Ausgehend hiervon hat der Kläger im Zusammenhang mit dem Messerangriff am 20.12.2008 keinen effektiven staatlichen Schutz erlangt.
129 
Zwar hat der Kläger vor dem Bundesamt angegeben, die Polizei helfe einem, wenn man angegriffen werde, und vor dem Verwaltungsgericht hat er ausgeführt, ihm sei ein Polizist zur Hilfe gekommen. Vor dem Senat hat der Kläger angegeben, ein Polizist sei zur Situation zufällig hinzugekommen. Zugleich hat er jedoch auch angegeben, dass zuvor bereits mehrere Menschen dazu gekommen seien, nachdem er um Hilfe gerufen hatte. Sowohl die Leute als auch die Polizei hätten gefragt, was das Problem sei beziehungsweise was er gemacht habe. Er habe gesagt, er habe nichts gemacht. Der Polizist habe dann versucht, ihn zu befreien. Anschließend sei er ins Krankenhaus gebracht worden. Ob die Täter strafrechtlich verfolgt worden seien, wisse er nicht.
130 
Damit hat der Kläger keinen ausreichenden Schutz erfahren. Denn das Eingreifen des Polizisten, der zufällig vorbei kam, hat die Verletzung des Klägers nicht verhindert. Sie war bereits eingetreten. Darüber hinaus war das zufällige Hinzukommen auch nur teilweise kausal dafür, dass der Kläger aus der Hand der Täter befreit werden konnte. Denn zuvor waren bereits andere Leute dazugekommen. Entscheidend nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG für die Gewährung effektiven Schutzes vor Verfolgung ist jedoch auch, dass vom Staat Maßnahmen der Strafverfolgung eingeleitet werden. Dies ist hier nicht geschehen. Der Kläger hat weder gesehen, dass der Polizist die beiden Täter hat festnehmen lassen, noch ist ihm etwas von einer Strafverfolgung bekannt. Wäre gegen die Täter ein Strafverfahren eingeleitet worden, hätte der Kläger als Opfer hiervon Kenntnis erlangen müssen. Gegen das Vorliegen eines effektiven Schutzes spricht nicht zuletzt die Erkenntnislage. Zur Begründung wird auf die unten stehenden Ausführungen verwiesen (siehe <β>).
131 
(c) Der Kläger war auch nach diesem Vorfall weiterhin unmittelbar von Verfolgung bedroht im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
132 
(aa) Nicht nur derjenige ist verfolgt ausgereist, der noch während der Dauer eines Pogroms oder individueller Verfolgung seinen Heimatstaat verlässt. Dies kann vielmehr auch bei einer Ausreise erst nach dem Ende einer Verfolgung der Fall sein. Die Ausreise muss dann aber unter Umständen geschehen, die bei objektiver Betrachtungsweise noch das äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck der erlittenen Verfolgung stattfindenden Flucht ergeben. Nur wenn ein durch die erlittene Verfolgung hervorgerufenes Trauma in einem solchen äußeren Zusammenhang eine Entsprechung findet, kann es als beachtlich angesehen werden. In dieser Hinsicht kommt der zwischen dem Abschluss der politischen Verfolgung und der Ausreise verstrichenen Zeit eine entscheidende Bedeutung zu. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatland unbehelligt verbleibt, um so mehr schwindet der objektive äußere Zusammenhang mit seiner Ausreise dahin. Daher kann allein schon bloßer Zeitablauf dazu führen, dass eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck einer früheren politischen Verfolgung stehenden Flucht verliert. Daraus folgt, dass ein Ausländer, dessen politische Verfolgung in der Vergangenheit ihr Ende gefunden hat, grundsätzlich nur dann als verfolgt ausgereist angesehen werden kann, wenn er seinen Heimatstaat in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung der Verfolgung verlässt. Das bedeutet nicht, dass er zwangsläufig stets sofort oder unmittelbar danach ausreisen müsste. Es ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass die Ausreise zeitnah zur Beendigung der Verfolgung stattfindet. Welche Zeitspanne in dieser Hinsicht maßgebend ist, hängt von den Umständen der jeweiligen Verhältnisse ab. Jedenfalls kann ein Ausländer, der nach einer beendeten politischen Verfolgung über mehrere Jahre hinweg in seinem Heimatstaat verblieben ist, ohne dort erneut von politischer Verfolgung bedroht zu sein, nicht als verfolgt ausgereist und damit als vorverfolgt angesehen werden, wenn er später seinen Heimatstaat verlässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.1990 - 9 C 60/89 -, BVerwGE 87, 52; Marx, a.a.O., § 29 Rn. 59 ff.). Eine Vorverfolgung kann nicht schon wegen einer im Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009, a.a.O.).
133 
Referenzfälle politischer Verfolgung sowie ein Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung sind gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung. Sie können begründete Verfolgungsfurcht entstehen lassen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Wann eine Verfolgungsfurcht als begründet und flüchtlingsrechtlich beachtlich anzusehen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen jedoch nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung die begründete Furcht ableiten lässt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1991 - 9 C 154/90 -, BVerwGE 88, 367).
134 
(bb) Bei Anwendung dieser Vorgaben war der Kläger bis zu seiner Ausreise von Verfolgung unmittelbar bedroht. Dies ergibt sich jedoch allein aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Person und einer darauf aufbauenden individuellen Gefahrenprognose. Das Konzept der Gruppenverfolgung kann auch mit Blick auf die von nichtstaatlichen Akteuren in Nigeria ausgehenden Verfolgungsgefahren für Homosexuelle keine Anwendung finden, weil es auch insoweit an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt und es für die Annahme einer Verfolgung auf das jeweils individuelle Verhalten ankommt.
135 
(α) Der Kläger, der offensichtlich feminine Züge hat und jedenfalls ersichtlich homosexuell ist, hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft mitgeteilt, dass er auch nach dem Vorfall im Dezember 2008 bis zu seiner Ausreise im November 2010 Angst hatte, auf die Straße zu gehen, weil er ständig beleidigt, erniedrigt und teilweise auch zusammengeschlagen wurde. Vor dem Bundesamt hat der Kläger zu seinem Ausreiseentschluss angegeben, er habe Nigeria verlassen, weil ihn dort alle hassten. Er sei gekommen, weil er nicht zu jung sterben wolle. Auf der Grundlage dieser glaubhaften Angaben war er weiterhin davon bedroht, wegen seiner Homosexualität (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG zu erleiden.
136 
Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird durch die Erkenntnislage bestätigt. Nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Auskünften verschiedener Erkenntnisquellen herrscht in Nigeria ein allgemeines Klima der gewaltbereiten Verachtung und des Hasses auf Homosexuelle. Daraus ergeben sich einzelne Referenzfälle gewalttätiger Übergriffe auf Homosexuelle. Daher kann - entsprechend der oben für die staatliche Verfolgung getroffenen Differenzierung - für solche Personen, die offen ihre homosexuelle Veranlagung leben und damit öffentlich als Homosexuelle bemerkbar sind, eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit gegeben sein.
137 
Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) dazu aus:
138 
„Homosexuelle, Transvestiten und transsexuelle Personen können ihre sexuelle Orientierung nicht öffentlich ausleben und sind nach wie vor Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt.“ (S. 18).
139 
In seiner Auskunft an den Senat vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt mitgeteilt:
140 
„Es besteht keine immanente Gefahr bei einer bloßen homosexuellen Disposition, die nicht praktiziert wird.
141 
Für Homosexuelle, die eine diskrete Lebensweise pflegen, besteht keine immanente Gefahr, solange deren Lebensweise nicht öffentlich bekannt wird.“
142 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu den von Dritten ausgehenden Gefahren Folgendes mitteilt:
143 
„Gewalt gegen LGBT-Personen, auch von Seiten der eigenen Familie, ist weit verbreitet und nur die wenigsten Homosexuellen outen sich. Die ab 2006 lancierte Debatte zur Verschärfung der Strafe für Homosexuelle hat die Gewalt gegen LGBT-Personen zusätzlich geschürt. Da selbst die Regierung homophobe Gesetze unterstützt, bedeutet das für viele eine Freikarte für Gewalt gegen LGBT-Personen, da sie davon ausgehen, nicht strafrechtlich verfolgt zu werden. Gemäß Edgebosten, einer amerikanischen Schwulenwebsite, ist die Gewalt in Nigeria gegen Homosexuelle sogar unter den afrikanischen Ländern, die für ihre Homophobie bekannt sind, besonders ausgeprägt.
144 
Eine Studie aus dem Jahr 2007 zeigt, dass 97 Prozent der NigerianerInnen Homosexualität ablehnen. Viele sind überzeugt, dass Homosexuelle teuflisch und der afrikanischen Kultur fremd sind, es handle sich um einen Import aus dem Westen. Sie glauben, Homosexualität sei eine Krankheit und Homosexuelle - sowohl Frauen wie Männer - werden deshalb 'heilenden Vergewaltigungen' unterworfen. Auch mit exorzistischen Riten wird versucht, Homosexualität auszutreiben. Im Rahmen der Frauenfußball-WM 2011 sorgte die nigerianische Trainerin Eucharia Uche mit ihren Äußerungen zu Homosexualität für Aufregung: Homosexualität sei eine 'schmutzige Sache' und 'spirituell und moralisch falsch'. Uche berichtete, sie habe auf die Gerüchte reagiert, wonach lesbische Spielerinnen im Team sein sollen und mit Gebeten, Bibelstudium und mit der Hilfe eines Priesters die 'Ordnung' wieder hergestellt. Auch 2012 wurden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von Medien als homosexuell bezeichnet. Diese lancierten daraufhin regelrechte Kampagnen mit Bekräftigungen von Freunden und Bekannten, um ihre Unschuld, das heißt ihre Heterosexualität, zu bezeugen.
145 
Der Hass auf Homosexuelle zieht sich durch alle Schichten und Kreise. Schwule seine Pädophile, wettere der anglikanische Erzbischof Nicolas Okoh. Die Hetze gegen Homosexuelle ist für Politiker eines der wenigen Themen, mit dem sie sowohl im christlichen Süden wie auch im muslimischen Norden punkten können. Die Medien unterstützen diese Haltung und sind auch mitverantwortlich für die Homophobie im Land.
146 
Aktivisten. Nicht nur Personen, die verdächtigt werden, homosexuell zu sein, sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt, sondern auch Aktivisten, die sich für LGBT-Rechte einsetzen. Rowland Jide Macaulay, der Gründer einer LGBT-freundlichen Kirche in Lagos, der House of Rainbow Metropolitan Community Church, musste zwei Jahre nachdem er die Kirche 2006 in Lagos aufgebaut hatte, das Land wegen Todesdrohungen verlassen. Auch Mac-Iyalla, ein weiterer nigerianischer Schwulenaktivist, der 2005 in Nigeria den Zweig von Changing Attitude ins Leben gerufen hatte, musste nach Todesdrohungen das Land verlassen. Er hat in der Zwischenzeit in Großbritannien Asyl erhalten. …
147 
Diskriminierung. LGBT-Personen werden nicht nur vom Bildungssystem ausgeschlossen, sondern auch in anderen Lebensbereichen diskriminiert. Die nigerianische Gesellschaft geht davon aus, dass HIV/Aids die Bestrafung für unmoralisches Verhalten und homosexuelle Handlungen sei. Homosexuelle werden deshalb oft mit steigenden HIV/Aids-Raten in Verbindung gebracht. HIV/Aids-Kranke Menschen werden entsprechend diskriminiert, verlieren ihre Arbeit und ihnen wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung verweigert. Die Diskriminierung und Ausgrenzung macht LGBT-Personen bezüglich HIV/Aids deshalb besonders verletzlich.
148 
Im Juni 2011 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat zum ersten Mal eine Resolution, die Kriminalisierung und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität verurteilt. Nigeria stimmte dagegen, wie auch 19 weitere vor allem afrikanische und muslimische Länder.
149 
Erpressungen. Die International Gay and Lesbian Human Rights Comission berichtete im Februar 2011, dass Homosexuelle in Nigeria Opfer von Erpressungen werden. Die Erpressungen finden meistens im Zusammenhang mit der Onlinekontaktsuche in größeren Städten wie Lagos, Port Hartcourt ober Abuja statt. Betroffene geben auf der Website Tipps und publizieren Warnungen mit den Profilen der Erpresser.“
150 
Das vom österreichischen Roten Kreuz betriebene Auskunftszentrum „ACCORD“ berichtete am 21.06.2011 über „Nigeria - Frauen, sexuelle Orientierung und Gesundheitsversorgung“ unter anderem (vgl. S. 24 f.):
151 
„Lesben und bisexuelle Frauen seien von Formen der Erpressung betroffen, die nicht auf die Bezahlung von Geld beschränkt seien. Einige Frauen würden zu sexuellen Gefälligkeiten und gefährlichen Botengängen gezwungen. Erpressung von Homosexuellen sei laut Angaben der NGO The Initiative for Equal Rights (TIERS) zu einem Trend geworden Erpressung werde gewöhnlich straffrei begangen und durch das Gesetz verstärkt….Politische, soziokulturelle und religiöse Überzeugungen würden gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr verbieten und jene, die diesen ausüben, würden als 'böse' angesehen und diskriminiert. Dies könne in einigen Fällen zu körperlichen Angriffen und Schikanierung führen. … 2009 seien laut Amnesty International weiterhin Übergriffe auf Menschen verübt worden, die gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen verdächtigt worden seien. Homophobie und Transphobie führe laut AI regelmäßig zu Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle. Die Behörden würden keinen ausreichenden Schutz gewährleisten können oder wollen. … Lesben würden oft zum Ziel sogenannter 'heilender Vergewaltigung' werden. Die OMCT beschreibt den Fall zweier Männer, die in der Öffentlichkeit schwer beleidigt und mit Steinigung bedroht worden wären, während sie einem Scharia-Gericht vorgeführt worden seien. Die Bundespolizei habe die beiden Männer den Scharia-Behörden übergeben, da sie nach dem Strafgesetz nicht angeklagt werden konnten.
152 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat dazu Folgendes mitgeteilt:
153 
„Seit der Einbringung des Same Sex Marriage (Prohibition) Bill ins Parlament sowie in die öffentliche Diskussion im Jahr 2006 hat sich die Verfolgungssituation für Homosexuelle weiter verschärft. Jegliche Verdächtigungen auf Homosexualität werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Anzeige gebracht und von den Medien veröffentlicht. In der Folge kommt es zu gewaltsamen Übergriffen und Verfolgung durch die Bevölkerung, aber auch durch staatliche Sicherheitskräfte.
154 
Daher gibt es keinen Schutz von LGBTI-Personen gegenüber Dritten.
155 
Nach der medialen Veröffentlichung von Fotos, Namen und Adressen von Mitgliedern der House of Rainbow Metropolitan Community Church in Lagos sah sich ihr Pastor gezwungen, aus Nigeria zu fliehen. Kirchenmitglieder waren von Zeitungen als Unterstützer von Homosexuellen bezeichnet worden. Die Polizei schikanierte die Kirchenmitglieder, warf Steine auf sie und schlug sie.
156 
Im März 2011 vergewaltigten 10 Männer drei Mädchen in Benin (Edo State), weil sie annahmen, dass sie lesbisch seien. Die Vergewaltigung wurde aufgezeichnet und im Staat zirkuliert.“
157 
(β) Darüber hinaus war der nigerianische Staat weiterhin nicht in der Lage oder willens, dem Kläger Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 und 2 RL 2004/83/EG zu gewähren.
158 
Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) aus:
159 
„Staatspräsident Goodluck Jonathan…bekennt sich wie sein Vorgänger grundsätzlich öffentlich zur Rechtsstaatlichkeit und scheint um eine nachhaltige, reformorientierte Wirtschaftspolitik bemüht. Bisher gibt es jedoch keine greifbare Verbesserung der Lage der Bevölkerung.
160 
Die Menschen- und Bürgerrechte sind zwar im Grundrechtskatalog der Verfassung gewährleistet; die Verfassungswirklichkeit bleibt hinter diesen Ansprüchen aber weit zurück. Große menschenrechtliche Defizite bestehen nach wie vor bei den verschiedenen Sicherheitskräften, deren Vorgehen noch immer durch zum Teil exzessive Gewaltanwendung, willkürliche Verhaftungen, Folter und extra-legale Tötungen bzw. Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen gekennzeichnet ist. Die Zahl der extralegalen Tötungen durch die Sicherheitskräfte wird von der staatlichen Menschenrechtskommission auf jährlich 5.000 geschätzt.“ (S. 5).
161 
„Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor. In der Realität ist die Justiz allerdings, trotz persönlich hoher Unabhängigkeit einzelner Richterinnen und Richter und wiederholter Urteile gegen Entscheidungen der Administration, der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie von einzelnen politischen Führungspersonen ausgesetzt. Die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung behindert außerdem die Funktionsfähigkeit des Justizapparats. Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu Rechtsbeistand oder Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht. Den Untersuchungshäftlingen - d.h. ca. 65 % der Gefängnisinsassen - wird oft nicht einmal mitgeteilt, welche Verstöße ihnen zur Last gelegt werden.“ (S. 8).
162 
„Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der (Bundes-)Polizei, die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht. Die Lage der ca. 360.000 Mann starken Polizeitruppe ist durch schlechte Besoldung und Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Korruption ist bei der Polizei weit verbreitet; Gelderpressungen an Straßensperren sind an der Tagesordnung. Ca. 100.000 Polizisten sollen zudem als Sicherheitskräfte bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen tätig sein. Die Polizeiführung versucht in begrenztem Maße gegenzusteuern und veranstaltet zusammen mit Nichtregierungsorganisationen Menschenrechtskurse und Fortbildungsmaßnahmen. Die harsche Zurückweisung eines 2009 veröffentlichten Berichts Amnesty Internationals, der der Polizei ebenfalls Folter, extralegale Tötungen und Verschwindenlassen vorwarf, verdeutlichte jedoch einmal mehr, dass menschenrechtliche Fragen für die Polizeiführung keine besondere Priorität haben.“ (S. 9).
163 
„Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o.ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte auf Grund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich. Auch der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt.“ (S. 14).
164 
In seiner Auskunft an den Senat vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt mitgeteilt:
165 
„Da in Nigeria Homosexualität illegal ist, bietet die nigerianische Regierung bzw. deren Behörden keinen besonderen Schutz für Homosexuelle an.“
166 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu staatlichem Schutz vor Übergriffen Dritter Folgendes mitgeteilt:
167 
„Gewalttäter gegen Homosexuelle werden kaum strafrechtlich verfolgt. Edgeboston berichtet über einen jungen Schwulen, der in Lagos von einer Gruppe angegriffen wurde, welche die Stadt von Homosexuellen säubern wollten. Niemand wurde strafrechtlich verfolgt, selbst dann nicht, als er an seinen Verletzungen starb. Die Behörden unternahmen auch nichts gegen die Schläger, welche 2008 Mitglieder der House of Rainbow Metropolitan Community Church angegriffen hatten, einer LGBT-freundlichen Kirche in Lagos. Die Angriffe fanden nach einer Hetzkampagne verschiedener Zeitungen statt, welche 2008 Namen, Fotos und Adressen von Mitgliedern der Kirche publiziert hatten. Im März 2011 kursierte ein Video, welches die Vergewaltigung von drei jungen Frauen durch zehn Männer zeigt. Die Frauen waren verdächtigt, lesbisch zu sein und sollten 'geheilt' werden. In der Folge versteckten sich die Mädchen aus Angst vor weiteren Übergriffen. Die Männer wurden nicht angezeigt.“
168 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat mitgeteilt:
169 
„Da Diskriminierung von Homosexuellen vom Staat rechtlich institutionalisiert ist, werden diskriminierende rechtliche Vorgaben instrumentalisiert und als eine Aufforderung zur Gewaltanwendung gegen Homosexuelle in der gesamten Gesellschaft verstanden. Da dieser Bevölkerungsgruppe ein Teil ihrer Rechte abgesprochen wurde, hat sie kaum eine Möglichkeit, als Opfer von Menschenrechtsverletzungen Zugang zu Rechtshilfe und Entschädigung zu bekommen, während die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
170 
Die Polizei gilt als korrupt, nicht vertrauenswürdig und hat sich in der Vergangenheit selbst an Übergriffen auf Personen beteiligt, die verdächtigt wurden, homosexuell zu sein. Der einzig mögliche Rechtsschutz besteht durch engagierte Rechtsanwälte und Organisationen, die Rechtshilfe für Betroffene anbieten. Diese würden durch den neuen Gesetzentwurf allerdings auch kriminalisiert werden.“
171 
Vor diesem Hintergrund ist der Senat davon überzeugt, dass der Schutz der Grundrechte und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Nigeria nur gering ausgeprägt sind, so dass effektiver Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen - insbesondere eine effektive Strafverfolgung der Täter - nicht allgemein gewährleistet ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der nigerianische Staat homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Der Wille zur Strafverfolgung ist daher nicht hinreichend gegeben, zumal nach den vorliegenden Erkenntnismitteln gewaltsame Übergriffe nicht nur vereinzelt auch von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden.
172 
(2) Es bestehen weiterhin gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger nicht erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird.
173 
Vielmehr ist ausgehend von den eingeholten Erkenntnismitteln anzunehmen, dass der Kläger damit rechnen muss, erneut Opfer von Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zu werden, gegen die durch den Staat Nigeria kein effektiver Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG gewährleistet wird.
174 
(3) Der Kläger kann auch nicht auf eine nun vorliegende inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG) verwiesen werden.
175 
Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Verwaltungsgerichts München vom 09.01.2006 (M 12 K 05.50666, Juris), des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 09.05.2003 (6 A 30358/97.A, Juris) sowie des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 07.10.2011 (RN 5 K 11.30261) angenommen, dass es in größeren Städten - insbesondere innerhalb der westlich ausgebildeten Elite und nigerianischen Oberschicht - Zentren einigermaßen tolerierter Homosexualität gebe, die einen Umgang mit Homosexualität möglich machten. Diese Entscheidungen nehmen insoweit vor allem Bezug auf ein Gutachten des Instituts für Afrikakunde vom 19.01.2006, eine Auskunft des Instituts für Afrikakunde an das VG Oldenburg vom 11.11.2002 beziehungsweise eine Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 17.05.2004.
176 
Die genannte tatsächliche Annahme einer inländischen Fluchtalternative wird jedoch durch die nun vorliegenden aktuellen Auskünfte widerlegt.
177 
Danach ist die Verfolgungsgefahr für Homosexuelle in den nördlichen Bundesstaaten, in denen die Scharia gilt, zwar noch größer als in den übrigen Bundesstaaten. Doch in diesem übrigen Teil bestehen keine signifikanten Unterschiede zwischen den größeren Städten und dem übrigen Land. Auch in der Stadt kann Homosexualität nur diskret gefahrlos gelebt werden. Ist ein Homosexueller jedoch öffentlich als solcher erkennbar, fehlt es auch in größeren an internem Schutz im Sinne von Art. 8 RL 2004/83/EG.
178 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 dazu Folgendes mitgeteilt:
179 
„Aufgrund der gesellschaftlich verankerten Tabuisierung von Homosexualität halten die meisten ihre Homosexualität geheim. Es existieren kaum Gruppierungen oder Personen, die sich zu ihrer Homosexualität offen bekennen. Das österreichische Außenministerium empfiehlt Homosexuellen, sich in der Öffentlichkeit nicht zu exponieren.
180 
Es gibt keine explizite Schwulenszene in Nigeria. Schwul sein bedeutet, unsichtbar zu sein. Viele Kontakte werden über Internet auf Webseiten sozialer Netzwerke geknüpft. In den größeren Städten bieten einige wenige Clubs gewisse Möglichkeiten für Treffen. Die TAZ schrieb über einen 30-jährigen Aktivisten in Lagos, der sich in der Schwulenszene engagiert und Partys organisiert. Doch auch er versucht mit allen Mitteln zu verhindern, als Schwuler geoutet zu werden. Er würde sonst seinen Job verlieren und von seiner Familie verstoßen werden.
181 
Im Mai 2007 verabschiedete der Bundesstaat Lagos eine eigene Gesetzgebung gegen Homosexuelle. Sie ist ähnlich drastisch wie der Gesetzgebungsvorschlag der Same Sex Marriage (Prohibition) Bill. Eine Sprecherin der NGO Global Rights bezeichnete diese Gesetzgebung als alarmierend und meinte, dass in Lagos, der kosmopolitischsten Stadt des Landes, der Trend zu immer konservativeren und intoleranteren Haltungen festzustellen sei. Dies zeige sich auch bei Verhaftungen von Frauen, die aufgrund unangemessener Kleidung, wie beispielsweise Hosen, inhaftiert werden.
182 
Die Mitglieder der House of Rainbow Metropolitan Community Church in Lagos erhielten auch 2011 weiterhin anonyme Drohnachrichten und Drohanrufe. Eine im Dezember 2011 geplante Konferenz in Lagos und Abuja zu 'Sexuelle Rechte und Gesundheit' musste aus Angst vor Übergriffen abgesagt werden.“
183 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat zu innerstaatlichen Fluchtalternativen ausgeführt:
184 
„Es gibt in Nigeria keine Regionen oder geschlossenen gesellschaftlichen Kreise, in denen Homosexualität diskret oder offen gelebt werden kann. Die Gefahr für Homosexuelle ist im Norden des Landes durch die schärfere Gesetzgebung der Scharia und deren Durchsetzung durch Hisbah-Milizen stärker ausgeprägt als im Süden. Ferner ist die Situation für Homosexuelle auf dem Land schwieriger als in den Millionenstädten, wo es zumindest noch eine temporäre Möglichkeit geben kann, unentdeckt zu bleiben.
185 
Es ist davon auszugehen, dass den Eliten mehr Mittel zur Verfügung stehen, ihre Rechte durch guten Rechtsbeistand zu sichern, als den ärmeren Bevölkerungsgruppen. Sie sind daher weniger der Justizwillkür ausgesetzt.
186 
In seiner Auskunft vom15.11.2012 teilte das Auswärtige Amt dem Senat mit:
187 
„Wie schon erläutert, ist die Situation für Homosexuelle bzw. deren Lebensweise in den verschiedenen Landesteilen durchaus unterschiedlich.
188 
Homosexuelle in urbanen Orten, wie beispielsweise Lagos, können ihre sexuelle Orientierung bzw. Lebensweise einigermaßen gefahrlos leben, wenn sie dabei diskret bleiben. Darüber hinaus bleibt allerdings festzuhalten, dass Homosexualität im allgemeinen Bewusstsein der Nigerianer als abnormal wahrgenommen wird und Homosexuelle, die sich dazu öffentlich bekennen und ihre Lebensweise öffentlich propagieren, deshalb u.U. auch Ziele von gewaltsamen Attacken werden können.“
189 
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage liegen damit hinsichtlich des Klägers keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG vor, dass es inländische Fluchtalternativen im Sinne von Art. 8 RL 2004/83/EG gibt. Dem im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG vorverfolgten Asylantragsteller kommt die Beweiserleichterung nach dieser Bestimmung auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.05.2009 - 10 C 21/08 -, NVwZ 1308, 1310).
190 
Darüber hinaus gehört der Kläger auch nicht zur westlich ausgebildeten Elite oder gar zur nigerianischen Oberschicht. Zwar war sein damaliger Freund E... wohl Geschäftsmann. Der Kläger selbst, der bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung insgesamt einen recht naiven Eindruck gemacht hat, hat dagegen lediglich die Grundschule und die Sekundarschule besucht, jedoch keinen Beruf erlernt und hat auch nicht gearbeitet. Er hat sich vielmehr mit der Hilfe von Bekannten oder zum Teil seines Bruders durchgeschlagen.
II.
191 
Die in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts vom 12.01.2012 enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hätte die Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden dürfen. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
III.
192 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
IV.
193 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
19 
Die Berufung ist erfolgreich.
20 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) des Klägers ist begründet. Die vom Kläger im Hauptantrag erhobene Verpflichtungsklage auf Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und damit auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG), sowie die gegen Ziffer 4 des Bescheids vom 12.01.2012 erhobene Anfechtungsklage haben Erfolg.
I.
21 
Der Kläger hat nach dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Bundesrepublik Nigeria vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
22 
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, weil nach Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
23 
Nach Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
24 
Die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung entsprechen den Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für das Vorliegen einer „Verfolgungsgefahr“ verlangt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, Juris Rn. 12). Sie liegen vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts" die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, BVerwGE 89, 162).
25 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBl. 1994, 524).
26 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237/80 -, Juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O., 99).
27 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. c und e RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, zu diesem Begriff: EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.03.2012, a.a.O, Rn. 12, und vom 18.04.1996 - 9 C 77/95 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).
28 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32/11 -, Juris Rn. 7).
29 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchst. b). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011, a.a.O., Rn. 7). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, Juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Das Konzept der Gruppenverfolgung steht mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, Juris; Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, Juris Rn. 27 ff.).
31 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung beziehungsweise keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20/08 -, Juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.02.2012 - A 3 S 1876/09 -, Juris Rn. 27 ff.).
32 
2. Bei Anwendung dieser Vorgaben hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.
33 
a) Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG gehört.
34 
aa) Homosexuelle bilden in Nigeria eine „soziale Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.
35 
(1) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine soziale Gruppe in diesem Sinne, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten.
36 
(a) Nach der vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht stellte nur die irreversible Homosexualität ein Persönlichkeitsmerkmal dar, an das Verfolgungsmaßnahmen ebenso wenig geknüpft werden durften wie beispielsweise an die in Art. 1 A Nr. 2 GK genannten Merkmale der Rasse, Nationalität, Religion oder politischen Überzeugung. In diesem Sinne asylrelevant war allerdings nicht bereits die bloße, auf gleichgeschlechtliche Betätigung gerichtete Neigung, der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Betreffenden steht, sondern nur die unumkehrbare Festlegung auf homosexuelle Triebbefriedigung. Nur eine homosexuelle Veranlagung, bei welcher der Betreffende außerstande ist, eine gleichgeschlechtliche Betätigung zu unterlassen, war den schicksalhaft zufallenden persönlichen Eigenschaften wie Rasse oder Nationalität vergleichbar. Hingegen war es nicht - auch - Merkmal der Irreversibilität der homosexuellen Veranlagung, dass der Umgang mit Sexualpartnern des gleichen Geschlechts die einzige Form ist, in der die betreffende Person sich sexuell zu betätigen vermag. Auch eine neben einer heterosexuellen Orientierung vorhandene homosexuelle Triebrichtung, welcher der Betreffende aus eigener Kraft auf Dauer und immer erneut nicht zu widerstehen beziehungsweise auszuweichen vermag und die deshalb immer wieder zur Vornahme homosexueller Handlungen führt, war irreversibel. Auch für eine gleichgeschlechtliche Veranlagung dieser Art trafen die Gründe zu, welche die irreversible Homosexualität zu einem asylrelevanten Persönlichkeitsmerkmal machten (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.03.1988 - 9 C 278/86 -,BVerwGE 79, 143, und vom 17.10.1989 - 9 C 25/78 -, NVwZ-RR 1990, 375; Beschluss vom 15.09.2005 - 1 B 12/05 -, Juris).
37 
Die EU-Kommission hat in der Begründung ihres Vorschlags für die RL 2004/83/EG die sexuelle Ausrichtung dagegen nicht zu den angeborenen oder unveränderlichen, sondern zu identitätsprägenden Merkmalen gezählt, deren Verzicht nicht verlangt werden soll. Zugleich hat sie ausgeführt, dass der Verweis auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung nicht implizierten, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten. Ob er Anwendung finden könne, hänge von den jeweiligen Umständen und der Situation im Herkunftsland sowie den Merkmalen der Verfolgung und des Verfolgten ab (KOM <2001> 510 endg., S. 24).
38 
Auch nach der nach Inkrafttreten der RL 2004/83/EG herrschenden Meinung werden die sexuelle Ausrichtung und mithin auch die Homosexualität zu den Merkmalen gerechnet, die für die Identität so bedeutsam sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, 23.10.2012, Rn. 44 ff., siehe zur Bedeutung der UNHCR Guidelines: Art. 35 Abs. 1 GFK und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, Juris Rn. 38; ferner: Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205, 210; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 2; Titze, ZAR 2012, 93, 95; Markard, Asylmagazin 2013, S. 74, 80; Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber AufenthG, 2010, § 60 Rn. 83; auch: VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 -, Juris Rn. 25; VG Frankfurt , Urteil vom 11.11.2010 - VG 4 K 772/10.A -; VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2011 - RN 5 K 11.30261 -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.08.2012 - A 8 K 344/11 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2012 - 23 K 3686/10.A -, Juris Rn. 51 ff.). Darauf, ob der Betroffene auf Homosexualität „unentrinnbar schicksalhaft festgelegt“ ist und er insoweit „irreversibel geprägt“ ist, kommt es nach der herrschenden Meinung nicht mehr an.
39 
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hatte Zweifel, ob Homosexualität als sexuelle Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 RL 2004/83/EG anzusehen ist und ein hinreichender Verfolgungsgrund sein kann oder ob es einer ergänzenden Präzisierung bedarf, und hat diese Frage dem EuGH vorgelegt (vgl. Beschluss vom 23.11.2010 - 13 A 1013/09.A -, Juris Rn. 40 ff.). Die Vorlage hat sich später erledigt, nachdem der EuGH den Namen des Klägers auf seiner Website öffentlich gemacht und das Bundesamt daraufhin dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2011 - 13 A 1013/09.A -, Juris). Derzeit sind beim EuGH mehrere, miteinander verbundene Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Raad von State vom 27.04.2012 anhängig (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12).
40 
(b) Eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV hält der Senat nicht für erforderlich, weil er keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der RL 2004/83/EG hat. Entscheidend für die Einordnung von Homosexualität und des Merkmals der „sexuellen Ausrichtung“ als identitätsprägendes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist, dass der EGMR Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und des Geschlechtslebens unter den von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Begriff des „Privatlebens“ subsumiert (vgl. EGMR, Urteil vom 27.09.1999 - 33985/96 u.a. - „Smith u. Grady“ -, NJW 2000, 2089 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 19 ff.). Sie fallen daher auch in den Schutzbereich von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU, die nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 bei der Auslegung und der Durchführung der RL 2004/83/EG zu beachten ist (vgl. Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2010, Art. 7 Rn. 8). Daher ist nicht eine unentrinnbare Neigung maßgebend, sondern die frei gewählte sexuelle Bestimmung (vgl. Marx, a.a.O., § 25 Rn. 4 ff.; Titze, a.a.O., S. 95). Die oben dargestellte einschränkende Bezugnahme der Kommission in der Begründung des Richtlinienentwurfs auf die Umstände des Herkunftslandes hat ihre Grundlage in der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzung, die selbständig zu prüfen ist.
41 
(2) Diese in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannte Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ist hinsichtlich Nigeria gegeben. In Nigeria ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine deutlich abgegrenzte Identität besitzen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ergibt sich aus allen vorliegenden Quellen unzweifelhaft, dass Homosexualität in Nigeria nicht für „normal“ gehalten wird.
42 
(3) Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen.
43 
(a) Darauf könnte zwar hindeuten, dass von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 1 RL 2004/83/EG nur solche identitätsprägenden Merkmale geschützt sind, die so bedeutsam sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem findet sich - anders als in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG mit Blick auf den Begriff „Religion“ - nicht der Hinweis, dass neben dem privaten Bereich auch die Praxis im öffentlichen Bereich geschützt sei. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass das Ausleben der sexuellen Ausrichtung nur hinsichtlich des Lebens im Verborgenen beziehungsweise im privaten Bereich geschützt sei. Dem Betreffenden sei es daher zumutbar, seine Veranlagung nur im nichtöffentlichen Bereich seines Heimatlandes auszuleben (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; vgl. zu entsprechenden Zweifeln: OVG NRW, Beschluss vom 23.11.2010, a.a.O.; auch: BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 19/09 -, Juris Rn. 34 und 52). So hatte das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahr 1988 entschieden, dass der strafrechtliche Zwang, sich entsprechend den im Herkunftsland geltenden herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hierdurch nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. darstelle. Das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 149 f.).
44 
(b) Ausgehend von der jüngsten Rechtsprechung des EuGH ist dieser Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG jedoch nicht zu folgen.
45 
Zwar gibt es auch Grenzen für den Schutzbereich des Merkmals „sexuelle Ausrichtung“. Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG darunter keine Handlungen fallen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Diese Einschränkung gilt freilich nur insoweit, als die betreffenden nationalen Regelungen vor Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU Bestand haben. Die einvernehmliche Betätigung unter Erwachsenen im Privatbereich ist danach grundsätzlich geschützt und darf strafrechtlich nicht geahndet werden (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 „Dudgeon“ -, NJW 1984, 541). Gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU kann allerdings die Ausübung sexueller Praktiken in der Öffentlichkeit - und zwar homo- und heterosexueller Art gleichermaßen (vgl. Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU) - weiterhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. etwa § 183a StGB) untersagt werden (vgl. Marx, a.a.O., Rn. 30).
46 
Für den Verfolgungsgrund der Religion hat der EuGH am 05.09.2012 entschieden, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf einen bestimmten Aspekt der Ausübung der Religionsfreiheit - etwa die öffentliche Ausübung - zu verzichten (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 „Y. und Z. ./. Deutschland“ -, Rn. 73 ff.). Die Unterscheidung, ob der Eingriff in einen Kernbereich („forum internum“) oder in die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfolgt, wurde vom EuGH für nicht vereinbar mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG befunden (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 63 ff.). Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung darf nicht darauf abgestellt werden, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird. Maßgeblich ist allein die Art und Schwere der Repression. Bei der Prüfung einer Gefahr muss die Behörde objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigen. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkung ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt für die Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Der EuGH hat weiter hervorgehoben, dass sich die Frage, ob eine Verfolgung durch Verzicht auf eine bestimmte Handlung vermieden werden kann, dann nicht stellt, wenn der Betroffene bereits verfolgt war oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 74).
47 
Diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 20.02.2013 gefolgt (10 C 20/12 u.a.). In der diesbezüglichen Pressemitteilung vom 20.02.2013 (die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) heißt es: Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird. Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung. Doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung zur Flüchtlingsanerkennung führen. Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Andernfalls bliebe der Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.
48 
Vor diesem Hintergrund können nach Auffassung des Senats auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG - abgesehen von den auch in den Mitgliedstaaten der EU strafbaren Handlungen (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG) - nicht bestimmte Verhaltensweisen von vornherein für verzichtbar angesehen werden (vgl. Titze, a.a.O.; Markard, a.a.O., 76 ff.; UNHCR, a.a.O., Rn. 30 ff.). Der Wortlaut der Richtlinie differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der RL 2004/83/EG sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben (vgl. Schlussantrag von Generalanwalt Bot vom 19.04.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, Rn. 103 ff.).
49 
(c) Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. Bei der auf einer Gesamtwürdigung der Person des Schutzsuchenden beruhenden Prognose des Verhaltens in seinem Herkunftsland ist nicht beachtlich, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG - etwa einer zu erwartenden Strafverfolgung - auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Denn hierbei handelt es sich um ein Vermeidungsverhalten, das vom Schutzsuchenden angesichts der Ziele der RL 2004/83/EG nicht verlangt werden kann, weil es kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einer drohenden Verfolgung beruht. Daher darf - entgegen der Auffassung des Bundesamtes - erst recht nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht bei der Beurteilung, ob der Schutzsuchende Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist, zu berücksichtigen (so auch für das Vereinigte Königreich: Supreme Court, Judgement vom 07.07.2010 <2010> UKSC 31, Lord Hope, Rn. 22 und Lord Rodger, Rn. 82; ebenso: Markard, a.a.O., 789; krit.: Titze, a.a.O., 98 f., und Weßels, International Journal of Refugee Law, Vol. 24 (2013), Nr. 4, S. 815; siehe zu möglichen Prüfkriterien bei der Gesamtwürdigung: UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63). Dabei darf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sexuelles Verhalten tendenziell im Privaten stattfindet, nicht ausgeblendet werden. Denn das Ziel des europäischen Asylsystems und der Genfer Flüchtlingskonvention besteht nicht darin, einem Einzelnen immer dann Schutz zu gewähren, wenn er in seinem Herkunftsland die in der Charta der Grundrechte der EU oder in der EMRK eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang tatsächlich ausüben kann, sondern darin, die Anerkennung als Flüchtling auf Personen zu beschränken, die der Gefahr einer schwerwiegenden oder systematischen Verletzung ihrer wichtigsten Rechte ausgesetzt sind und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist (so EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 58 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 28).
50 
bb) In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich die Homosexualität des Klägers und damit seine Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG sowie das von ihm bei einer Rückkehr zu erwartende, für seine Identität besonders wichtige Verhalten aus Folgendem:
51 
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist (vgl. auch die vom UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63, für bedeutsam gehaltenen Prüfelemente). Die Homosexualität des Klägers war in der mündlichen Verhandlung für den Senat offensichtlich. Er macht auf Dritte offensichtlich einen femininen Eindruck, der sich aus seiner Sprechweise, seiner Art, sich zu geben, und seinem gesamten Verhalten ergibt. Dass er einen solchen Eindruck hinterlässt, ist dem Kläger - wie er in seinen bisherigen Anhörungen mitgeteilt hat - bewusst. Der Kläger hat zudem glaubhaft angegeben, dass er die Homosexualität sein ganzes Leben lang gefühlt habe. Allerdings habe er zunächst nicht gewusst, was Homosexualität sei. Er habe jedoch immer nur Gefühle für „Jungs“ gehabt, sich feminin gefühlt. Dieses Gefühl habe sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Seine Geschwister hätten seine Veranlagung wohl vermutet. Sein Bruder habe ihn einmal direkt danach gefragt, auch seine Schwester. Er habe es ihnen gegenüber jedoch nicht zugegeben, weil er Angst gehabt habe, wie sein Bruder reagiere. Er sei sich nicht ganz sicher, ob der Bruder es nun wisse. Er selbst könne nicht anders sein. Er habe keine Möglichkeit, sich zu ändern oder mit seinem Verhalten aufzuhören. Ab April 2008 habe er in Nigeria für ein halbes Jahr eine homosexuelle Beziehung mit einem Mann namens E... gehabt und mit diesem zusammengewohnt. Danach sei es schwierig gewesen, jemand anderen zu finden.
52 
Der Kläger hat weiter detailreich und glaubhaft geschildert, dass er in Deutschland zwei homosexuelle Beziehungen gehabt habe. In der mündlichen Verhandlung war der derzeitige Freund des Klägers anwesend. Außerdem hat der Kläger mitgeteilt, dass in der von ihm bewohnten Asylbewerberunterkunft seine Homosexualität bekannt sei.
53 
Damit steht für den Senat fest, dass der Kläger seine homosexuelle Veranlagung als solche in der Öffentlichkeit nicht verbergen kann, sie ist vielmehr offensichtlich. Des Weiteren steht für den Senat fest, dass es dem Kläger wichtig ist, homosexuelle Beziehungen einzugehen und gegebenenfalls mit einer anderen Person zusammen zu wohnen. Dass dem Kläger darüber hinaus weitere öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen besonders wichtig sind, ist nach seinem Vorbringen nicht ersichtlich.
54 
b) Hiervon ausgehend droht dem Kläger derzeit in Nigeria weiterhin Verfolgung, wobei hinsichtlich der Verfolgungsprognose Besonderheiten gelten (dazu unter aa). Die Verfolgung geht jedoch nicht von staatlicher Seite (dazu unter bb), sondern von nichtstaatlichen Akteuren aus (dazu unter cc).
55 
aa) Auf der Grundlage des festgestellten homosexuellen Verhaltens beziehungsweise des Verfolgungsgrunds im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/843/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG droht. Dabei ist es unerlässlich, den Begriff der Verfolgungshandlung von allen anderen Arten diskriminierender Maßnahmen abzugrenzen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass eine Person bei der Ausübung eines ihrer Grundrechte einer Beschränkung oder einer Diskriminierung ausgesetzt ist und aus persönlichen Gründen oder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder ihres sozialen Status auswandert, und dem Fall, dass die Person einer so schwerwiegenden Beschränkung unterliegt, dass sie Gefahr läuft, dadurch ihrer wichtigsten Rechte beraubt zu werden, ohne den Schutz ihres Herkunftslands erlangen zu können (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 29). Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK darstellen, ohne deswegen dieses Recht zu verletzten, sind von vornherein ausgeschlossen, weil sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. Zudem können Handlungen, die zwar gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und Art. 1 A GFK gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 60 f.).
56 
Bei der Prüfung der Verfolgungsprognose kann allerdings eine scharfe Trennung zwischen einem in die Öffentlichkeit gerichteten beziehungsweise öffentlich bemerkbaren Verhalten, das geeignet ist, Verfolgungshandlungen (wie etwa Strafverfolgung) hervorzurufen, und einem diskreten Leben in der Praxis nicht leicht gezogen werden (vgl. auch Weßels, a.a.O.). Denn kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen.
57 
bb) Hiervon ausgehend droht dem Kläger allerdings von staatlicher Seite derzeit keine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a sowie Art. 6 Buchst. a und Art. 9 RL 2004/83/EG. Dies gilt insbesondere hinsichtlich einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG).
58 
(1) Der Kläger hat - trotz seiner offensichtlichen Homosexualität und eines entsprechenden Vorwurfs gegenüber einem Polizisten im Zusammenhang mit dem Messerangriff auf ihn am 20.12.2008 und trotz seines Zusammenlebens mit einem anderen Mann - noch keine solche Verfolgung erlitten oder war von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht. Der Kläger konnte sich gegenüber dem Polizisten mit der bloßen Aussage, er habe nichts getan, vor einer Strafverfolgung retten. Allerdings könnte sich diese Einschätzung bezüglich der dem Kläger von Seiten des Staates drohenden Verfolgungsgefahr zu seinen Lasten ändern, wenn die geplante Verschärfung des nigerianischen Strafrechts in Kraft tritt. Denn dann könnte bereits das bloße Zusammenleben mit einer anderen Person des gleichen Geschlechts, was mit Blick auf den Kläger wohl nicht auf Dauer unbemerkt bleiben würde, unter Strafe stehen (Nr. 5 Abs. 2 des „Same Sex Marriage Bill, 2011: „directly oder indirectly make public show of same sex amorous relationship“).
59 
(2) Homosexuelle - und damit der Kläger - unterlagen und unterliegen in Nigeria nach derzeitiger Erkenntnislage auch keiner staatlichen Gruppenverfolgung. Der Begriff der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist von der „Gruppe“ im Sinne des Konzepts der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Eine soziale Gruppe kann unabhängig davon vorliegen, ob alle Mitglieder verfolgt werden. Von der Verfolgungsdichte für alle Gruppenmitglieder würde jedoch die widerlegliche Verfolgungsvermutung für den einzelnen Schutzsuchenden abgeleitet (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., Rn. 82).
60 
(a) Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt sich zur Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG folgendes Bild:
61 
Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) aus:
62 
„Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht (dreimonatige bis dreijährige Freiheitsstrafe gem. § 217 Criminal Code, bei vollzogenem Analverkehr Freiheitsstrafe von 14 Jahren gem. § 214 Criminal Code) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen wird selten bekannt. Homosexuelle versuchen auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen und weitverbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. 2011 nahm der Senat eine weitere Verschärfung der Gesetze an. Danach könnte künftig bereits das Zusammenleben homosexueller Paare mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Personen, die davon erfahren, dass Homosexuelle zusammen leben und dies nicht den Behörden mitteilen, droht danach künftig eine bis zu fünfjährige Haftstrafe, was neben Familienangehörigen und Freunden insbesondere auch Mitarbeiter von NROs im Gesundheitsbereich (HIV/AIDS-Aufklärung) betreffen könnte. Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es noch durch das Repräsentantenhaus verabschiedet werden und durch den Präsidenten unterzeichnet werden.“
63 
In seiner Auskunft vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt gegenüber dem Senat ausgeführt:
64 
„In Nigeria ist Homosexualität strafbar, wenn sie privat oder öffentlich praktiziert wird. Die bloße Disposition ist per se nicht strafbar.
65 
Die Art der Strafverfolgung und die Schärfe der Verurteilung sind abhängig von dem Gebiet beziehungsweise dem Bundesstaat, in dem der Tatbestand begangen wurde beziehungsweise behandelt wird:
66 
In den südlichen Bundesstaaten Nigerias kann ein solches Vergehen (nach Paragraph 214, 215 und 217 des Strafgesetzbuchs) mit sieben bis 14 Jahren Gefängnis bestraft werden.
67 
In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias drohen (laut Paragraph 284, 405 und 407 <2> des dortigen Strafgesetzbuchs) bis zu 14 Jahre Gefängnis bzw. ein Bußgeld.
68 
In den 12 nördlichen Bundesstaaten, die die Sharia im Jahr 2000/2001 übernommen haben, drohen Gefängnis, zwischen 40 und 100 Peitschenhieben, oder die Todesstrafe durch Steinigung.
69 
Alle bisher von den erstinstanzlich zuständigen Sharia-Gerichten verhängten Steinigungsurteile wurden jedoch im Rechtsmittelverfahren aufgehoben.“
70 
Die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes auf dessen Homepage (Stand: 28.01.2013) weisen auf Folgendes hin:
71 
„Homosexuelle Handlungen sind in Nigeria strafbar. In den nördlichen Bundesstaaten Nigerias sind nach islamischem Recht homosexuelle Handlungen mit schweren Strafen belegt. Körperliche Nähe zwischen Angehörigen desselben Geschlechts, insbesondere Männern, erregt in der Öffentlichkeit jedoch keinen Anstoß, sofern sie nicht offensichtlich sexuellen Charakter hat.“
72 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 Folgendes mitgeteilt:
73 
„Gemäß dem Strafgesetz ist Homosexualität illegal und wird mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten, wo die Scharia gilt, können Erwachsene durch Steinigung hingerichtet werden, die aufgrund homosexueller Handlungen als schuldig gelten.
74 
Criminal Code Act. Im Criminal Code Act ist unter dem Kapitel 'Zuwiderhandlung gegen die Moral' (Offences against Morality) im Artikel 214 festgehalten, dass jede Person, die mit einer Person oder einem Tier Geschlechtsverkehr 'unnatürlicher Art' hat oder einem Mann erlaubt, 'unnatürlichen Geschlechtsverkehr' mit ihm oder ihr auszuüben, eines schweren Verbrechens schuldig und mit 14 Jahren Gefängnis zu bestrafen ist. Nach Artikel 215 ist der Versuch von in Artikel 214 beschriebenen Handlungen mit einer siebenjährigen Haftstrafe zu ahnden. In Artikel 217 ist festgelegt, dass jeder Mann, ob öffentlich oder privat, der mit einem anderen Mann eine 'schwere Unanständigkeit' (gross indecency) begeht, oder einen Mann dazu anstachelt, eine 'Unanständigkeit' zu begehen, eines Verbrechens schuldig und mit dreijähriger Haft zu bestrafen ist. Gemäß dem Immigration and Refugee Board of Canada ist unter dem Begriff 'unnatural offences' Homosexualität, analer Geschlechtsverkehr und Zoophilie zu verstehen (sodomy, anal intercourse , bestiality).
75 
Scharia. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten gilt seit 2000 die Scharia, und homosexuelle Handlungen können mit Steinigung bestraft werden. Gemäß dem Strafgesetz des Bundesstaates Kano aus dem Jahr 2000, welches den Scharia-Gesetzgebungen in den anderen Bundesstaaten ähnlich ist, sind Straftatbestände gemäß Sektionen 128/129 zu Homosexualität (Sodomy, Liwat) folgendermaßen zu ahnden: Wer mit einer Frau oder einem Mann Analverkehr hat, begeht das Verbrechen der Sodomie und wird, wenn verheiratet, mit dem Tod durch Steinigung bestraft. Ist die Person nicht verheiratet, wird sie mit bis zu hundert Peitschenhieben und einem Jahr Haft bestraft. Auch lesbische Frauen sollen gemäß Sektion 183 zu Lesbentum (Sihaq) bestraft werden: Den Straftatbestand erfüllt eine Frau, die mit einer anderen Frau Geschlechtsverkehr hat, eine andere Frau sexuell stimuliert oder sexuell erregt. Ist die Täterin verheiratet, kann sie mit Steinigung bestraft werden.
76 
Auch einzelne lokale Gemeinden beschließen Maßnahmen gegen Homosexuelle. Im Jahr 2010 entschied die Ebem Ohafia Gemeinschaft im Bundesstaat Abia zusammen mit ihrem Stammesführer, dass jegliche Art von Homosexualität verboten sei und jedem Homosexuellen die Steinigung drohe.
77 
Zur Umsetzung der strafrechtlichen Bestimmungen hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 Folgendes mitgeteilt:
78 
„Auch auf internationaler Ebene verteidigen nigerianische Diplomaten und Politiker vehement die Umsetzung der Strafmaßnahmen gegen Homosexuelle. Bei der zweiten Session des UN Human Rights Councils im Jahr 2009 bezeichnete der nigerianische UN-Gesandte in Genf Hinrichtungen durch Steinigung als eine gerechte und angemessene Bestrafung für 'unnatürliche sexuelle Handlungen'. Der ehemalige nigerianische Präsident Olesegun Obasanjo stellte klar, dass Homosexualität eine Abscheulichkeit sei. Auch im Privatbereich müsse Homosexualität bestraft werden, schließlich sei auch Sex zum Beispiel mit einem Pferd im Privatbereich immer noch Sodomie und nicht rechtens.
79 
Es kommt immer wieder zu Verhaftungen von Personen, die verdächtigt werden, homosexuell zu sein. 2007 wurden in Bauchi 18 Männer festgenommen und der Homosexualität angeklagt. Später wurde die Anklage auf Landstreicherei und das Tragen von Frauenkleidern geändert. Bis Ende 2011 wurde das Verfahren gegen diese Männer mehrmals verschoben. Im September 2012 verurteilte ein Gericht in Abuja einen nigerianischen Schauspieler aufgrund 'having sexual intercourse with another man through the anus' zu drei Monaten Haft. Zwischen 2000 und 2006 wurden mehr als zwölf Personen aufgrund homosexueller Handlungen zur Steinigung verurteilt. Die Steinigungen wurden jedoch nicht ausgeführt. Das United States Department of State geht davon aus, dass auch 2011 keine Steinigungen durchgeführt wurden.
80 
Gemäß Davis Mac-Iyalla, des im Exil lebenden Direktors der lokalen NGO Changing Attitude, sind illegale Übergriffe gegen LGBT-Personen durch Polizisten häufiger als strafrechtliche Verfahren gegen diese. Dementsprechend rät das österreichische Außenministerium vor allem allein reisenden Homosexuellen, aber auch Heterosexuellen zur Vorsicht, da sie Opfer so genannter 'setups' werden können: Sie werden 'zufällig' von der Polizei bei sexuellen Handlungen ertappt und müssen sich dann freikaufen. Gaystarnews berichtet über einen schwulen Nigerianer, der in den USA lebt und Ferien in Nigeria verbrachte. Dort verriet ihn seine Tante aufgrund seiner Homosexualität an die Polizei, welche ihn festhielt, folterte und vergewaltigte.“
81 
Zur Strafbarkeit von Homosexualität hat Amnesty International in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat Folgendes ausgeführt und einen Auszug aus dem nigerianischen Strafgesetzbuch in englischer Sprache vorgelegt:
82 
„Homosexualität ist in Nigeria in jedem Fall strafbar, auch wenn sie diskret gelebt wird. Nach Kapitel 21, Artikel 214 des Strafgesetzbuchs (Code of Criminal Law) ist jede Person, die
83 
(1) Geschlechtsverkehr wider die Natur (…) mit einer anderen Person hat, oder
(2) Geschlechtsverkehr mit einem Tier hat, oder
(3) einer männlichen Person erlaubt, unnatürlichen Geschlechtsverkehr mit ihm oder ihr auszuüben
84 
eines schweren Verbrechens (felony) schuldig. Dies kann mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden.
85 
Ferner droht nach Artikel 215 eine siebenjährige Haftstrafe für Personen, die versuchen, eine der in Artikel 214 benannten Straftaten zu begehen.
86 
Schließlich sieht Artikel 217 drei Jahre Gefängnis vor für männliche Personen, die öffentlich oder privat einen Akt grober Unanständigkeit miteinander begehen oder versuchen, eine andere männliche Person zu einer solchen Handlung zu bewegen.
87 
Homosexualität in Nigeria offen zu leben, ist praktisch unmöglich, da sie sowohl strafrechtlich als auch gesellschaftlich verfolgt wird. Fälle von Lynchjustiz wurden in den vergangenen Jahren öffentlich und dokumentiert.
88 
Eine Haftstrafe ist in Nigeria mit äußerster Härte verbunden: Dazu zählt, dass Personen bis zu 10 Jahre in Untersuchungshaft bleiben. Einige Gefangene sind wegen Bagatelldelikten oder völlig unschuldig verhaftet worden, doch da sie selbst geringe Beiträge an Geldstrafe oder Kaution nicht aufbringen können und es zu keiner Verhandlung kommt, bleiben sie bis zu 10 Jahre lang inhaftiert. Weitere Probleme in den nigerianischen Gefängnissen sind Überfüllung, schlechte Sanitärversorgung, Korruption, schlechte Ernährung und mangelnde Gesundheitsversorgung.
89 
Nach offiziellen Zählungen befanden sich 2011 insgesamt 48.000 Gefangene in 200 Gefängnissen, womit die Kapazitätsgrenze um mehr als das Doppelte überschritten ist. Ca. 70 % warten auf den Beginn ihres Prozesses.
90 
Besonders die Situation der AIDS-Kranken, die durch Drogenkonsum und Sexualität in den Gefängnissen ansteigt, stellt sich als unmenschlich dar. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, die Gefangenen werden weder mit ausreichend Lebensmitteln noch medizinisch versorgt. Nur wenige können sich einen Anwalt leisten. Zudem müssen Homosexuelle zu jeder Zeit mit Übergriffen durch andere Häftlinge, aber auch durch Sicherheitskräfte rechnen.
91 
Die 1999 in den 12 nördlichen Bundesstaaten eingeführte Sharia-Strafgesetzgebung sieht noch härtere Strafen für Homosexualität vor als das nigerianische Strafgesetzbuch. Sie wird darin als 'Sodomie' bezeichnet. So beispielsweise in Kapitel III des Sharia-Strafgesetzbuchs des Bundesstaates Kano aus dem Jahr 2000 „Hudud und Hudud-ähnliche Vergehen“, Teil III 'Sodomy (Liwa)', Abschnitt 128-129. Der Bundesstaat Zamfara stellt auch die sexuelle Beziehung zwischen zwei Frauen (Sihaq) unter Strafe. Kapiel VIII, Artikel 135 des 'Zamfara State of Nigeria Shari’a Penal Code Law' sieht als Strafe für dieses Vergehen bis zu 50 Stockschläge und zusätzlich eine bis zu sechsmonatige Haftstrafe vor. Nach Art. 130 sind (männliche) Homosexualität und Sodomie (Liwat) gleichgestellt. Die dafür vorgesehene Strafe liegt nach Art. 131 bei unverheirateten Personen bei 100 Stockschlägen und einem Jahr Freiheitsentzug. Verheiratete Personen müssen mit der Steinigung rechnen. Theoretisch können von einem Scharia-Gericht Verurteilte auch vor einem staatlichen Gericht in Berufung gehen, doch ist dies praktisch kaum möglich, weil der Zugang zur Justiz in Nigeria grundsätzlich stark eingeschränkt ist.
92 
Im Bundesstaat Bauchi wurde ein Mann im September 2003 zum Tod durch Steinigung verurteilt, nachdem er der Sodomie für schuldig befunden worden war. Im August 2008 wurden mehrere Personen wegen mutmaßlich gleichgeschlechtlicher Beziehungen verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Männer konnten Berufung einlegen.“
93 
Ausgehend von diesen im Kern übereinstimmenden und deshalb für den Senat überzeugenden Erkenntnissen verschiedener Quellen hat sich die Lage hinsichtlich der Strafverfolgung von Homosexualität teilweise gewandelt. Noch im Jahr 2003 hat Amnesty International dem Verwaltungsgericht Oldenburg am 11.02.2003 mitgeteilt, dass keine Fälle bekannt seien, in denen die Strafvorschriften zu Anwendung gekommen seien. Unterschiedliche Quellen seien damals noch davon ausgegangen, dass freiwillige homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nicht mehr bestraft würden. Entsprechendes findet sich in einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.05.2004 an das Verwaltungsgericht Stuttgart. Danach müsse zudem danach unterschieden werden, ob ein solches Paar in einer Dorfgemeinschaft lebe oder in einer größeren Stadt, in der Homosexualität sicherlich problemlos ausgelebt werden könne. Eine aktive staatliche Suche oder gesellschaftliche Verfolgung beziehungsweise Suche nach homosexuellen Paaren finde nicht statt. Ab dem Jahr 2006 verschärfte sich jedoch der Umgang mit Homosexuellen (weitere Einzelheiten dazu in: Bundesamt, Informationszentrum für Asyl und Migration: „Nigeria - Homosexualität in Nigeria“ vom März 2007, S. 6 bis 11). Diese Entwicklung fand insbesondere darin Ausdruck, dass am 18.01.2006 eine Verschärfung der Strafverfolgung mit dem ersten Entwurf eines „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ initiiert wurde.
94 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu der geplanten Gesetzesverschärfung durch das „Same Sex Marriage (Prohibition) Bills mitgeteilt:
95 
„Bereits 2006 legte der damalige Justizminister Bayo Oja der Nationalversammlung eine Gesetzesvorlage zur härteren Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen vor. Hochrangige Mitglieder der anglikanischen Kirche, wie zum Beispiel der Erzbischof Peter Akinola, unterstützten die Vorlage. Die Kritik von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Akteuren werden als Grund genannt, dass die Gesetzesvorlage nicht umgesetzt wurde.
96 
Im März 2009 wurde erneut eine Gesetzesverschärfung lanciert, die Same Sex Marriage (Prohibition) Bill. Am 29. November 2011 beschloss der Senat einstimmig, die Same Sex Marriage (Prohibition) Bill anzunehmen. Die Nationalversammlung führte im Dezember eine erste Prüfung durch, doch die abschließende Wahl (sic!) wurde verschoben. Bis jetzt ist das Gesetz noch nicht verabschiedet.
97 
Mit der Verschärfung sollen gleichgeschlechtliche Beziehungen verboten und mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden. Auch Personen, die sich für LGBT-Personen einsetzen, droht eine Haftstrafe.
98 
(1.1) Ehen oder eingetragene Partnerschaften von gleichgeschlechtlichen Paaren sind verboten. (4.1) Registrierung, Betrieb oder Aufenthalt in einem Schwulenklub ist verboten. (4.2) In der Öffentlichkeit gleichgeschlechtliche Beziehungen zu leben, ist verboten. (5.1) Personen, die eine gleichgeschlechtliche Ehe oder Partnerschaft eingehen, werden mit 14 Jahren Haft bestraft. (5.2) Personen, die einen Schwulenklub registrieren, betreiben oder besuchen, oder die eine homosexuelle Beziehung haben, sollen mit zehn Jahren Haft bestraft werden. (5.3) Personen, die an einer homosexuellen Hochzeit oder an der Feier für eine zivilrechtliche gleichgeschlechtliche Partnerschaft teilnehmen, welche die Registrierung, Führung oder auch den Unterhalt eines Schwulenklubs unterstützen, einer Organisation, Prozession oder an einem Treffen von Schwulen in Nigeria teilnehmen, werden mit zehn Jahren Haft bestraft. Indem der Begriff 'civil union' sehr offen definiert wird, können, darunter alle gleichgeschlechtlichen Beziehungen verstanden und strafrechtlich verfolgt werden.
99 
Amnesty International und weitere Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Gesetzesverschärfung. Auch das Europäische Parlament beanstandete in einer Resolution zur Lage in Nigeria die homophobe Gesetzgebung und forderte das nigerianische Parlament auf, von der Prüfung des Gesetzentwurfs zum Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe abzusehen, da die LGBT-Gemeinschaft durch ein aus diesem Entwurf resultierendes Gesetz einem ernsthaften Gewalt- und Inhaftierungsrisiko ausgesetzt wäre.“
100 
Zur geplanten Gesetzesverschärfung hat Amnesty International mit seinen Auskünften vom 09. und 15.11.2012 an den Senat den Entwurf des bereits vom nigerianischen Senat beschlossenen „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ sowie eine detaillierte juristische Analyse dazu vorgelegt und Folgendes mitgeteilt:
101 
„Der Senat hat dem „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ am 29. November 2011 zugestimmt. Der Gesetzentwurf liegt derzeit im Repräsentantenhaus, wo es bereits im Dezember 2011 einmal gelesen wurde. Insgesamt muss es drei Lesungen geben, bevor der Entwurf auch in dieser Kammer verabschiedet werden kann. Anschließend kommt es zur Unterschrift durch den Präsidenten, der das Gesetz damit in Kraft setzt. Derzeit ist nicht absehbar, wann dies geschehen wird.
102 
Dem Entwurf entsprechend würde einer Person in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung weiterhin eine Gefängnisstrafe von bis zu 14 Jahren drohen. Allerdings würden auch Vereine, Organisationen oder Kirchengemeinden unter Strafe gestellt, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen. Der Entwurf sieht Strafen von bis zu 10 Jahren Haft sowie eine hohe Geldstrafe für all jene vor, die gleichgeschlechtliche Beziehungen 'begünstigen, fördern oder davon Kenntnis haben'. Gleiches gilt für die 'öffentliche Zurschaustellung einer Liebesbeziehung unter Gleichgeschlechtlichen'.
103 
Besonders problematisch ist insbesondere die Gefährdung von Personen, die sich für die Rechte von LGBTI-Personen in Nigeria einsetzen oder mit ihnen bekannt sind. Das betrifft Menschenrechtsverteidiger, Menschen im Bereich HIV/AIDS-Vorsorge und -behandlung, aber auch Freunde, Angehörige und Kollegen. Dabei reicht der bloße Verdacht aus.
104 
Amnesty International ist ebenso besorgt, dass das Gesetz den Anstrengungen Nigerias zuwider läuft, die Übertragungsrate von HIV/AIDS zu reduzieren, indem es Menschen, die ohnehin schon unter Diskriminierung zu leiden haben, wegen ihrer sexuellen Identität und Orientierung in den Untergrund drängt.
105 
Der Gesetzentwurf widerspricht internationalen Verträgen und Konventionen, die die nigerianische Regierung unterzeichnet hat - darunter die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte sowie die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker.“
106 
In seiner Auskunft vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt gegenüber dem Senat ebenfalls einen Entwurf des „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ vorgelegt und dazu ausgeführt:
107 
„Es ist derzeit nicht absehbar, wann die vom nigerianischen Senat Ende 2011 beschlossene Gesetzesänderung in Kraft treten wird. Am 13.11.2012 billigte das Repräsentantenhaus in zweiter Lesung das Gesetz. Um in Kraft treten zu können, bedarf es noch der Zustimmung durch das sogenannte 'house 'und der Unterzeichnung des Gesetzes durch den Präsidenten“.
108 
An dieser Rechtslage in Nigeria hat sich bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat nichts geändert.
109 
(b) Da diese Erkenntnismittel die Lage Homosexueller in Nigeria im Kern übereinstimmend wiedergeben und auch die Beteiligten insoweit keine Einwendungen erhoben haben, legt der Senat die dargestellte Erkenntnislage seiner tatsächlichen und rechtlichen Prüfung zugrunde. Danach kann eine Gruppenverfolgung der Homosexuellen in Nigeria von staatlicher Seite mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der von staatlicher Seite drohenden Verfolgungsgefahr ein differenziertes Bild.
110 
(aa) Bei Homosexuellen, die in Nigeria offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar gegen strafrechtliche Bestimmungen - auch in einer weiten Auslegung durch die Strafverfolgungspraxis - verstoßen, ist jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme nach Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. c RL 2004/83/EG darstellt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Gesetzesverschärfung durch das „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ noch in Kraft tritt. Allerdings würde ein Inkrafttreten des Gesetzes zu einer Ausweitung des strafbaren Verhaltens und damit der Verfolgung führen, was bei der Prüfung zukünftiger Schutzbegehren zu berücksichtigen wäre.
111 
Da die Strafverfolgung an einen Verfolgungsgrund nach Art. 10 RL 2004/83/EG anknüpft (dazu: Marx, a.a.O., § 14 Rn. 105) und zudem nur für homosexuelle Handlungen gilt (vgl. dazu: Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU), ist sie diskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG. Die Strafvorschrift geht jedenfalls über dasjenige hinaus, was nach Art. 8 EMRK in den Mitgliedstaaten der EU strafrechtlich verfolgt werden dürfte (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, a.a.O., 543; implizit zur heutigen Rechtslage nach dem GG vgl. jüngst: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 - 1 BvR 3247/09 -; teilweise anders: BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 148 f.).
112 
Zudem widersprechen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
113 
Dies gilt landesweit. Auch in großen Städten bestehen diese Gefahren. Denn auch dort werden Personen wegen praktizierter Homosexualität verhaftet (vgl. dazu auch 2 c cc).
114 
(bb) Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auszugehen.
115 
Zwar dürften homophobe Äußerungen von Regierungsvertretern, soziale Ächtung und staatliche Diskriminierung das Recht auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU sowie Art. 8 EMRK tangieren. Allerdings sind solche Grundrechtsbeeinträchtigungen noch nicht so gravierend, dass sie zugleich einen Eingriff in die Rechte darstellen, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf. Hierzu zählt insbesondere Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Als unmenschliche Behandlung hat der EGMR eine Behandlung angesehen, wenn sie vorsätzlich war, ohne Unterbrechung länger andauerte und entweder eine Körperverletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursachte. Als erniedrigend kann eine Behandlung angesehen werden, wenn mit ihr die Absicht verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und die Behandlung ihn in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise in seiner Persönlichkeit getroffen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 3 Rn. 22).
116 
Allerdings kann es auch in Fällen einer nicht öffentlich bemerkbar gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuell Veranlagte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2994/83/EG erleiden wird. Insoweit ist die Zahl der Referenzfälle, die sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, im Verhältnis zur vermuteten Gesamtzahl an Homosexuellen in Nigeria zu gering. Den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass die Zahl derjenigen, die im vergangenen Jahr wegen des Verdachts einer Straftat im Sinne von Art. 214, 215 und 217 des Criminal Code verhaftet wurden, den unteren zweistelligen Bereich übersteigt. Auch die Zahl der berichteten körperlichen Übergriffe durch staatliche Stellen liegt jedenfalls nicht wesentlich höher.
117 
Das Auswärtige Amt geht in seinen Länderinformationen (Stand: Oktober 2012) davon aus, dass in Nigeria geschätzte 167 Millionen Menschen leben. Davon sind schätzungsweise rund die Hälfte im sexuell aktiven Alter zwischen 15 und 64 Jahren (vgl. http://www.lexas.de/afrika/nigeria/index). Hiervon ausgehend sowie unter Berücksichtigung von Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Stichwort „Homosexualität“, wonach 1-2 % der Frauen und 2-4 % der Männer ausschließlich auf homosexuelles Verhalten festgelegt sind, kommt man selbst bei der Annahme von nur 1 % an homosexuellen Frauen und Männern in Nigeria zu einer Zahl von 800.000 ausschließlich homosexuell veranlagten und potentiell Homosexualität praktizierenden Menschen. Verglichen mit dieser Zahl lassen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Referenzfälle, die sich tendenziell im unteren zweistelligen Bereich bewegen, nicht darauf schließen, dass sich die dort geschilderten Verfolgungshandlungen so wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden homosexuell Veranlagten nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dies gilt auch, wenn man die Schwere der drohenden Gefahr einer Inhaftierung, die häufig mit weiteren schweren Menschenrechtverletzungen einhergeht, würdigt.
118 
Eine staatliche Gruppenverfolgung kann daher derzeit nicht angenommen werden.
119 
(c) Die Anwendung des Konzepts der Gruppenverfolgung liegt im Übrigen hier auch deshalb nicht nahe, weil hinsichtlich der Frage, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegt, die durch das Merkmal der sexuellen Ausrichtung gebildet wird, immer das jeweils von dem betreffenden Schutzsuchenden zu erwartende Verhalten entsprechend der oben dargestellten Maßstäbe der Prüfung des Schutzbegehrens zugrunde zu legen ist. Dies entspricht auch dem Ansatz der RL 2004/83/EG, nach der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG grundsätzlich individuell zu prüfen sind. Die Richtlinie differenziert nicht danach, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.07.2012 - 10 B 19/12 u.a. -, Juris Rn. 4).
120 
Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller aus Nigeria geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose.
121 
cc) Dem Kläger droht in Nigeria jedoch wegen seiner Homosexualität Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG sowie Art. 6 Buchst. c RL 2004/83/EG, ohne dass ihm von dem nigerianischen Staat ausreichend Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG geboten wird.
122 
(1) Der Kläger war bereits verfolgt sowie von Verfolgung unmittelbar bedroht, was nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG einen ernsthaften Hinweis darauf darstellt, dass seine Furcht vor Verfolgung weiterhin begründet ist.
123 
(a) Der Senat ist überzeugt davon, dass der Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen in Nigeria (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG) durch nichtstaatliche Akteure eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG erlitten hat. Der Kläger wurde am 20.12.2008 auf der Straße von zwei Tätern zusammengeschlagen und mit einem Messer auf der Brust verletzt. Die Verletzung ist noch heute als Narbe sichtbar, sie ergibt sich aus einem bei den Akten des Verwaltungsgerichts befindlichen Foto. Der Kläger hat den Vorfall in der mündlichen Verhandlung lebensnah und glaubhaft geschildert. Seine Behauptungen entsprachen im Wesentlichen seinen Angaben beim Bundesamt und beim Verwaltungsgericht, nennenswerte Widersprüche und Ungereimtheiten waren nicht feststellbar.
124 
Die körperliche Misshandlung beruht auch kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einem Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 RL 2004/83/EG. Der Angriff erfolgte nach den überzeugenden Angaben des Klägers allein deshalb, weil er offensichtlich homosexuell ist und sich feminin bewegt und verhält sowie in einer femininen Weise spricht. Die Täter haben dies ausdrücklich als Grund für die Verletzung genannt. Sie hätten gesagt, er sei homosexuell und habe nicht verdient zu leben. Vor dem Bundesamt hat er weiter angegeben, der Täter habe gemeint, wenn er die Narbe sehe, werde er jedes Mal an diese Demütigung denken.
125 
(b) Entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts ist dieser Vorfall trotz des Umstands, dass ein Polizist dazugekommen ist, verfolgungsrelevant. Denn dem Kläger stand kein effektiver staatlicher Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zur Verfügung.
126 
(aa) Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn u.a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, können die zuständigen Behörden insbesondere die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem Land die Achtung der grundlegenden Menschenrechte gewährleistet ist, berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70 f.).
127 
Soweit ersichtlich ist vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht geklärt, ob damit das vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG von der Rechtsprechung vertretene Zurechnungsprinzip fortgilt oder ob nun auf die sog. „Schutzlehre“ abzustellen ist (so: VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, NVwZ 2005, 725; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 17, 26 ff.; Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 44; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 135 ). Fraglich ist damit, wie mit Schutzlücken umzugehen ist, obwohl der Staat an sich schutzwillig ist. Nach der RL 2004/83/EG muss der Einzelne jedenfalls wirksamen Zugang zum nationalen Schutzsystem haben, unabhängig davon, ob der Staat im Übrigen generell Schutz gewährleistet (vgl, EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 28). Dies impliziert wohl, dass das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen die Wirksamkeit des Schutzes nicht ausschließt, soweit diese effektiv geahndet werden (vgl. Wittkopp, ZAR 2010, 170, 173).
128 
(bb) Ausgehend hiervon hat der Kläger im Zusammenhang mit dem Messerangriff am 20.12.2008 keinen effektiven staatlichen Schutz erlangt.
129 
Zwar hat der Kläger vor dem Bundesamt angegeben, die Polizei helfe einem, wenn man angegriffen werde, und vor dem Verwaltungsgericht hat er ausgeführt, ihm sei ein Polizist zur Hilfe gekommen. Vor dem Senat hat der Kläger angegeben, ein Polizist sei zur Situation zufällig hinzugekommen. Zugleich hat er jedoch auch angegeben, dass zuvor bereits mehrere Menschen dazu gekommen seien, nachdem er um Hilfe gerufen hatte. Sowohl die Leute als auch die Polizei hätten gefragt, was das Problem sei beziehungsweise was er gemacht habe. Er habe gesagt, er habe nichts gemacht. Der Polizist habe dann versucht, ihn zu befreien. Anschließend sei er ins Krankenhaus gebracht worden. Ob die Täter strafrechtlich verfolgt worden seien, wisse er nicht.
130 
Damit hat der Kläger keinen ausreichenden Schutz erfahren. Denn das Eingreifen des Polizisten, der zufällig vorbei kam, hat die Verletzung des Klägers nicht verhindert. Sie war bereits eingetreten. Darüber hinaus war das zufällige Hinzukommen auch nur teilweise kausal dafür, dass der Kläger aus der Hand der Täter befreit werden konnte. Denn zuvor waren bereits andere Leute dazugekommen. Entscheidend nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG für die Gewährung effektiven Schutzes vor Verfolgung ist jedoch auch, dass vom Staat Maßnahmen der Strafverfolgung eingeleitet werden. Dies ist hier nicht geschehen. Der Kläger hat weder gesehen, dass der Polizist die beiden Täter hat festnehmen lassen, noch ist ihm etwas von einer Strafverfolgung bekannt. Wäre gegen die Täter ein Strafverfahren eingeleitet worden, hätte der Kläger als Opfer hiervon Kenntnis erlangen müssen. Gegen das Vorliegen eines effektiven Schutzes spricht nicht zuletzt die Erkenntnislage. Zur Begründung wird auf die unten stehenden Ausführungen verwiesen (siehe <β>).
131 
(c) Der Kläger war auch nach diesem Vorfall weiterhin unmittelbar von Verfolgung bedroht im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
132 
(aa) Nicht nur derjenige ist verfolgt ausgereist, der noch während der Dauer eines Pogroms oder individueller Verfolgung seinen Heimatstaat verlässt. Dies kann vielmehr auch bei einer Ausreise erst nach dem Ende einer Verfolgung der Fall sein. Die Ausreise muss dann aber unter Umständen geschehen, die bei objektiver Betrachtungsweise noch das äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck der erlittenen Verfolgung stattfindenden Flucht ergeben. Nur wenn ein durch die erlittene Verfolgung hervorgerufenes Trauma in einem solchen äußeren Zusammenhang eine Entsprechung findet, kann es als beachtlich angesehen werden. In dieser Hinsicht kommt der zwischen dem Abschluss der politischen Verfolgung und der Ausreise verstrichenen Zeit eine entscheidende Bedeutung zu. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatland unbehelligt verbleibt, um so mehr schwindet der objektive äußere Zusammenhang mit seiner Ausreise dahin. Daher kann allein schon bloßer Zeitablauf dazu führen, dass eine Ausreise den Charakter einer unter dem Druck einer früheren politischen Verfolgung stehenden Flucht verliert. Daraus folgt, dass ein Ausländer, dessen politische Verfolgung in der Vergangenheit ihr Ende gefunden hat, grundsätzlich nur dann als verfolgt ausgereist angesehen werden kann, wenn er seinen Heimatstaat in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung der Verfolgung verlässt. Das bedeutet nicht, dass er zwangsläufig stets sofort oder unmittelbar danach ausreisen müsste. Es ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass die Ausreise zeitnah zur Beendigung der Verfolgung stattfindet. Welche Zeitspanne in dieser Hinsicht maßgebend ist, hängt von den Umständen der jeweiligen Verhältnisse ab. Jedenfalls kann ein Ausländer, der nach einer beendeten politischen Verfolgung über mehrere Jahre hinweg in seinem Heimatstaat verblieben ist, ohne dort erneut von politischer Verfolgung bedroht zu sein, nicht als verfolgt ausgereist und damit als vorverfolgt angesehen werden, wenn er später seinen Heimatstaat verlässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.1990 - 9 C 60/89 -, BVerwGE 87, 52; Marx, a.a.O., § 29 Rn. 59 ff.). Eine Vorverfolgung kann nicht schon wegen einer im Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009, a.a.O.).
133 
Referenzfälle politischer Verfolgung sowie ein Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung sind gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung. Sie können begründete Verfolgungsfurcht entstehen lassen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Wann eine Verfolgungsfurcht als begründet und flüchtlingsrechtlich beachtlich anzusehen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen jedoch nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung die begründete Furcht ableiten lässt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1991 - 9 C 154/90 -, BVerwGE 88, 367).
134 
(bb) Bei Anwendung dieser Vorgaben war der Kläger bis zu seiner Ausreise von Verfolgung unmittelbar bedroht. Dies ergibt sich jedoch allein aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Person und einer darauf aufbauenden individuellen Gefahrenprognose. Das Konzept der Gruppenverfolgung kann auch mit Blick auf die von nichtstaatlichen Akteuren in Nigeria ausgehenden Verfolgungsgefahren für Homosexuelle keine Anwendung finden, weil es auch insoweit an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt und es für die Annahme einer Verfolgung auf das jeweils individuelle Verhalten ankommt.
135 
(α) Der Kläger, der offensichtlich feminine Züge hat und jedenfalls ersichtlich homosexuell ist, hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft mitgeteilt, dass er auch nach dem Vorfall im Dezember 2008 bis zu seiner Ausreise im November 2010 Angst hatte, auf die Straße zu gehen, weil er ständig beleidigt, erniedrigt und teilweise auch zusammengeschlagen wurde. Vor dem Bundesamt hat der Kläger zu seinem Ausreiseentschluss angegeben, er habe Nigeria verlassen, weil ihn dort alle hassten. Er sei gekommen, weil er nicht zu jung sterben wolle. Auf der Grundlage dieser glaubhaften Angaben war er weiterhin davon bedroht, wegen seiner Homosexualität (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG zu erleiden.
136 
Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird durch die Erkenntnislage bestätigt. Nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Auskünften verschiedener Erkenntnisquellen herrscht in Nigeria ein allgemeines Klima der gewaltbereiten Verachtung und des Hasses auf Homosexuelle. Daraus ergeben sich einzelne Referenzfälle gewalttätiger Übergriffe auf Homosexuelle. Daher kann - entsprechend der oben für die staatliche Verfolgung getroffenen Differenzierung - für solche Personen, die offen ihre homosexuelle Veranlagung leben und damit öffentlich als Homosexuelle bemerkbar sind, eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit gegeben sein.
137 
Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) dazu aus:
138 
„Homosexuelle, Transvestiten und transsexuelle Personen können ihre sexuelle Orientierung nicht öffentlich ausleben und sind nach wie vor Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt.“ (S. 18).
139 
In seiner Auskunft an den Senat vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt mitgeteilt:
140 
„Es besteht keine immanente Gefahr bei einer bloßen homosexuellen Disposition, die nicht praktiziert wird.
141 
Für Homosexuelle, die eine diskrete Lebensweise pflegen, besteht keine immanente Gefahr, solange deren Lebensweise nicht öffentlich bekannt wird.“
142 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu den von Dritten ausgehenden Gefahren Folgendes mitteilt:
143 
„Gewalt gegen LGBT-Personen, auch von Seiten der eigenen Familie, ist weit verbreitet und nur die wenigsten Homosexuellen outen sich. Die ab 2006 lancierte Debatte zur Verschärfung der Strafe für Homosexuelle hat die Gewalt gegen LGBT-Personen zusätzlich geschürt. Da selbst die Regierung homophobe Gesetze unterstützt, bedeutet das für viele eine Freikarte für Gewalt gegen LGBT-Personen, da sie davon ausgehen, nicht strafrechtlich verfolgt zu werden. Gemäß Edgebosten, einer amerikanischen Schwulenwebsite, ist die Gewalt in Nigeria gegen Homosexuelle sogar unter den afrikanischen Ländern, die für ihre Homophobie bekannt sind, besonders ausgeprägt.
144 
Eine Studie aus dem Jahr 2007 zeigt, dass 97 Prozent der NigerianerInnen Homosexualität ablehnen. Viele sind überzeugt, dass Homosexuelle teuflisch und der afrikanischen Kultur fremd sind, es handle sich um einen Import aus dem Westen. Sie glauben, Homosexualität sei eine Krankheit und Homosexuelle - sowohl Frauen wie Männer - werden deshalb 'heilenden Vergewaltigungen' unterworfen. Auch mit exorzistischen Riten wird versucht, Homosexualität auszutreiben. Im Rahmen der Frauenfußball-WM 2011 sorgte die nigerianische Trainerin Eucharia Uche mit ihren Äußerungen zu Homosexualität für Aufregung: Homosexualität sei eine 'schmutzige Sache' und 'spirituell und moralisch falsch'. Uche berichtete, sie habe auf die Gerüchte reagiert, wonach lesbische Spielerinnen im Team sein sollen und mit Gebeten, Bibelstudium und mit der Hilfe eines Priesters die 'Ordnung' wieder hergestellt. Auch 2012 wurden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von Medien als homosexuell bezeichnet. Diese lancierten daraufhin regelrechte Kampagnen mit Bekräftigungen von Freunden und Bekannten, um ihre Unschuld, das heißt ihre Heterosexualität, zu bezeugen.
145 
Der Hass auf Homosexuelle zieht sich durch alle Schichten und Kreise. Schwule seine Pädophile, wettere der anglikanische Erzbischof Nicolas Okoh. Die Hetze gegen Homosexuelle ist für Politiker eines der wenigen Themen, mit dem sie sowohl im christlichen Süden wie auch im muslimischen Norden punkten können. Die Medien unterstützen diese Haltung und sind auch mitverantwortlich für die Homophobie im Land.
146 
Aktivisten. Nicht nur Personen, die verdächtigt werden, homosexuell zu sein, sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt, sondern auch Aktivisten, die sich für LGBT-Rechte einsetzen. Rowland Jide Macaulay, der Gründer einer LGBT-freundlichen Kirche in Lagos, der House of Rainbow Metropolitan Community Church, musste zwei Jahre nachdem er die Kirche 2006 in Lagos aufgebaut hatte, das Land wegen Todesdrohungen verlassen. Auch Mac-Iyalla, ein weiterer nigerianischer Schwulenaktivist, der 2005 in Nigeria den Zweig von Changing Attitude ins Leben gerufen hatte, musste nach Todesdrohungen das Land verlassen. Er hat in der Zwischenzeit in Großbritannien Asyl erhalten. …
147 
Diskriminierung. LGBT-Personen werden nicht nur vom Bildungssystem ausgeschlossen, sondern auch in anderen Lebensbereichen diskriminiert. Die nigerianische Gesellschaft geht davon aus, dass HIV/Aids die Bestrafung für unmoralisches Verhalten und homosexuelle Handlungen sei. Homosexuelle werden deshalb oft mit steigenden HIV/Aids-Raten in Verbindung gebracht. HIV/Aids-Kranke Menschen werden entsprechend diskriminiert, verlieren ihre Arbeit und ihnen wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung verweigert. Die Diskriminierung und Ausgrenzung macht LGBT-Personen bezüglich HIV/Aids deshalb besonders verletzlich.
148 
Im Juni 2011 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat zum ersten Mal eine Resolution, die Kriminalisierung und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität verurteilt. Nigeria stimmte dagegen, wie auch 19 weitere vor allem afrikanische und muslimische Länder.
149 
Erpressungen. Die International Gay and Lesbian Human Rights Comission berichtete im Februar 2011, dass Homosexuelle in Nigeria Opfer von Erpressungen werden. Die Erpressungen finden meistens im Zusammenhang mit der Onlinekontaktsuche in größeren Städten wie Lagos, Port Hartcourt ober Abuja statt. Betroffene geben auf der Website Tipps und publizieren Warnungen mit den Profilen der Erpresser.“
150 
Das vom österreichischen Roten Kreuz betriebene Auskunftszentrum „ACCORD“ berichtete am 21.06.2011 über „Nigeria - Frauen, sexuelle Orientierung und Gesundheitsversorgung“ unter anderem (vgl. S. 24 f.):
151 
„Lesben und bisexuelle Frauen seien von Formen der Erpressung betroffen, die nicht auf die Bezahlung von Geld beschränkt seien. Einige Frauen würden zu sexuellen Gefälligkeiten und gefährlichen Botengängen gezwungen. Erpressung von Homosexuellen sei laut Angaben der NGO The Initiative for Equal Rights (TIERS) zu einem Trend geworden Erpressung werde gewöhnlich straffrei begangen und durch das Gesetz verstärkt….Politische, soziokulturelle und religiöse Überzeugungen würden gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr verbieten und jene, die diesen ausüben, würden als 'böse' angesehen und diskriminiert. Dies könne in einigen Fällen zu körperlichen Angriffen und Schikanierung führen. … 2009 seien laut Amnesty International weiterhin Übergriffe auf Menschen verübt worden, die gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen verdächtigt worden seien. Homophobie und Transphobie führe laut AI regelmäßig zu Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle. Die Behörden würden keinen ausreichenden Schutz gewährleisten können oder wollen. … Lesben würden oft zum Ziel sogenannter 'heilender Vergewaltigung' werden. Die OMCT beschreibt den Fall zweier Männer, die in der Öffentlichkeit schwer beleidigt und mit Steinigung bedroht worden wären, während sie einem Scharia-Gericht vorgeführt worden seien. Die Bundespolizei habe die beiden Männer den Scharia-Behörden übergeben, da sie nach dem Strafgesetz nicht angeklagt werden konnten.
152 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat dazu Folgendes mitgeteilt:
153 
„Seit der Einbringung des Same Sex Marriage (Prohibition) Bill ins Parlament sowie in die öffentliche Diskussion im Jahr 2006 hat sich die Verfolgungssituation für Homosexuelle weiter verschärft. Jegliche Verdächtigungen auf Homosexualität werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Anzeige gebracht und von den Medien veröffentlicht. In der Folge kommt es zu gewaltsamen Übergriffen und Verfolgung durch die Bevölkerung, aber auch durch staatliche Sicherheitskräfte.
154 
Daher gibt es keinen Schutz von LGBTI-Personen gegenüber Dritten.
155 
Nach der medialen Veröffentlichung von Fotos, Namen und Adressen von Mitgliedern der House of Rainbow Metropolitan Community Church in Lagos sah sich ihr Pastor gezwungen, aus Nigeria zu fliehen. Kirchenmitglieder waren von Zeitungen als Unterstützer von Homosexuellen bezeichnet worden. Die Polizei schikanierte die Kirchenmitglieder, warf Steine auf sie und schlug sie.
156 
Im März 2011 vergewaltigten 10 Männer drei Mädchen in Benin (Edo State), weil sie annahmen, dass sie lesbisch seien. Die Vergewaltigung wurde aufgezeichnet und im Staat zirkuliert.“
157 
(β) Darüber hinaus war der nigerianische Staat weiterhin nicht in der Lage oder willens, dem Kläger Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 und 2 RL 2004/83/EG zu gewähren.
158 
Das Auswärtige Amt führt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: April 2012) aus:
159 
„Staatspräsident Goodluck Jonathan…bekennt sich wie sein Vorgänger grundsätzlich öffentlich zur Rechtsstaatlichkeit und scheint um eine nachhaltige, reformorientierte Wirtschaftspolitik bemüht. Bisher gibt es jedoch keine greifbare Verbesserung der Lage der Bevölkerung.
160 
Die Menschen- und Bürgerrechte sind zwar im Grundrechtskatalog der Verfassung gewährleistet; die Verfassungswirklichkeit bleibt hinter diesen Ansprüchen aber weit zurück. Große menschenrechtliche Defizite bestehen nach wie vor bei den verschiedenen Sicherheitskräften, deren Vorgehen noch immer durch zum Teil exzessive Gewaltanwendung, willkürliche Verhaftungen, Folter und extra-legale Tötungen bzw. Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen gekennzeichnet ist. Die Zahl der extralegalen Tötungen durch die Sicherheitskräfte wird von der staatlichen Menschenrechtskommission auf jährlich 5.000 geschätzt.“ (S. 5).
161 
„Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor. In der Realität ist die Justiz allerdings, trotz persönlich hoher Unabhängigkeit einzelner Richterinnen und Richter und wiederholter Urteile gegen Entscheidungen der Administration, der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie von einzelnen politischen Führungspersonen ausgesetzt. Die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung behindert außerdem die Funktionsfähigkeit des Justizapparats. Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu Rechtsbeistand oder Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht. Den Untersuchungshäftlingen - d.h. ca. 65 % der Gefängnisinsassen - wird oft nicht einmal mitgeteilt, welche Verstöße ihnen zur Last gelegt werden.“ (S. 8).
162 
„Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der (Bundes-)Polizei, die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht. Die Lage der ca. 360.000 Mann starken Polizeitruppe ist durch schlechte Besoldung und Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Korruption ist bei der Polizei weit verbreitet; Gelderpressungen an Straßensperren sind an der Tagesordnung. Ca. 100.000 Polizisten sollen zudem als Sicherheitskräfte bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen tätig sein. Die Polizeiführung versucht in begrenztem Maße gegenzusteuern und veranstaltet zusammen mit Nichtregierungsorganisationen Menschenrechtskurse und Fortbildungsmaßnahmen. Die harsche Zurückweisung eines 2009 veröffentlichten Berichts Amnesty Internationals, der der Polizei ebenfalls Folter, extralegale Tötungen und Verschwindenlassen vorwarf, verdeutlichte jedoch einmal mehr, dass menschenrechtliche Fragen für die Polizeiführung keine besondere Priorität haben.“ (S. 9).
163 
„Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o.ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte auf Grund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich. Auch der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt.“ (S. 14).
164 
In seiner Auskunft an den Senat vom 15.11.2012 hat das Auswärtige Amt mitgeteilt:
165 
„Da in Nigeria Homosexualität illegal ist, bietet die nigerianische Regierung bzw. deren Behörden keinen besonderen Schutz für Homosexuelle an.“
166 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 zu staatlichem Schutz vor Übergriffen Dritter Folgendes mitgeteilt:
167 
„Gewalttäter gegen Homosexuelle werden kaum strafrechtlich verfolgt. Edgeboston berichtet über einen jungen Schwulen, der in Lagos von einer Gruppe angegriffen wurde, welche die Stadt von Homosexuellen säubern wollten. Niemand wurde strafrechtlich verfolgt, selbst dann nicht, als er an seinen Verletzungen starb. Die Behörden unternahmen auch nichts gegen die Schläger, welche 2008 Mitglieder der House of Rainbow Metropolitan Community Church angegriffen hatten, einer LGBT-freundlichen Kirche in Lagos. Die Angriffe fanden nach einer Hetzkampagne verschiedener Zeitungen statt, welche 2008 Namen, Fotos und Adressen von Mitgliedern der Kirche publiziert hatten. Im März 2011 kursierte ein Video, welches die Vergewaltigung von drei jungen Frauen durch zehn Männer zeigt. Die Frauen waren verdächtigt, lesbisch zu sein und sollten 'geheilt' werden. In der Folge versteckten sich die Mädchen aus Angst vor weiteren Übergriffen. Die Männer wurden nicht angezeigt.“
168 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat mitgeteilt:
169 
„Da Diskriminierung von Homosexuellen vom Staat rechtlich institutionalisiert ist, werden diskriminierende rechtliche Vorgaben instrumentalisiert und als eine Aufforderung zur Gewaltanwendung gegen Homosexuelle in der gesamten Gesellschaft verstanden. Da dieser Bevölkerungsgruppe ein Teil ihrer Rechte abgesprochen wurde, hat sie kaum eine Möglichkeit, als Opfer von Menschenrechtsverletzungen Zugang zu Rechtshilfe und Entschädigung zu bekommen, während die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
170 
Die Polizei gilt als korrupt, nicht vertrauenswürdig und hat sich in der Vergangenheit selbst an Übergriffen auf Personen beteiligt, die verdächtigt wurden, homosexuell zu sein. Der einzig mögliche Rechtsschutz besteht durch engagierte Rechtsanwälte und Organisationen, die Rechtshilfe für Betroffene anbieten. Diese würden durch den neuen Gesetzentwurf allerdings auch kriminalisiert werden.“
171 
Vor diesem Hintergrund ist der Senat davon überzeugt, dass der Schutz der Grundrechte und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Nigeria nur gering ausgeprägt sind, so dass effektiver Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen - insbesondere eine effektive Strafverfolgung der Täter - nicht allgemein gewährleistet ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der nigerianische Staat homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Der Wille zur Strafverfolgung ist daher nicht hinreichend gegeben, zumal nach den vorliegenden Erkenntnismitteln gewaltsame Übergriffe nicht nur vereinzelt auch von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden.
172 
(2) Es bestehen weiterhin gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger nicht erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird.
173 
Vielmehr ist ausgehend von den eingeholten Erkenntnismitteln anzunehmen, dass der Kläger damit rechnen muss, erneut Opfer von Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zu werden, gegen die durch den Staat Nigeria kein effektiver Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG gewährleistet wird.
174 
(3) Der Kläger kann auch nicht auf eine nun vorliegende inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG) verwiesen werden.
175 
Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Verwaltungsgerichts München vom 09.01.2006 (M 12 K 05.50666, Juris), des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 09.05.2003 (6 A 30358/97.A, Juris) sowie des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 07.10.2011 (RN 5 K 11.30261) angenommen, dass es in größeren Städten - insbesondere innerhalb der westlich ausgebildeten Elite und nigerianischen Oberschicht - Zentren einigermaßen tolerierter Homosexualität gebe, die einen Umgang mit Homosexualität möglich machten. Diese Entscheidungen nehmen insoweit vor allem Bezug auf ein Gutachten des Instituts für Afrikakunde vom 19.01.2006, eine Auskunft des Instituts für Afrikakunde an das VG Oldenburg vom 11.11.2002 beziehungsweise eine Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 17.05.2004.
176 
Die genannte tatsächliche Annahme einer inländischen Fluchtalternative wird jedoch durch die nun vorliegenden aktuellen Auskünfte widerlegt.
177 
Danach ist die Verfolgungsgefahr für Homosexuelle in den nördlichen Bundesstaaten, in denen die Scharia gilt, zwar noch größer als in den übrigen Bundesstaaten. Doch in diesem übrigen Teil bestehen keine signifikanten Unterschiede zwischen den größeren Städten und dem übrigen Land. Auch in der Stadt kann Homosexualität nur diskret gefahrlos gelebt werden. Ist ein Homosexueller jedoch öffentlich als solcher erkennbar, fehlt es auch in größeren an internem Schutz im Sinne von Art. 8 RL 2004/83/EG.
178 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 24.10.2012 dazu Folgendes mitgeteilt:
179 
„Aufgrund der gesellschaftlich verankerten Tabuisierung von Homosexualität halten die meisten ihre Homosexualität geheim. Es existieren kaum Gruppierungen oder Personen, die sich zu ihrer Homosexualität offen bekennen. Das österreichische Außenministerium empfiehlt Homosexuellen, sich in der Öffentlichkeit nicht zu exponieren.
180 
Es gibt keine explizite Schwulenszene in Nigeria. Schwul sein bedeutet, unsichtbar zu sein. Viele Kontakte werden über Internet auf Webseiten sozialer Netzwerke geknüpft. In den größeren Städten bieten einige wenige Clubs gewisse Möglichkeiten für Treffen. Die TAZ schrieb über einen 30-jährigen Aktivisten in Lagos, der sich in der Schwulenszene engagiert und Partys organisiert. Doch auch er versucht mit allen Mitteln zu verhindern, als Schwuler geoutet zu werden. Er würde sonst seinen Job verlieren und von seiner Familie verstoßen werden.
181 
Im Mai 2007 verabschiedete der Bundesstaat Lagos eine eigene Gesetzgebung gegen Homosexuelle. Sie ist ähnlich drastisch wie der Gesetzgebungsvorschlag der Same Sex Marriage (Prohibition) Bill. Eine Sprecherin der NGO Global Rights bezeichnete diese Gesetzgebung als alarmierend und meinte, dass in Lagos, der kosmopolitischsten Stadt des Landes, der Trend zu immer konservativeren und intoleranteren Haltungen festzustellen sei. Dies zeige sich auch bei Verhaftungen von Frauen, die aufgrund unangemessener Kleidung, wie beispielsweise Hosen, inhaftiert werden.
182 
Die Mitglieder der House of Rainbow Metropolitan Community Church in Lagos erhielten auch 2011 weiterhin anonyme Drohnachrichten und Drohanrufe. Eine im Dezember 2011 geplante Konferenz in Lagos und Abuja zu 'Sexuelle Rechte und Gesundheit' musste aus Angst vor Übergriffen abgesagt werden.“
183 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 09.11.2012 an den Senat zu innerstaatlichen Fluchtalternativen ausgeführt:
184 
„Es gibt in Nigeria keine Regionen oder geschlossenen gesellschaftlichen Kreise, in denen Homosexualität diskret oder offen gelebt werden kann. Die Gefahr für Homosexuelle ist im Norden des Landes durch die schärfere Gesetzgebung der Scharia und deren Durchsetzung durch Hisbah-Milizen stärker ausgeprägt als im Süden. Ferner ist die Situation für Homosexuelle auf dem Land schwieriger als in den Millionenstädten, wo es zumindest noch eine temporäre Möglichkeit geben kann, unentdeckt zu bleiben.
185 
Es ist davon auszugehen, dass den Eliten mehr Mittel zur Verfügung stehen, ihre Rechte durch guten Rechtsbeistand zu sichern, als den ärmeren Bevölkerungsgruppen. Sie sind daher weniger der Justizwillkür ausgesetzt.
186 
In seiner Auskunft vom15.11.2012 teilte das Auswärtige Amt dem Senat mit:
187 
„Wie schon erläutert, ist die Situation für Homosexuelle bzw. deren Lebensweise in den verschiedenen Landesteilen durchaus unterschiedlich.
188 
Homosexuelle in urbanen Orten, wie beispielsweise Lagos, können ihre sexuelle Orientierung bzw. Lebensweise einigermaßen gefahrlos leben, wenn sie dabei diskret bleiben. Darüber hinaus bleibt allerdings festzuhalten, dass Homosexualität im allgemeinen Bewusstsein der Nigerianer als abnormal wahrgenommen wird und Homosexuelle, die sich dazu öffentlich bekennen und ihre Lebensweise öffentlich propagieren, deshalb u.U. auch Ziele von gewaltsamen Attacken werden können.“
189 
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage liegen damit hinsichtlich des Klägers keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG vor, dass es inländische Fluchtalternativen im Sinne von Art. 8 RL 2004/83/EG gibt. Dem im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG vorverfolgten Asylantragsteller kommt die Beweiserleichterung nach dieser Bestimmung auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.05.2009 - 10 C 21/08 -, NVwZ 1308, 1310).
190 
Darüber hinaus gehört der Kläger auch nicht zur westlich ausgebildeten Elite oder gar zur nigerianischen Oberschicht. Zwar war sein damaliger Freund E... wohl Geschäftsmann. Der Kläger selbst, der bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung insgesamt einen recht naiven Eindruck gemacht hat, hat dagegen lediglich die Grundschule und die Sekundarschule besucht, jedoch keinen Beruf erlernt und hat auch nicht gearbeitet. Er hat sich vielmehr mit der Hilfe von Bekannten oder zum Teil seines Bruders durchgeschlagen.
II.
191 
Die in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts vom 12.01.2012 enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hätte die Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden dürfen. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
III.
192 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
IV.
193 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1873/12

Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1873/12

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 80


(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1873/12 zitiert 12 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 80


(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 132


(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulas

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124a


(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nic

Gesetz


Aufenthaltsgesetz - AufenthG

Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG | § 30 Gegenstandswert in gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz


(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselb

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 16


(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Ke

Strafgesetzbuch - StGB | § 183a Erregung öffentlichen Ärgernisses


Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 183 mit Strafe bedroht ist.

Referenzen - Urteile

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1873/12 zitiert oder wird zitiert von 32 Urteil(en).

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1873/12 zitiert 8 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 01. März 2012 - 10 C 7/11

bei uns veröffentlicht am 01.03.2012

Tatbestand 1 Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung. 2

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 15. Feb. 2012 - A 3 S 1876/09

bei uns veröffentlicht am 15.02.2012

Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25. August 2004 - A 18 K 11963/04 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtliche

Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 23. Nov. 2011 - 10 B 32/11

bei uns veröffentlicht am 23.11.2011

Gründe 1 Die auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat Erfolg. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache nach

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 03. Nov. 2011 - A 8 S 1116/11

bei uns veröffentlicht am 03.11.2011

Tenor Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 01. Juni 2011 - 10 C 25/10

bei uns veröffentlicht am 01.06.2011

Tatbestand 1 Der Kläger, ein 1960 geborener algerischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 27. Sept. 2010 - A 10 S 689/08

bei uns veröffentlicht am 27.09.2010

Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 28. September 2007 - A 6 K 43/07 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelasse

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 27. Apr. 2010 - 10 C 5/09

bei uns veröffentlicht am 27.04.2010

Tatbestand 1 Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

Verwaltungsgericht Karlsruhe Urteil, 10. März 2005 - A 2 K 12193/03

bei uns veröffentlicht am 10.03.2005

Tenor 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens; der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst. Tatbestand   1  Der Kl
24 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1873/12.

Verwaltungsgericht Regensburg Urteil, 12. Okt. 2018 - RO 13 K 17.32861

bei uns veröffentlicht am 12.10.2018

Tenor I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.05.2017 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Bek

Verwaltungsgericht München Urteil, 06. Sept. 2016 - M 12 K 16.31750

bei uns veröffentlicht am 06.09.2016

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleis

Verwaltungsgericht München Urteil, 25. Okt. 2016 - M 12 K 16.32482

bei uns veröffentlicht am 25.10.2016

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung

Verwaltungsgericht München Urteil, 25. Okt. 2016 - M 12 K 16.32509

bei uns veröffentlicht am 25.10.2016

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung

Referenzen

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung.

2

Die 1967 geborene Klägerin ist togoische Staatsangehörige. Sie reiste 1998 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Mit Bescheid vom 28. Mai 1999 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Asylantrag ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht das Bundesamt, hinsichtlich der Klägerin das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) festzustellen. Das Bundesamt kam dieser Verpflichtung im Juni 2004 nach.

3

Anfang 2008 leitete das Bundesamt wegen der in Togo zwischenzeitlich eingetretenen politischen Veränderungen ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung widerrief es mit Bescheid vom 28. Februar 2008 die Flüchtlingsanerkennung der Klägerin. Von einer Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wurde abgesehen, da der Widerruf aus Gründen der Statusbereinigung erfolge. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Schwerin mit Urteil vom 26. August 2008 abgewiesen.

4

Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit Beschluss vom 9. März 2011 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und den Bescheid des Bundesamts aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG lägen nicht vor. Die maßgeblichen Verhältnisse in Togo hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei.

5

Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt.

6

Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung. Das Erfordernis der hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung entspreche im Widerrufsverfahren bei Vorverfolgten dem Beweislastmaßstab aus Art. 14 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Selbst wenn das Berufungsgericht von einem fehlerhaften Maßstab ausgegangen sein sollte, beruhe die Entscheidung zumindest nicht auf diesem Fehler, da es keinen Sachverhalt festgestellt habe, der einen Widerruf rechtfertigen würde. Hilfsweise beantragt sie die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Berufungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung mit einer Begründung verneint, die mit Blick auf den seiner Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist (1.). Die Berufungsentscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO) (2.). Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bedarf es nicht (3.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache nicht selbst abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (4.).

8

1. Bei dem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, der im vorliegenden Fall formell nicht zu beanstanden ist (s.a. Urteil vom 29. September 2011 - BVerwG 10 C 24.10 - juris Rn. 11 ff.), ist für die Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen, den das Berufungsgericht verfehlt hat.

9

1.1 Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren (vgl. Urteile vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 und vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408 ; zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen).

10

Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

11

Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Danach muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit vgl. auch BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20 und 24 m.w.N.).

12

Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 21 ff.), kann wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft seit Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Der Richtlinie 2004/83/EG ist ein solches materiellrechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 84 ff., 98 f.).

13

Die Frage, ob die Mitgliedstaaten von diesem Prognosemaßstab in Widerrufsverfahren nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können, bedarf vorliegend keiner Entscheidung und braucht folglich nicht, wie von der Klägerin beantragt, dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt zu werden. Denn es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an der bisherigen Anwendung unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach nationalem Recht festhalten wollte. Vielmehr belegt gerade der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich bei der Flüchtlingsanerkennung - abweichend von der bisherigen nationalen Rechtslage - den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie 2004/83/EG zu eigen gemacht hat. Damit hat er auch ein - nach Umsetzung der Richtlinie ohnehin nicht zu vermeidendes - Auseinanderfallen der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Asyl nach Art. 16a GG einerseits und für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft andererseits bewusst in Kauf genommen.

14

1.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehlerhaften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt (BA S. 4). Dies bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im Jahr 2008 in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs zu einem anderen Ergebnis gelangt sei (BA S. 6).

15

1.3. Die Berufungsentscheidung beruht - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG. Mit den vom Bundesamt zum Anlass für eine Überprüfung der Flüchtlingsanerkennung genommenen politischen Änderungen in Togo (hier: insbesondere der Tod des früheren Präsidenten Eyadema im Februar 2005 und der von seinem Sohn im April 2006 eingeleitete strukturierte Dialog mit der Opposition) ist nach der Anerkennung der Klägerin eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland eingetreten. Das Berufungsgericht hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend erhebliche und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG handelt, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht (Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die bisherigen Machtstrukturen des früheren Regimes Eyadema sich nicht wesentlich verändert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der ein rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage zur Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

16

2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnissen in Togo erlauben dem Senat keine eigene Verfolgungsprognose auf der Grundlage des zutreffenden Prognosemaßstabes. Auch im Falle der gerichtlichen Anfechtung eines Widerrufs ist es grundsätzlich Aufgabe des Berufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung zugrunde lagen, eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Gefahrenprognose zu erstellen. Anders als in dem vom Senat mit Urteil vom 7. Juli 2011 (BVerwG 10 C 26.10 - juris Rn. 18; zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschiedenen Fall tragen die bisherigen tatrichterlichen Feststellungen vorliegend auch nicht ausnahmsweise den Schluss, dass bei Zugrundelegung der unionsrechtlichen Vorgaben die Veränderungen in Togo nicht so erheblich sind, dass sie den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin rechtfertigen. Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, wie sich die in Togo nach dem Tod Eyademas eingetretenen Änderungen der politischen Verhältnisse konkret in Ansehung der in der Person der Klägerin liegenden Umstände und Verhältnisse auswirken, sondern sich mit einer allgemeinen Bewertung der asylrelevanten Lage in Togo begnügt. Seine zusammenfassende Bewertung, die Menschenrechtslage werde weiterhin als ernst bewertet, die Reformen des Justizapparats schienen noch keine greifbaren Ergebnisse gebracht zu haben und die bisherigen Machtstrukturen hätten sich nicht wesentlich geändert, beschränkt sich im Kern auf eine Ergebnismitteilung, ohne die zugrunde liegenden Tatsachen für eine Neubewertung anhand des zutreffenden Prognosemaßstabs hinreichend differenziert aufzubereiten. Sie stützt sich zudem im Wesentlichen auf Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte, die fast alle aus der Zeit vor der Klärung der unionsrechtlichen Anforderungen an das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft durch den Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 2. März 2010 (a.a.O.) stammen und ihrer Gefahrenprognose ebenfalls den falschen Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde legen. Damit fehlt es an hinreichenden tatrichterlichen Feststellungen für eine - auf den Fall der Klägerin bezogene - individuelle Verfolgungsprognose. Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen daher nicht den Schluss, dass der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung (März 2011) bei einer Rückkehr weiterhin wegen ihrer früheren politischen Aktivitäten gegen das Regime Eyadema oder aus anderen, an ihre politische Überzeugung anknüpfenden Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Berufungsentscheidung kann auch nicht entnommen werden, dass es bei Anwendung des richtigen Maßstabs zu einem "non liquet" und damit der Notwendigkeit einer Beweislastentscheidung gekommen wäre.

17

3. Der - von der Klägerin hilfsweise beantragten - Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bedarf es schon deshalb nicht, weil der Senat mangels hinreichender tatrichterlicher Feststellungen nicht abschließend entscheiden kann. Dessen ungeachtet wirft die Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG im vorliegenden Verfahren auch keine Zweifelsfragen auf. Dem Wortlaut der Richtlinie ist zu entnehmen, dass ihr für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft materiell ein einheitlicher Prognosemaßstab zugrunde liegt und sie statt unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe - mit Art. 14 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 4 - einen beweisrechtlichen Ansatz verfolgt. Hiervon geht auch der EuGH in seinem Urteil vom 2. März 2010 (a.a.O.) aus. Zugleich hat er in dieser Entscheidung geklärt, unter welchen Voraussetzungen die Flüchtlingsanerkennung nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie erlischt. Dabei differenziert er zwischen den Umständen, aufgrund derer der Betroffene als Flüchtling anerkannt wurde, und anderen Umständen, aufgrund derer er entweder aus dem gleichen oder aus einem anderen (Verfolgungs-)Grund begründete Furcht vor Verfolgung hat. Ob die Umstände, auf denen die Anerkennung beruht, weggefallen sind, beurteilt sich ausschließlich nach Art. 11 der Richtlinie. Gleiches gilt regelmäßig auch für andere Umstände, mit denen sich der Betroffene auf eine Verfolgung aus demselben Verfolgungsgrund beruft. Dabei liegt die Beweislast nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie bei der Behörde. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie findet beim Erlöschen hingegen regelmäßig nur bei anderen Umständen Anwendung, bei denen sich der Betroffene auf einen anderen Verfolgungsgrund beruft (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 95 ff.).

18

4. Unter Beachtung dieser Vorgaben wird das Berufungsgericht in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen, ob sich die Verhältnisse in Togo inzwischen so erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben, dass für die Klägerin bei einer Rückkehr keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Hierzu bedarf es auf der Grundlage der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen einer umfassenden Würdigung der aktuellen tatsächlichen Verhältnisse in Togo mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin zugrunde lagen, und darauf aufbauend einer individuellen Verfolgungsprognose. In diesem Zusammenhang wird sich das Berufungsgericht auch mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zur Lage in Togo auseinanderzusetzen haben. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass es für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung grundsätzlich unerheblich ist, ob der Betroffene sein Heimatland unverfolgt oder - wie die Klägerin nach den Feststellungen im Anerkennungsverfahren - vorverfolgt verlassen hat. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kommt in diesen Fällen regelmäßig nicht zur Anwendung. Die Prüfung, ob die Umstände, die zur Anerkennung geführt haben, nachträglich weggefallen sind, richtet sich vielmehr nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie. Bei der Erstellung der Verfolgungsprognose wird das Berufungsgericht schließlich auch der Behauptung der Beklagten im Beschwerdeverfahren nachzugehen haben, dass der Vorsitzende der CAR, für deren Jugendorganisation sich die Klägerin nach ihren Angaben im Anerkennungsverfahren in Togo vor ihrer Ausreise u.a. politisch betätigt hat, ab September 2006 Premierminister von Togo gewesen sei.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein 1960 geborener algerischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

2

Er stellte im Oktober 1992 einen Asylantrag. Nachdem er unbekannt verzogen war, lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) - den Antrag mit Bescheid vom 8. November 1993 als offensichtlich unbegründet ab. Einen weiteren Asylantrag unter einem Aliasnamen lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 24. September 1993 ab.

3

Im November 1994 wurde der Kläger von den französischen Behörden wegen des Verdachts der Vorbereitung terroristischer Aktionen in Algerien festgenommen. Das Tribunal de Grande Instance de Paris verurteilte ihn am 22. Januar 1999 u.a. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren.

4

Nachdem der Kläger im März 2001 aus französischer Haft entlassen worden war, stellte er im Juli 2001 in Deutschland einen Asylfolgeantrag, den er auf die überregionale Berichterstattung über den Strafprozess in Frankreich und die daraus resultierende Verfolgungsgefahr in Algerien stützte. Er gab an, nie für eine terroristische Vereinigung aktiv gewesen zu sein; der Prozess in Frankreich sei eine Farce gewesen. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 lehnte das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte jedoch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Algeriens fest. Angesichts der Berichterstattung über den Strafprozess müsse davon ausgegangen werden, dass der algerische Auslandsgeheimdienst den Prozess beobachtet habe und der Kläger in das Blickfeld algerischer Behörden geraten sei. Bei einer Rückkehr nach Algerien bestehe deshalb die beachtliche Gefahr von Folter und Haft.

5

Mit Bescheid vom 1. Juni 2005 nahm das Bundesamt den Anerkennungsbescheid vom 15. Oktober 2002 mit Wirkung für die Zukunft zurück. Die Feststellung sei von Anfang an fehlerhaft gewesen, da das Vorliegen der Ausnahmetatbestände in § 51 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 Alt. 3 AuslG verkannt worden sei. Angesichts der rechtskräftigen Verurteilung in Frankreich stehe fest, dass der Kläger eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Das Verwaltungsgericht hat den Rücknahmebescheid mit rechtskräftigem Urteil vom 27. Oktober 2006 aufgehoben, da das Bundesamt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG versäumt habe.

6

Mit Schreiben vom 10. Juli 2007 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein, in dessen Verlauf der Kläger bestritt, dass sich die Verhältnisse in Algerien entscheidungserheblich geändert hätten. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2007 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 getroffene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG. Darüber hinaus stellte es fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Durch die im September 2005 per Referendum angenommene "Charta für Frieden und nationale Aussöhnung" sowie die zu deren Umsetzung erlassenen Vorschriften habe Algerien weitgehende Straferlasse für Mitglieder islamistischer Terrorgruppen eingeführt. Die Amnestieregelungen würden konsequent und großzügig umgesetzt und fänden auch nach Ablauf des vorgesehenen Stichtags weiter Anwendung. Der Kläger habe daher im Falle seiner Rückkehr nach Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch motivierte Verfolgung zu befürchten.

7

Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid durch Urteil vom 20. Mai 2008 aufgehoben, da dem Widerruf bereits die Rechtskraft des Urteils vom 27. Oktober 2006 entgegenstehe. Der angefochtene Widerruf erweise sich im Ergebnis als eine die Rücknahme vom 1. Juni 2005 ersetzende Entscheidung.

8

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. Dezember 2009 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zwar stehe die Rechtskraft des die Rücknahme aufhebenden Urteils dem Widerruf nicht entgegen, denn die Streitgegenstände dieser beiden Verwaltungsakte seien nicht identisch. Dennoch erweise sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis als richtig, da die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht vorlägen. Dieser sei gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nur möglich, wenn der Betroffene wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Heimatstaat vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher sei. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Er falle nicht unter die Stichtagsregelung der Amnestieregelung; ob die Anwendungspraxis auch den Fall des Klägers erfasse, sei unsicher. Angesichts der weiterhin bestehenden Repressionsstrukturen seien ausreichende Anhaltspunkte für eine allgemeine Liberalisierung in Algerien nicht vorhanden.

9

Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht sei zu Unrecht von dem abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab ausgegangen. Unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie würde selbst ein Vorverfolgter nur durch die widerlegbare Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie privilegiert. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH sei beim Widerruf eines nicht Vorverfolgten der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.

10

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil aus den Gründen der Ausgangsentscheidung. Darüber hinaus macht er geltend, dass einem anerkannten Flüchtling aufgrund seines Aufenthalts in der Bundesrepublik und des Vertrauens auf seinen gefestigten Status ein größerer Schutz zu gewähren sei als einem Asylbewerber bei der Entscheidung über seine Anerkennung.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet, denn das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar hat das Berufungsgericht den Widerrufsbescheid zu Recht sachlich geprüft und nicht bereits wegen des aus der Rechtskraft folgenden Wiederholungsverbots aufgehoben (1.). Es hat aber der Verfolgungsprognose, die es bei Prüfung der Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung gestellt hat, einen unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt (2.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache weder in positiver noch in negativer Hinsicht selbst entscheiden. Die Sache ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

12

1. Dem Erlass des streitgegenständlichen Widerrufsbescheids steht nicht entgegen, dass die zuvor verfügte Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung im Vorprozess rechtskräftig aufgehoben worden ist. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage daran gehindert, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. Urteile vom 8. Dezember 1992 - BVerwG 1 C 12.92 - BVerwGE 91, 256 <257 f.> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 63 und vom 28. Januar 2010 - BVerwG 4 C 6.08 - Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 99). Das Wiederholungsverbot erfasst aber nur inhaltsgleiche Verwaltungsakte, d.h. die Regelung desselben Sachverhalts durch Anordnung der gleichen Rechtsfolge (Urteil vom 30. August 1962 - BVerwG 1 C 161.58 - BVerwGE 14, 359 <362> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 4 und Beschluss vom 15. März 1968 - BVerwG 7 C 183.65 - BVerwGE 29, 210 <213 f.>).

13

In Anwendung dieser Kriterien erweisen sich Rücknahme einer Flüchtlingsanerkennung wegen Nichtbeachtung zwingender Ausschlussgründe und deren Widerruf wegen Wegfalls der sie begründenden Umstände nicht als inhaltsgleich. Zwar erfolgte die Rücknahme im Fall des Klägers nur mit Wirkung für die Zukunft, so dass die beiden Verwaltungsakte auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet waren (vgl. aus einer anderen Perspektive Urteil vom 24. November 1998 - BVerwG 9 C 53.97 - BVerwGE 108, 30 <35>). Aber die den beiden Aufhebungsakten zugrunde liegenden rechtlichen Voraussetzungen und die hierbei zu berücksichtigenden Tatsachen unterscheiden sich: Während die Rücknahme auf einer anderen rechtlichen Beurteilung eines vergangenen Sachverhalts beruht, stützt sich der Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG auf eine nach der Anerkennung eingetretene Sachverhaltsänderung. Daher greift das Wiederholungsverbot im vorliegenden Fall nicht.

14

2. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist § 73 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltenden Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2. September 2008, BGBl I S. 1798). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

15

Mit § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren. Dies gilt auch für Fälle, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - juris Rn. 9; zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen).

16

Der angefochtene Bescheid erweist sich nicht deshalb als rechtswidrig, weil das Bundesamt bei seiner Widerrufsentscheidung kein Ermessen ausgeübt hat. Durch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG ist geklärt, dass in den Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen hat. Damit hat der Gesetzgeber eine Übergangsregelung für vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen getroffen und festgelegt, bis wann diese auf einen Widerruf oder eine Rücknahme zu überprüfen sind. Daraus folgt, dass es vor einer solchen Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 1. Januar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keiner Ermessensentscheidung bedarf (Urteil vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 53.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31 Rn. 13 ff.).

17

Das Berufungsurteil ist aber hinsichtlich der materiellen Widerrufsvoraussetzungen und speziell mit Blick auf den der Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG zu vereinbaren, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

18

a) Diese unionsrechtlichen Vorgaben hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) dahingehend konkretisiert, dass der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie angesprochene "Schutz des Landes" sich nur auf den bis dahin fehlenden Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungshandlungen bezieht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 67, 76, 78 f.). Dazu hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung verhält. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG sieht - ebenso wie Art. 1 C Nr. 5 GFK - vor, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die Umstände, aufgrund derer sie zuerkannt wurde, weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht mehr vorliegen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 65). Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ist Flüchtling, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes seiner Staatsangehörigkeit befindet, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr als begründet, kann der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 66), soweit er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss (ebd. Rn. 76). Die Umstände, die zur Zuerkennung oder umgekehrt zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führen, stehen sich mithin in symmetrischer Weise gegenüber (so EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 68).

19

Mit Blick auf die Maßstäbe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein muss, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72). Dafür muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 73).

20

aa) Eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner Zeitablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Allerdings sind wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt (vgl. Urteile vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80 <84> und vom 18. September 2001 - BVerwG 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 <124 f.>).

21

Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Danach setzte der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung voraus, dass sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (Urteile vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 277 <281> und vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 18; so auch das Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung). Dieser gegenüber der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abgesenkte Maßstab ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht für Fälle der Vorverfolgung entwickelt worden. Er wurde dann auf den Flüchtlingsschutz übertragen und hat schließlich Eingang in die Widerrufsvoraussetzungen gefunden, soweit nicht eine gänzlich neue oder andersartige Verfolgung geltend gemacht wird, die in keinem inneren Zusammenhang mehr mit der früheren steht (Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 26).

22

Dieses materiellrechtliche Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/EG fremd. Sie verfolgt vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck kommt (Urteile vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 20 ff. und vom 7. September 2010 - BVerwG 10 C 11.09 - juris Rn. 15). Das ergibt sich neben dem Wortlaut der zuletzt genannten Vorschrift auch aus der Entstehungsgeschichte, denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Demzufolge gilt unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten hat. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 ; Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 22).

23

Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Umstände danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 84 ff., 98 f.). Die Richtlinie kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird. Es spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten hiervon in Widerrufsverfahren nicht nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können. Denn die zwingenden Erlöschensgründe dürften zu den Kernregelungen zählen, die in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind, um das von der Richtlinie 2004/83/EG geschaffene System nicht zu beeinträchtigen (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2010 - Rs. C-57/09 und C-101/09, B und D - NVwZ 2011, 285 Rn. 120 zu den Ausschlussgründen). Das kann aber hier dahinstehen, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an den oben dargelegten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte. Vielmehr belegt der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie zu eigen gemacht hat.

24

bb) Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72 ff.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Der Senat hat in einem Fall, in dem ein verfolgendes Regime gestürzt worden ist (Irak), bereits entschieden, dass eine Veränderung in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden kann, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (Urteil vom 24. Februar 2011 a.a.O. Rn. 17). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>; Beschluss vom 7. Februar 2008 a.a.O. juris Rn. 37), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 90). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden.

25

b) Das Berufungsgericht hat vorliegend bei seiner Verfolgungsprognose den Maßstab der hinreichenden Sicherheit zugrunde gelegt. Damit hat es § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG verletzt; auf dieser Verletzung beruht die Berufungsentscheidung. Da das Berufungsgericht seine tatsächlichen Feststellungen unter einem - wie dargelegt - rechtlich unzutreffenden Maßstab getroffen hat, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn es ist Aufgabe des Berufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung des Betroffenen zugrunde lagen, eine Gefahrenprognose unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu erstellen.

Gründe

1

Die auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat Erfolg. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils an das Berufungsgericht zurück.

2

Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr des Klägers in Tschetschenien und dem Fehlen einer zumutbaren internen Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht in der gebotenen Weise nachgekommen ist. Hierzu macht sie geltend, das Berufungsgericht habe sich in den Entscheidungsgründen nicht mit der abweichenden Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinandergesetzt, auf die sich der am Verfahren beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten ausdrücklich berufen habe. Dieser hat im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 6. April 2011 unter Bezugnahme auf im Einzelnen nach Aktenzeichen und Entscheidungsdatum spezifizierte Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte darauf hingewiesen, dass Tschetschenen bei einer Rückkehr nach Tschetschenien hinreichend sicher seien bzw. im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG stichhaltige Gründe dagegen sprächen, dass ihnen Verfolgung oder sonstiger ernsthafter Schaden drohe, soweit sie keine besonderen Gefährdungsfaktoren aufwiesen. Außerdem hat er geltend gemacht, dass Tschetschenen nach allgemeiner Spruchpraxis selbst bei Annahme einer weiter andauernden Verfolgungsgefahr in Tschetschenien zumindest eine inländische Ausweichmöglichkeit bzw. im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG interner Schutz in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation zustehe.

3

Mit den in diesen obergerichtlichen Entscheidungen vertretenen Auffassungen setzt sich das Berufungsgericht inhaltlich nicht auseinander. Es erwähnt in seiner Entscheidung zwar eine der vom Bundesbeauftragten angeführten Entscheidungen als Beleg für eine von seiner eigenen Einschätzung abweichende Auffassung zur aktuellen Lage in Tschetschenien, ohne jedoch weiter auf das Vorbringen des Bundesbeauftragten einzugehen und sich mit der abweichenden tatsächlichen und rechtlichen Würdigung der anderen Oberverwaltungsgerichte zur Lage in Tschetschenien und dem Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative näher zu befassen. Das lässt angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses Vorbringen nicht in Erwägung gezogen hat. Das Berufungsgericht führt zur Begründung seiner Entscheidung zwar auch neuere Erkenntnismittel an, die den vom Bundesbeauftragten angeführten Entscheidungen der anderen Oberverwaltungsgerichte nicht vorlagen. Diesen entnimmt das Berufungsgericht aber keine grundlegende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, sondern verweist ausdrücklich darauf, dass seine aktuelle Lageeinschätzung älteren - von den anderen Oberverwaltungsgerichten bei ihren Entscheidungen mitberücksichtigten - Erkenntnissen entspreche (UA S. 11) und deshalb "weiterhin" für die in Tschetschenien lebenden Personen eine tatsächliche Gefahr bestehe (UA S. 12). Bei dieser Sachlage verletzt das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; darin liegt zugleich ein formeller Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.

4

Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebotene Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 1. März 2006 - BVerwG 1 B 85.05 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 324 und - BVerwG 1 B 86.05). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn sich ein Beteiligter - wie hier - einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).

5

Auf diesen Verfahrensmangel kann sich jedenfalls in der vorliegenden prozessualen Konstellation auch die Beklagte berufen. Denn sie ist der Berufung des Klägers entgegengetreten und hat sich damit das in die gleiche Richtung zielende Vorbringen des Beteiligten zumindest konkludent zu eigen gemacht.

6

Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu einer anderen Entscheidung hinsichtlich der vom Bundesbeauftragten angesprochenen Frage der Gefährdung in Tschetschenien und des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative gelangt wäre. Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergeben sich insbesondere keine Anhaltspunkte für ein besonderes Gefährdungspotential des Klägers, bei dessen Vorliegen auch andere Oberverwaltungsgerichte eine Gefährdung bzw. das Fehlen einer inländischen Fluchtalternative annehmen.

7

Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht auch zu berücksichtigen haben, dass beim Flüchtlingsschutz allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG bedeutet. Auch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde.

8

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 28. September 2007 - A 6 K 43/07 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger erstrebt im Wege des Asylfolgeverfahrens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der am …1974 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und gehört der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an. Er hat zum Nachweis seiner Glaubenszugehörigkeit Bescheinigungen der Ahmadiyya Muslim Jamaat Frankfurt vom 30.07.2001 und 20.01.2010 vorgelegt.
Nach seinen eigenen Angaben reiste er am 03.06.2001 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12.06.2001 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung im Asylerstverfahren durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) am 30.08.2001 brachte er im Wesentlichen vor, er sei von Geburt an Ahmadi und habe bestimmte Funktionen in seiner örtlichen Glaubensgemeinschaft ausgeübt. Zuletzt habe er seit dem Jahre 1998 das Amt eines Saik innegehabt. Weiter berief er sich auf mehrere Übergriffe aus den Jahren 1998 und 1999 sowie auf Strafanzeigen gegen Verwandte und deren Inhaftierung. Zentraler Gegenstand des Vorbringens war ein Vorfall am 08.06.2000, bei dem ein Onkel des Klägers durch einen Schuss getötet und auch der Bruder des Klägers durch einen Schuss verletzt worden sein soll, sowie die sich daran anschließenden Ermittlungsverfahren gegen den Kläger und weitere ortsansässige Ahmadis. Am 28.10.2000 sei der Name des Klägers in einer weiteren Strafanzeige gemäß § 302 des Pakistanischen Strafgesetzbuches erwähnt worden. Aufgrund dieser Anzeige seien sein Bruder und sein Neffe festgenommen worden. Zum Beleg seines Verfolgungsvorbringens legte der Kläger bei seiner Bundesamtsanhörung zahlreiche Unterlagen, insbesondere Strafanzeigen und Zeitungsberichte über die Tötung seines Onkels sowie ein ärztliches Attest über von seinem Bruder erlittene Verletzungen, in Kopie vor.
Mit Bescheid vom 26.11.2003 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Zugleich wurde dem Kläger die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Der Kläger erhob hiergegen Klage zum Verwaltungsgericht Sigmaringen, die mit Urteil vom 28.10.2005 (Az.: A 6 K 12413/03) abgewiesen wurde. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es fehle an einem beachtlichen individuellen Vorverfolgungsschicksal des Klägers. Die von ihm im Behördenverfahren vorgelegten FIRs (First Information Reports) seien nach der durchgeführten Beweisaufnahme durch Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes mit großer Wahrscheinlichkeit gefälscht. Jedenfalls bestehe im Falle einer Rückkehr des Klägers keine individuelle Verfolgungsgefahr, weil die Gerichtsverfahren betreffend den Vorfall am 08.06.2000 ausweislich der Beweisaufnahme eingestellt worden seien. Eine Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan sei nicht gegeben, auch nicht unter Berücksichtigung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie, durch die sich an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff des religiösen Existenzminimums und des sog. „forum internum“ nichts ändere. Dahingestellt könne deshalb bleiben, ob der Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz bereits die Qualifikationsrichtlinie mit der Folge umgesetzt habe, dass diese nunmehr im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG trotz der noch nicht abgelaufenen Umsetzungsfrist Anwendung finde. Das Urteil wurde durch Nichtzulassung der Berufung mit Beschluss des Senats vom 31.05.2006 (Az.: A 10 S 25/06) rechtskräftig.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 05.01.2007 - bei der Außenstelle Reutlingen des Bundesamtes persönlich abgegeben am 10.01.2007 - stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag und trug zur Begründung vor: Durch die Richtlinie 2004/83/EG habe sich die Rechtslage zu seinen Gunsten verändert. Nunmehr sei von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan auszugehen. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - präzisiere den Verfolgungsgrund der Religion dahingehend, dass nunmehr auch Glaubensausübungen im öffentlichen Bereich mit umfasst seien. Damit sei unter anderem auch das aktive Missionieren vom Schutzbereich umfasst. Die bisherige Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum könne vor dem veränderten europarechtlichen Hintergrund nicht mehr aufrecht erhalten werden. Darüber hinaus legte der Kläger einen Antrag an den Lahore High Court - Criminal Appeal Nr. 3/3/2003 - als neues Beweismittel vor, den er von Verwandten in Kopie erhalten habe. Damit könne nunmehr belegt werden, dass entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts in seinem klageabweisenden Urteil vom 28.10.2005 das im Asylerstverfahren thematisierte Gerichtsverfahren bei dem Lahore High Court fortgeführt werde und nicht bereits von dem Untergericht endgültig eingestellt worden sei. Es handle sich dabei um ein sog. Gegenverfahren der Ahmadis gegen die sunnitischen Moslems; aus diesem Grund müsse der Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan mit Verfolgung durch fanatische Moslems rechnen.
Mit Bescheid vom 22.01.2007 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und auf Abänderung des Bescheids vom 26.11.2003 hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG ab.
Am 24.01.2007 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben mit dem Ziel einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug genommen und zur Frage von Rechtsänderungen durch die Richtlinie 2004/83/EG vorgetragen.
Mit Urteil vom 28.09.2007 - A 6 K 43/07 - hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen die Klage insgesamt abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Eine staatliche oder nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan könne derzeit nicht angenommen werden und drohe auch nicht in absehbarer Zukunft. Das Gericht folge dabei der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg und der übereinstimmenden obergerichtlichen Rechtsprechung. Insoweit habe sich an der Sachlage bis zum heutigen Zeitpunkt nichts Relevantes geändert. Auch das Inkrafttreten von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union rechtfertige keine abweichende Beurteilung der Sachlage aus Rechtsgründen. Die Neubestimmung des Flüchtlingsbegriffs in Anwendung der Genfer Konvention führe nicht zur Annahme einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan. Weder die Qualifikationsrichtlinie noch die Genfer Flüchtlingskonvention forderten inhaltlich eine wesentlich andere Betrachtungsweise, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob nach Inkrafttreten der neuen Rechtslage die bisherige Rechtsprechung zum sog. „forum internum“ und zur Gewährleistung des asylrechtlich erforderlichen religiösen Existenzminimums weiterhin fortbestehen könne und inwieweit dies Folgen für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Ahmadis habe.
Jedenfalls erreichten die im Hinblick auf Ahmadis in Pakistan dokumentierten Verfolgungsfälle, selbst wenn man den Kreis der einzubeziehenden Referenzfälle erweitere, auch zum derzeitigen Zeitpunkt nicht die zur Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie könnten nur schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte die Flüchtlingseigenschaft begründen. Deshalb seien nicht sämtliche Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit bei der Auswahl der zu berücksichtigenden Referenzfälle einzubeziehen. Unter Beachtung der Rechtsanwendungspraxis in Pakistan sei weiter darauf abzustellen, welche Referenzfälle zu Gefahren für Leib, Leben oder die physische Freiheit führten. Hinsichtlich der Frage der öffentlichen Religionsausübung sei darauf hinzuweisen, dass den Ahmadis eine öffentliche Religionsausübung nicht völlig unmöglich sei. Das Auswärtige Amt weise in seinem Lagebericht vom 18.05.2007 beispielhaft darauf hin, dass es Gotteshäuser gebe, in denen Ahmadis trotz der bestehenden Strafvorschriften öffentlich ihren Glauben ausüben könnten. Ahmadis sei es auch nicht untersagt, sich öffentlich zum Quadianismus oder Ahmadiismus als ihrer Religion zu bekennen. Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 24.10.2007 zugestellt.
10 
Am 24.11.2007 hat der Kläger die Zulassung der Berufung beantragt.
11 
Mit Beschluss vom 07.03.2008 - dem Kläger am 14.03.2008 zugestellt - hat der Senat die Berufung zugelassen, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt. Im Übrigen blieb der Antrag bezogen auf die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ohne Erfolg.
12 
Am 14.04.2008 hat der Kläger die Berufung unter Stellung eines förmlichen Antrags und unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Zulassungsantrag begründet.
13 
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Als Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a QRL gälten nunmehr Handlungen, die sich nach ihrer Art oder Wiederholung als eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellten. Als Verfolgung seien aber nach Buchst. b auch Maßnahmen anzusehen, die so gravierend seien, dass eine Person auf eine ähnliche Weise wie nach Buchst. a betroffen sei. Die Religionsfreiheit stelle ein Menschenrecht im Sinne dieser Vorschrift dar, was sich insbesondere aus Art. 18 Abs. 1 und 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie aus Art. 9 Abs. 1 EMRK ergebe. Vor diesem Hintergrund sei ein Rückgriff auf die Rechtsprechung zum Begriff der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 a GG nicht zulässig. Vielmehr dürften Einschränkungen der Religionsfreiheit nur unter Beachtung von Art. 18 Abs. 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie Art. 9 Abs. 2 EMRK vorgenommen werden. Die hiernach erforderlichen Gesetze müssten allgemeiner Natur sein, d. h. für alle Staatsbürger, egal welcher religiösen Ausrichtung sie angehörten, gelten. Bezogen auf die Ahmadis in Pakistan bedeute dies, dass sämtliche gegen diese Bevölkerungsgruppe gerichteten Strafgesetze offensichtlich nicht den vorgenannten Anforderungen genügten. Bereits diese Regelungen seien für sich genommen daher geeignet, als schwerwiegende Verletzung eines Menschenrechts zu gelten.
14 
Mit einzubeziehen seien auch die staatlichen Regelungen, wonach Ahmadis, um einen Nationalpass ausgestellt zu bekommen, ihre Glaubensgrundsätze dadurch verleugnen müssten, dass sie sich schriftlich auf einem Sonderformular als Nicht-Moslems bezeichnen müssten. Weiter seien die diskriminierenden Regelungen des Wahlrechts zu berücksichtigen, die es Ahmadis seit längerem unmöglich machten, sich auf normalen Wahllisten als Kandidat aufstellen zu lassen oder die normalen Kandidaten zu wählen, was zur Folge habe, dass Ahmadis an den Parlamentswahlen nicht mehr teilnähmen und daher im Parlament auch nicht mehr vertreten seien. Zu verweisen sei in diesem Zusammenhang auf den sog. Präsidentenerlass Nr. 15 vom 17.06.2002 zur Ergänzung des Erlasses über die allgemeinen Wahlen 2002. Nach dieser Regelung bleibe der Status von Ahmadis unverändert, nach Ziff. 7 c der Regelung müssten aber Personen, die sich als Wähler registrieren lassen wollten, für den Fall, dass Einspruch eingelegt werde, innerhalb von 15 Tagen bei der Aufsichtsbehörde erscheinen und ein Formular mit einer Erklärung über die Finalität des Propheten unterzeichnen. Falls der Betreffende sich weigere, werde er als Nicht-Muslim betrachtet und sein Name werde aus dem allgemeinen Wahlverzeichnis gestrichen und der Zusatzliste für Nicht-Muslime zugeteilt. Damit werde sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht deutlich eingeschränkt. Ferner müssten auch die Regelungen bei der Registrierung von Geburten in Betracht gezogen werden, da bei den öffentlichen Registrierungsstellen die Religion des Kindes bzw. der Eltern angegeben werden müsse. Ahmadis müssten dort „Ahmadi“ angeben und dürften nicht entsprechend ihrem Selbstverständnis „Moslem“ eintragen lassen. Dies führe in Pakistan faktisch zu einer stigmatisierenden Ausgrenzung.
15 
Im Übrigen seien die faktischen Beeinträchtigungen im Schul-, Hochschul- und Ausbildungsbereich sowie die Benachteiligungen bei der Einstellung bzw. Beförderung im öffentlichen Dienst zu berücksichtigen. Benachteiligungen bestünden auch in Bezug auf das Bildungswesen, weil die Studenten auf den Antragsformularen ihre Religionszugehörigkeit angeben müssten. Bezeichneten die Ahmadis sich auf diesem Formular entsprechend ihrem Selbstverständnis als „Moslem“, riskierten sie eine Freiheitsstrafe. Bezeichneten sie sich hingegen als „Ahmadi“, müssten sie mit einer Verweigerung des Zugangs rechnen. Im Fall einer Zulassung dürften sie in der Regel nicht am Pflichtfach „Islamiyat“ teilnehmen, was zur Benachteiligung beim Schulabschluss führe. Hinzuweisen sei auf die weit verbreiteten Entweihungen der ahmadischen Grab- und Gebetsstätten, den Ausschluss von der Beerdigung auf den meisten Friedhöfen, die Beschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit sowie die Beschränkungen im Bereich der Publizistik. Betrachte man dieses Bündel von diskriminierenden und ausgrenzenden Maßnahmen unterschiedlichen Charakters einerseits sowie andererseits die Tatsache, dass bei einer Gesamtzahl von ca. zwei bis vier Millionen Ahmadis in Pakistan nur noch ca. 500.000 sog. bekennende Ahmadis lebten, so liege es nahe, dass die weit überwiegende Anzahl der Ahmadis sich nur deshalb nicht traue, sich in der Öffentlichkeit zu ihrem Glauben zu bekennen, um dem auf ihnen lastenden Ausgrenzungsdruck zu entgehen, wobei auch die Existenz und der Vollzug der religiösen Strafgesetze berücksichtigt werden müsse. Auch die Anzahl der tätlichen Übergriffe von privaten Dritten in Bezug auf religiöses Verhalten der Ahmadis müsse in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden.
16 
Mit Schriftsätzen vom 09.03.2009 und 27.07.2010 ließ der Kläger ergänzend vortragen, dass sich nach der neueren Erkenntnislage die Situation der Ahmadis in Pakistan hinsichtlich ihrer Religionsausübungsmöglichkeiten erneut wesentlich verschlechtert habe. Ausweislich eines Berichts der Human Rights Commission of Pakistan vom 09.07.2008 sei gegen die ganze ahmadische Bevölkerung von Rabwah ein religiös motiviertes Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, nachdem die ahmadische Bevölkerung das 100-jährige Kalifat ihrer Gemeinde gefeiert habe. Ausgehend von der Einwohnerzahl von Rabwah und dem Anteil der Ahmadis hieran könne geschlossen werden, dass sich dieses Ermittlungsverfahren auf mindestens 50.000 Mitglieder der Ahmadiyya-Gemeinde beziehe; die vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 22.10.2008 genannte Zahl von lediglich „über tausend“ Strafverfahren gegen Ahmadis nach § 289c des Pakistanischen Strafgesetzbuches sei deshalb deutlich zu niedrig geschätzt. Auch hätten in einer Fernsehsendung vom 07.09.2008 pakistanische Mullahs unwidersprochen die Auffassung vertreten, dass Ahmadis aus religiösen Gründen zu töten seien; in der Folgezeit seien daraufhin zwei bekannte ahmadische Persönlichkeiten ermordet worden. Seit dieser Sendung habe sich das Klima zwischen Ahmadis und Nichtahmadis in Pakistan weiter verschlechtert, so dass Ahmadis landesweit von Tötung bedroht seien. Am 28.01.2009 seien fünf Ahmadis, davon vier Jugendliche im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, nach § 295c des Pakistanischen Strafgesetzbuches wegen Blasphemie angezeigt worden, der Vorwurf habe auf Beleidigung des Propheten mittels verunglimpfender Graffiti in einer Toilette gelautet.
17 
Der Kläger beantragt,
18 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 28. September 2007 - A 6 K 43/07 - zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides vom 22. Januar 2007 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen.
19 
Die Beklagte beantragt,
20 
die Berufung zurückzuweisen.
21 
Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid und führt im Übrigen aus, § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b QRL führe zu keiner grundsätzlich abweichenden Bewertung. Entgegen der vom Senat in seinem Urteil vom 20.05.2008 (Az.: A 10 S 72/08) vertretenen Auffassung habe sich der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie nicht wesentlich erweitert; an der Rechtsprechung des Senats könne im Hinblick auf eine neuere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.03.2009 (Az.:10 C 51.07) nicht uneingeschränkt festgehalten werden. Denn das Bundesverwaltungsgericht habe in diesem Urteil klargestellt, dass auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG nicht jede Einschränkung der Religionsfreiheit zu einer Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts führe. Ob ein Ausländer als Flüchtling anzuerkennen sei, müsse vielmehr nach höchstrichterlicher Sicht maßgeblich nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie beurteilt werden, denn dieser Bestimmung sei zu entnehmen, welches Rechtsgut in welchem Ausmaß geschützt sei. Entscheidend sei auf die Gefährdungslage abzustellen, die aus einer aktiven Wahrnehmung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit durch einen Ahmadi resultiere, die also aufgrund einer öffentlichkeitswirksamen Betätigung eintrete. Einschränkungen der religiösen Betätigung als solche stellten nur dann hinreichend schwere Eingriffe dar, wenn die Religionsausübung grundsätzlich unterbunden werde oder sie zu einer Beeinträchtigung eines unabdingbaren Teils des religiösen Selbstverständnisses des Gläubigen führen würde und daher ein Verzicht nicht zugemutet werden könne. Nur dieser Kernbereich der Religionsausübung sei nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar. Unabhängig hiervon habe die Qualifikationsrichtlinie keine Veränderung insoweit erbracht, als Schutzbedarf notwendigerweise eine individuelle Betroffenheit voraussetze. Selbst wenn zugunsten des Klägers von einer Rechtsänderung durch die Qualifikationsrichtlinie ausgegangen werde, bedürfe es tragfähiger Feststellungen dazu, wie er seinen Glauben bisher gelebt habe und eine Prognose, ob er dies auch bei Rückkehr entsprechend fortsetzen wolle. Im Übrigen spreche jedoch die Entstehungsgeschichte und die bisherige Rechtslage nicht für die Auffassung des Klägers, dass mit Umsetzung der Vorgaben aus der Richtlinie 2004/83/EG eine erhebliche Rechtsänderung eingetreten sei.
22 
Der Senat hat den Kläger und seine Lebensgefährtin, Frau A. S., in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört; wegen der dabei getätigten Angaben wird auf die gefertigte Anlage zur Niederschrift verwiesen.
23 
Dem Senat liegen die Asylverfahrensakten des Bundesamts sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Sigmaringen hinsichtlich des Erst- und des gegenständlichen Folgeverfahrens vor.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig unter Stellung eines Antrags und unter Bezugnahme auf die ausführliche Begründung des Zulassungsantrags begründete Berufung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420 m.w.N.) bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts stellt sich im Ergebnis als richtig dar. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.01.2007 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Buchst. c der zur Auslegung heranzuziehenden Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) im Wege des Asylfolgeverfahrens.
25 
Entsprechend der Berufungszulassung ist Gegenstand des Berufungsverfahrens nur noch die von dem Kläger begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG, nicht auch die im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.
26 
Da der erste Asylantrag des Klägers bereits im Jahre 2006 bestandskräftig abgelehnt wurde, handelt es sich bei dem gegenständlichen Asylantrag um einen Folgeantrag. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor (1.). Auch hat sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG sowohl der flüchtlingsrechtliche Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit als auch der anwendbare Prognosemaßstab für eine festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit im Vergleich zu den im Asylerstverfahren einschlägigen Vorgaben verändert (2.). Jedoch kann sich der Kläger auch bei Anwendung dieses günstigeren Maßstabs für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf den Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung der Ahmadis berufen (3.). Eine - grundsätzlich denkbare - individuelle flüchtlingsrelevante Rückkehrgefährdung scheidet mangels hinreichender Glaubensgebundenheit des Klägers aus (4.).
27 
1. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auf einen nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags gestellten Folgeantrag ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Hiernach setzt ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens insbesondere voraus, dass eine Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten ist oder neue Beweismittel vorliegen und dass die Geeignetheit dieser Umstände für eine dem Antragsteller günstigere Entscheidung schlüssig dargelegt wird. Der Folgeantrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene Kenntnis von dem Wiederaufgreifensgrund hat (§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG). Diese einschränkenden Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG finden auch dann Anwendung, wenn der Antragsteller in einem weiteren Verfahren eine ihm günstige Rechtsänderung unter Hinweis auf die nunmehr eingetretene unmittelbare Wirkung der Richtlinie 2004/83/EG geltend macht (vgl. hierzu Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren Az.: A 10 S 688/08).
28 
a) Entgegen der vom Bundesamt in seinem Bescheid vom 22.01.2007 vertretenen Auffassung ist mit Rücksicht auf die Qualifikationsrichtlinie und in Bezug auf die Beurteilung der maßgeblichen Lage der Ahmadis in Pakistan eine relevante Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris). Ob für den Betroffenen tatsächlich eine günstigere Entscheidung im Einzelfall in Betracht kommt, muss der Prüfung in dem durchzuführenden Asylfolgeverfahren vorbehalten bleiben; das Bundesamt hat zu Unrecht in dem versagenden Bescheid eine Vollprüfung am Maßstab der Richtlinie vorgenommen und mit diesen Überlegungen einen Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG verneint. Nach der Konzeption des Asylverfahrensgesetzes ist jedoch eine abschließende Prüfung der Erheblichkeit der geltend gemachten Sachverhalts- oder Rechtsänderung auf einer zweiten Stufe erst dem weiteren Asylverfahren vorbehalten, sofern eine günstige Entscheidung aufgrund der geänderten Umstände jedenfalls möglich erscheint. Deshalb muss es auch ausreichen, wenn der Betroffene innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG sich auf die mögliche Rechtsänderung durch das Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie berufen hat; der Vortrag weiterer Tatsachen, die einen Rückschluss darauf zulassen, dass ein Ahmadi mit seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie aktuell aktiv ausgeübt hat, ist demgegenüber keine Zulässigkeitsvoraussetzung (a. A. VG des Saarlandes, Urteil vom 20.01.2010 - 5 K 621/08 - juris).
29 
b) Wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht erkannt hat, steht einem Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG unter dem Gesichtspunkt der Rechtsänderung auch nicht entgegen, dass es bereits in seinem das Erstverfahren abschließenden Urteil vom 28.10.2005 (Az.: A 6 K 12413/03) die materiellen Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie zumindest hilfsweise seiner inhaltlichen Prüfung zugrunde gelegt hat. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Urteil offen gelassen, ob der Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz bereits einen Teil der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt hat und bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kraft nationalen Rechts im Lichte von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang dann im Einzelnen näher dargelegt, dass selbst bei Anwendung der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie nicht von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan ausgegangen werden könne, da Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG eine mit dem nationalen Recht vergleichbare Struktur aufweise und den Schutzbereich der Religionsausübung nicht über die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze zum „forum internum“ hinaus erweitert habe.
30 
Diese vom Verwaltungsgericht der Sache nach vorgenommene Überprüfung des Asylbegehrens anhand der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie steht der Annahme einer Rechtsänderung nicht entgegen. Maßgeblich ist allein, dass erst mit Ablauf des 10.10.2006 (Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie und Eintritt deren unmittelbarer Anwendbarkeit, vgl. Art. 38 Abs. 1 QRL) objektiv-rechtlich eine Rechtsänderung eingetreten ist. Für dieses Verständnis sprechen nicht zuletzt Gesichtspunkte des effektiven Rechtsschutzes. Da der Senat in seinem die Zulassung der Berufung ablehnenden Beschluss vom 31.05.2006 (Az.: A 10 S 25/06) die vom Verwaltungsgericht erwogene Vorwirkung bzw. vorzeitige Umsetzung des Richtlinienentwurfs in nationales Recht abgelehnt hat, war dem Kläger eine obergerichtliche Überprüfung des vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Verständnisses der Qualifikationsrichtlinie verwehrt. Der Kläger konnte daher im Asylerstverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, dass sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG gerade im Hinblick auf die Religionsausübungsfreiheit eine Erweiterung des Schutzbereichs ergeben hat.
31 
c) Der Kläger hat auch die maßgebliche Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG eingehalten, ohne dass es darauf ankommt, wann der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter positive Kenntnis von der Rechtsänderung erlangt hat. Da der Kläger seinen Asylfolgeantrag persönlich bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes bereits am 10.01.2007 gestellt hat, wird auch die denkbar kürzeste Frist (drei Monate ab Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie) gewahrt.
32 
Nach alledem liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor. Was die unanfechtbare negative Entscheidung des Erstverfahrens und die dort gewürdigten individuellen Vorfluchtgründe betrifft, ist jedoch eine erneute Überprüfung und Bewertung im weiteren Asylverfahren nicht eröffnet. Denn die Qualifikationsrichtlinie misst sich keine Geltung auch für Sachverhalte bei, über die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens oder bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist unanfechtbar entschieden wurde (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris ). Im Folgenden ist deshalb lediglich zu überprüfen, ob bei Anwendung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie bzw. deren Umsetzung durch § 60 Abs. 1 AufenthG eine flüchtlingsrechtlich relevante individuelle oder gruppenbezogene Rückkehrgefährdung des Klägers besteht.
33 
2. Der Senat geht im Anschluss an sein Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert hat.
34 
2.1.a) Art. 10 QRL definiert in Anknüpfung an Art. 2 Buchst. c QRL die flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgründe. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere der Schutz der Religionsausübung gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. b QRL maßgeblich. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Die Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definiert, was unter dem Verfolgungsgrund der Religion zu verstehen ist, d. h. an welche religiösen Einstellungen oder Betätigungen eine Verfolgungshandlung anknüpfen muss, um flüchtlingsrechtlich beachtlich zu sein. Die Vorschrift gewährleistet dabei bereits nach ihrem Wortlaut für den Einzelnen einen sehr weitgehenden Schutz, wenn sie sowohl die Entscheidung, aus innerer Überzeugung religiös zu leben, wie auch die Entscheidung, aufgrund religiösen Desinteresses jede religiöse Betätigung zu unterlassen, schützt und dem Einzelnen zubilligt, dass er sich zu seiner religiösen Grundentscheidung auch nach außen bekennen darf, insbesondere auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen erfasst wird.
35 
Wie im Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, dürfte die Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinausgehen, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16 a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt wurde, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede steht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehört somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung sind nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst wird schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen (vgl. Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032.07 - a.a.O. sowie Bay. VGH, Urteil vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - InfAuslR 2008, 101).
36 
b) Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setzt darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt wird, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmacht (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL), wobei in Art. 9 Abs. 2 QRL beispielhaft verschiedene in Betracht zu ziehende Verfolgungshandlungen benannt werden. Erst an dieser Stelle erweist sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden kann, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitzt.
37 
Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt in jedem Falle dann vor, wenn der Gläubige so schwerwiegend an der Ausübung seines Glaubens gehindert wird, dass das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Kernbereich verletzt wird. Der Kern der Religionsfreiheit ist für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar und gehört damit zum menschenrechtlichen Mindeststandard. Er ist nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar (vgl. zu den Einzelheiten etwa BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <158 ff.>; sowie BVerwG, Urteile vom 20.01.2004 - 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 und vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - a.a.O.). Wird dieser Kernbereich verletzt, ist in jedem Fall eine schwerwiegende Rechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu bejahen und dementsprechend Flüchtlingsschutz zu gewähren.
38 
Der in Art. 9 Abs. 2 QRL entfaltete beispielhafte Katalog (insbesondere Buchst. b und d) möglicher Verfolgungshandlungen macht jedoch deutlich, dass eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nicht nur dann gegeben ist, wenn durch die Verfolgungshandlung - von Eingriffen in Leib oder Leben abgesehen - in die physische Bewegungsfreiheit eingegriffen wird, und dass der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der Freiheit nicht in diesem engen Sinne verstanden werden kann. Vielmehr können erhebliche Einschränkungen oder Verbote öffentlicher Glaubensbetätigung, die nach dem Verständnis der jeweiligen Religion oder dem - nicht notwendigerweise völlig identischen - glaubhaft dargelegten Verständnisses des einzelnen Flüchtlings von grundlegender Bedeutung sind, zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, sofern sie nicht in völkerrechtskonformer Ausübung der jeweiligen Schrankenregelungen erfolgen. Insbesondere kann hiernach den Betroffenen nicht angesonnen werden, diese zu unterlassen, um keine entsprechend vorgesehenen Sanktionen herauszufordern.
39 
2.2.a) Wie vom Senat bereits in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07- a.a.O.) näher dargestellt, hat sich unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie auch der Prognosemaßstab für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert. Nach Art. 4 Abs. 3 QRL ist - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung - eine strikt einzelfallbezogene Betrachtung vorzunehmen. Soweit nach der bisherigen Rechtsprechung für die Beurteilung der Frage, ob einem Flüchtling nach den Maßstäben des § 60 Abs. 1 AufenthG Schutz zu gewähren ist, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen waren, je nachdem, ob dieser seinen Heimatstaat auf der Flucht vor bereits eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <344 ff.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; st. Rspr.), trifft die Qualifikationsrichtlinie eine entsprechende Unterscheidung ebenfalls. So ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgericht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenziert zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen, zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
40 
b) Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdulla -). Der in dem Tatbestandsmerkmal „…tatsächlich Gefahr liefe…“ des Art. 2 Buchst. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330, RdNr. 125 ff. - Saadi -); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192).
41 
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden; die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 - a.a.O). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände der Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - a.a.O.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
42 
2.3. Nicht anders als im Falle des Asylgrundrechts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143) gilt auch hier, dass eine pauschale und rein formale Betrachtung aller Angehörigen einer Religionsgemeinschaft nicht sachgerecht sein kann und daher ausscheiden muss. Es leuchtet unmittelbar ein, dass nach Maßgabe der jeweiligen religiösen Bindungen des einzelnen Asylsuchenden und abhängig von den Verhältnissen im Herkunftsland die Betroffenheit in dem Menschenrecht und daher dessen Beeinträchtigung überhaupt, jedenfalls aber deren Schwere völlig unterschiedliches Gewicht haben können. Allerdings ist an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für eine Gruppenverfolgung auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 sowie Beschluss vom 02.02.2010 - 10 B 18.09 -, juris).
43 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines staatlichen Verfolgungspogroms - (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200).
44 
b) Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Bezug gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.). An diesem Grundkonzept hat sich nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG nichts geändert. Es stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.).
45 
3. Der Kläger kann sich bei Anwendung dieser Grundsätze für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung der Gruppe der Ahmadis (oder der Untergruppe der ihren Glauben aktiv ausübenden Ahmadis) berufen.
46 
3.1 Die Lage in Pakistan - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs des Klägers von Bedeutung ist - stellt sich auch im September 2010 im Wesentlichen so wie bereits im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) geschildert dar. Der Senat hat in diesem Urteil folgendes ausgeführt:
47 
„Nach Auswertung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel stellt sich vermutlich die Lage der Ahmadis in Pakistan für den Senat, wie folgt, dar:
48 
1. Zur Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya und ihrer Entstehung hat der HessVGH im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A – juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
49 
„.Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
50 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubens-gemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
51 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bayer. VGH am 22.01.1985, S. 7).
52 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
53 
Auch die aktuellen Zahlen sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern und diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.41). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 18.05.2007, S. 16) nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien.
54 
2. Die Lage der Ahmadis wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
55 
a) Der Islam wird in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist allerdings von Verfassungs wegen garantiert (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit bezeichnet und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
56 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren können und nur solche wählen können. Um ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.34 ff.). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16).
57 
b) Seit 1984 bzw.1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und diese gewissermaßen zur Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung in den Blick nehmen.
58 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <146>):
59 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
60 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ameerui Mumineen', 'Khalifar-ul-Mimineem', 'Shaabi' oder 'Razi-Allah-Anho' bezeichnet oder anredet;
61 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ummul-Mumineen' bezeichnet oder anredet;
62 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ahle-bait' bezeichnet oder anredet;
63 
d) sein Gotteshaus als 'Masjid' bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
64 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als 'Azan' bezeichnet oder den 'Azan' so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
65 
Sec. 298 C lautet:
66 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
67 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
68 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
69 
Die genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch ausführlich HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 92 ff.; vgl. auch BVerfG, Kammerb. v. 21.12.1992 – 2 BvR 1263/92 - juris m.w.N.; BVerwG, U.v. 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; v. 25.01.1995 – 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere auch zur Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen diskriminierenden, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, U.v. 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960 – Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/ -, wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, „die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind“ (so BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts). Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden hier einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen nicht von ihnen ausgehen, sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 und 10; vgl. auch HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 34).
70 
Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung von sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, sollen etwa 2000 Strafverfahren gegen Ahmadis eingeleitet worden sein (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56; vgl. aber auch Ziffer 19.55 mit etwas niedrigeren Zahlen von ausdrücklich und im Einzelnen von der Glaubensgemeinschaft selbst dokumentierten Fällen); allein im Jahre 2006 soll es zu 21 Anklagen gegen Ahmadis gekommen sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 15, das im Übrigen ausdrücklich die steigende Tendenz als besorgniserregend qualifiziert, vgl. dort S. 5; vgl. auch Freedom House 2007, mit dem Hinweis auf eine Zunahme in den jüngsten Jahren; vgl. auch zu ähnlichen Zahlen Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.51; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 123 ff., wonach seit 1988 von 647 Fällen allein in den Medien berichtet worden sei). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären. Weitere Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz häufig nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt darauf beruht, dass sie zum Teil durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 9 f.). In der Regel werden die Betroffenen bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (U.S. Department of State, a.a.O., S. 10). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt (vgl. U.S. Department of State, a.a.O., S. 16 f.). Die Bestimmung der sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten (vgl. hierzu im Einzelnen HessVGH, U. v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 46 und 69).
71 
Was die Strafbestimmungen der sec. 298 B und C betrifft, sollen gegenwärtig etwa 1000 Verfahren anhängig sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; vgl. auch zu Zahlen der insgesamt durchgeführten Verfahren Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.55 f.), wobei hier die Angeklagten sich zumeist auf freiem Fuß befinden (vgl. zu den Hintergründen und Motiven für die Einleitung von Verfahren auch AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.57).
72 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen, in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn deren Gefühle durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2).
73 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte. Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten d).
74 
c) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf den öffentlich gebetet wird (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.53). Hingegen wird es Ahmadis nicht generell unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies durch die Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann und wird (AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen. Allerdings wird die gemeinsame Ausübung des Glaubens immer wieder dadurch behindert, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird, während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können, sowie Gebetshäuser oder Versammlungsstätten immer wieder von Extremisten überfallen werden (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.).
75 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
76 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
77 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten im weitesten Sinn sind verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus größere Verbreitung (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 4).
78 
d) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligen Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen untätig zugesehen und diese geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah, jetzt Chenab Nagar (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006). Zu in den 70-er Jahre vorgefallenen pogromartigen Ausschreitungen vergleichbaren Aktionen ist es jedoch nicht mehr gekommen.
79 
e) Nur der Vollständigkeit halber soll noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden, der allerdings das vom Senat für richtig gehaltene Ergebnis nicht entscheidend beeinflusst, sondern allenfalls zur Abrundung des Bildes beiträgt und geeignet ist: Die frühere überdurchschnittliche Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.62; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 114; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 16 f.). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65).
80 
3. Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) im Januar 2005 in der Weise zusammenfassend charakterisiert wurde, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellt für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung jedenfalls im Sinne einer kumulierenden Betrachtung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL darstellen. Der Präsident von amnesty international Pakistan wird dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführt, dass es – anders als bei Christen – niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.)
81 
Von zentraler Bedeutung für diese Schlussfolgerung des Senats ist dabei das gegen die Ahmadis gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung möglich sind.
82 
Bei diesem Ausgangspunkt kann nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung rechtfertigen würden. Denn es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten Übergriffe extremistischer Gruppen es der gesunde Menschenverstand nahe legen, wenn nicht gar gebieten wird, alle öffentlichkeitswirksamen Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Diese seit nunmehr weit über 20 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und –bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die bereits eingangs festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Insoweit muss die absolute Zahl der Strafverfahren und ihr Verhältnis zu der Zahl der gläubigen Ahmadis daher isoliert betrachtet notwendigerweise ein unzutreffendes Bild abgeben. Würden die gläubigen Ahmadis ihr selbstverständliches Menschenrecht aktiv wahrnehmen, so müssten sie bei realistischer Betrachtungsweise mit erheblichen und nach Art und Zahl zunehmenden Reaktionen von staatlicher Seite bzw. auch von Dritten rechnen. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für die Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, dass das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks ist.“
83 
3.2. Auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung beansprucht die vom Senat in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) dargestellte Einschätzung der Lage weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Nach aktueller Erkenntnislage kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Risiko für einfache Ahmadi, mit einem Strafverfahren nach dem Blasphemieparagrafen sec. 295c des pakistanischen Strafgesetzbuches oder den sonstigen sogenannten „Ahmadi-Paragrafen“ überzogen zu werden, signifikant erhöht hätte. Die vom Senat in dem genannten Urteil zugrunde gelegten Zahlenverhältnisse (vgl. insbesondere Randziffer 102 bis 104 im UA bei juris) treffen nach wie vor zu; allenfalls ist eine leichte Besserung der Verhältnisse eingetreten. So führt das Auswärtige Amt im seinem Lagebericht vom 22.10.2008 (Stand: September 2008) aus, dass im Jahre 2007 gegen 23 Ahmadis Anklage in Blasphemiefällen erhoben worden sei; die erhoffte Verbesserung der Lage sei deshalb nicht eingetreten. Die Zahl der Neufälle insgesamt stagniere bei ca. 50 pro Jahr und steige nicht weiter an. In seinem aktuellen Lagebericht vom 17.03.2010 (Stand: März 2010) geht das Auswärtige Amt für den Beurteilungszeitraum 2008 davon aus, dass gegen 14 Ahmadis wegen Blasphemie Anklage erhoben worden sei, mithin ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr beobachtet werden könne.
84 
Insgesamt gesehen steht diese zahlenmäßige Entwicklung mit den sonstigen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln in Einklang, auch wenn darin teilweise von leicht abweichenden Zahlen ausgegangen wird. So geht etwa das U.S. Department of State in seinem International Religious Freedom Report 2009 (Stand: 26. Oktober 2009) davon aus, dass nach eigenen Angaben von Organisationen der Ahmadiyya in Rabwah gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen Verstößen gegen die Religionsgesetze Strafverfahren eingeleitet worden seien, darunter in 18 Fällen wegen Blasphemievorwürfen und in 68 Fällen wegen Verstoßes gegen die sog. „Ahmadi-Gesetze“. Zu ähnlichen Zahlen gelangte das Home Office in seinem Country of Origin Report Pakistan vom 18.01.2010. Dort wird unter Berufung auf Ahmadi-Quellen davon ausgegangen, dass von Juni 2008 bis April 2009 gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen religiöser Gründe Strafverfahren eingeleitet worden seien, wobei eine genaue Unterscheidung der Vorwürfe und der Verfahrensstadien nicht erfolgt (vgl. Ziffer 19.63 des Reports). Ferner wird darin auch auf den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers angeführten Vorfall vom 8. Juni 2008 verwiesen, wonach ein FIR (First Information Report) gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah erstellt worden sei; dieser Vorfall wird vom U.S. Department of State in seinem Human Rights Report Pakistan 2009 (11. März 2010) bestätigt (S. 15). Entgegen der Meinung des Klägers kann aus letztgenanntem Vorfall jedoch nicht geschlossen werden, dass die vom Auswärtigen Amt wiedergegebenen Zahlen nicht mehr zutreffend sind. Wie sich insbesondere dem Human Rights Report Pakistan des U.S. Departement of State (S. 15) entnehmen lässt, hat das mit dem genannten FIR eingeleitete Verfahren bis zum dort genannten Zeitpunkt noch keinen Fortgang genommen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass dieser pauschale Vorwurf gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah Anlass für weitergehende strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen gegen einzelne Ahmadis bietet. Für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung können deshalb nur die Fälle berücksichtigt werden, in denen es tatsächlich zu individuellen Ermittlungsverfahren oder gar Anklagen gekommen ist. Neueres oder umfassenderes Zahlenmaterial, das eine abweichende Gefährdungsprognose ermöglichen könnte, liegt dem Senat nicht vor.
85 
3.3. Dafür, dass generell jeder pakistanische Staatsangehörige allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Verfolgung zu gegenwärtigen hätte, bestehen nach den obigen Ausführungen und den dort verwerteten Erkenntnismitteln keine hinreichenden Anhaltspunkte. Soweit eine innere und verpflichtende Verbundenheit nicht festgestellt werden kann, sind die Betreffenden, selbst wenn man die vorgenannten rechtlichen und tatsächlichen Vorgaben zur Auslegung der Qualifikationsrichtlinie und deren Anwendung auf die Lage der Ahmadis in Pakistan zu ihren Gunsten unterstellt, nicht in dem erforderlichen Maße von den im Einzelnen festgestellten Verfolgungshandlungen betroffen. Insbesondere stellt es nach Überzeugung des Senats keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar, wenn sich dieser Personenkreis in der Öffentlichkeit nicht als Muslim bezeichnen kann und darf. Die vom Senat verwerteten aktuellen Erkenntnismittel zeichnen, vor allem was den hier in erster Linie in den Blick zu nehmenden Aspekt der Verfolgungsdichte betrifft, kein grundlegend anderes Bild als dies in der Vergangenheit der Fall war (vgl. zu weiteren Nachweisen aus der auch älteren Rechtsprechung Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 -, a.a.O.). Nachdem nach wie vor die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya in Pakistan selbst davon ausgeht, dass sie insgesamt etwa 4 Millionen Angehörige zählt, darunter etwa 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder (vgl. Lagebericht des Antragsteller vom 17.03.2010, S. 13), sieht der Senat gegenwärtig keine ausreichende Grundlage dafür, dass die aktuelle Zahl in einem so signifikanten Maße darunter liegen könnte, dass eine vollständige Neubewertung des Bedrohungsszenarios erfolgen müsste.
86 
Dies gilt selbst dann, wenn in der Betrachtung allein die Zahl der aktiv ihren Glauben ausübenden Ahmadis, also die oben genannten 500.000 bis 600.000 Mitglieder, zugrunde gelegt wird. Auch bei dieser Untergruppe ergibt sich nicht die hinreichende Verfolgungsdichte, die eine Gruppenverfolgung nach dem oben Gesagten voraussetzt. Diese Betrachtung wird, soweit ersichtlich, im Übrigen von der sonstigen oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geteilt (vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 13.11.2008 - A 1 B 550/07 -, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29.06.2005 - 2 L 208/01 -, juris).
87 
4. Der Senat konnte, insbesondere aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Falle einer Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre.
88 
a) Der Senat vermochte dabei die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderte Ausübung seiner Religion in Pakistan und die von ihm in der Heimatgemeinde angeblich wahrgenommenen Funktionen weitgehend nicht zu glauben. Seine Angaben hierzu wichen nicht nur in teils erheblichem Maße von seinen Schilderungen im Asylerstverfahren ab, sie waren vor allem auch mit der vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2005 nicht in Einklang zu bringen. So gab der Kläger etwa in der mündlichen Verhandlung an, er habe in seiner Heimatgemeinde die Funktion eines „Saik“ inne gehabt, neben ihm habe nur noch eine weitere Person dieses Amt ausgeübt. Seine Aufgabe habe darin bestanden, sämtliche Mitglieder der Ahmadyyia-Gemeinde im Heimatdorf fünf Mal täglich von den Gebetszeiten zu unterrichten und dazu zu bewegen, in die Moschee zu kommen. Dabei ist es für den Senat bereits schwer nachzuvollziehen, wie der Kläger angesichts der Größe seines Heimatortes mit ca. 30.000 Einwohnern fünf Mal am Tag im Stadtgebiet verstreut wohnende 70 bis 80 Familien aufgesucht haben will. Entscheidend für die fehlende Glaubhaftigkeit ist jedoch, dass diese Angaben nicht mit der in sich stimmigen, auf den Erklärungen zahlreicher Vertrauenspersonen beruhenden Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2006 in Einklag stehen, an deren Richtigkeit der Senat keine Zweifel hat. Zwar bestätigte das Auswärtige Amt die Angaben des Klägers, wonach er die Funktion eines Saiks in seinem Heimatdorf Chak Nr. 18 inne hatte; er sei jedoch lediglich einer von acht bis zehn Saiks gewesen. Auch ist die Funktion eines Saik nach Auskunft des Auswärtigen Amtes eher mit der eines freiwilligen Gemeindehelfers zu vergleichen, der die Jugendlichen näher an die Religion heranbringen und sie auf ihre Pflichten aufmerksam machen soll. Dieser Widerspruch konnte auch durch entsprechende Vorhalte an den Kläger nicht aufgeklärt werden. Vielmehr relativierte der Kläger seine Angaben dann teilweise dahingehend, dass das Amt eines Saik durchaus erzieherische Elemente habe, nämlich durch die Motivation der Jugendlichen zur Teilnahme am Gebet. Ferner blieben die Einlassungen des Klägers in der mündlichen Berufungsverhandlung erheblich hinter den Schilderungen seiner in der Heimatgemeinde wahrgenommenen Ämter im Asylerstverfahren zurück, etwa was die angebliche stellvertretende Leitungsfunktion betrifft.
89 
b) Was die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angeht, so waren diese zumindest überwiegend glaubhaft. Der Senat glaubt dem Kläger uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2001 in der zuständigen Gemeinde der Ahmadis in Balingen betätigt, regelmäßig zum Gebet in die dortige Moschee geht und verschiedene Funktionen ausübt. So schilderte der Kläger etwa überzeugend und glaubhaft, wie er für die Gemeinde Fahrdienste leistet, an Informationsveranstaltungen mitwirkt und sich in sonstiger Weise vielfältig sozial und kulturell für seine Gemeinde engagiert. Auffällig war in diesem Zusammenhang jedoch, dass der Kläger spontan von sich aus vor allem kulturelle und soziale Aktivitäten schilderte, die mit dem Kernbereich der Glaubensausübung nur wenig zu tun haben. Vor allem entfaltete der Kläger nach seinen eigenen Angaben keine nennenswerten missionarischen Aktivitäten, obwohl es eine zentrale Intention seiner Glaubensgemeinschaft ist, eigene Landsleute vom Glauben zu überzeugen. Erst auf Nachfrage gab der Kläger in diesem Zusammenhang an, er unterhalte sich mit anderen Moslems in seiner Unterkunft bzw. am Arbeitsplatz genauso wie mit Christen über Glaubensinhalte. Diese Gespräche waren nach seinen eigenen Angaben jedoch von dem Bemühen geprägt, sich für Verständigung und ein gutes Zusammenleben zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften einzusetzen bzw. bestehende Missverständnisse und Animositäten zwischen den Glaubensgemeinschaften auszuräumen. Aktive Missionierungsbemühungen, also Versuche, Andersgläubige von der Richtigkeit des eigenen Glaubens zu überzeugen, wurden von dem Kläger auch auf Nachfrage nicht geschildert. Dies wurde im Übrigen auch durch die informatorische Befragung der Lebensgefährtin des Klägers verdeutlicht, wonach er ihr gegenüber ebenfalls keinerlei Missionierungsbemühungen entfalte.
90 
Schließlich waren die Angaben des Klägers zu den maßgeblichen Glaubensinhalten und deren Bedeutung für sein Leben relativ undifferenziert, wenn er etwa auf die Frage nach den wesentlichen Unterschieden zu dem Glauben der Mehrheit der Muslime lediglich ausführen konnte, dass die Ahmadis glaubten, der Messias sei schon gekommen und die anderen dies nicht glauben würden. Auch auf Nachfrage konnte er lediglich angeben, dass die Ahmadis an ihre Kalifen, die anderen jedoch nicht daran glaubten. Ebenso vage blieben die Angaben des Klägers, wie er seinen Glauben bei einer unterstellten Rückkehr nach Pakistan auszuüben gedenke.
91 
Nach alledem vermochte der Senat nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass der Kläger in einer wirklich engen und verpflichtenden Beziehung zum Glauben der Ahmadis steht und es insbesondere als für sich verpflichtend ansieht, in irgendeiner Weise auch für diesen Glauben öffentlich einzutreten.
92 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.
93 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein gesetzlicher Zulassungsgrund gemäß § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
24 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig unter Stellung eines Antrags und unter Bezugnahme auf die ausführliche Begründung des Zulassungsantrags begründete Berufung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420 m.w.N.) bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts stellt sich im Ergebnis als richtig dar. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.01.2007 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Buchst. c der zur Auslegung heranzuziehenden Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) im Wege des Asylfolgeverfahrens.
25 
Entsprechend der Berufungszulassung ist Gegenstand des Berufungsverfahrens nur noch die von dem Kläger begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG, nicht auch die im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.
26 
Da der erste Asylantrag des Klägers bereits im Jahre 2006 bestandskräftig abgelehnt wurde, handelt es sich bei dem gegenständlichen Asylantrag um einen Folgeantrag. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor (1.). Auch hat sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG sowohl der flüchtlingsrechtliche Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit als auch der anwendbare Prognosemaßstab für eine festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit im Vergleich zu den im Asylerstverfahren einschlägigen Vorgaben verändert (2.). Jedoch kann sich der Kläger auch bei Anwendung dieses günstigeren Maßstabs für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf den Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung der Ahmadis berufen (3.). Eine - grundsätzlich denkbare - individuelle flüchtlingsrelevante Rückkehrgefährdung scheidet mangels hinreichender Glaubensgebundenheit des Klägers aus (4.).
27 
1. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auf einen nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags gestellten Folgeantrag ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Hiernach setzt ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens insbesondere voraus, dass eine Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten ist oder neue Beweismittel vorliegen und dass die Geeignetheit dieser Umstände für eine dem Antragsteller günstigere Entscheidung schlüssig dargelegt wird. Der Folgeantrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene Kenntnis von dem Wiederaufgreifensgrund hat (§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG). Diese einschränkenden Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG finden auch dann Anwendung, wenn der Antragsteller in einem weiteren Verfahren eine ihm günstige Rechtsänderung unter Hinweis auf die nunmehr eingetretene unmittelbare Wirkung der Richtlinie 2004/83/EG geltend macht (vgl. hierzu Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren Az.: A 10 S 688/08).
28 
a) Entgegen der vom Bundesamt in seinem Bescheid vom 22.01.2007 vertretenen Auffassung ist mit Rücksicht auf die Qualifikationsrichtlinie und in Bezug auf die Beurteilung der maßgeblichen Lage der Ahmadis in Pakistan eine relevante Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris). Ob für den Betroffenen tatsächlich eine günstigere Entscheidung im Einzelfall in Betracht kommt, muss der Prüfung in dem durchzuführenden Asylfolgeverfahren vorbehalten bleiben; das Bundesamt hat zu Unrecht in dem versagenden Bescheid eine Vollprüfung am Maßstab der Richtlinie vorgenommen und mit diesen Überlegungen einen Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG verneint. Nach der Konzeption des Asylverfahrensgesetzes ist jedoch eine abschließende Prüfung der Erheblichkeit der geltend gemachten Sachverhalts- oder Rechtsänderung auf einer zweiten Stufe erst dem weiteren Asylverfahren vorbehalten, sofern eine günstige Entscheidung aufgrund der geänderten Umstände jedenfalls möglich erscheint. Deshalb muss es auch ausreichen, wenn der Betroffene innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG sich auf die mögliche Rechtsänderung durch das Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie berufen hat; der Vortrag weiterer Tatsachen, die einen Rückschluss darauf zulassen, dass ein Ahmadi mit seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie aktuell aktiv ausgeübt hat, ist demgegenüber keine Zulässigkeitsvoraussetzung (a. A. VG des Saarlandes, Urteil vom 20.01.2010 - 5 K 621/08 - juris).
29 
b) Wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht erkannt hat, steht einem Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG unter dem Gesichtspunkt der Rechtsänderung auch nicht entgegen, dass es bereits in seinem das Erstverfahren abschließenden Urteil vom 28.10.2005 (Az.: A 6 K 12413/03) die materiellen Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie zumindest hilfsweise seiner inhaltlichen Prüfung zugrunde gelegt hat. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Urteil offen gelassen, ob der Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz bereits einen Teil der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt hat und bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kraft nationalen Rechts im Lichte von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang dann im Einzelnen näher dargelegt, dass selbst bei Anwendung der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie nicht von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan ausgegangen werden könne, da Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG eine mit dem nationalen Recht vergleichbare Struktur aufweise und den Schutzbereich der Religionsausübung nicht über die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze zum „forum internum“ hinaus erweitert habe.
30 
Diese vom Verwaltungsgericht der Sache nach vorgenommene Überprüfung des Asylbegehrens anhand der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie steht der Annahme einer Rechtsänderung nicht entgegen. Maßgeblich ist allein, dass erst mit Ablauf des 10.10.2006 (Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie und Eintritt deren unmittelbarer Anwendbarkeit, vgl. Art. 38 Abs. 1 QRL) objektiv-rechtlich eine Rechtsänderung eingetreten ist. Für dieses Verständnis sprechen nicht zuletzt Gesichtspunkte des effektiven Rechtsschutzes. Da der Senat in seinem die Zulassung der Berufung ablehnenden Beschluss vom 31.05.2006 (Az.: A 10 S 25/06) die vom Verwaltungsgericht erwogene Vorwirkung bzw. vorzeitige Umsetzung des Richtlinienentwurfs in nationales Recht abgelehnt hat, war dem Kläger eine obergerichtliche Überprüfung des vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Verständnisses der Qualifikationsrichtlinie verwehrt. Der Kläger konnte daher im Asylerstverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, dass sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG gerade im Hinblick auf die Religionsausübungsfreiheit eine Erweiterung des Schutzbereichs ergeben hat.
31 
c) Der Kläger hat auch die maßgebliche Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG eingehalten, ohne dass es darauf ankommt, wann der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter positive Kenntnis von der Rechtsänderung erlangt hat. Da der Kläger seinen Asylfolgeantrag persönlich bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes bereits am 10.01.2007 gestellt hat, wird auch die denkbar kürzeste Frist (drei Monate ab Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie) gewahrt.
32 
Nach alledem liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor. Was die unanfechtbare negative Entscheidung des Erstverfahrens und die dort gewürdigten individuellen Vorfluchtgründe betrifft, ist jedoch eine erneute Überprüfung und Bewertung im weiteren Asylverfahren nicht eröffnet. Denn die Qualifikationsrichtlinie misst sich keine Geltung auch für Sachverhalte bei, über die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens oder bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist unanfechtbar entschieden wurde (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris ). Im Folgenden ist deshalb lediglich zu überprüfen, ob bei Anwendung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie bzw. deren Umsetzung durch § 60 Abs. 1 AufenthG eine flüchtlingsrechtlich relevante individuelle oder gruppenbezogene Rückkehrgefährdung des Klägers besteht.
33 
2. Der Senat geht im Anschluss an sein Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert hat.
34 
2.1.a) Art. 10 QRL definiert in Anknüpfung an Art. 2 Buchst. c QRL die flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgründe. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere der Schutz der Religionsausübung gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. b QRL maßgeblich. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Die Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definiert, was unter dem Verfolgungsgrund der Religion zu verstehen ist, d. h. an welche religiösen Einstellungen oder Betätigungen eine Verfolgungshandlung anknüpfen muss, um flüchtlingsrechtlich beachtlich zu sein. Die Vorschrift gewährleistet dabei bereits nach ihrem Wortlaut für den Einzelnen einen sehr weitgehenden Schutz, wenn sie sowohl die Entscheidung, aus innerer Überzeugung religiös zu leben, wie auch die Entscheidung, aufgrund religiösen Desinteresses jede religiöse Betätigung zu unterlassen, schützt und dem Einzelnen zubilligt, dass er sich zu seiner religiösen Grundentscheidung auch nach außen bekennen darf, insbesondere auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen erfasst wird.
35 
Wie im Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, dürfte die Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinausgehen, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16 a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt wurde, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede steht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehört somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung sind nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst wird schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen (vgl. Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032.07 - a.a.O. sowie Bay. VGH, Urteil vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - InfAuslR 2008, 101).
36 
b) Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setzt darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt wird, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmacht (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL), wobei in Art. 9 Abs. 2 QRL beispielhaft verschiedene in Betracht zu ziehende Verfolgungshandlungen benannt werden. Erst an dieser Stelle erweist sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden kann, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitzt.
37 
Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt in jedem Falle dann vor, wenn der Gläubige so schwerwiegend an der Ausübung seines Glaubens gehindert wird, dass das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Kernbereich verletzt wird. Der Kern der Religionsfreiheit ist für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar und gehört damit zum menschenrechtlichen Mindeststandard. Er ist nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar (vgl. zu den Einzelheiten etwa BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <158 ff.>; sowie BVerwG, Urteile vom 20.01.2004 - 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 und vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - a.a.O.). Wird dieser Kernbereich verletzt, ist in jedem Fall eine schwerwiegende Rechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu bejahen und dementsprechend Flüchtlingsschutz zu gewähren.
38 
Der in Art. 9 Abs. 2 QRL entfaltete beispielhafte Katalog (insbesondere Buchst. b und d) möglicher Verfolgungshandlungen macht jedoch deutlich, dass eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nicht nur dann gegeben ist, wenn durch die Verfolgungshandlung - von Eingriffen in Leib oder Leben abgesehen - in die physische Bewegungsfreiheit eingegriffen wird, und dass der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der Freiheit nicht in diesem engen Sinne verstanden werden kann. Vielmehr können erhebliche Einschränkungen oder Verbote öffentlicher Glaubensbetätigung, die nach dem Verständnis der jeweiligen Religion oder dem - nicht notwendigerweise völlig identischen - glaubhaft dargelegten Verständnisses des einzelnen Flüchtlings von grundlegender Bedeutung sind, zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, sofern sie nicht in völkerrechtskonformer Ausübung der jeweiligen Schrankenregelungen erfolgen. Insbesondere kann hiernach den Betroffenen nicht angesonnen werden, diese zu unterlassen, um keine entsprechend vorgesehenen Sanktionen herauszufordern.
39 
2.2.a) Wie vom Senat bereits in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07- a.a.O.) näher dargestellt, hat sich unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie auch der Prognosemaßstab für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert. Nach Art. 4 Abs. 3 QRL ist - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung - eine strikt einzelfallbezogene Betrachtung vorzunehmen. Soweit nach der bisherigen Rechtsprechung für die Beurteilung der Frage, ob einem Flüchtling nach den Maßstäben des § 60 Abs. 1 AufenthG Schutz zu gewähren ist, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen waren, je nachdem, ob dieser seinen Heimatstaat auf der Flucht vor bereits eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <344 ff.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; st. Rspr.), trifft die Qualifikationsrichtlinie eine entsprechende Unterscheidung ebenfalls. So ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgericht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenziert zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen, zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
40 
b) Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdulla -). Der in dem Tatbestandsmerkmal „…tatsächlich Gefahr liefe…“ des Art. 2 Buchst. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330, RdNr. 125 ff. - Saadi -); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192).
41 
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden; die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 - a.a.O). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände der Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - a.a.O.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
42 
2.3. Nicht anders als im Falle des Asylgrundrechts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143) gilt auch hier, dass eine pauschale und rein formale Betrachtung aller Angehörigen einer Religionsgemeinschaft nicht sachgerecht sein kann und daher ausscheiden muss. Es leuchtet unmittelbar ein, dass nach Maßgabe der jeweiligen religiösen Bindungen des einzelnen Asylsuchenden und abhängig von den Verhältnissen im Herkunftsland die Betroffenheit in dem Menschenrecht und daher dessen Beeinträchtigung überhaupt, jedenfalls aber deren Schwere völlig unterschiedliches Gewicht haben können. Allerdings ist an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für eine Gruppenverfolgung auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 sowie Beschluss vom 02.02.2010 - 10 B 18.09 -, juris).
43 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines staatlichen Verfolgungspogroms - (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200).
44 
b) Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Bezug gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.). An diesem Grundkonzept hat sich nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG nichts geändert. Es stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.).
45 
3. Der Kläger kann sich bei Anwendung dieser Grundsätze für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung der Gruppe der Ahmadis (oder der Untergruppe der ihren Glauben aktiv ausübenden Ahmadis) berufen.
46 
3.1 Die Lage in Pakistan - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs des Klägers von Bedeutung ist - stellt sich auch im September 2010 im Wesentlichen so wie bereits im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) geschildert dar. Der Senat hat in diesem Urteil folgendes ausgeführt:
47 
„Nach Auswertung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel stellt sich vermutlich die Lage der Ahmadis in Pakistan für den Senat, wie folgt, dar:
48 
1. Zur Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya und ihrer Entstehung hat der HessVGH im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A – juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
49 
„.Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
50 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubens-gemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
51 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bayer. VGH am 22.01.1985, S. 7).
52 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
53 
Auch die aktuellen Zahlen sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern und diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.41). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 18.05.2007, S. 16) nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien.
54 
2. Die Lage der Ahmadis wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
55 
a) Der Islam wird in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist allerdings von Verfassungs wegen garantiert (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit bezeichnet und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
56 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren können und nur solche wählen können. Um ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.34 ff.). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16).
57 
b) Seit 1984 bzw.1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und diese gewissermaßen zur Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung in den Blick nehmen.
58 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <146>):
59 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
60 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ameerui Mumineen', 'Khalifar-ul-Mimineem', 'Shaabi' oder 'Razi-Allah-Anho' bezeichnet oder anredet;
61 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ummul-Mumineen' bezeichnet oder anredet;
62 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ahle-bait' bezeichnet oder anredet;
63 
d) sein Gotteshaus als 'Masjid' bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
64 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als 'Azan' bezeichnet oder den 'Azan' so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
65 
Sec. 298 C lautet:
66 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
67 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
68 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
69 
Die genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch ausführlich HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 92 ff.; vgl. auch BVerfG, Kammerb. v. 21.12.1992 – 2 BvR 1263/92 - juris m.w.N.; BVerwG, U.v. 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; v. 25.01.1995 – 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere auch zur Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen diskriminierenden, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, U.v. 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960 – Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/ -, wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, „die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind“ (so BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts). Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden hier einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen nicht von ihnen ausgehen, sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 und 10; vgl. auch HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 34).
70 
Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung von sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, sollen etwa 2000 Strafverfahren gegen Ahmadis eingeleitet worden sein (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56; vgl. aber auch Ziffer 19.55 mit etwas niedrigeren Zahlen von ausdrücklich und im Einzelnen von der Glaubensgemeinschaft selbst dokumentierten Fällen); allein im Jahre 2006 soll es zu 21 Anklagen gegen Ahmadis gekommen sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 15, das im Übrigen ausdrücklich die steigende Tendenz als besorgniserregend qualifiziert, vgl. dort S. 5; vgl. auch Freedom House 2007, mit dem Hinweis auf eine Zunahme in den jüngsten Jahren; vgl. auch zu ähnlichen Zahlen Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.51; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 123 ff., wonach seit 1988 von 647 Fällen allein in den Medien berichtet worden sei). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären. Weitere Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz häufig nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt darauf beruht, dass sie zum Teil durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 9 f.). In der Regel werden die Betroffenen bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (U.S. Department of State, a.a.O., S. 10). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt (vgl. U.S. Department of State, a.a.O., S. 16 f.). Die Bestimmung der sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten (vgl. hierzu im Einzelnen HessVGH, U. v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 46 und 69).
71 
Was die Strafbestimmungen der sec. 298 B und C betrifft, sollen gegenwärtig etwa 1000 Verfahren anhängig sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; vgl. auch zu Zahlen der insgesamt durchgeführten Verfahren Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.55 f.), wobei hier die Angeklagten sich zumeist auf freiem Fuß befinden (vgl. zu den Hintergründen und Motiven für die Einleitung von Verfahren auch AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.57).
72 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen, in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn deren Gefühle durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2).
73 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte. Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten d).
74 
c) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf den öffentlich gebetet wird (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.53). Hingegen wird es Ahmadis nicht generell unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies durch die Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann und wird (AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen. Allerdings wird die gemeinsame Ausübung des Glaubens immer wieder dadurch behindert, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird, während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können, sowie Gebetshäuser oder Versammlungsstätten immer wieder von Extremisten überfallen werden (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.).
75 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
76 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
77 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten im weitesten Sinn sind verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus größere Verbreitung (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 4).
78 
d) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligen Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen untätig zugesehen und diese geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah, jetzt Chenab Nagar (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006). Zu in den 70-er Jahre vorgefallenen pogromartigen Ausschreitungen vergleichbaren Aktionen ist es jedoch nicht mehr gekommen.
79 
e) Nur der Vollständigkeit halber soll noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden, der allerdings das vom Senat für richtig gehaltene Ergebnis nicht entscheidend beeinflusst, sondern allenfalls zur Abrundung des Bildes beiträgt und geeignet ist: Die frühere überdurchschnittliche Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.62; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 114; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 16 f.). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65).
80 
3. Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) im Januar 2005 in der Weise zusammenfassend charakterisiert wurde, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellt für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung jedenfalls im Sinne einer kumulierenden Betrachtung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL darstellen. Der Präsident von amnesty international Pakistan wird dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführt, dass es – anders als bei Christen – niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.)
81 
Von zentraler Bedeutung für diese Schlussfolgerung des Senats ist dabei das gegen die Ahmadis gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung möglich sind.
82 
Bei diesem Ausgangspunkt kann nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung rechtfertigen würden. Denn es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten Übergriffe extremistischer Gruppen es der gesunde Menschenverstand nahe legen, wenn nicht gar gebieten wird, alle öffentlichkeitswirksamen Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Diese seit nunmehr weit über 20 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und –bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die bereits eingangs festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Insoweit muss die absolute Zahl der Strafverfahren und ihr Verhältnis zu der Zahl der gläubigen Ahmadis daher isoliert betrachtet notwendigerweise ein unzutreffendes Bild abgeben. Würden die gläubigen Ahmadis ihr selbstverständliches Menschenrecht aktiv wahrnehmen, so müssten sie bei realistischer Betrachtungsweise mit erheblichen und nach Art und Zahl zunehmenden Reaktionen von staatlicher Seite bzw. auch von Dritten rechnen. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für die Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, dass das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks ist.“
83 
3.2. Auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung beansprucht die vom Senat in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) dargestellte Einschätzung der Lage weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Nach aktueller Erkenntnislage kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Risiko für einfache Ahmadi, mit einem Strafverfahren nach dem Blasphemieparagrafen sec. 295c des pakistanischen Strafgesetzbuches oder den sonstigen sogenannten „Ahmadi-Paragrafen“ überzogen zu werden, signifikant erhöht hätte. Die vom Senat in dem genannten Urteil zugrunde gelegten Zahlenverhältnisse (vgl. insbesondere Randziffer 102 bis 104 im UA bei juris) treffen nach wie vor zu; allenfalls ist eine leichte Besserung der Verhältnisse eingetreten. So führt das Auswärtige Amt im seinem Lagebericht vom 22.10.2008 (Stand: September 2008) aus, dass im Jahre 2007 gegen 23 Ahmadis Anklage in Blasphemiefällen erhoben worden sei; die erhoffte Verbesserung der Lage sei deshalb nicht eingetreten. Die Zahl der Neufälle insgesamt stagniere bei ca. 50 pro Jahr und steige nicht weiter an. In seinem aktuellen Lagebericht vom 17.03.2010 (Stand: März 2010) geht das Auswärtige Amt für den Beurteilungszeitraum 2008 davon aus, dass gegen 14 Ahmadis wegen Blasphemie Anklage erhoben worden sei, mithin ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr beobachtet werden könne.
84 
Insgesamt gesehen steht diese zahlenmäßige Entwicklung mit den sonstigen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln in Einklang, auch wenn darin teilweise von leicht abweichenden Zahlen ausgegangen wird. So geht etwa das U.S. Department of State in seinem International Religious Freedom Report 2009 (Stand: 26. Oktober 2009) davon aus, dass nach eigenen Angaben von Organisationen der Ahmadiyya in Rabwah gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen Verstößen gegen die Religionsgesetze Strafverfahren eingeleitet worden seien, darunter in 18 Fällen wegen Blasphemievorwürfen und in 68 Fällen wegen Verstoßes gegen die sog. „Ahmadi-Gesetze“. Zu ähnlichen Zahlen gelangte das Home Office in seinem Country of Origin Report Pakistan vom 18.01.2010. Dort wird unter Berufung auf Ahmadi-Quellen davon ausgegangen, dass von Juni 2008 bis April 2009 gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen religiöser Gründe Strafverfahren eingeleitet worden seien, wobei eine genaue Unterscheidung der Vorwürfe und der Verfahrensstadien nicht erfolgt (vgl. Ziffer 19.63 des Reports). Ferner wird darin auch auf den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers angeführten Vorfall vom 8. Juni 2008 verwiesen, wonach ein FIR (First Information Report) gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah erstellt worden sei; dieser Vorfall wird vom U.S. Department of State in seinem Human Rights Report Pakistan 2009 (11. März 2010) bestätigt (S. 15). Entgegen der Meinung des Klägers kann aus letztgenanntem Vorfall jedoch nicht geschlossen werden, dass die vom Auswärtigen Amt wiedergegebenen Zahlen nicht mehr zutreffend sind. Wie sich insbesondere dem Human Rights Report Pakistan des U.S. Departement of State (S. 15) entnehmen lässt, hat das mit dem genannten FIR eingeleitete Verfahren bis zum dort genannten Zeitpunkt noch keinen Fortgang genommen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass dieser pauschale Vorwurf gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah Anlass für weitergehende strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen gegen einzelne Ahmadis bietet. Für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung können deshalb nur die Fälle berücksichtigt werden, in denen es tatsächlich zu individuellen Ermittlungsverfahren oder gar Anklagen gekommen ist. Neueres oder umfassenderes Zahlenmaterial, das eine abweichende Gefährdungsprognose ermöglichen könnte, liegt dem Senat nicht vor.
85 
3.3. Dafür, dass generell jeder pakistanische Staatsangehörige allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Verfolgung zu gegenwärtigen hätte, bestehen nach den obigen Ausführungen und den dort verwerteten Erkenntnismitteln keine hinreichenden Anhaltspunkte. Soweit eine innere und verpflichtende Verbundenheit nicht festgestellt werden kann, sind die Betreffenden, selbst wenn man die vorgenannten rechtlichen und tatsächlichen Vorgaben zur Auslegung der Qualifikationsrichtlinie und deren Anwendung auf die Lage der Ahmadis in Pakistan zu ihren Gunsten unterstellt, nicht in dem erforderlichen Maße von den im Einzelnen festgestellten Verfolgungshandlungen betroffen. Insbesondere stellt es nach Überzeugung des Senats keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar, wenn sich dieser Personenkreis in der Öffentlichkeit nicht als Muslim bezeichnen kann und darf. Die vom Senat verwerteten aktuellen Erkenntnismittel zeichnen, vor allem was den hier in erster Linie in den Blick zu nehmenden Aspekt der Verfolgungsdichte betrifft, kein grundlegend anderes Bild als dies in der Vergangenheit der Fall war (vgl. zu weiteren Nachweisen aus der auch älteren Rechtsprechung Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 -, a.a.O.). Nachdem nach wie vor die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya in Pakistan selbst davon ausgeht, dass sie insgesamt etwa 4 Millionen Angehörige zählt, darunter etwa 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder (vgl. Lagebericht des Antragsteller vom 17.03.2010, S. 13), sieht der Senat gegenwärtig keine ausreichende Grundlage dafür, dass die aktuelle Zahl in einem so signifikanten Maße darunter liegen könnte, dass eine vollständige Neubewertung des Bedrohungsszenarios erfolgen müsste.
86 
Dies gilt selbst dann, wenn in der Betrachtung allein die Zahl der aktiv ihren Glauben ausübenden Ahmadis, also die oben genannten 500.000 bis 600.000 Mitglieder, zugrunde gelegt wird. Auch bei dieser Untergruppe ergibt sich nicht die hinreichende Verfolgungsdichte, die eine Gruppenverfolgung nach dem oben Gesagten voraussetzt. Diese Betrachtung wird, soweit ersichtlich, im Übrigen von der sonstigen oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geteilt (vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 13.11.2008 - A 1 B 550/07 -, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29.06.2005 - 2 L 208/01 -, juris).
87 
4. Der Senat konnte, insbesondere aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Falle einer Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre.
88 
a) Der Senat vermochte dabei die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderte Ausübung seiner Religion in Pakistan und die von ihm in der Heimatgemeinde angeblich wahrgenommenen Funktionen weitgehend nicht zu glauben. Seine Angaben hierzu wichen nicht nur in teils erheblichem Maße von seinen Schilderungen im Asylerstverfahren ab, sie waren vor allem auch mit der vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2005 nicht in Einklang zu bringen. So gab der Kläger etwa in der mündlichen Verhandlung an, er habe in seiner Heimatgemeinde die Funktion eines „Saik“ inne gehabt, neben ihm habe nur noch eine weitere Person dieses Amt ausgeübt. Seine Aufgabe habe darin bestanden, sämtliche Mitglieder der Ahmadyyia-Gemeinde im Heimatdorf fünf Mal täglich von den Gebetszeiten zu unterrichten und dazu zu bewegen, in die Moschee zu kommen. Dabei ist es für den Senat bereits schwer nachzuvollziehen, wie der Kläger angesichts der Größe seines Heimatortes mit ca. 30.000 Einwohnern fünf Mal am Tag im Stadtgebiet verstreut wohnende 70 bis 80 Familien aufgesucht haben will. Entscheidend für die fehlende Glaubhaftigkeit ist jedoch, dass diese Angaben nicht mit der in sich stimmigen, auf den Erklärungen zahlreicher Vertrauenspersonen beruhenden Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2006 in Einklag stehen, an deren Richtigkeit der Senat keine Zweifel hat. Zwar bestätigte das Auswärtige Amt die Angaben des Klägers, wonach er die Funktion eines Saiks in seinem Heimatdorf Chak Nr. 18 inne hatte; er sei jedoch lediglich einer von acht bis zehn Saiks gewesen. Auch ist die Funktion eines Saik nach Auskunft des Auswärtigen Amtes eher mit der eines freiwilligen Gemeindehelfers zu vergleichen, der die Jugendlichen näher an die Religion heranbringen und sie auf ihre Pflichten aufmerksam machen soll. Dieser Widerspruch konnte auch durch entsprechende Vorhalte an den Kläger nicht aufgeklärt werden. Vielmehr relativierte der Kläger seine Angaben dann teilweise dahingehend, dass das Amt eines Saik durchaus erzieherische Elemente habe, nämlich durch die Motivation der Jugendlichen zur Teilnahme am Gebet. Ferner blieben die Einlassungen des Klägers in der mündlichen Berufungsverhandlung erheblich hinter den Schilderungen seiner in der Heimatgemeinde wahrgenommenen Ämter im Asylerstverfahren zurück, etwa was die angebliche stellvertretende Leitungsfunktion betrifft.
89 
b) Was die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angeht, so waren diese zumindest überwiegend glaubhaft. Der Senat glaubt dem Kläger uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2001 in der zuständigen Gemeinde der Ahmadis in Balingen betätigt, regelmäßig zum Gebet in die dortige Moschee geht und verschiedene Funktionen ausübt. So schilderte der Kläger etwa überzeugend und glaubhaft, wie er für die Gemeinde Fahrdienste leistet, an Informationsveranstaltungen mitwirkt und sich in sonstiger Weise vielfältig sozial und kulturell für seine Gemeinde engagiert. Auffällig war in diesem Zusammenhang jedoch, dass der Kläger spontan von sich aus vor allem kulturelle und soziale Aktivitäten schilderte, die mit dem Kernbereich der Glaubensausübung nur wenig zu tun haben. Vor allem entfaltete der Kläger nach seinen eigenen Angaben keine nennenswerten missionarischen Aktivitäten, obwohl es eine zentrale Intention seiner Glaubensgemeinschaft ist, eigene Landsleute vom Glauben zu überzeugen. Erst auf Nachfrage gab der Kläger in diesem Zusammenhang an, er unterhalte sich mit anderen Moslems in seiner Unterkunft bzw. am Arbeitsplatz genauso wie mit Christen über Glaubensinhalte. Diese Gespräche waren nach seinen eigenen Angaben jedoch von dem Bemühen geprägt, sich für Verständigung und ein gutes Zusammenleben zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften einzusetzen bzw. bestehende Missverständnisse und Animositäten zwischen den Glaubensgemeinschaften auszuräumen. Aktive Missionierungsbemühungen, also Versuche, Andersgläubige von der Richtigkeit des eigenen Glaubens zu überzeugen, wurden von dem Kläger auch auf Nachfrage nicht geschildert. Dies wurde im Übrigen auch durch die informatorische Befragung der Lebensgefährtin des Klägers verdeutlicht, wonach er ihr gegenüber ebenfalls keinerlei Missionierungsbemühungen entfalte.
90 
Schließlich waren die Angaben des Klägers zu den maßgeblichen Glaubensinhalten und deren Bedeutung für sein Leben relativ undifferenziert, wenn er etwa auf die Frage nach den wesentlichen Unterschieden zu dem Glauben der Mehrheit der Muslime lediglich ausführen konnte, dass die Ahmadis glaubten, der Messias sei schon gekommen und die anderen dies nicht glauben würden. Auch auf Nachfrage konnte er lediglich angeben, dass die Ahmadis an ihre Kalifen, die anderen jedoch nicht daran glaubten. Ebenso vage blieben die Angaben des Klägers, wie er seinen Glauben bei einer unterstellten Rückkehr nach Pakistan auszuüben gedenke.
91 
Nach alledem vermochte der Senat nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass der Kläger in einer wirklich engen und verpflichtenden Beziehung zum Glauben der Ahmadis steht und es insbesondere als für sich verpflichtend ansieht, in irgendeiner Weise auch für diesen Glauben öffentlich einzutreten.
92 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.
93 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein gesetzlicher Zulassungsgrund gemäß § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.

Die Klägerin trägt 1/3 und die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die nach ihren Angaben am ... in ... (Kreis Sangri, Bezirk Lhoka) in Tibet / Volksrepublik China geborene und zuletzt wohnhafte Klägerin ist nach ihrem Vorbringen chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit. Wie sie weiter angab, reiste sie am 27.11.2008 mit dem Flugzeug von Nepal und auf weiter ungeklärte Weise in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15.12.2008 stellte sie einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hörte sie am 12.02.2009 zu ihrem Begehren an. Sie gab an, sie habe einen älteren Bruder gehabt, der am 16.06.2008 von chinesischen Polizisten getötet worden sei. Der Bruder habe sich an diesem Tage bei ihr versteckt, nachdem er erzählt habe, die Polizei suche ihn, weil er am 10.03.2008 in Lhasa gegen China demonstriert habe. Als sie am 18.06.2008 zu ihrem Zelt zurückgekehrt sei, sei ihr Bruder verschwunden gewesen. Am 30.06.2008 habe man seine Leiche gefunden. Am 05.07.2008 seien drei Polizisten gekommen. Sie hätten sie ins Auto gezerrt und vergewaltigt. Sie hätten gesagt, ihr Bruder sei ein Reaktionär und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“. Am 09. und 15.07.2008 sei sie wieder von den Polizisten vergewaltigt worden. Daraufhin sei sie zu ihrem Onkel gegangen, der ihr bei der Ausreise geholfen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Mit Bescheid vom 21.04.2009 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Es drohte der Klägerin für den Fall der Nichtbeachtung einer einmonatigen Ausreisefrist die Abschiebung in die Volksrepublik China oder einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, „insbesondere nach Nepal“, an (Nr. 4).
Mit ihrer am 07.05.2009 vor dem Verwaltungsgericht Freiburg - A 6 K 739/09 - erhobenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten begehrt, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25.02.2010 die Beklagte verpflichtet, zugunsten der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot für China und Nepal gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG besteht. Die Nummern 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 hat es aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung der Klageabweisung hat es unter anderem ausgeführt, mit Gefahren, die eine politische Verfolgung begründeten, müsse die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Aus solchen Gründen sei sie aus ihrer Heimat auch nicht ausgereist. Zwar trage die Klägerin vor, in ihrer Heimat noch immer wegen der politischen Aktivitäten ihres Bruders gefährdet zu sein. Auch könne ihr nicht widerlegt werden, dass sie tatsächlich aus Tibet stamme. Ihr Bruder sei jedoch schon seit geraumer Zeit tot; eine weitere Verfolgung von Familienangehörigen erscheine daher unwahrscheinlich und unglaubhaft. Dazu sei auch kein ausreichend schwerwiegendes politisches Gewicht ihres Bruders im tibetischen Widerstand dargetan worden. Die Klägerin habe ihrem Bruder auch nicht zugearbeitet oder ihn nachgeahmt. Die Vergewaltigung der Klägerin erscheine - solle ihrem Vorbringen insoweit überhaupt gefolgt werden - als Übergriff der Polizisten im Amt. Das Auffinden ihres Bruders in ihrem Zelt möge für die Polizisten lediglich eine Gelegenheit gewesen sein, die damit „angreifbar“ gewordene Klägerin gefügig zu machen. Das zeige auch die Wiederholung der Taten am 09.07. und 15.07.2008, die nach dem gleichen Muster abgelaufen seien, obwohl der unmittelbare „politische“ Anlass bereits entfallen gewesen sei. Damit erscheine die Klägerin nicht wegen der Ereignisse in ihrer Heimat aus politischen Gründen gefährdet. Gegen sie liege nichts vor. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe auch nicht wegen nachträglich eingetretener Gefahren, die ihr bei einer Rückkehr nach China drohen könnten, zu erfolgen. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie illegal ausgereist sei. Für eine illegale Ausreise habe kein Anlass bestanden. Sie habe über Zentralchina ausreisen können. Soweit die Klägerin sich exilpolitisch betätigt habe, könne sie sich darauf nicht berufen, weil es sich um einen selbstgeschaffenen Nachfluchtgrund handele. Abgesehen davon sei die Gefährdung wegen der exilpolitischen Betätigung dadurch wesentlich gemindert, dass ihr keine politische „Karriere“ in der Heimat vorausgegangen sei. Auch dürfte die Klägerin nicht sonderlich hervorgetreten sein. Unabhängig von der „nicht die Schwelle asylerheblicher Relevanz erreichenden“ Bedrängnis durch Polizisten bestehe zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot für China und Nepal im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Gericht habe den Eindruck gewonnen, dass „die dargestellten Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen wahren Kern enthalten“ hätten. Daran ändere es nichts, dass sie der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben dargestellt worden seien. Eine Abschiebung sei auch nach Nepal nicht zulässig.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat die Berufung gegen das Urteil mit Beschluss vom 07.04.2011 - A 8 S 780/10 - zugelassen. In ihrem Schriftsatz vom 27.04.2010 hat die Klägerin ihre Berufung begründet. Sie ist der Ansicht, ihr sei internationaler Schutz gemäß Art. 13 RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren und begründet dies mit einer Vorverfolgung in Tibet sowie mit Nachfluchtgründen, insbesondere ihrer exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - zu ändern, soweit es die Klage abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.
10 
Die Beklagte beantragt,
11 
die Berufung zurückzuweisen.
12 
Sie ist der Auffassung, eine illegale Ausreise, ein längerfristiger Auslandsverbleib und ein als exiloppositionell eingestuftes Auftreten im Bundesgebiet begründeten bei tibetischen Volkszugehörigen aus China weder allgemein noch nach den Einzelfallgegebenheiten eine relevante Verfolgungsgefahr. Die Frage einer Gefährdung in Anschluss an eine illegale Ausreise stelle sich im Übrigen schon nicht, weil eine illegale Ausreise nicht glaubhaft sei. Die exilpolitischen Bemühungen seien nicht in nötiger Weise exponiert. Eine Gefahr der politischen Verfolgung sei auch mit Blick auf die Erlebnisse, die zur Ausreise geführt haben sollten, nicht veranlasst. Es bestehe nicht die Überzeugung von der Richtigkeit der Schilderungen. Davon unabhängig werde die Bewertung des Verwaltungsgerichts geteilt, dass keine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale der Klägerin feststellbar sei. Ferner müsste eine Vorschädigungswiederholung mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren sein. Daran sei zu zweifeln. Es spreche Stichhaltiges gegen die Wiederholungsträchtigkeit gerade einer solchen Verfolgung, nachdem die Lage im Vorfeld der Proteste gegen die Olympischen Spiele von Peking gerade in der Provinz Tibet angespannt und das Geschehen durch das Handeln des Bruders situationsbedingt gewesen sei.
13 
Die Klägerin ist im Termin zur mündlichen Verhandlung zu ihrem Schutzbegehren angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
14 
Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25. August 2004 - A 18 K 11963/04 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten, die dieser auf sich behält.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der Kläger wurde am ... in B.../Nord-Kasachstan geboren. Er ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volks- und moslemischer Glaubenszugehörigkeit. Nach seinen Angaben hielt sich die Kläger zuletzt in Grosny auf und reiste zusammen mit seinen Söhnen D... (geb. am ...) und M... K... (geb. am ...) am 20.10.2003 auf dem Landweg nach Deutschland ein. Er stellte am 21.10.2003 einen Asylantrag.
Der Kläger ist verheiratet mit P... H..., die am 31.03.1968 geboren wurde. Sie war zusammen mit zwei Kindern (geb. am ...) bereits im Jahr 2000 aus Grosny kommend nach Deutschland ausgereist. Die Asylanträge der Ehefrau und der Kinder des Klägers sind seit 2004 unanfechtbar abgelehnt.
Der Kläger wurde am 30.10.2003 beim Bundesamt zu seinen Asylgründen angehört. Zusammengefasst erklärte der Kläger, im Februar 1996 sei er mit seinem Bruder festgenommen worden, danach nicht mehr. Sein Bruder M... sei im März 1996 verstorben. Seine Brüder S... und R... seien im August 1996 spurlos verschwunden. Er habe die Fachschule des Innenministeriums 1988 in Charkow mit dem Diplom als Techniker für Spezialtechnik abgeschlossen. Er sei von 1994 bis 1999 beim Innenministerium in Grosny beschäftigt gewesen. Er habe für die tschetschenische Regierung bei Dudajew gearbeitet. Es seien Kollegen verschwunden. Dann habe er begriffen, dass alle Angehörigen des Innenministeriums beseitigt werden sollten. Von wem er verfolgt worden sei, habe er nicht gewusst. Aber dies sei zielgerichtet gemacht worden. Seine Familie habe er im Juli 2000 zuletzt gesehen. Auf Nachfrage erklärte er, die Verfolgung komme aus den Kreisen des FSB, der nationalen Sicherheit. Er habe Aufklärung geleistet. Man habe ihn zum Major ernannt, aber den Dienstausweis habe er schon nicht mehr umtauschen können. Von 1999 bis zu seiner Ausreise 2003 habe er sich in Grosny versteckt.
Wegen seiner weiteren Angaben wird auf die darüber gefertigte Niederschrift verwiesen.
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 11.05.2004 den Asylantrag des Klägers ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und § 53 AuslG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise die Abschiebung in die Russische Föderation an.
Die vom Kläger beim Verwaltungsgericht Stuttgart am 09.06.2004 erhobene Klage hat dieses nach Anhörung des Klägers und der Vernehmung seiner Ehefrau als Zeugin in der mündlichen Verhandlung mit Urteil vom 25.08.2004 - A 18 K 11963/04 - abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal seien nicht glaubhaft. Zwar sei dem Kläger eine Rückkehr nach Tschetschenien nicht zumutbar. Ihm stehe aber in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
Der Senat hat mit Beschluss vom 01.02.2005 - A 3 S 1228/04 - die Berufung gegen das Verwaltungsgericht Stuttgart zugelassen, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) betrifft. Der Beschluss wurde dem Kläger am 07.02.2005 zugestellt.
Der Kläger hat die Berufung am 07.03.2005 begründet. Er beantragt,
10 
1. das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25.08.2004 - A 18 K 11963/04 - insoweit zu ändern, als es die Klage gegen Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11.05.2004 abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11.05.2004 zu verpflichten festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen;
11 
2. hilfsweise festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG vorliegen;
12 
3. höchsthilfsweise festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG vorliegen;
13 
4. hilfsweise Beweis entsprechend den in den als Anlage zur Niederschrift genommenen Schriftsätzen des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012 aufgeführten vier Beweisanträgen zu erheben
14 
Zur Begründung trägt der Kläger zusammengefasst vor, er habe mehrere Ausbildungen absolviert. Zunächst habe er die Fachschule des Innenministeriums in Charkow und sodann ein Hochschulstudium (Philologie) absolviert. Daneben habe er sich zum Fahrlehrer ausbilden lassen und eine Fahrschule in Grosny betrieben. Bis Mai 1999 habe er im tschetschenischen Innenministerium als „Kurator“ im Bereich Aufsicht über Feuerwehren und Gefängnisse gearbeitet. Er habe dann im ersten Tschetschenienkrieg auf Seiten der tschetschenischen Truppen in einer Einheit gekämpft, die für Aufklärungsarbeit zuständig gewesen sei. Nach dem Ende dieses Krieges sei er von seinem Dienstherrn mit Aufklärungsarbeiten betraut worden. Spätestens seit Frühjahr 1999 habe er Anlass für die Befürchtung gehabt, dass er als Angehöriger des tschetschenischen Innenministeriums liquidiert werden solle. Vorausgegangen seien Säuberungsaktionen, die mit „Verschwinden“ einiger Kollegen aus dem tschetschenischen Innenministerium einhergegangen seien. In einem Fall habe er erfahren, dass die Leiche des Betreffenden in einem Waldstück mit Folterspuren aufgefunden worden sei. Er habe diese Information u.a. von den Familienangehörigen der verschwundenen Kollegen erhalten. Er habe deshalb allen Anlass gehabt für die Annahme, dass der russische Geheimdienst FSB hinter diesen professionellen Säuberungsaktionen stehe - ggf. unterstützt durch islamistische „Wahabisten“ -. er habe deshalb annehmen müssen, dass auch sein Leben in Gefahr sei, zumal er erfahren habe, dass die verschwundenen Kollegen nicht etwa mit Sonderaufgaben betraut worden seien. Er sei deshalb im Frühjahr 1999 zunächst untergetaucht. Seine Familie habe er zu Verwandten gebracht, bis er deren Ausreise im Sommer 2000 habe organisieren können. Weder in Tschetschenien noch in der Russischen Föderation bestehe ein interner Schutz. Die russischen Behörden wüssten über sein Asylverfahren und über die Asylantragstellung sowie über den Aufenthalt seiner Familie in Deutschland Bescheid. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass das Regierungspräsidium Stuttgart beim Konsul des russischen Generalkonsulats über die Umstände einer Passbeschaffung für die gesamte Familie nachgefragt habe. Seine damalige Stellung in Tschetschenien und die Tatsache der Asylantragstellung und des jahrelangen Auslandsaufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland seien für die russischen Behörden Grund genug, ihn bei einer Rückkehr zu verfolgen. Außerdem leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung und deshalb würde bei einer Rückkehr ein sog. Wiederholungstrauma die derzeitige psychische Erkrankung akut verschlimmern.
15 
Die Beklagte beantragt,
16 
die Berufung zurückzuweisen.
17 
Zur Begründung weist er daraufhin, dass die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal nicht überzeugten; im Übrigen stehe dem Kläger jedenfalls in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
18 
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat keinen Antrag gestellt. Zusammengefasst hat er ausgeführt, Tschetschenen seien in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens von keiner Verfolgung betroffen.
19 
Mit Beschluss vom 01.08.2007 - A 3 S 104/05 - hat der Senat auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Berufungsverfahrens angeordnet. Die Wiederanrufung des Verfahrens erfolgte durch das Bundesamt am 20.08.2009.
20 
In der mündlichen Verhandlung ist der Kläger zu den Gründen seines Asylantrags angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die darüber gefertigte Niederschrift verwiesen.
21 
Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten, auch soweit sie P... H... betreffen, und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Stuttgart A 18 K 11963/04 und A 18 12023/03 (P... H... betreffend) und des Senats A 3 S 625/04 (gleichfalls P... H... betreffend) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
22 
Der Senat kann trotz Nichterscheinens des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten entscheiden, da dieser mit der Ladung nach § 102 Abs. 2 VwGO auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
23 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung des Klägers ist unbegründet.
24 
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist - entgegen der Zulassung der Berufung durch den Senat nicht nur der Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Russischen Föderation und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974), sondern auch sein hilfsweise geltend gemachter Anspruch auf Feststellung unionsrechtlicher und nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes von 2007 bilden die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 zum einen und die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG 2004 zum anderen jeweils eigenständige Streitgegenstände, wobei die unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbote vorrangig vor dem nationalen Abschiebungsverbot u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG 2004 zu prüfen sind. Damit sind die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 in dem Verfahren angewachsen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Beschluss vom 10.10.2011 - 10 B 24/11-, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244). Für die nationalen Abschiebungsverbote gilt nichts anderes.
25 
Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; I.). In der Person des Klägers liegen ferner weder unionsrechtliche (II.) noch nationalrechtliche (III.) Abschiebungsverbote vor. Die Abschiebungsandrohung ist gleichfalls rechtlich nicht zu beanstanden (IV.).
I.
26 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation nicht vorliegen.
27 
Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, da nach Art. 40 RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
28 
Nach Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
29 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG).
30 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181-, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
31 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377; Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla, NVwZ 2010, 505). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982).
32 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377 = NVwZ 2011, 51). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris).
33 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a) beschrieben Weise betroffen ist (Buchst. b)). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
34 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
35 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237).
36 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, juris; Urteil vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 -, juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 -, juris).
37 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20.08 -, juris).
38 
1. In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben war der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise keiner anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt, weshalb ihm insoweit die Privilegierung aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zu Gute kommt.
39 
Das Vorbringen des Klägers zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal ist wegen erheblicher Widersprüchen, insbesondere wegen deutlich gesteigerten Vorbringens sowie wegen stereotyper Angaben insgesamt nicht glaubhaft. Beim Bundesamt hat der Kläger vorgetragen, er sei beim Innenministerium tätig gewesen und zwar in einer Sonderabteilung. Sie hätten operative Aufgaben durchgeführt. Sie hätten Informationen über die Bewegung der Truppen, ihre Bewaffnung und ihre Zahl gesammelt. Er sei zum Major befördert worden. Substantiierte Angaben zu seiner Tätigkeit im Innenministerium hat der Kläger beim Bundesamt nicht gemacht. Bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart hat er erstmals angegeben, nach dem Kriegsende sei er wieder beim Innenministerium als Aufsicht über Feuerwehr und Gefängnisse eingesetzt worden. Daneben sei er noch in einer Aufklärungstruppe tätig gewesen. Seine Gruppe sei u.a. bei den Kämpfen gegen Wahabiten beteiligt gewesen. Dieses aber hat der Kläger beim Bundesamt nicht erwähnt. Auf die Frage beim Bundesamt, von wem er denn verfolgt worden sei, hat der Kläger geantwortet, wenn er das gewusst hätte. Aber das werde zielgerichtet gemacht. Auf Nachfrage hat er angegeben, er glaube, dass dies aus den Kreisen des FSB, der Nationalen Sicherheit komme. Demgegenüber hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart erklärt, er vermute, dass es die Wahabiten gewesen seien, die sie verfolgt hätten. Nicht nachvollziehbar ist auch die Aussage des Klägers beim Bundesamt, er habe von 1994 bis 1999 für die tschetschenische Regierung bei Dudajew gearbeitet. Denn Dschochar Mussajewitsch Dudajew starb bereits im April 1996. Sein Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde 1997 Aslan Maschadow. Zu seinen Aufgaben beim Innenministerium hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine weiteren substantiierten Angaben gemacht. Völlig widersprüchlich sind auch die Angaben des Klägers zu seiner Ausbildung. Auf entsprechende Frage beim Bundesamt hat der Kläger angegeben, er habe die Fachschule des Innenministeriums 1988 in Charkov abgeschlossen und zwar mit einem Diplom als Techniker für Spezialtechnik. Auf Nachfrage hat er erklärt, es habe sich um Waffen- und Fahrzeugtechnik, spezielle Technik für das Innenministerium gehandelt. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, er habe in Grosny im Jahre 1994 mit dem Hochschulabschluss als Philologe abgeschlossen. Über seine Ausbildung als Fahrlehrer und das Betreiben einer Fahrschule in Grosny hat der Kläger weder beim Bundesamt noch beim Verwaltungsgericht berichtet. Das Vorbringen des Klägers steht ferner auch im Widerspruch zu den Angaben seiner Ehefrau. Diese hat bereits bei ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 25.08.2000 im Rahmen ihres eigenen Asylverfahrens erklärt, die Russen hätten ihren Ehemann im Winter 1999/2000 bei ihr gesucht. Bei ihrer Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung hat sie dies bestätigt und ergänzt, die Männer hätten ihr gesagt, sie seien von der Rayon-Abteilung für Inneres, also der Miliz. Sie habe ihrem Mann nichts davon erzählt. Später hat sie dann ausgeführt, Soldaten seien mit einem Panzer gekommen und hätten ihr Haus, in dem inzwischen eine Nachbarin gewohnt habe, in die Luft gejagt. Das habe sie ihrem Mann erzählt, als sie ihn das letzte Mal gesehen habe. Dies hat der Kläger indessen weder beim Bundesamt noch bei seiner gerichtlichen Anhörung beim Verwaltungsgericht Stuttgart noch bei seiner Anhörung vor dem Senat erwähnt. Auch der Senat hält es nicht für glaubhaft, dass die Ehefrau ihrem Mann nichts davon erzählt hätte, wenn russische Milizionäre nach ihm gesucht hätten. Widersprüchlich sind weiterhin die Angaben zu den Umständen der Flucht der Ehefrau des Klägers. Der Kläger hat beim Bundesamt erklärt, die Ausreise seiner Frau hätten seine Schwiegereltern organisiert und auch finanziert. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, zwei Freunde von ihm hätten auf seine Bitte das Ganze über weitere Bekannte organisiert. Bereits diese dargestellten Widersprüche zeigen die Unglaubhaftigkeit der Angaben des Klägers. Diese wird durch seine weiteren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Hier hat der Kläger nunmehr erstmals angegeben, er habe, während er sich in der Zeit von 1999 bis 2003 versteckt bzw. im Untergrund aufgehalten habe, mit Menschenrechtsorganisationen zusammengearbeitet. Er habe mit seinem Freund R... Meetings organisiert und an Demonstrationen teilgenommen, allerdings nicht offiziell. Er habe Fälle von Misshandlungen und Angriffe an R... weitergegeben, die dieser dann wiederum an I... E... weitergeleitet habe. Auf Nachfrage gab der Kläger dann an, an Demonstrationen habe er nicht teilgenommen. Er habe aus dem Untergrund Informationen gesammelt. I... E... habe er erst im August 2003 kennengelernt. Aber auch dieses Vorbringen bleibt, abgesehen davon, dass der Kläger diese für ihn wichtige Tätigkeit erstmals vor dem Senat schildert, im Ungefähren. Dem Kläger war es nicht möglich anzugeben, für welche Menschenrechtsorganisationen er angeblich Informationen gesammelt habe, obwohl I... E... - wie der Kläger weiter behauptet hat - Vorsitzender und Leiter der Organisation gewesen sei. Auf Frage, wer ihn verfolgt habe, gibt der Kläger nun wieder an, er sei von russischen Streitkräften verfolgt worden, nicht so sehr von Wahabiten. Eine Erklärung für die Behauptung, es sei herausgekommen, dass er Informationen an I... E... geliefert habe, konnte der Kläger nicht geben. Aufgrund all dessen konnte sich der Senat nicht von der Wahrheit der Angaben des Klägers überzeugen.
40 
Vor diesem Hintergrund war dem hilfsweise gestellten Antrag Ziffer 4 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger im Rang eines Majors im Innenministerium in Grosny gearbeitet habe, dass er festgenommen, gefoltert, misshandelt und erniedrigt worden sei, dass man ihn getötet hätte, wenn er nicht geflohen wäre, I... E... als Zeuge zu vernehmen, nicht nachzugehen. Darüber hinaus hat der Kläger angegeben, er habe I... E... erst im August 2003 persönlich kennengelernt, wobei das Treffen ca. 10 bis 30 Minuten gedauert habe. Aus eigener Kenntnis könnte I... E... daher zu den unter Beweis gestellten Umständen, soweit es sich überhaupt um Tatsachen und nicht nur um Mutmaßungen - wie z.B. hinsichtlich der Tötung des Klägers - handelt, keine Angaben machen. Im Übrigen ist das Vorbringen des Klägers zu I... E... ebenfalls widersprüchlich. Vor dem Senat hat der Kläger angegeben, I... E... habe keinen regulären Beruf gehabt. Zur Begründung des hilfsweise gestellten Beweisantrags hat der Kläger aber angegeben, der Zeuge sei früheres Mitglied der tschetschenischen Regierung gewesen und kenne ihn aus früheren Zeiten. Er arbeite jetzt für amnesty international. Demgegenüber hat der Kläger - wie oben bereits ausgeführt - keine Angaben dazu machen können, für welche Menschenrechtsorganisationen er und I... E... gearbeitet habe.
41 
2. Ob der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise einer - regionalen - Gruppenverfolgung in Tschetschenien ausgesetzt war und noch ist (letzteres verneinend OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20) bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn dem Kläger steht jedenfalls in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens eine inländische Fluchtalternative nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG und damit ein interner Schutz im Sinne des Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung. Es ist ihm zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, an dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
42 
Der Senat geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die Bewohner Tschetscheniens im Zeitpunkt seiner Ausreise einer regionalen Gruppenverfolgung ausgesetzt waren. Ob dies tatsächlich der Fall war - ob mithin tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen (wegen ihres Volkstums oder ihrer politischen Überzeugung) in der erforderlichen Verfolgungsdichte und -intensität von staatlichen russischen [oder der tschetschenischen Republik zuzuordnenden] Stellen verfolgt wurden - braucht demgemäß nicht entschieden zu werden. Die Gefahr einer künftigen Verfolgung des Klägers ist deshalb zwar unter Zubilligung der sich aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ergebenden Beweiserleichterung zu prüfen. Es sprechen im Sinn dieser Bestimmung jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger gegenwärtig jedenfalls in den übrigen Teilen der Russischen Föderation von irgendeiner Art von Verfolgung betroffen sein wird oder dass eine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden (Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 15 RL 2004/83/EG). Das gilt auch für Vorfälle, denen sich die Bevölkerung Tschetscheniens bis zur Ausreise des Kläger allgemein ausgesetzt gesehen hat.
43 
Auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Art. 8 RL 2004/83/EG, an denen die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative zu messen ist (BVerwG vom 1.2.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007,590), steht politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung (vgl. BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 21.06.2010 – 11 B 08.30103 -, juris; Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; OVG Hamburg, Beschluss vom 27.11.2009 - 2 Bf 337/02.A -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; OVG Sachen-Anhalt, Urteil vom 31.07.2008 - 2 L 23/06 -, juris; HessVGH, Urteil vom 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.10.2006 - A 3 S 46/06 -, juris; OVG Saarland, Beschluss vom 29.05.2006 - 3 Q 1/06 -; juris; NdsOVG, Beschluss vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Sächsisches OVG, Beschluss vom 07.02.2011 - A 5 A 152/09 -). Davon ist auch für den Fall des Klägers auszugehen.
44 
a.) Zunächst ist festzustellen, dass der Kläger politisch unverdächtig ist. Eine politisch relevante gegen die tschetschenische Republik, gegen Russland und die Russische Föderation insgesamt gerichtete Tätigkeit hat der Kläger nicht glaubhaft dargelegt. Dies gilt insbesondere - wie der Senat oben aufgezeigt hat - für die Behauptung des Klägers, er habe in den Jahren 1999 bis 2003 für Menschenrechtsorganisationen Informationen gesammelt. Den Angaben des Klägers, soweit sie überhaupt glaubhaft sind, ist auch nichts für ein Strafverfahren gegen ihn zu entnehmen. Ebenso wenig führt allein der Umstand, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, dazu, dass er nach seiner Rückkehr in die Russische Föderation - jedenfalls außerhalb Tschetscheniens - deshalb staatlich verfolgt wird (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Anlass, entsprechend den in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Anträgen Ziff. 1 und Ziff. 2 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) Beweis zu erheben. Weder die vom Senat als widersprüchlich erachteten Angaben des Klägers noch seine Asylantragstellung und sein langjähriger Auslandsaufenthalt vermögen die in den hilfsweise gestellten Beweisanträgen aufgestellte Behauptung zu begründen, er könnte bei einer Rückkehr als Verräter und Spion oder als tschetschenischer Terrorist angesehen werden.
45 
b.) Dem Kläger ist es auch möglich, sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederzulassen.
46 
Art. 27 der russischen Verfassung von 1993 garantiert die Niederlassungsfreiheit. Dieses Recht ist allerdings strikt begrenzt durch regionale und lokale Bestimmungen und durch das de facto vielerorts noch gültige Propiska-System, das vor dem mit dem Föderationsgesetz im Jahre 1993 eingeführten Registrierungssystem galt und das nicht nur eine Meldung durch den Bürger, sondern auch die Gestattung oder Verweigerung durch die Behörden vorsah. Nach dem Registrierungssystem ist Voraussetzung für eine dauerhafte Registrierung, dass der Antragsteller einen Wohnraumnachweis führen kann und über einen russischen Inlandspass verfügt. Ein in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht für eine dauerhafte Registrierung nicht aus (AA, Lagebericht vom 18.08.2006, S. 26). Trotz der Systemumstellung durch das Föderationsgesetz wenden viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an, weshalb Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens erhebliche Schwierigkeiten haben, eine offizielle Registrierung zu erhalten. Besonders in Moskau haben zurückgeführte Tschetschenen in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie über genügend Geld verfügen oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können.
47 
Die genannten Registrierungsvoraussetzungen gelten im ganzen Land. Gleichwohl ist eine offizielle Registrierung in anderen Regionen der Russischen Föderation, vor allem in Südrussland, grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil Wohnraum - eine der Registrierungsvoraussetzungen - dort erheblich billiger ist als in der russischen Hauptstadt mit ihren hohen Mieten. Neben Moskau, wo etwa 200.000 Tschetschenen leben, ist es Tschetschenen auch gelungen, sich in den Gebieten Rostow, Wolgograd, Stawropol, Krasnodar, Astrachan, Nordossetien und in Karatschajewo-Tscherkessien anzusiedeln (AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007, Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 - Oktober 2007 - im Folgenden: Memorial-Bericht Oktober 2007).
48 
Der für die Registrierung erforderliche Inlandspass kann nach der Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 „am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung“ und damit auch außerhalb Tschetschenien beantragt werden (AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Ethnische Tschetschenen, die sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation niederlassen wollen, müssen zwar damit rechnen, dass ihnen die Bestätigung der Anmeldung (die sog. "Registrierung") verweigert werden könnte (vgl. dazu die Abschnitte II.4 und IV.2 des Lageberichts vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Diese - rechtswidrige - Praxis ist unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG indessen nicht erheblich, da das Vorenthalten der Einstempelung in den Inlandspass, durch den die erfolgte Anmeldung einer Person beurkundet wird, als solches nicht mit einer Verletzung der in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" und "Freiheit" einhergeht. Auch werden durch ein derartiges behördliches Verhalten nicht grundlegende Menschenrechte im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG schwerwiegend beeinträchtigt. Zwar legalisiert erst eine Registrierung den Aufenthalt des Betroffenen; zudem ist sie Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem, zum offiziellen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. AA, Lagebericht vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007). Mit der Nichterteilung einer Zuzugsgenehmigung in eine bestimmte Gemeinde oder Stadt ist nach dem Charakter der Maßnahme aber nicht ein - zielgerichteter - Eingriff in das Leben oder die Gesundheit intendiert, sondern lediglich eine Aufenthaltsnahme in anderen Landesteilen (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; BVerwG, 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982). Ferner ergibt sich aufgrund der Erkenntnislage, dass gerade in bestimmten Großstädten der Russischen Föderation, teilweise aber auch darüber hinaus die Registrierungsverweigerung der lokalen Behörden nicht an die tschetschenische Volkszugehörigkeit oder die Herkunft aus dem Nordkaukasus anknüpft, sondern sämtliche Zuzugswilligen in gleicher Weise betrifft (vgl. etwa Niedersächsisches OVG, Beschlüsse vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Beschluss vom 24.06.2006 - 13 LA 398/05 -, juris ; OVG Bremen, Urteil vom 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -, juris). Schließlich wird die Ausgrenzung aus der staatlichen Rechtsgemeinschaft, die der Nichtbesitz einer Registrierung in Bezug auf wichtige Lebensbereiche deshalb nach sich ziehen kann, dadurch spürbar gemildert, dass die Registrierungspflicht - nach Änderung der Registrierungsvorschrift am 22.12. 2004 - nunmehr erst nach 90 Tagen ab dem Beginn des Aufenthalts an einem Ort Platz greift (Memorial-Bericht Oktober 2007; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris). Anhaltspunkte dafür, dass diese Regelung tatsächlich keine Anwendung findet, sind nicht ersichtlich.
49 
Ungeachtet dessen können sich Tschetschenen mit sehr guten Erfolgsaussichten gegen derartige Rechtsverstöße zur Wehr setzen, ohne dass sie vorübergehend nach Tschetschenien zurückkehren müssten. In den zum Gegenstand dieses Verfahrens gemachten, seit 2002 erschienenen Berichten der Menschenrechtsorganisation "Memorial" sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen es durch die Einschaltung von Abgeordneten, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen oder Rechtsanwälten sowie erforderlichenfalls durch das Beschreiten des Rechtswegs gelungen ist, Tschetschenen eine Registrierung zu verschaffen. In Gestalt der 58 Beratungsstellen, über die die Organisation "Migration und Recht" verfügt, steht Betroffenen ein russlandweites Netz zur Verfügung, in dem jährlich mehr als 20.000 Menschen beraten werden. Soweit nicht bereits mit außerprozessualen Mitteln Abhilfe geschaffen werden kann, darf zumindest in aller Regel davon ausgegangen werden, dass der Betroffene vor Gericht Recht erhalten wird. Denn die russischen Gerichte üben Verwaltungskontrolle nach US-Vorbild aus; behördliche Bescheide können vor dem örtlich zuständigen Bezirksgericht angefochten werden. Die Gerichte sind die einzigen staatlichen Institutionen in Russland, die Tschetschenen Rechtsschutz gewähren. Da stattgebende gerichtliche Entscheidungen im Durchschnitt nach einigen Monaten ab Verfahrenseinleitung ergehen, kann ungeachtet des Umstandes, dass die Verwaltung fallweise rechtswidrige Bescheide trotz ihrer Aufhebung mehrmals erlassen hat, nicht davon gesprochen werden, eine Verweigerung der Registrierung stelle einen Eingriff in nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG geschützte Rechte dar, der zudem die nach diesen Bestimmungen erforderliche Schwere erreicht. Soweit es einige Monate dauern sollte, bis der Kläger eine Registrierung erhält, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm und durch Aushilfstätigkeiten überbrückt werden (vgl. BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
50 
c.) Bei einer Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation als Tschetschenien hätte der Kläger auch keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Verfolgung im Hinblick auf ihm dort etwa drohende polizeiliche Maßnahmen zu befürchten.
51 
Auch wenn der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen etwas abgenommen hat, berichten russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; die Angehörigen dieses Personenkreises stünden unter einer Art Generalverdacht (AA, Lageberichte vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Personenkontrollen auf der Straße oder in der U-Bahn sowie Hausdurchsuchungen fänden weiterhin statt, hätten jedoch an Intensität nachgelassen; Anweisungen russischer Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen seien nicht bekannt (AA, Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011).
52 
Auch derartige Vorgänge sind indessen unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG grundsätzlich noch nicht rechtserheblich. Muss ein Tschetschene häufiger seinen Ausweis vorzeigen oder sieht er sich öfter mit Durchsuchungsmaßnahmen konfrontiert, als das bei sonstigen Bewohnern der Russischen Föderation der Fall ist, so mag diese Schlechterstellung zwar an die Volkszugehörigkeit, das körperliche Erscheinungsbild oder die regionale Herkunft - und damit an ein Merkmal im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG - anknüpfen. Da solche polizeiliche Handlungen indes weder die in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" oder "Freiheit" noch grundlegende Menschenrechte (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG) verletzen und sie die Betroffenen auch nicht im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG in ähnlich gravierender Weise beeinträchtigen, kommt diesen Praktiken - ungeachtet ihres diskriminierenden Charakters - im Regelfall keine flüchtlingsrechtliche Relevanz zu.
53 
Eine hiervon abweichende Betrachtung wäre dann geboten, wenn es bei derartigen Kontroll- oder Durchsuchungsmaßnahmen zu Übergriffen auf Leib oder Leben der Betroffenen käme oder sie mit einem Freiheitsentzug einhergehen würden, der von seiner zeitlichen Länge her den Rahmen übersteigt, innerhalb dessen eine Person auch in einem Rechtsstaat durch die vollziehende Gewalt vorübergehend festgehalten werden darf. Dass sich der Kläger solchen Praktiken ausgesetzt sehen wird, lässt sich jedoch mit praktischer Sicherheit ausschließen. Gleiches gilt für die Besorgnis, ihm könnten gefälschte Beweismittel untergeschoben werden, um ihn ungerechtfertigt mit einem Strafverfahren zu überziehen. Denn eine Auswertung der einschlägigen Erkenntnismittel ergibt, dass jedenfalls solche Tschetschenen, bei denen es sich nicht um junge Männer handelt, die sich - unmittelbar aus dem früheren Bürgerkriegsgebiet kommend - in andere Teile der Russischen Föderation begeben haben, und die auch nicht durch individuelles rechtswidriges Vorverhalten Anlass für ein polizeiliches Einschreiten gegeben haben, bei Kontakten mit den staatlichen Sicherheitsorganen keine Übergriffe befürchten müssen, denen flüchtlingsrechtliche Relevanz zukommt. So liegt der Fall beim Kläger. Zum einen hat er etwa neun Jahre im Ausland verbracht, so dass keine Rede davon sein kann, dass er direkt aus dem Bürgerkriegsgebiet in andere Gebiete der Russischen Föderation eingereist ist. Zum anderen hat er auch nicht glaubhaft angegeben, in einer militärisch organisierten Rebelleneinheit gekämpft zu haben. Aus den Erkenntnismitteln geht hervor, dass bei Tschetschenen, die nicht die vorbezeichneten Ausnahmekriterien erfüllen, stichhaltige Gründe dagegen sprechen, sie könnten mit ungerechtfertigten strafrechtlichen Vorwürfen überzogen werden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
54 
d.) Die in der Russischen Föderation zu beobachtenden Vorkommnisse, deren Ursache in rassistischen oder fremdenfeindlichen Motiven zu suchen sind, stehen der Annahme einer inländischen Fluchtalternative bzw. eines internen Schutzes nach § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG gleichfalls nicht entgegen.
55 
Der Senat übersieht nicht, dass Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen. M. Grob (SFH vom 12.09.2011) spricht davon, dass Rassismus gegenüber Kaukasiern in Russland weit verbreitet sei und auch gewalttätigen Charakter habe. Hierbei handelt es sich allerdings lediglich um eine allgemeine Aussage; nachvollziehbare Einzelheiten werden nicht angegeben. Auch R. Mattern (SFH vom 03.06.2010) berichtet von Rassismus als gesellschaftliches Problem. Gefährdungen bestünden für Ausländer mit dunkler Hautfarbe. Allerdings würden russische Sicherheitskräfte versuchen, rassistische Gewalt mit repressiven Methoden zu bekämpfen. Allein im ersten Quartal 2010 seien in 18 Urteilen 74 Personen wegen rassistischer Gewalt verurteilt worden. Im Lagebericht des AA vom 07.03.2011 werden keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Rassismusvorfälle gegenüber Tschetschenen berichtet, die nicht nach Tschetschenien, sondern in andere Teile der Russischen Föderation zurückkehren. Im Bericht von U. Rybi (FFH vom 25.11.2009) finden sich hierzu gleichfalls keine Angaben. Zwar spricht auch der Memorial-Bericht April 2009 (Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Oktober 2007 - April 2009 - im Folgenden: Memorial-Bericht April 2009) von einem „neuen“ Feindbild in Russland, das sich gegen Tschetschenen richte. Die Berichterstattung beschreibt aber im Wesentlichen ein geistiges Klima. Gewalttätige Übergriffe rechtsradikaler russischer Kräfte auf Tschetschenen, die staatlicherseits initiiert oder geduldet würden, werden in einem asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Ausmaß hingegen - auch im vorausgehenden Memorial-Bericht Oktober 2007, - nicht geschildert. Soweit es Mitte August 2005 im südrussischen Jandyki und in Naltschik - der Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien - zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Tschetschenen und Angehörigen anderer Volksgruppen gekommen ist (vgl. Memorial-Bericht 2006 [Juli 2005 - Juli 2006]), sind solche Vorkommnisse, bei denen die Gewalttätigkeiten im Übrigen auch von der tschetschenischen Seite ausgingen, in jüngerer Zeit nicht mehr bekannt geworden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris). Den Erkenntnismitteln kann bei der gebotenen Objektivität nicht entnommen werden, dass ethnische Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Opfer gewalttätiger Übergriffe aus fremdenfeindlichen Beweggründen werden. Angesichts der Vielzahl von in der Russischen Föderation sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Tschetschenen bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben über gegen sie gerichteten Maßnahmen keine zureichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen asyl- bzw. flüchtlingserheblichen Verfolgungsbetroffenheit (vgl. auch OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20. Die Frage, inwieweit sich der russische Staat solche von gesellschaftlichen Kräften ausgehenden Übergriffe gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG zurechnen lassen muss, kann deshalb auf sich beruhen.
56 
e.) Dem Kläger droht aufgrund seines Alters von 55 Jahren auch nicht mehr die Einberufung zum Wehrdienst in der russische Armee (vgl. Lagebericht vom 4.4.2010, wonach die allgemeine Wehrpflicht nur für Männer zwischen 18 und 28 Jahren besteht).
57 
f.) Dem Auswärtigen Amt sind ferner keine Fälle bekannt geworden, in denen tschetschenische Volkszugehörige bei oder nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt waren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011). Zwar geht das Auswärtige Amt davon aus, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren; diese Befürchtung bezieht sich jedoch insbesondere auf solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage besonders engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.201; vgl. insoweit auch BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris). Zu diesen besonderen Risikogruppen gehört der Kläger indessen nicht.
58 
g.) Dem Kläger ist auch mit Blick auf die Gewährleistung des Existenzminimums eine Aufenthaltsnahme in den übrigen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zumutbar.
59 
Eine interne Fluchtalternative im Sinne von Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG setzt neben der - oben dargelegten - Verfolgungssicherheit voraus, dass von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Maßgeblich ist insofern, ob der Kläger im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein wird, wobei es im Hinblick auf die Neufassung des § 60 AufenthG zur Umsetzung der RL 2004/83/EG nicht (mehr) darauf ankommt, ob diese Gefahren am Herkunftsort ebenso bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11/07 -, BVerwGE 131, 186). Zur Interpretation des Begriffs der persönlichen Umstände im Sinne des Art. 8 Abs. RL 2004/83/EG kann auf Art. 4 Abs. 3 Buchst. c RL 2004/83/EG zurückgegriffen werden, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind. Zu fragen ist sodann auf der Grundlage dieses gemischt objektiv-individuellen Maßstabs, ob von einem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort der internen Fluchtalternative aufhält. Erforderlich hierfür ist, dass er am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben.
60 
Eine existentielle Bedrohung ist gegeben, wenn das Existenzminimum nicht gesichert ist. Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel, wenn sie dort - was grundsätzlich zumutbar ist - durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer "Schatten- oder Nischenwirtschaft" stattfinden. Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine kriminelle Arbeit - etwa durch Beteiligung an Straftaten im Rahmen „mafiöser“ Strukturen - ist dagegen nicht zumutbar (BVerwG, Beschluss vom 17.05.2005 - 1 B 100/05 -, juris). Maßgeblich ist grundsätzlich auch nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.08.2006 - 1 B 96.06 -, juris; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590), d.h. ob mit den erlangten Mitteln auch die notwendigsten Aufwendungen für Leben und Gesundheit bestritten werden können. Ein Leben in der Illegalität, das den Kläger jederzeit der Gefahr polizeilicher Kontrollen und der strafrechtlichen Sanktionierung aussetzt, stellt demgegenüber keine zumutbare Fluchtalternative dar (BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590).
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen ist es dem Kläger - nach der gegenwärtigen Sachlage (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG sowie Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) - zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, in dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
62 
Wie bereits ausgeführt erweitert die Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 die Möglichkeit zur Beantragung und Ausstellung des Inlandspasses in räumlicher Hinsicht. Dieser kann nunmehr am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung ausgestellt werden (vgl. AA, Lageberichte vom 22.11.2008 und vom 07.03.2011; ebenso Memorial-Bericht Oktober 2007). Die Innehabung eines gültigen Inlandspasses ist ihrerseits Voraussetzung für die in diesen Pass zu stempelnde Wohnsitzregistrierung. Die Registrierung, die dem Kläger - wie oben ausgeführt - wenn auch ggf. mit leichter Verzögerung ebenso wie seiner Ehefrau möglich ist, legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht, Oktober 2007). Mit der Registrierung besteht auch für die Kinder des Klägers Zugang zur Bildung (Memorial-Bericht Oktober 2007). Svetlana Gannuschkina berichtet im Memorial-Bericht Oktober 2007, dass im vergangenen Jahr keine Klagen von Menschen aus Tschetschenien über Diskriminierung bei der Arbeitsaufnahme vorlägen.
63 
Die persönlichen Umstände des Klägers rechtfertigen keine andere Einschätzung. Der Kläger ist mit 55 Jahren noch in einem arbeitsfähigen Alter. Hinzu kommt, dass seine Ehefrau mit 44 Jahren deutlich jünger ist und damit ebenfalls durch legale Arbeit infolge Registrierung zum notwendigen Lebensunterhalt beitragen kann. So berichtet Svetlana Gannuschkina, dass tschetschenische Frauen auf der Straße und den Märkten durch Handel ihr Geld verdienen können (Memorial-Bericht Oktober 2007). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch keine seine Arbeitsfähigkeit wesentlich einschränkende Erkrankung substantiiert dargelegt. Dem Senat liegt zwar das psychologische Gutachten des Evangelischen Migrationsdienstes in Württemberg e.V. vom 26.10.2006 über den Kläger vor. Darin wird angegeben, der Kläger leide an einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Zusätzlich bestehe eine Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger indessen lediglich angegeben, er gehe ein- bis zweimal im Monat zum Arzt. Er leide an Bluthochdruck. Er sei auch in Behandlung wegen der Nerven und wegen Operationen. Weitere detaillierte Angaben hat der Kläger nicht gemacht. Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass für den Kläger infolge der Registrierung ein Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem besteht und posttraumatische Belastungsstörungen in der Russischen Föderation in großen und größeren Städten grundsätzlich behandelt werden können (vgl. R. Mattern, SFH, Auskunft vom 20.04.2009), kann vom Kläger vernünftigerweise erwartet werden, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens Aufenthalt zusammen mit seiner Ehefrau und seinen Kindern zu nehmen. Angesichts dessen, dass der Kläger zu seiner psychischen Erkrankung, wie sie im psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 - also vor mehr als sechs Jahren - dargestellt wird, keine weiteren substantiierten Angaben gemacht hat, insbesondere dem Senat nicht erläutert hat, ob die seinerzeit diagnostizierte psychische Erkrankung überhaupt noch besteht und wenn ja, welche Behandlungsmaßnahmen erfolgen, war dem vom Kläger hilfsweise gestellten Beweisantrag Ziff. 3 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) auf Einholung eines Gutachtens von Herrn Dr. T... S... zum Beweis der Tatsache, dass „der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, an einer jetzt schon chronifizierten Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, dass diese psychische Erkrankung bereits jetzt schon chronifiziert ist aufgrund der Dauer des Verfahrens, dass diese psychische Erkrankung auch Auswirkungen auf sein Aussageverhalten hat im Sinne eines Verdrängungsmechanismus, so dass bei einer Rückkehr oder Abschiebung der Kläger ein akutes Wiederholungstrauma erleiden würde, eine sog. Retraumatisierung in jedem Fall jedoch diese Erkrankung behandlungsbedürftig ist und zwar in einem sicheren Rahmen in der Bundesrepublik Deutschland, ansonsten sich die Erkrankung akut verschlimmert“, nicht nachzugehen. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind keine zureichenden Anhaltspunkte für eine akute posttraumatische Belastungsstörung und erst recht nicht für eine chronifizierte Persönlichkeitsänderung zu entnehmen. Die entsprechenden Behauptungen im Beweisantrag werden daher nicht durch tatsächliche Indizien gestützt. Sie erscheinen vielmehr als „ins Blaue hinein“ erhoben; der Beweisantrag ist daher als Ausforschungsbeweisantrag unzulässig. Für den Senat kommt hinzu, dass - wie bereits aufgezeigt - in der Russischen Föderation posttraumatische Belastungsstörungen behandelt werden können. Weiterhin wird in dem psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 ausgeführt, dass die Sorge um die Rückkehr aufgrund massiver Ängste vor einer möglichen Folterung und/oder Ermordung zwar die Symptomatik verstärke, jedoch nicht die Ursache der Erkrankung sei. Die Symptomatik und die Verhaltensweisen könnten zudem nicht durch eine Sorge vor einer möglichen Rückkehr erklärt werden. Auch könne die Entwurzelung im Exilland (Unkenntnis der Landessprache, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse) als Ursache der bestehenden psychischen Störung ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings zusätzlich festzustellen, dass das Gutachten von einer Rückkehr nach Tschetschenien ausgegangen ist. Da der Kläger sowohl tschetschenisch als auch russisch versteht und spricht, kann von einer Unkenntnis der Landessprache wohl nicht ausgegangen werden. Auch besteht angesichts der fehlenden inhaltlich aussagekräftigen Angaben des Klägers zu seiner derzeitigen psychischen Verfassung keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er bei einer Niederlassung in einem anderen Teil der Russischen Föderation als Tschetschenien eine Registrierung erst nach dem Ablauf einer Zeitspanne erhalten wird, die so lange ist, dass sich ein aus seiner psychischen Verfassung ergebendes Lebens- bzw. Gesundheitsrisiko - wie im Beweisantrag behauptet - bis dahin realisieren könnte.
64 
In Würdigung all dessen kann vom Kläger vernünftigerweise verlangt werden, dass er sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens aufhält. Nach den eben beschriebenen dortigen allgemeinen Gegebenheiten besteht für den Kläger weder eine begründete Furcht vor Verfolgung noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.
II.
65 
Der Kläger erfüllt ferner nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG (i.V.m. Abs. 11 und Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG).
66 
Über die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist auch in den Fällen zu entscheiden, in denen das Bundesamt - wie vorliegend - vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes über das (Nicht-)Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten entschieden hat und hiergegen Klage erhoben worden ist. In den anhängigen gerichtlichen Verfahren wächst der am 28.08.2007 neu hinzugetretene unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz automatisch an und ist damit zwingend zu prüfen. Über dieses Prüfprogramm können die Verfahrensbeteiligten nicht disponieren und damit in Übergangsfällen das Anwachsen des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes während des gerichtlichen Verfahrens nicht verhindern. In diesen Fällen bedarf es keiner ausdrücklichen Einbeziehung des neuen, auf Unionsrecht beruhenden subsidiären Abschiebungsschutzes in das anhängige gerichtliche Verfahren durch einen der Verfahrensbeteiligten (zur prozessrechtlichen Bedeutung dieser Abschiebungsverbote und zu ihrem Verhältnis zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 3 AufenthG sowie zum Streitgegenstand im asylrechtlichen Verwaltungsprozess vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
67 
1. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG (i.V.m. Art. 15 Buchst. b RL 2004/83/EG und Art. 3 EMRK) liegen nicht vor.
68 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Regelung des § 60 Abs. 2 AufenthG dient der Umsetzung von Artikel 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG, der seinerseits im Wesentlichen dem Grundrecht aus Art. 3 EMRK entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 – Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen bestehen in der Person des Klägers insbesondere auch deshalb keine zureichenden Anhaltspunkte, weil kein Strafverfahren gegen ihn anhängig ist oder ihm droht.
69 
2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 3 AufenthG liegt gleichfalls nicht vor.
70 
Nach § 60 Abs. 3 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. a RL 2004/83/EG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Gefahr.
71 
3. Die Voraussetzungen für eine Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben.
72 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685 - EMRK -) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für das Vorliegen eines solchen Abschiebungsverbotes ist nichts ersichtlich, insbesondere muss der Kläger - wie oben ausgeführt - nicht befürchten, außerhalb Tschetscheniens in unmenschlicher oder erniedrigender Weise behandelt oder gar gefoltert zu werden (Art. 3 EMRK). Andere Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention sind im Fall des Klägers tatbestandlich nicht einschlägig. Dies gilt auch mit Blick auf Art. 8 EMRK. Denn die Asylanträge seiner Ehefrau und seiner Kinder bleiben gleichfalls ohne Erfolg; ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland besteht nicht.
73 
4. Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG sind nicht erfüllt.
74 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, durch den die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c und Art. 2 Buchst. e RL 2004/83/EG ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Bestimmung entspricht trotz geringfügig abweichender Formulierungen den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG und ist in diesem Sinne auszulegen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris).
75 
Es kann vorliegend dahinstehen, ob in Tschetschenien derzeit noch ein - regional begrenzter (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008, - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198) - innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht und ob deshalb in dieser Region auch eine individuelle Bedrohung des Klägers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner Gefahren im Rahmen des bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56 Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris ) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris) anzunehmen ist. Denn ein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht bei einem - nur - regional begrenzten Konflikt dann nicht, wenn dem Betroffenen ein interner Schutz nach Art. 8 RL 2004/83/EG (i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG) zur Verfügung steht, weil außerhalb der Region keine Gefahrenlage im oben dargestellten Sinn besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.2009, - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188; Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 17.02.2009, - C-465/07 - Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Dies ist vorliegend der Fall. Denn dem Kläger steht nach den obigen Ausführungen in anderen Teilen der Russischen Föderation eine zumutbare interne Schutzalternative zur Verfügung. Diese ist auch erreichbar und es kann von ihm - wie dargelegt - auch unter Würdigung seiner persönlichen Belange und bei Bewertung der gesamten Umstände vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält.
III.
76 
In der Person des Klägers liegen schließlich auch nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3 (vgl. zum einheitlichen Streitgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris) vor.
77 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
78 
Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07-, BVerwGE 131, 198). Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
79 
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = InfAuslR 2010, 404 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226 = AuAS 2010, 249 = InfAuslR 2010, 458 = NVwZ 2011, 48; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
80 
In Anwendung dieser Grundsätze besteht, wie der Senat unter I. 2. festgestellt hat, eine solche extreme konkrete Gefahrenlage für den Kläger in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht.
IV.
81 
Die in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 11.05.2004 enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung entspricht den gesetzlichen Vorschriften (vgl. § 34 und § 38 Abs. 1 AsylVfG) und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
82 
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
83 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entsprach nicht der Billigkeit (§ 154 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung), dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten aufzuerlegen, da dieser keinen Antrag gestellt und somit auch kein Kostenrisiko übernommen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung).
84 
Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben.
85 
Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
22 
Der Senat kann trotz Nichterscheinens des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten entscheiden, da dieser mit der Ladung nach § 102 Abs. 2 VwGO auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
23 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung des Klägers ist unbegründet.
24 
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist - entgegen der Zulassung der Berufung durch den Senat nicht nur der Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Russischen Föderation und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974), sondern auch sein hilfsweise geltend gemachter Anspruch auf Feststellung unionsrechtlicher und nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes von 2007 bilden die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 zum einen und die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG 2004 zum anderen jeweils eigenständige Streitgegenstände, wobei die unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbote vorrangig vor dem nationalen Abschiebungsverbot u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG 2004 zu prüfen sind. Damit sind die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 in dem Verfahren angewachsen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Beschluss vom 10.10.2011 - 10 B 24/11-, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244). Für die nationalen Abschiebungsverbote gilt nichts anderes.
25 
Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; I.). In der Person des Klägers liegen ferner weder unionsrechtliche (II.) noch nationalrechtliche (III.) Abschiebungsverbote vor. Die Abschiebungsandrohung ist gleichfalls rechtlich nicht zu beanstanden (IV.).
I.
26 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation nicht vorliegen.
27 
Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, da nach Art. 40 RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
28 
Nach Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
29 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG).
30 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181-, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
31 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377; Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla, NVwZ 2010, 505). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982).
32 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377 = NVwZ 2011, 51). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris).
33 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a) beschrieben Weise betroffen ist (Buchst. b)). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
34 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
35 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237).
36 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, juris; Urteil vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 -, juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 -, juris).
37 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20.08 -, juris).
38 
1. In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben war der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise keiner anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt, weshalb ihm insoweit die Privilegierung aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zu Gute kommt.
39 
Das Vorbringen des Klägers zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal ist wegen erheblicher Widersprüchen, insbesondere wegen deutlich gesteigerten Vorbringens sowie wegen stereotyper Angaben insgesamt nicht glaubhaft. Beim Bundesamt hat der Kläger vorgetragen, er sei beim Innenministerium tätig gewesen und zwar in einer Sonderabteilung. Sie hätten operative Aufgaben durchgeführt. Sie hätten Informationen über die Bewegung der Truppen, ihre Bewaffnung und ihre Zahl gesammelt. Er sei zum Major befördert worden. Substantiierte Angaben zu seiner Tätigkeit im Innenministerium hat der Kläger beim Bundesamt nicht gemacht. Bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart hat er erstmals angegeben, nach dem Kriegsende sei er wieder beim Innenministerium als Aufsicht über Feuerwehr und Gefängnisse eingesetzt worden. Daneben sei er noch in einer Aufklärungstruppe tätig gewesen. Seine Gruppe sei u.a. bei den Kämpfen gegen Wahabiten beteiligt gewesen. Dieses aber hat der Kläger beim Bundesamt nicht erwähnt. Auf die Frage beim Bundesamt, von wem er denn verfolgt worden sei, hat der Kläger geantwortet, wenn er das gewusst hätte. Aber das werde zielgerichtet gemacht. Auf Nachfrage hat er angegeben, er glaube, dass dies aus den Kreisen des FSB, der Nationalen Sicherheit komme. Demgegenüber hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart erklärt, er vermute, dass es die Wahabiten gewesen seien, die sie verfolgt hätten. Nicht nachvollziehbar ist auch die Aussage des Klägers beim Bundesamt, er habe von 1994 bis 1999 für die tschetschenische Regierung bei Dudajew gearbeitet. Denn Dschochar Mussajewitsch Dudajew starb bereits im April 1996. Sein Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde 1997 Aslan Maschadow. Zu seinen Aufgaben beim Innenministerium hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine weiteren substantiierten Angaben gemacht. Völlig widersprüchlich sind auch die Angaben des Klägers zu seiner Ausbildung. Auf entsprechende Frage beim Bundesamt hat der Kläger angegeben, er habe die Fachschule des Innenministeriums 1988 in Charkov abgeschlossen und zwar mit einem Diplom als Techniker für Spezialtechnik. Auf Nachfrage hat er erklärt, es habe sich um Waffen- und Fahrzeugtechnik, spezielle Technik für das Innenministerium gehandelt. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, er habe in Grosny im Jahre 1994 mit dem Hochschulabschluss als Philologe abgeschlossen. Über seine Ausbildung als Fahrlehrer und das Betreiben einer Fahrschule in Grosny hat der Kläger weder beim Bundesamt noch beim Verwaltungsgericht berichtet. Das Vorbringen des Klägers steht ferner auch im Widerspruch zu den Angaben seiner Ehefrau. Diese hat bereits bei ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 25.08.2000 im Rahmen ihres eigenen Asylverfahrens erklärt, die Russen hätten ihren Ehemann im Winter 1999/2000 bei ihr gesucht. Bei ihrer Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung hat sie dies bestätigt und ergänzt, die Männer hätten ihr gesagt, sie seien von der Rayon-Abteilung für Inneres, also der Miliz. Sie habe ihrem Mann nichts davon erzählt. Später hat sie dann ausgeführt, Soldaten seien mit einem Panzer gekommen und hätten ihr Haus, in dem inzwischen eine Nachbarin gewohnt habe, in die Luft gejagt. Das habe sie ihrem Mann erzählt, als sie ihn das letzte Mal gesehen habe. Dies hat der Kläger indessen weder beim Bundesamt noch bei seiner gerichtlichen Anhörung beim Verwaltungsgericht Stuttgart noch bei seiner Anhörung vor dem Senat erwähnt. Auch der Senat hält es nicht für glaubhaft, dass die Ehefrau ihrem Mann nichts davon erzählt hätte, wenn russische Milizionäre nach ihm gesucht hätten. Widersprüchlich sind weiterhin die Angaben zu den Umständen der Flucht der Ehefrau des Klägers. Der Kläger hat beim Bundesamt erklärt, die Ausreise seiner Frau hätten seine Schwiegereltern organisiert und auch finanziert. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, zwei Freunde von ihm hätten auf seine Bitte das Ganze über weitere Bekannte organisiert. Bereits diese dargestellten Widersprüche zeigen die Unglaubhaftigkeit der Angaben des Klägers. Diese wird durch seine weiteren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Hier hat der Kläger nunmehr erstmals angegeben, er habe, während er sich in der Zeit von 1999 bis 2003 versteckt bzw. im Untergrund aufgehalten habe, mit Menschenrechtsorganisationen zusammengearbeitet. Er habe mit seinem Freund R... Meetings organisiert und an Demonstrationen teilgenommen, allerdings nicht offiziell. Er habe Fälle von Misshandlungen und Angriffe an R... weitergegeben, die dieser dann wiederum an I... E... weitergeleitet habe. Auf Nachfrage gab der Kläger dann an, an Demonstrationen habe er nicht teilgenommen. Er habe aus dem Untergrund Informationen gesammelt. I... E... habe er erst im August 2003 kennengelernt. Aber auch dieses Vorbringen bleibt, abgesehen davon, dass der Kläger diese für ihn wichtige Tätigkeit erstmals vor dem Senat schildert, im Ungefähren. Dem Kläger war es nicht möglich anzugeben, für welche Menschenrechtsorganisationen er angeblich Informationen gesammelt habe, obwohl I... E... - wie der Kläger weiter behauptet hat - Vorsitzender und Leiter der Organisation gewesen sei. Auf Frage, wer ihn verfolgt habe, gibt der Kläger nun wieder an, er sei von russischen Streitkräften verfolgt worden, nicht so sehr von Wahabiten. Eine Erklärung für die Behauptung, es sei herausgekommen, dass er Informationen an I... E... geliefert habe, konnte der Kläger nicht geben. Aufgrund all dessen konnte sich der Senat nicht von der Wahrheit der Angaben des Klägers überzeugen.
40 
Vor diesem Hintergrund war dem hilfsweise gestellten Antrag Ziffer 4 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger im Rang eines Majors im Innenministerium in Grosny gearbeitet habe, dass er festgenommen, gefoltert, misshandelt und erniedrigt worden sei, dass man ihn getötet hätte, wenn er nicht geflohen wäre, I... E... als Zeuge zu vernehmen, nicht nachzugehen. Darüber hinaus hat der Kläger angegeben, er habe I... E... erst im August 2003 persönlich kennengelernt, wobei das Treffen ca. 10 bis 30 Minuten gedauert habe. Aus eigener Kenntnis könnte I... E... daher zu den unter Beweis gestellten Umständen, soweit es sich überhaupt um Tatsachen und nicht nur um Mutmaßungen - wie z.B. hinsichtlich der Tötung des Klägers - handelt, keine Angaben machen. Im Übrigen ist das Vorbringen des Klägers zu I... E... ebenfalls widersprüchlich. Vor dem Senat hat der Kläger angegeben, I... E... habe keinen regulären Beruf gehabt. Zur Begründung des hilfsweise gestellten Beweisantrags hat der Kläger aber angegeben, der Zeuge sei früheres Mitglied der tschetschenischen Regierung gewesen und kenne ihn aus früheren Zeiten. Er arbeite jetzt für amnesty international. Demgegenüber hat der Kläger - wie oben bereits ausgeführt - keine Angaben dazu machen können, für welche Menschenrechtsorganisationen er und I... E... gearbeitet habe.
41 
2. Ob der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise einer - regionalen - Gruppenverfolgung in Tschetschenien ausgesetzt war und noch ist (letzteres verneinend OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20) bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn dem Kläger steht jedenfalls in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens eine inländische Fluchtalternative nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG und damit ein interner Schutz im Sinne des Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung. Es ist ihm zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, an dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
42 
Der Senat geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die Bewohner Tschetscheniens im Zeitpunkt seiner Ausreise einer regionalen Gruppenverfolgung ausgesetzt waren. Ob dies tatsächlich der Fall war - ob mithin tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen (wegen ihres Volkstums oder ihrer politischen Überzeugung) in der erforderlichen Verfolgungsdichte und -intensität von staatlichen russischen [oder der tschetschenischen Republik zuzuordnenden] Stellen verfolgt wurden - braucht demgemäß nicht entschieden zu werden. Die Gefahr einer künftigen Verfolgung des Klägers ist deshalb zwar unter Zubilligung der sich aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ergebenden Beweiserleichterung zu prüfen. Es sprechen im Sinn dieser Bestimmung jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger gegenwärtig jedenfalls in den übrigen Teilen der Russischen Föderation von irgendeiner Art von Verfolgung betroffen sein wird oder dass eine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden (Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 15 RL 2004/83/EG). Das gilt auch für Vorfälle, denen sich die Bevölkerung Tschetscheniens bis zur Ausreise des Kläger allgemein ausgesetzt gesehen hat.
43 
Auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Art. 8 RL 2004/83/EG, an denen die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative zu messen ist (BVerwG vom 1.2.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007,590), steht politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung (vgl. BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 21.06.2010 – 11 B 08.30103 -, juris; Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; OVG Hamburg, Beschluss vom 27.11.2009 - 2 Bf 337/02.A -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; OVG Sachen-Anhalt, Urteil vom 31.07.2008 - 2 L 23/06 -, juris; HessVGH, Urteil vom 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.10.2006 - A 3 S 46/06 -, juris; OVG Saarland, Beschluss vom 29.05.2006 - 3 Q 1/06 -; juris; NdsOVG, Beschluss vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Sächsisches OVG, Beschluss vom 07.02.2011 - A 5 A 152/09 -). Davon ist auch für den Fall des Klägers auszugehen.
44 
a.) Zunächst ist festzustellen, dass der Kläger politisch unverdächtig ist. Eine politisch relevante gegen die tschetschenische Republik, gegen Russland und die Russische Föderation insgesamt gerichtete Tätigkeit hat der Kläger nicht glaubhaft dargelegt. Dies gilt insbesondere - wie der Senat oben aufgezeigt hat - für die Behauptung des Klägers, er habe in den Jahren 1999 bis 2003 für Menschenrechtsorganisationen Informationen gesammelt. Den Angaben des Klägers, soweit sie überhaupt glaubhaft sind, ist auch nichts für ein Strafverfahren gegen ihn zu entnehmen. Ebenso wenig führt allein der Umstand, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, dazu, dass er nach seiner Rückkehr in die Russische Föderation - jedenfalls außerhalb Tschetscheniens - deshalb staatlich verfolgt wird (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Anlass, entsprechend den in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Anträgen Ziff. 1 und Ziff. 2 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) Beweis zu erheben. Weder die vom Senat als widersprüchlich erachteten Angaben des Klägers noch seine Asylantragstellung und sein langjähriger Auslandsaufenthalt vermögen die in den hilfsweise gestellten Beweisanträgen aufgestellte Behauptung zu begründen, er könnte bei einer Rückkehr als Verräter und Spion oder als tschetschenischer Terrorist angesehen werden.
45 
b.) Dem Kläger ist es auch möglich, sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederzulassen.
46 
Art. 27 der russischen Verfassung von 1993 garantiert die Niederlassungsfreiheit. Dieses Recht ist allerdings strikt begrenzt durch regionale und lokale Bestimmungen und durch das de facto vielerorts noch gültige Propiska-System, das vor dem mit dem Föderationsgesetz im Jahre 1993 eingeführten Registrierungssystem galt und das nicht nur eine Meldung durch den Bürger, sondern auch die Gestattung oder Verweigerung durch die Behörden vorsah. Nach dem Registrierungssystem ist Voraussetzung für eine dauerhafte Registrierung, dass der Antragsteller einen Wohnraumnachweis führen kann und über einen russischen Inlandspass verfügt. Ein in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht für eine dauerhafte Registrierung nicht aus (AA, Lagebericht vom 18.08.2006, S. 26). Trotz der Systemumstellung durch das Föderationsgesetz wenden viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an, weshalb Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens erhebliche Schwierigkeiten haben, eine offizielle Registrierung zu erhalten. Besonders in Moskau haben zurückgeführte Tschetschenen in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie über genügend Geld verfügen oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können.
47 
Die genannten Registrierungsvoraussetzungen gelten im ganzen Land. Gleichwohl ist eine offizielle Registrierung in anderen Regionen der Russischen Föderation, vor allem in Südrussland, grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil Wohnraum - eine der Registrierungsvoraussetzungen - dort erheblich billiger ist als in der russischen Hauptstadt mit ihren hohen Mieten. Neben Moskau, wo etwa 200.000 Tschetschenen leben, ist es Tschetschenen auch gelungen, sich in den Gebieten Rostow, Wolgograd, Stawropol, Krasnodar, Astrachan, Nordossetien und in Karatschajewo-Tscherkessien anzusiedeln (AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007, Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 - Oktober 2007 - im Folgenden: Memorial-Bericht Oktober 2007).
48 
Der für die Registrierung erforderliche Inlandspass kann nach der Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 „am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung“ und damit auch außerhalb Tschetschenien beantragt werden (AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Ethnische Tschetschenen, die sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation niederlassen wollen, müssen zwar damit rechnen, dass ihnen die Bestätigung der Anmeldung (die sog. "Registrierung") verweigert werden könnte (vgl. dazu die Abschnitte II.4 und IV.2 des Lageberichts vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Diese - rechtswidrige - Praxis ist unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG indessen nicht erheblich, da das Vorenthalten der Einstempelung in den Inlandspass, durch den die erfolgte Anmeldung einer Person beurkundet wird, als solches nicht mit einer Verletzung der in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" und "Freiheit" einhergeht. Auch werden durch ein derartiges behördliches Verhalten nicht grundlegende Menschenrechte im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG schwerwiegend beeinträchtigt. Zwar legalisiert erst eine Registrierung den Aufenthalt des Betroffenen; zudem ist sie Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem, zum offiziellen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. AA, Lagebericht vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007). Mit der Nichterteilung einer Zuzugsgenehmigung in eine bestimmte Gemeinde oder Stadt ist nach dem Charakter der Maßnahme aber nicht ein - zielgerichteter - Eingriff in das Leben oder die Gesundheit intendiert, sondern lediglich eine Aufenthaltsnahme in anderen Landesteilen (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; BVerwG, 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982). Ferner ergibt sich aufgrund der Erkenntnislage, dass gerade in bestimmten Großstädten der Russischen Föderation, teilweise aber auch darüber hinaus die Registrierungsverweigerung der lokalen Behörden nicht an die tschetschenische Volkszugehörigkeit oder die Herkunft aus dem Nordkaukasus anknüpft, sondern sämtliche Zuzugswilligen in gleicher Weise betrifft (vgl. etwa Niedersächsisches OVG, Beschlüsse vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Beschluss vom 24.06.2006 - 13 LA 398/05 -, juris ; OVG Bremen, Urteil vom 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -, juris). Schließlich wird die Ausgrenzung aus der staatlichen Rechtsgemeinschaft, die der Nichtbesitz einer Registrierung in Bezug auf wichtige Lebensbereiche deshalb nach sich ziehen kann, dadurch spürbar gemildert, dass die Registrierungspflicht - nach Änderung der Registrierungsvorschrift am 22.12. 2004 - nunmehr erst nach 90 Tagen ab dem Beginn des Aufenthalts an einem Ort Platz greift (Memorial-Bericht Oktober 2007; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris). Anhaltspunkte dafür, dass diese Regelung tatsächlich keine Anwendung findet, sind nicht ersichtlich.
49 
Ungeachtet dessen können sich Tschetschenen mit sehr guten Erfolgsaussichten gegen derartige Rechtsverstöße zur Wehr setzen, ohne dass sie vorübergehend nach Tschetschenien zurückkehren müssten. In den zum Gegenstand dieses Verfahrens gemachten, seit 2002 erschienenen Berichten der Menschenrechtsorganisation "Memorial" sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen es durch die Einschaltung von Abgeordneten, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen oder Rechtsanwälten sowie erforderlichenfalls durch das Beschreiten des Rechtswegs gelungen ist, Tschetschenen eine Registrierung zu verschaffen. In Gestalt der 58 Beratungsstellen, über die die Organisation "Migration und Recht" verfügt, steht Betroffenen ein russlandweites Netz zur Verfügung, in dem jährlich mehr als 20.000 Menschen beraten werden. Soweit nicht bereits mit außerprozessualen Mitteln Abhilfe geschaffen werden kann, darf zumindest in aller Regel davon ausgegangen werden, dass der Betroffene vor Gericht Recht erhalten wird. Denn die russischen Gerichte üben Verwaltungskontrolle nach US-Vorbild aus; behördliche Bescheide können vor dem örtlich zuständigen Bezirksgericht angefochten werden. Die Gerichte sind die einzigen staatlichen Institutionen in Russland, die Tschetschenen Rechtsschutz gewähren. Da stattgebende gerichtliche Entscheidungen im Durchschnitt nach einigen Monaten ab Verfahrenseinleitung ergehen, kann ungeachtet des Umstandes, dass die Verwaltung fallweise rechtswidrige Bescheide trotz ihrer Aufhebung mehrmals erlassen hat, nicht davon gesprochen werden, eine Verweigerung der Registrierung stelle einen Eingriff in nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG geschützte Rechte dar, der zudem die nach diesen Bestimmungen erforderliche Schwere erreicht. Soweit es einige Monate dauern sollte, bis der Kläger eine Registrierung erhält, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm und durch Aushilfstätigkeiten überbrückt werden (vgl. BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
50 
c.) Bei einer Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation als Tschetschenien hätte der Kläger auch keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Verfolgung im Hinblick auf ihm dort etwa drohende polizeiliche Maßnahmen zu befürchten.
51 
Auch wenn der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen etwas abgenommen hat, berichten russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; die Angehörigen dieses Personenkreises stünden unter einer Art Generalverdacht (AA, Lageberichte vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Personenkontrollen auf der Straße oder in der U-Bahn sowie Hausdurchsuchungen fänden weiterhin statt, hätten jedoch an Intensität nachgelassen; Anweisungen russischer Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen seien nicht bekannt (AA, Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011).
52 
Auch derartige Vorgänge sind indessen unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG grundsätzlich noch nicht rechtserheblich. Muss ein Tschetschene häufiger seinen Ausweis vorzeigen oder sieht er sich öfter mit Durchsuchungsmaßnahmen konfrontiert, als das bei sonstigen Bewohnern der Russischen Föderation der Fall ist, so mag diese Schlechterstellung zwar an die Volkszugehörigkeit, das körperliche Erscheinungsbild oder die regionale Herkunft - und damit an ein Merkmal im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG - anknüpfen. Da solche polizeiliche Handlungen indes weder die in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" oder "Freiheit" noch grundlegende Menschenrechte (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG) verletzen und sie die Betroffenen auch nicht im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG in ähnlich gravierender Weise beeinträchtigen, kommt diesen Praktiken - ungeachtet ihres diskriminierenden Charakters - im Regelfall keine flüchtlingsrechtliche Relevanz zu.
53 
Eine hiervon abweichende Betrachtung wäre dann geboten, wenn es bei derartigen Kontroll- oder Durchsuchungsmaßnahmen zu Übergriffen auf Leib oder Leben der Betroffenen käme oder sie mit einem Freiheitsentzug einhergehen würden, der von seiner zeitlichen Länge her den Rahmen übersteigt, innerhalb dessen eine Person auch in einem Rechtsstaat durch die vollziehende Gewalt vorübergehend festgehalten werden darf. Dass sich der Kläger solchen Praktiken ausgesetzt sehen wird, lässt sich jedoch mit praktischer Sicherheit ausschließen. Gleiches gilt für die Besorgnis, ihm könnten gefälschte Beweismittel untergeschoben werden, um ihn ungerechtfertigt mit einem Strafverfahren zu überziehen. Denn eine Auswertung der einschlägigen Erkenntnismittel ergibt, dass jedenfalls solche Tschetschenen, bei denen es sich nicht um junge Männer handelt, die sich - unmittelbar aus dem früheren Bürgerkriegsgebiet kommend - in andere Teile der Russischen Föderation begeben haben, und die auch nicht durch individuelles rechtswidriges Vorverhalten Anlass für ein polizeiliches Einschreiten gegeben haben, bei Kontakten mit den staatlichen Sicherheitsorganen keine Übergriffe befürchten müssen, denen flüchtlingsrechtliche Relevanz zukommt. So liegt der Fall beim Kläger. Zum einen hat er etwa neun Jahre im Ausland verbracht, so dass keine Rede davon sein kann, dass er direkt aus dem Bürgerkriegsgebiet in andere Gebiete der Russischen Föderation eingereist ist. Zum anderen hat er auch nicht glaubhaft angegeben, in einer militärisch organisierten Rebelleneinheit gekämpft zu haben. Aus den Erkenntnismitteln geht hervor, dass bei Tschetschenen, die nicht die vorbezeichneten Ausnahmekriterien erfüllen, stichhaltige Gründe dagegen sprechen, sie könnten mit ungerechtfertigten strafrechtlichen Vorwürfen überzogen werden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
54 
d.) Die in der Russischen Föderation zu beobachtenden Vorkommnisse, deren Ursache in rassistischen oder fremdenfeindlichen Motiven zu suchen sind, stehen der Annahme einer inländischen Fluchtalternative bzw. eines internen Schutzes nach § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG gleichfalls nicht entgegen.
55 
Der Senat übersieht nicht, dass Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen. M. Grob (SFH vom 12.09.2011) spricht davon, dass Rassismus gegenüber Kaukasiern in Russland weit verbreitet sei und auch gewalttätigen Charakter habe. Hierbei handelt es sich allerdings lediglich um eine allgemeine Aussage; nachvollziehbare Einzelheiten werden nicht angegeben. Auch R. Mattern (SFH vom 03.06.2010) berichtet von Rassismus als gesellschaftliches Problem. Gefährdungen bestünden für Ausländer mit dunkler Hautfarbe. Allerdings würden russische Sicherheitskräfte versuchen, rassistische Gewalt mit repressiven Methoden zu bekämpfen. Allein im ersten Quartal 2010 seien in 18 Urteilen 74 Personen wegen rassistischer Gewalt verurteilt worden. Im Lagebericht des AA vom 07.03.2011 werden keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Rassismusvorfälle gegenüber Tschetschenen berichtet, die nicht nach Tschetschenien, sondern in andere Teile der Russischen Föderation zurückkehren. Im Bericht von U. Rybi (FFH vom 25.11.2009) finden sich hierzu gleichfalls keine Angaben. Zwar spricht auch der Memorial-Bericht April 2009 (Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Oktober 2007 - April 2009 - im Folgenden: Memorial-Bericht April 2009) von einem „neuen“ Feindbild in Russland, das sich gegen Tschetschenen richte. Die Berichterstattung beschreibt aber im Wesentlichen ein geistiges Klima. Gewalttätige Übergriffe rechtsradikaler russischer Kräfte auf Tschetschenen, die staatlicherseits initiiert oder geduldet würden, werden in einem asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Ausmaß hingegen - auch im vorausgehenden Memorial-Bericht Oktober 2007, - nicht geschildert. Soweit es Mitte August 2005 im südrussischen Jandyki und in Naltschik - der Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien - zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Tschetschenen und Angehörigen anderer Volksgruppen gekommen ist (vgl. Memorial-Bericht 2006 [Juli 2005 - Juli 2006]), sind solche Vorkommnisse, bei denen die Gewalttätigkeiten im Übrigen auch von der tschetschenischen Seite ausgingen, in jüngerer Zeit nicht mehr bekannt geworden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris). Den Erkenntnismitteln kann bei der gebotenen Objektivität nicht entnommen werden, dass ethnische Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Opfer gewalttätiger Übergriffe aus fremdenfeindlichen Beweggründen werden. Angesichts der Vielzahl von in der Russischen Föderation sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Tschetschenen bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben über gegen sie gerichteten Maßnahmen keine zureichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen asyl- bzw. flüchtlingserheblichen Verfolgungsbetroffenheit (vgl. auch OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20. Die Frage, inwieweit sich der russische Staat solche von gesellschaftlichen Kräften ausgehenden Übergriffe gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG zurechnen lassen muss, kann deshalb auf sich beruhen.
56 
e.) Dem Kläger droht aufgrund seines Alters von 55 Jahren auch nicht mehr die Einberufung zum Wehrdienst in der russische Armee (vgl. Lagebericht vom 4.4.2010, wonach die allgemeine Wehrpflicht nur für Männer zwischen 18 und 28 Jahren besteht).
57 
f.) Dem Auswärtigen Amt sind ferner keine Fälle bekannt geworden, in denen tschetschenische Volkszugehörige bei oder nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt waren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011). Zwar geht das Auswärtige Amt davon aus, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren; diese Befürchtung bezieht sich jedoch insbesondere auf solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage besonders engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.201; vgl. insoweit auch BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris). Zu diesen besonderen Risikogruppen gehört der Kläger indessen nicht.
58 
g.) Dem Kläger ist auch mit Blick auf die Gewährleistung des Existenzminimums eine Aufenthaltsnahme in den übrigen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zumutbar.
59 
Eine interne Fluchtalternative im Sinne von Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG setzt neben der - oben dargelegten - Verfolgungssicherheit voraus, dass von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Maßgeblich ist insofern, ob der Kläger im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein wird, wobei es im Hinblick auf die Neufassung des § 60 AufenthG zur Umsetzung der RL 2004/83/EG nicht (mehr) darauf ankommt, ob diese Gefahren am Herkunftsort ebenso bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11/07 -, BVerwGE 131, 186). Zur Interpretation des Begriffs der persönlichen Umstände im Sinne des Art. 8 Abs. RL 2004/83/EG kann auf Art. 4 Abs. 3 Buchst. c RL 2004/83/EG zurückgegriffen werden, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind. Zu fragen ist sodann auf der Grundlage dieses gemischt objektiv-individuellen Maßstabs, ob von einem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort der internen Fluchtalternative aufhält. Erforderlich hierfür ist, dass er am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben.
60 
Eine existentielle Bedrohung ist gegeben, wenn das Existenzminimum nicht gesichert ist. Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel, wenn sie dort - was grundsätzlich zumutbar ist - durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer "Schatten- oder Nischenwirtschaft" stattfinden. Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine kriminelle Arbeit - etwa durch Beteiligung an Straftaten im Rahmen „mafiöser“ Strukturen - ist dagegen nicht zumutbar (BVerwG, Beschluss vom 17.05.2005 - 1 B 100/05 -, juris). Maßgeblich ist grundsätzlich auch nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.08.2006 - 1 B 96.06 -, juris; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590), d.h. ob mit den erlangten Mitteln auch die notwendigsten Aufwendungen für Leben und Gesundheit bestritten werden können. Ein Leben in der Illegalität, das den Kläger jederzeit der Gefahr polizeilicher Kontrollen und der strafrechtlichen Sanktionierung aussetzt, stellt demgegenüber keine zumutbare Fluchtalternative dar (BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590).
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen ist es dem Kläger - nach der gegenwärtigen Sachlage (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG sowie Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) - zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, in dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
62 
Wie bereits ausgeführt erweitert die Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 die Möglichkeit zur Beantragung und Ausstellung des Inlandspasses in räumlicher Hinsicht. Dieser kann nunmehr am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung ausgestellt werden (vgl. AA, Lageberichte vom 22.11.2008 und vom 07.03.2011; ebenso Memorial-Bericht Oktober 2007). Die Innehabung eines gültigen Inlandspasses ist ihrerseits Voraussetzung für die in diesen Pass zu stempelnde Wohnsitzregistrierung. Die Registrierung, die dem Kläger - wie oben ausgeführt - wenn auch ggf. mit leichter Verzögerung ebenso wie seiner Ehefrau möglich ist, legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht, Oktober 2007). Mit der Registrierung besteht auch für die Kinder des Klägers Zugang zur Bildung (Memorial-Bericht Oktober 2007). Svetlana Gannuschkina berichtet im Memorial-Bericht Oktober 2007, dass im vergangenen Jahr keine Klagen von Menschen aus Tschetschenien über Diskriminierung bei der Arbeitsaufnahme vorlägen.
63 
Die persönlichen Umstände des Klägers rechtfertigen keine andere Einschätzung. Der Kläger ist mit 55 Jahren noch in einem arbeitsfähigen Alter. Hinzu kommt, dass seine Ehefrau mit 44 Jahren deutlich jünger ist und damit ebenfalls durch legale Arbeit infolge Registrierung zum notwendigen Lebensunterhalt beitragen kann. So berichtet Svetlana Gannuschkina, dass tschetschenische Frauen auf der Straße und den Märkten durch Handel ihr Geld verdienen können (Memorial-Bericht Oktober 2007). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch keine seine Arbeitsfähigkeit wesentlich einschränkende Erkrankung substantiiert dargelegt. Dem Senat liegt zwar das psychologische Gutachten des Evangelischen Migrationsdienstes in Württemberg e.V. vom 26.10.2006 über den Kläger vor. Darin wird angegeben, der Kläger leide an einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Zusätzlich bestehe eine Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger indessen lediglich angegeben, er gehe ein- bis zweimal im Monat zum Arzt. Er leide an Bluthochdruck. Er sei auch in Behandlung wegen der Nerven und wegen Operationen. Weitere detaillierte Angaben hat der Kläger nicht gemacht. Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass für den Kläger infolge der Registrierung ein Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem besteht und posttraumatische Belastungsstörungen in der Russischen Föderation in großen und größeren Städten grundsätzlich behandelt werden können (vgl. R. Mattern, SFH, Auskunft vom 20.04.2009), kann vom Kläger vernünftigerweise erwartet werden, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens Aufenthalt zusammen mit seiner Ehefrau und seinen Kindern zu nehmen. Angesichts dessen, dass der Kläger zu seiner psychischen Erkrankung, wie sie im psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 - also vor mehr als sechs Jahren - dargestellt wird, keine weiteren substantiierten Angaben gemacht hat, insbesondere dem Senat nicht erläutert hat, ob die seinerzeit diagnostizierte psychische Erkrankung überhaupt noch besteht und wenn ja, welche Behandlungsmaßnahmen erfolgen, war dem vom Kläger hilfsweise gestellten Beweisantrag Ziff. 3 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) auf Einholung eines Gutachtens von Herrn Dr. T... S... zum Beweis der Tatsache, dass „der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, an einer jetzt schon chronifizierten Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, dass diese psychische Erkrankung bereits jetzt schon chronifiziert ist aufgrund der Dauer des Verfahrens, dass diese psychische Erkrankung auch Auswirkungen auf sein Aussageverhalten hat im Sinne eines Verdrängungsmechanismus, so dass bei einer Rückkehr oder Abschiebung der Kläger ein akutes Wiederholungstrauma erleiden würde, eine sog. Retraumatisierung in jedem Fall jedoch diese Erkrankung behandlungsbedürftig ist und zwar in einem sicheren Rahmen in der Bundesrepublik Deutschland, ansonsten sich die Erkrankung akut verschlimmert“, nicht nachzugehen. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind keine zureichenden Anhaltspunkte für eine akute posttraumatische Belastungsstörung und erst recht nicht für eine chronifizierte Persönlichkeitsänderung zu entnehmen. Die entsprechenden Behauptungen im Beweisantrag werden daher nicht durch tatsächliche Indizien gestützt. Sie erscheinen vielmehr als „ins Blaue hinein“ erhoben; der Beweisantrag ist daher als Ausforschungsbeweisantrag unzulässig. Für den Senat kommt hinzu, dass - wie bereits aufgezeigt - in der Russischen Föderation posttraumatische Belastungsstörungen behandelt werden können. Weiterhin wird in dem psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 ausgeführt, dass die Sorge um die Rückkehr aufgrund massiver Ängste vor einer möglichen Folterung und/oder Ermordung zwar die Symptomatik verstärke, jedoch nicht die Ursache der Erkrankung sei. Die Symptomatik und die Verhaltensweisen könnten zudem nicht durch eine Sorge vor einer möglichen Rückkehr erklärt werden. Auch könne die Entwurzelung im Exilland (Unkenntnis der Landessprache, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse) als Ursache der bestehenden psychischen Störung ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings zusätzlich festzustellen, dass das Gutachten von einer Rückkehr nach Tschetschenien ausgegangen ist. Da der Kläger sowohl tschetschenisch als auch russisch versteht und spricht, kann von einer Unkenntnis der Landessprache wohl nicht ausgegangen werden. Auch besteht angesichts der fehlenden inhaltlich aussagekräftigen Angaben des Klägers zu seiner derzeitigen psychischen Verfassung keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er bei einer Niederlassung in einem anderen Teil der Russischen Föderation als Tschetschenien eine Registrierung erst nach dem Ablauf einer Zeitspanne erhalten wird, die so lange ist, dass sich ein aus seiner psychischen Verfassung ergebendes Lebens- bzw. Gesundheitsrisiko - wie im Beweisantrag behauptet - bis dahin realisieren könnte.
64 
In Würdigung all dessen kann vom Kläger vernünftigerweise verlangt werden, dass er sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens aufhält. Nach den eben beschriebenen dortigen allgemeinen Gegebenheiten besteht für den Kläger weder eine begründete Furcht vor Verfolgung noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.
II.
65 
Der Kläger erfüllt ferner nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG (i.V.m. Abs. 11 und Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG).
66 
Über die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist auch in den Fällen zu entscheiden, in denen das Bundesamt - wie vorliegend - vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes über das (Nicht-)Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten entschieden hat und hiergegen Klage erhoben worden ist. In den anhängigen gerichtlichen Verfahren wächst der am 28.08.2007 neu hinzugetretene unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz automatisch an und ist damit zwingend zu prüfen. Über dieses Prüfprogramm können die Verfahrensbeteiligten nicht disponieren und damit in Übergangsfällen das Anwachsen des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes während des gerichtlichen Verfahrens nicht verhindern. In diesen Fällen bedarf es keiner ausdrücklichen Einbeziehung des neuen, auf Unionsrecht beruhenden subsidiären Abschiebungsschutzes in das anhängige gerichtliche Verfahren durch einen der Verfahrensbeteiligten (zur prozessrechtlichen Bedeutung dieser Abschiebungsverbote und zu ihrem Verhältnis zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 3 AufenthG sowie zum Streitgegenstand im asylrechtlichen Verwaltungsprozess vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
67 
1. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG (i.V.m. Art. 15 Buchst. b RL 2004/83/EG und Art. 3 EMRK) liegen nicht vor.
68 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Regelung des § 60 Abs. 2 AufenthG dient der Umsetzung von Artikel 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG, der seinerseits im Wesentlichen dem Grundrecht aus Art. 3 EMRK entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 – Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen bestehen in der Person des Klägers insbesondere auch deshalb keine zureichenden Anhaltspunkte, weil kein Strafverfahren gegen ihn anhängig ist oder ihm droht.
69 
2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 3 AufenthG liegt gleichfalls nicht vor.
70 
Nach § 60 Abs. 3 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. a RL 2004/83/EG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Gefahr.
71 
3. Die Voraussetzungen für eine Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben.
72 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685 - EMRK -) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für das Vorliegen eines solchen Abschiebungsverbotes ist nichts ersichtlich, insbesondere muss der Kläger - wie oben ausgeführt - nicht befürchten, außerhalb Tschetscheniens in unmenschlicher oder erniedrigender Weise behandelt oder gar gefoltert zu werden (Art. 3 EMRK). Andere Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention sind im Fall des Klägers tatbestandlich nicht einschlägig. Dies gilt auch mit Blick auf Art. 8 EMRK. Denn die Asylanträge seiner Ehefrau und seiner Kinder bleiben gleichfalls ohne Erfolg; ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland besteht nicht.
73 
4. Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG sind nicht erfüllt.
74 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, durch den die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c und Art. 2 Buchst. e RL 2004/83/EG ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Bestimmung entspricht trotz geringfügig abweichender Formulierungen den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG und ist in diesem Sinne auszulegen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris).
75 
Es kann vorliegend dahinstehen, ob in Tschetschenien derzeit noch ein - regional begrenzter (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008, - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198) - innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht und ob deshalb in dieser Region auch eine individuelle Bedrohung des Klägers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner Gefahren im Rahmen des bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56 Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris ) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris) anzunehmen ist. Denn ein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht bei einem - nur - regional begrenzten Konflikt dann nicht, wenn dem Betroffenen ein interner Schutz nach Art. 8 RL 2004/83/EG (i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG) zur Verfügung steht, weil außerhalb der Region keine Gefahrenlage im oben dargestellten Sinn besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.2009, - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188; Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 17.02.2009, - C-465/07 - Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Dies ist vorliegend der Fall. Denn dem Kläger steht nach den obigen Ausführungen in anderen Teilen der Russischen Föderation eine zumutbare interne Schutzalternative zur Verfügung. Diese ist auch erreichbar und es kann von ihm - wie dargelegt - auch unter Würdigung seiner persönlichen Belange und bei Bewertung der gesamten Umstände vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält.
III.
76 
In der Person des Klägers liegen schließlich auch nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3 (vgl. zum einheitlichen Streitgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris) vor.
77 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
78 
Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07-, BVerwGE 131, 198). Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
79 
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = InfAuslR 2010, 404 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226 = AuAS 2010, 249 = InfAuslR 2010, 458 = NVwZ 2011, 48; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
80 
In Anwendung dieser Grundsätze besteht, wie der Senat unter I. 2. festgestellt hat, eine solche extreme konkrete Gefahrenlage für den Kläger in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht.
IV.
81 
Die in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 11.05.2004 enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung entspricht den gesetzlichen Vorschriften (vgl. § 34 und § 38 Abs. 1 AsylVfG) und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
82 
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
83 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entsprach nicht der Billigkeit (§ 154 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung), dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten aufzuerlegen, da dieser keinen Antrag gestellt und somit auch kein Kostenrisiko übernommen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung).
84 
Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben.
85 
Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.

(2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.

Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 183 mit Strafe bedroht ist.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens; der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG.
Der am XXX geborene Kläger ist Staatsangehöriger von Serbien und Montenegro albanischer Volkszugehörigkeit aus dem Kosovo. Er reiste im Jahr 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden: Bundesamt) vom 10.08.1999 wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich seiner Abschiebung nach (Rest-)Jugoslawien (Republik Serbien und Montenegro) vorliegen. Hierzu war das Bundesamt durch das seit dem 30.07.1999 rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.1999 (A 14 K 30551/96) verpflichtet worden. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hatte seine Entscheidung damit begründet, dass dem Kläger aufgrund seiner albanischen Volkszugehörigkeit im serbischen und montenegrinischen Teil der Bundesrepublik Jugoslawien durch die von Milosevic geführte Regierung politische Gruppenverfolgung drohe. Es seien trotz des Abkommens über den Rückzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo keine Anzeichen dafür ersichtlich, dass das Regime von Milosevic seine Politik der ethnischen Säuberung aufgegeben habe und auf Dauer landesweit zur Gewährung und Aufrechterhaltung einer friedlichen Koexistenz zwischen den Bevölkerungsgruppen bereit wäre. Das Kosovo, in dem dem Kläger keine politische Verfolgung drohe, stelle zum Entscheidungszeitpunkt keine hinreichend sichere Fluchtalternative dar. Denn dort drohten dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit existenzielle Gefahren. Diese ergäben sich daraus, dass ca. 500.000 Kosovo-Albaner als Binnenflüchtlinge in Wäldern leben müssten. Ferner seien 2/3 der Dörfer im Kosovo zerstört. Wegen des Ausfalls der Ernte im Jahr 1999 drohe eine Hungersnot. Die medizinische und die Trinkwasserversorgung seien in der Folge der Vertreibungsmaßnahmen durch die Serben und die NATO-Luftangriffe zusammengebrochen. Außerdem sei das Kosovo großflächig vermint. In Einzelfällen komme es noch zu Übergriffen serbischer paramilitärischer Gruppen.
Am 10.07.2003 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein und gab dem Kläger mit Schreiben vom 30.07.2003 Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Bevollmächtigte des Klägers trug mit Schreiben vom 27.08.2003 vor, die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lägen nicht vor.
Mit Bescheid vom 05.09.2003 - ein Zustellungsnachweis findet sich nicht in den Akten - widerrief das Bundesamt die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Außerdem stellte es fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung des Widerrufs führte das Bundesamt aus, die innenpolitischen Verhältnisse im Kosovo hätten sich seit Beendigung der Kampfhandlungen im Sommer 1999 grundlegend geändert. Staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Albaner könnten mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG sei nicht festzustellen.
Der Kläger hat am 23.09.2003 Klage erhoben. Er beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 05.09.2003 aufzuheben,
hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung von Ziff. 2 des Bescheides vom 05.09.2003 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig. Zur Begründung verweist sie auf die angefochtene Entscheidung.
11 
Die Kammer hat mit Beschluss vom 24.01.2005 den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
12 
Dem Gericht liegen die einschlägigen Behördenakten vor. Diese waren ebenso Gegen-stand der mündlichen Verhandlung wie die den Beteiligten bekannt gegebenen Erkenntnismittel.

Entscheidungsgründe

 
13 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl keiner der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
14 
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig. Dabei geht das Gericht davon aus, dass mit Klageerhebung am 23.09.2003 die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 1 AsylVfG von zwei Wochen noch gewahrt wurde. Über die Zustellung des Bescheids vom 05.09.2003 befindet sich nämlich kein Nachweis in den Akten der Beklagten.
15 
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG besteht nicht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage hat das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abgestellt (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG).
16 
Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 05.09.2003 findet seine Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG in der seit dem 01.01.2005 geltenden Fassung. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
17 
Aufgrund dieser Vorschrift kann auch die Feststellung widerrufen werden, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, obwohl diese Vorschrift am 01.01.2005 außer Kraft getretenen ist (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil v. 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -, ebenso: VG Karlsruhe, Urteil v. 04.02.2005 - A 3 K 11689/04 -). Denn eine vor dem 01.01.2005 getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bleibt trotz der Rechtsänderung als Verwaltungsakt wirksam (vgl. §§ 43 Abs. 2 und 3, 44 VwVfG). Sie ist nach dem 01.01.2005 als Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu behandeln. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, wonach es sich bei den in den §§ 73, 31, 42 AsylVfG vorgenommenen Änderungen betreffend §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG lediglich um redaktionelle Änderungen handelt, die zur Anpassung an das Aufenthaltsgesetz erforderlich sind (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 110 ff.). Inhaltlich werden die Voraussetzungen des alten § 51 Abs. 1 AuslG vom neuen § 60 Abs. 1 AufenthG jedenfalls mit umfasst (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 91; VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -).
18 
Für das Entfallen der Voraussetzungen einer Asylanerkennung und einer Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bedarf es einer nachträglichen Änderung der für die positive asylrechtliche Entscheidung maßgebenden Sach- und Rechtslage. Eine lediglich abweichende Bewertung der entscheidungserheblichen Umstände auf der Grundlage einer unveränderten Tatsachenbasis oder eine Änderung der Erkenntnislage reicht demgegenüber nicht aus (BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12/00 -, BVerwGE 11, 80). Vielmehr müssen sich die tatsächlichen Verhältnisse so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor neuer Verfolgung sicher ist und daher ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, S. 367 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -, vensa).
19 
Darüber hinaus ist dann, wenn - wie hier - die Feststellung des Bundesamtes auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil beruht, das Rechtsinstitut der Rechtskraft zu beachten, aus dem folgt, dass ein Widerruf des Bundesamtsbescheides nur nach Änderung der für das Urteil maßgeblichen Sach- oder Rechtslage erfolgen darf. Rechtskräftige Urteile binden nach § 121 VwGO die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dabei hindert die Rechtskraft grundsätzlich jede erneute und erst Recht jede abweichende Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung über den Streitgegenstand. Von dieser Bindung stellt § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Behörde nicht frei. Diese Bestimmung setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraftwirkung geendet hat, weil sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert hat und so die sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft überschritten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118). Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118; BVerwG, Urt. v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, NVwZ 2004, 113) .
20 
Wird auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG n.F. eine Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen, ist für die Zulässigkeit eines Widerrufs neben dem nachträglichen Entfallen der für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG maßgeblichen Umstände zusätzlich erforderlich, dass zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch die Voraussetzungen des mit einem weiteren Anwendungsbereich versehenen § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.
21 
Die im Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.1999 festgestellte Sachlage, aufgrund derer es das Bundesamt verpflichtet hat, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen, hat sich nachträglich so wesentlich geändert, dass eine Durchbrechung der Rechtskraft des genannten Urteils gerechtfertigt ist. Insbesondere kann nun nicht mehr - wie im genannten Urteil - davon ausgegangen werden, das Kosovo, in dem der Kläger nicht politisch verfolgt werde, stelle keine hinreichend sichere und zumutbare Fluchtalternative dar. Das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche Existenzminimum ist jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewährleistet. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 23.08.2004 (A 6 S 70/04, vensa) sowie aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004 (ebenso bereits VGH Bad.-Württ., Urteil v. 17.03.2000 - 14 S 1167/98 -, juris). Diesen kann entnommen werden, dass im Hinblick auf die Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln und Trinkwasser sowie im Bereich der medizinischen Versorgung so wesentliche Veränderungen eingetreten sind, dass nicht mehr davon gesprochen werden kann, es drohe ein Leben unter dem Existenzminimum oder es sei mit lebensbedrohlichen Gefahren oder Nachteilen zu rechnen. Darüber hinaus hat sich auch die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe seinem Urteil vom 21.06.1999 noch zugrunde gelegte hohe Minengefahr durch das im Jahr 2001 durchgeführte Minenräumungsprogramm so verringert, dass nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dem Kläger drohten im Kosovo unzumutbare Nachteile. Gleiches gilt für die Gefahr, als albanischer Volkszugehöriger Opfer einer ethnisch motivierten Gewalttat zu werden. Die Unruhen vom März 2004 wurden von der albanischen Bevölkerungsmehrheit verübt und richteten sich vor allem gegen ethnische Minderheiten. Darüber hinaus hat sich die Situation mittlerweile wieder beruhigt (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -, vensa und den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004).
22 
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen in Bezug auf den Kläger auch nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor.
23 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
24 
Damit wird in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II S. 559) Bezug genommen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 18.01.1994 - 9 C 48/92 -, BVerwGE, 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG erkannte Identität zwischen dem Begriff „politische Verfolgung“ und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gilt für § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr. Maßgebend für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist nun der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (so auch: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.; Duchrow, ZAR 2004, 339). Wenn nun in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von „nichtstaatlichen Akteuren“ ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen „erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten“, so stellt dies einen Perspektivwechsel von der „täterbezogenen“ Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16a GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ zur „opferbezogenen“ Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und damit von der „Zurechnungslehre“ zur „Schutzlehre“ dar (ebenso: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; vgl. ferner Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 79 ff.).
25 
Diese veränderte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG im Vergleich zu § 51 Abs. 1 AuslG ergibt sich zunächst daraus, dass die beiden auf den Wortlaut des § 51 Abs. 1 AuslG gestützten Argumente, die das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung dafür herangezogen hat, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Begriff der „politischen Verfolgung“ des Art. 16a Abs. 1 GG identisch sind, mit der Formulierung des § 60 Abs. 1 AufenthG entfallen sind. Zur Begründung hatte das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung zum einen die amtliche Überschrift des § 51 AuslG („Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter“) herangezogen. Die amtliche Überschrift des § 60 AufenthG lautet nun jedoch lediglich: „Verbot der Abschiebung“. Zum anderen hatte das Bundesverwaltungsgericht auf § 51 Abs. 2 S. 2 AuslG verwiesen, in dem andere Fälle geregelt waren, „in denen sich der Ausländer auf politische Verfolgung beruft“. Diese Vorschrift wurde gestrichen bzw. wurde mit der Regelung des § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG modifiziert. Die Änderung des Wortlauts der letztgenannten Vorschrift war möglich, weil die Regelung des § 51 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG ersatzlos entfallen ist. Damit wurde - was ebenfalls für die hier vertretene Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG spricht - das Vorliegen der Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vom Vorliegen der Asylberechtigung materiell-rechtlich entkoppelt, auch wenn für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG weiterhin das Bundesamt zuständig und das AsylVfG anwendbar sein soll (§ 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG, § 5 AsylVfG); denn dies hängt mit der größeren länderspezifischen Sachkompetenz des Bundesamtes zusammen (vgl. auch § 72 Abs. 2 AufenthG). Des Weiteren ist aus dem Zusatz in § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG („und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht“) zu schließen, dass mit § 60 Abs. 1 AufenthG das im Begriff der „politischen Verfolgung“ enthaltene Merkmal der Verantwortlichkeit eines Staates keine Rolle mehr spielen soll. Generell ist in § 60 Abs. 1 AufenthG nur von „Verfolgung“ und nicht von „politischer Verfolgung“ die Rede.
26 
Die Motive des Gesetzgebers deuten ebenfalls auf eine Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im oben genannte Sinne hin (BT-Drucksache 15/420, S. 91). Zwar entspricht nach diesen § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG. In der folgenden Begründung des § 60 AufenthG wird jedoch in Bezug auf die Sätze 3-5 hervorgehoben, dass mit ihnen in zum Teil die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellender, zum Teil erstreckender Weise eine Anpassung an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgen sollte und dass sich Deutschland nunmehr auch insoweit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union anschließt.
27 
Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“, ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 Abs. 1 AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - „Inter-Environnement Wallonie ASBL“, Slg. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der „politischen Verfolgung“ im Sinne der sog. „Zurechnungslehre“, sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff im Sinne der sog. „Schutztheorie“ aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).
28 
Das oben dargelegte Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG hat über das Begriffliche hinaus auch inhaltliche Konsequenzen. Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard erfordert einen effektiven Schutz vor Verfolgung, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugerechnet werden kann oder nicht (VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -). Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Ziff. 65). Von einer mangelnden Schutzgewährung ist dabei nicht nur dann auszugehen, wenn die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel keinen effektiven Schutz gewähren können oder die Übergriffe unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen haben (vgl. zu Art. 16a Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 ff). Vielmehr kommt es unter dem Gesichtspunkt der Schutzgewährung darauf an, ob der Schutz im konkreten Einzelfall effektiv und angemessen ist (so auch VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -), wobei hier bei der prognostischen Prüfung der Frage, ob der zur Verfügung gestellte Schutz effektiv ist, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass effektiver Schutz gewährt wird, wenn die in § 60 Abs. 1 S. 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG sowie Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 117 f. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des House of Lords).
29 
In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass albanische Volkszugehörige im Kosovo vor Verfolgung effektiv geschützt sind.
30 
In Bezug auf die früher durch die serbischen Behörden ausgehende Verfolgung ist dies schon deshalb anzunehmen, weil sich nach Beendigung der Kampfhandlungen zwischen der NATO und der Bundesrepublik Jugoslawien am 10.06.1999 die jugoslawischen (serbischen) Sicherheitskräfte aus dem Kosovo zurückgezogen haben und das Kosovo seitdem unter internationaler Verwaltung steht. Diese hat eine zivile (UNMIK) und eine militärische Komponente (KFOR). Das Kosovo ist völkerrechtlich zwar weiterhin Teil des Staates Serbien und Montenegro (ehemals: Bundesrepublik Jugoslawien) und der Teilrepublik Serbien. Die VN-Mission übernimmt jedoch auf der Grundlage der VN-Sicherheitsrats-Resolution 1244 (1999) die Verantwortung für das gesamte öffentliche Leben im Kosovo. Ziele der Resolution sind der Aufbau der für demokratische und autonome Selbstverwaltung erforderlichen Strukturen, Wiederaufbau von Schlüsselinfrastrukturen und sonstiger wirtschaftlicher Wiederaufbau, humanitäre und Katastrophenhilfe, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Schutz und Förderung der Menschenrechte sowie sichere Rückkehr aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen. Im Kosovo sind ca. 17.800 KFOR-Soldaten stationiert (Stand: September 2004). UNMIK ist flächendeckend in den Verwaltungen aller Landkreise vertreten. Der Aufbau einer lokalen, multiethnischen Polizei ist weit vorangetrieben worden. Auch das Justizwesen wird auf multiethnischer Grundlage wieder aufgebaut. Am 23.10.2004 haben im Kosovo mittlerweile die zweiten Parlamentswahlen stattgefunden, die insgesamt friedlich und ohne Zwischenfälle verlaufen sind. Albanische Parteien bildeten erneut eine Koalitionsregierung. Vor der Parlamentswahl hatte der Chef der VN-Übergangsverwaltung (UNMIK) Jessen-Petersen die Übergabe von mehr Befugnissen an die künftige Regierung angekündigt (vgl. hierzu den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004; ferner zu § 51 Abs. 1 AuslG und Art. 16a Abs. 1 GG: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.03.2000 - A 14 S 1167/98 -, Urt. v. 16.03.2000 - A 14 S 2443/98 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -).
31 
Aus den Unruhen vom März 2004 ist in Bezug auf Kosovo-Albaner eine hiervon abweichende Beurteilung schon deshalb ausgeschlossen, weil die dabei verübte Gewalt vor allem von Albanern ausging. Darüber hinaus hat KFOR nach der Entsendung von weiteren 2.000 Mann die Sicherheitslage nun wieder unter Kontrolle. Die Einsatztaktik der deutschen KFOR-Soldaten wurde grundlegend geändert. Die Soldaten sind jetzt auch mit „nicht letalen Kampfmitteln“ wie Reizgas, Schlagstöcken und Schilden für den Straßenkampf ausgestattet. Außerdem wurden mehr als 270 Personen nach den Unruhen vorläufig festgenommen, darunter auch führende Mitglieder des Veteranenverbandes der UCK. 73 Spezialisten sind zusätzlich zur Strafverfolgung der Straftäter nach Pristina gekommen und bereits 80 Verdächtige verurteilt. Auch 100 Fälle, in denen Angehörigen des KPS (Kosovo Police Service) Fehlverhalten vorgeworfen wird, werden von UNMIK überprüft (hierzu: Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004, S. 10; „Angst vor neuer Gewalt“, Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 09.03.2005, S. 2; Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Kurzinformationen, „Schwere Unruhen im Kosovo“, Stand: 05.04.2004; teilweise zeitlich überholt: UNHCR-Position zur Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo im Lichte der jüngsten ethnisch motivierten Auseinandersetzungen vom 30.03.2004; Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Kosovo, Update zur Situation der ethnischen Minderheiten nach den Ereignissen vom März 2004“ vom 24.05.2004).
32 
Gründe, aus denen nach § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG von einem Widerruf abzusehen wäre, sind vorliegend nicht erkennbar.
33 
Ob der Widerruf „unverzüglich“ i.S.v. § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG erfolgte, kann dahinstehen. Denn der Kläger wäre selbst bei einer Verletzung der Pflicht zum unverzüglichen Widerruf nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf der Asylanerkennung dient allein dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Diese lassen nicht erkennen, das Gebot, die Asylanerkennung bei Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen "unverzüglich" zu widerrufen, solle - auch - den als Asylberechtigten anerkannten Ausländer schützen, insbesondere einem Vertrauen in den Fortbestand der Asylanerkennung Rechnung tragen. Das Gesetz ordnet den Widerruf im öffentlichen Interesse an, wobei der Widerruf - im Unterschied zu einem Widerruf nach § 49 VwVfG - zunächst (vgl. § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG) nicht im Ermessen der Behörde liegt. Ebenso ist die Unverzüglichkeit des Widerrufs erkennbar allein im öffentlichen Interesse vorgeschrieben. Das ergibt sich deutlich aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Bereits nach § 16 Abs. 1 S. 1 AsylVfG i.d.F. des Gesetzes vom 09.07.1990 (BGBl. I S. 1354) war der Widerruf zwingend geboten. Auch bei längerem Zeitablauf nach Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen konnte der Asylberechtigte angesichts der damaligen Rechtslage nicht darauf vertrauen, dass von einem Widerruf abgesehen würde. Die Ergänzung um das Wort "unverzüglich" in der Neuregelung des § 73 AsylVfG durch das Gesetz vom 26.06.1992 (BGBl. I S. 1126) wurde - allein - mit der Notwendigkeit der Beschleunigung des Verfahrens begründet (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 12/2062, S. 1). Die Unverzüglichkeit des Widerrufs dient demnach ausschließlich dem öffentlichen Interesse daran, den Status eines Asylberechtigten möglichst schnell auf diejenigen Personen zu beschränken, die tatsächlich Schutz vor politischer Verfolgung benötigen (BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 9 B 280/97 -, juris; VGH Bad.-Württ, Beschluss v. 26.03.1997 - A 14 S 2854/96 -, AuAS 1997, S. 162 f.; VG Sigmaringen, Urteil v. 02.12.2003 - A 4 K 11498/01 -, juris; a.A. VG Stuttgart, Urteil v. 07.01.2003 - A 5 K 11226/01 -, InfAuslR 2003, 261).
34 
Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG ist auf § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht anwendbar (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 12.08.2003 - A 6 S 820/03 -, vensa). Darüber hinaus hätte sie auch frühestens nach Ablauf der vom Bundesamt gesetzten Anhörungsfrist bzw. Eingang der Stellungnahme des Klägers (§ 73 Abs. 4 AsylVfG) zu laufen begonnen (BVerwG, Urteil v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, das offen lässt, ob § 48 Abs. 4 VwVfG auf § 73 AsylVfG anwendbar ist).
35 
Die Entscheidung der Beklagten über den Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG war auch nicht nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG nach Ermessen zu treffen (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -.) Die ab 01.01.2005 geltende Vorschrift des § 73 Abs. 2a S. 1-3 AsylVfG ist nämlich aus Gründen des materiellen Rechts nicht auf Widerrufsentscheidungen anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt bekannt gegeben oder richtigerweise zugestellt (§ 73 Abs. 5 AsylVfG) und damit wirksam wurden (§ 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Daher lassen sich aus § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG, wonach das Gericht für die Entscheidung auf die Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen hat, für den vorliegenden Fall keine gegenteiligen Schlussfolgerungen ableiten.
36 
Für die ab 01.01.2005 geltende Änderung des § 73 AsylVfG existiert keine ausdrücklich geregelte Übergangsvorschrift. Die Vorschriften in §§ 87 ff. AsylVfG gelten unmittelbar nur für frühere Rechtsänderungen. Fehlt eine Übergangsvorschrift, ist zunächst die konkrete Rechtsnorm und ihre Auslegung maßgeblich für die Beantwortung der Frage, auf welche Rechtsverhältnisse die Norm angewandt werden soll. Bei Zweifelsfällen geben die Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts Anhaltspunkte (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (595)). Hier folgt die Nichtanwendbarkeit des § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 bekannt gegebene Widerrufsentscheidungen aus einer Kombination aus Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und Anwendung der allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, die auch in § 96 VwVfG ihren Niederschlag gefunden haben. Eine vergleichende Anwendung der §§ 87 ff. AsylVfG führt hier nicht weiter, weil sich aus ihnen keine allgemein gültigen Aussagen ableiten lassen.
37 
Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG ist über den Widerruf oder die Rücknahme einer Asylanerkennung bzw. einer Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden, wenn nach der von S. 1 vorgeschriebenen Prüfung kein Widerruf bzw. keine Rücknahme erfolgt ist. Damit ist die Erforderlichkeit der Ermessensentscheidung an die vorherige Durchführung eines Prüfverfahrens gekoppelt, das nach § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen hat. Sinn der Einführung einer konkreten Frist für die Überprüfung der Asylanerkennungen ist nach dem Willen des Gesetzgebers, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang leer gelaufen sind, an Bedeutung gewinnen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 112). Damit wird wie bei dem im Jahr 1992 in Absatz 1 hinzugefügten Erfordernis eines „unverzüglichen“ Widerrufs dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition gedient. Aus § 73 Abs. 2a AsylVfG und seinem systematischen Zusammenhang mit § 26 Abs. 3 AufenthG ergibt sich weiter, dass die am 01.01.2005 eingeführte Prüfungspflicht darüber hinaus auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist. Denn das Bundesamt hat nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG das Ergebnis der Prüfung der Ausländerbehörde mitzuteilen, damit diese über den Aufenthaltstitel des Ausländers befinden kann. Kommt die Prüfung zum Ergebnis, dass kein Widerruf bzw. keine Rücknahme stattfindet, hat der Ausländer, der seit drei Jahren aufgrund seiner Asylanerkennung oder des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufentG eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis und damit auf eine Verfestigung seines Aufenthaltsrechts. Daraus wird deutlich, dass jedenfalls nach der Durchführung einer Prüfung nach Satz 1 des § 73 Abs. 2a AsylVfG und möglicherweise auch nach Ablauf der Dreijahresfrist ohne Durchführung einer Prüfung das Vertrauen des Ausländers darauf, dass er nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bzw. ein verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt (dazu: Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 80), im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG zu berücksichtigen ist.
38 
Dieser Ermessensentscheidung bedarf es jedoch nicht in Fällen, in denen kein Vertrauensschutz zu berücksichtigen ist, weil - wie hier - vom Bundesamt gar kein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) wurde hier widerrufen, bevor einer Prüfung des Widerrufs oder einem dreijährigen Nichtprüfen durch das Bundesamt aufgrund der Neuregelung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und des § 26 Abs. 3 AufenthG überhaupt ein Bedeutungsgehalt dergestalt zu kommen konnte, dass nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bestehe. Denn bis zum 01.01.2005 war das Bundesamt nicht innerhalb einer bestimmten Frist zur Prüfung, ob ein Widerruf oder eine Rücknahme in Betracht kommt, verpflichtet und musste auch keine Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG an die Ausländerbehörde vornehmen.
39 
Dass § 73 Abs. 2a S. 1 und 2 AsylVfG auf die bis zum 31.12.2004 bekannt gegebenen Widerrufs- bzw. Rücknahmeentscheidungen nicht anwendbar sind, ergibt sich aus den Grundsätzen des intertemporalen Verwaltungsrechts, wonach neues Verfahrensrecht nicht auf abgeschlossene Verfahren angewandt werden kann (vgl. Kopp, SGb 1993, S. 593 ff.; BVerwG, Urteil v. 26.03.1985 - 9 C 47/84 -, juris; Urteil v. 18.02.1992 - 9 C 59/91 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil v. 28.05.1991 - A 16 S 2357/90 -, juris). Ob ein Verwaltungsverfahren mit Bekanntgabe, das heißt Wirksamwerden, des Verwaltungsaktes oder jedenfalls mit Abschluss eines eventuell durchzuführenden Widerspruchsverfahrens abgeschlossen ist - wofür die Zielhaftigkeit des Verwaltungsverfahrens nach § 9 VwVfG sowie der Umstand spricht, dass die Übergangsvorschriften der §§ 87 und 87a AsylVfG im Hinblick auf die Regelung der Anwendung neuer Vorschriften zwischen Verwaltungsverfahren und gerichtlichem Verfahren unterscheiden - (so im Ergebnis auch: BVerwG, Urteil v. 12.08.1977 - IV C 20.76 -, BVerwGE 54, S. 257 (259); Urteil v. 27.09.1989 - 8 C 88.88 -, BVerwGE 82, 336 ff.; Clausen, in: Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 1; P. Stelkens/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 96, Rn. 2) oder erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit (so Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 4), kann vorliegend dahinstehen. Denn es können jedenfalls nicht nachträglich fristgebundene Verfahrenshandlungen verlangt werden, mit denen die Beteiligten nach dem bisherigen Recht nicht rechnen mussten und denen sie auch keine Rechnung mehr tragen können, weil die maßgeblichen Tatsachen bzw. Handlungen bereits in der Vergangenheit lagen oder in der Vergangenheit hätten gesetzt werden müssen, als die nunmehr damit verbundenen Folgerungen noch nicht daran geknüpft waren (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (601)). Dies ist hier der Fall. Das Bundesamt hat bei bereits bekannt gegebenen Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidungen keine Möglichkeit mehr, die Prüfungsfrist des § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG einzuhalten und die Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG im Anschluss an eine fristgerecht durchgeführte Prüfung zu machen.
40 
Die hilfsweise geltend gemachten Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG liegen nicht vor. Für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG fehlt es bereits an tatsächlichen Anhaltspunkten.
41 
Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG verlangt wegen der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dann, wenn sich der Ausländer nur auf Gefahren beruft, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, dass eine Gefahrenlage gegeben ist, die landesweit so beschaffen ist, dass der von einer Abschiebung Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der extremen Gefahr ausgesetzt wäre, mangels ausreichender Existenzmöglichkeiten an Hunger oder Krankheit zu sterben (vgl. BVerwG, Urteil v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531). Diese zu § 53 Abs. 6 AuslG ergangene Rechtsprechung gilt auch für § 60 Abs. 7 AufenthG, weil es sich insoweit nur um eine redaktionelle Änderung handelt (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 91). Eine derart extreme Gefahrenlage besteht für den Kläger im Kosovo im Hinblick auf die allgemeine soziale und wirtschaftliche Situation und die Sicherheitslage nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -).
42 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO.
43 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 71 Abs. 1 GKG. Der Gegenstandswert folgt aus § 83b Abs. 2 S.1 AsylVfG i.V.m. § 60 RVG.

Gründe

 
13 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl keiner der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
14 
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig. Dabei geht das Gericht davon aus, dass mit Klageerhebung am 23.09.2003 die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 1 AsylVfG von zwei Wochen noch gewahrt wurde. Über die Zustellung des Bescheids vom 05.09.2003 befindet sich nämlich kein Nachweis in den Akten der Beklagten.
15 
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG besteht nicht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage hat das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abgestellt (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG).
16 
Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 05.09.2003 findet seine Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG in der seit dem 01.01.2005 geltenden Fassung. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
17 
Aufgrund dieser Vorschrift kann auch die Feststellung widerrufen werden, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, obwohl diese Vorschrift am 01.01.2005 außer Kraft getretenen ist (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil v. 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -, ebenso: VG Karlsruhe, Urteil v. 04.02.2005 - A 3 K 11689/04 -). Denn eine vor dem 01.01.2005 getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bleibt trotz der Rechtsänderung als Verwaltungsakt wirksam (vgl. §§ 43 Abs. 2 und 3, 44 VwVfG). Sie ist nach dem 01.01.2005 als Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu behandeln. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, wonach es sich bei den in den §§ 73, 31, 42 AsylVfG vorgenommenen Änderungen betreffend §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG lediglich um redaktionelle Änderungen handelt, die zur Anpassung an das Aufenthaltsgesetz erforderlich sind (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 110 ff.). Inhaltlich werden die Voraussetzungen des alten § 51 Abs. 1 AuslG vom neuen § 60 Abs. 1 AufenthG jedenfalls mit umfasst (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 91; VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -).
18 
Für das Entfallen der Voraussetzungen einer Asylanerkennung und einer Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bedarf es einer nachträglichen Änderung der für die positive asylrechtliche Entscheidung maßgebenden Sach- und Rechtslage. Eine lediglich abweichende Bewertung der entscheidungserheblichen Umstände auf der Grundlage einer unveränderten Tatsachenbasis oder eine Änderung der Erkenntnislage reicht demgegenüber nicht aus (BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12/00 -, BVerwGE 11, 80). Vielmehr müssen sich die tatsächlichen Verhältnisse so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor neuer Verfolgung sicher ist und daher ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, S. 367 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -, vensa).
19 
Darüber hinaus ist dann, wenn - wie hier - die Feststellung des Bundesamtes auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil beruht, das Rechtsinstitut der Rechtskraft zu beachten, aus dem folgt, dass ein Widerruf des Bundesamtsbescheides nur nach Änderung der für das Urteil maßgeblichen Sach- oder Rechtslage erfolgen darf. Rechtskräftige Urteile binden nach § 121 VwGO die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dabei hindert die Rechtskraft grundsätzlich jede erneute und erst Recht jede abweichende Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung über den Streitgegenstand. Von dieser Bindung stellt § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Behörde nicht frei. Diese Bestimmung setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraftwirkung geendet hat, weil sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert hat und so die sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft überschritten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118). Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118; BVerwG, Urt. v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, NVwZ 2004, 113) .
20 
Wird auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG n.F. eine Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen, ist für die Zulässigkeit eines Widerrufs neben dem nachträglichen Entfallen der für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG maßgeblichen Umstände zusätzlich erforderlich, dass zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch die Voraussetzungen des mit einem weiteren Anwendungsbereich versehenen § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.
21 
Die im Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.1999 festgestellte Sachlage, aufgrund derer es das Bundesamt verpflichtet hat, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen, hat sich nachträglich so wesentlich geändert, dass eine Durchbrechung der Rechtskraft des genannten Urteils gerechtfertigt ist. Insbesondere kann nun nicht mehr - wie im genannten Urteil - davon ausgegangen werden, das Kosovo, in dem der Kläger nicht politisch verfolgt werde, stelle keine hinreichend sichere und zumutbare Fluchtalternative dar. Das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche Existenzminimum ist jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewährleistet. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 23.08.2004 (A 6 S 70/04, vensa) sowie aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004 (ebenso bereits VGH Bad.-Württ., Urteil v. 17.03.2000 - 14 S 1167/98 -, juris). Diesen kann entnommen werden, dass im Hinblick auf die Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln und Trinkwasser sowie im Bereich der medizinischen Versorgung so wesentliche Veränderungen eingetreten sind, dass nicht mehr davon gesprochen werden kann, es drohe ein Leben unter dem Existenzminimum oder es sei mit lebensbedrohlichen Gefahren oder Nachteilen zu rechnen. Darüber hinaus hat sich auch die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe seinem Urteil vom 21.06.1999 noch zugrunde gelegte hohe Minengefahr durch das im Jahr 2001 durchgeführte Minenräumungsprogramm so verringert, dass nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dem Kläger drohten im Kosovo unzumutbare Nachteile. Gleiches gilt für die Gefahr, als albanischer Volkszugehöriger Opfer einer ethnisch motivierten Gewalttat zu werden. Die Unruhen vom März 2004 wurden von der albanischen Bevölkerungsmehrheit verübt und richteten sich vor allem gegen ethnische Minderheiten. Darüber hinaus hat sich die Situation mittlerweile wieder beruhigt (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -, vensa und den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004).
22 
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen in Bezug auf den Kläger auch nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor.
23 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
24 
Damit wird in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II S. 559) Bezug genommen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 18.01.1994 - 9 C 48/92 -, BVerwGE, 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG erkannte Identität zwischen dem Begriff „politische Verfolgung“ und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gilt für § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr. Maßgebend für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist nun der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (so auch: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.; Duchrow, ZAR 2004, 339). Wenn nun in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von „nichtstaatlichen Akteuren“ ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen „erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten“, so stellt dies einen Perspektivwechsel von der „täterbezogenen“ Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16a GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ zur „opferbezogenen“ Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und damit von der „Zurechnungslehre“ zur „Schutzlehre“ dar (ebenso: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; vgl. ferner Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 79 ff.).
25 
Diese veränderte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG im Vergleich zu § 51 Abs. 1 AuslG ergibt sich zunächst daraus, dass die beiden auf den Wortlaut des § 51 Abs. 1 AuslG gestützten Argumente, die das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung dafür herangezogen hat, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Begriff der „politischen Verfolgung“ des Art. 16a Abs. 1 GG identisch sind, mit der Formulierung des § 60 Abs. 1 AufenthG entfallen sind. Zur Begründung hatte das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung zum einen die amtliche Überschrift des § 51 AuslG („Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter“) herangezogen. Die amtliche Überschrift des § 60 AufenthG lautet nun jedoch lediglich: „Verbot der Abschiebung“. Zum anderen hatte das Bundesverwaltungsgericht auf § 51 Abs. 2 S. 2 AuslG verwiesen, in dem andere Fälle geregelt waren, „in denen sich der Ausländer auf politische Verfolgung beruft“. Diese Vorschrift wurde gestrichen bzw. wurde mit der Regelung des § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG modifiziert. Die Änderung des Wortlauts der letztgenannten Vorschrift war möglich, weil die Regelung des § 51 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG ersatzlos entfallen ist. Damit wurde - was ebenfalls für die hier vertretene Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG spricht - das Vorliegen der Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vom Vorliegen der Asylberechtigung materiell-rechtlich entkoppelt, auch wenn für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG weiterhin das Bundesamt zuständig und das AsylVfG anwendbar sein soll (§ 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG, § 5 AsylVfG); denn dies hängt mit der größeren länderspezifischen Sachkompetenz des Bundesamtes zusammen (vgl. auch § 72 Abs. 2 AufenthG). Des Weiteren ist aus dem Zusatz in § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG („und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht“) zu schließen, dass mit § 60 Abs. 1 AufenthG das im Begriff der „politischen Verfolgung“ enthaltene Merkmal der Verantwortlichkeit eines Staates keine Rolle mehr spielen soll. Generell ist in § 60 Abs. 1 AufenthG nur von „Verfolgung“ und nicht von „politischer Verfolgung“ die Rede.
26 
Die Motive des Gesetzgebers deuten ebenfalls auf eine Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im oben genannte Sinne hin (BT-Drucksache 15/420, S. 91). Zwar entspricht nach diesen § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG. In der folgenden Begründung des § 60 AufenthG wird jedoch in Bezug auf die Sätze 3-5 hervorgehoben, dass mit ihnen in zum Teil die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellender, zum Teil erstreckender Weise eine Anpassung an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgen sollte und dass sich Deutschland nunmehr auch insoweit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union anschließt.
27 
Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“, ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 Abs. 1 AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - „Inter-Environnement Wallonie ASBL“, Slg. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der „politischen Verfolgung“ im Sinne der sog. „Zurechnungslehre“, sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff im Sinne der sog. „Schutztheorie“ aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).
28 
Das oben dargelegte Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG hat über das Begriffliche hinaus auch inhaltliche Konsequenzen. Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard erfordert einen effektiven Schutz vor Verfolgung, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugerechnet werden kann oder nicht (VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -). Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Ziff. 65). Von einer mangelnden Schutzgewährung ist dabei nicht nur dann auszugehen, wenn die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel keinen effektiven Schutz gewähren können oder die Übergriffe unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen haben (vgl. zu Art. 16a Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 ff). Vielmehr kommt es unter dem Gesichtspunkt der Schutzgewährung darauf an, ob der Schutz im konkreten Einzelfall effektiv und angemessen ist (so auch VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -), wobei hier bei der prognostischen Prüfung der Frage, ob der zur Verfügung gestellte Schutz effektiv ist, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass effektiver Schutz gewährt wird, wenn die in § 60 Abs. 1 S. 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG sowie Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 117 f. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des House of Lords).
29 
In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass albanische Volkszugehörige im Kosovo vor Verfolgung effektiv geschützt sind.
30 
In Bezug auf die früher durch die serbischen Behörden ausgehende Verfolgung ist dies schon deshalb anzunehmen, weil sich nach Beendigung der Kampfhandlungen zwischen der NATO und der Bundesrepublik Jugoslawien am 10.06.1999 die jugoslawischen (serbischen) Sicherheitskräfte aus dem Kosovo zurückgezogen haben und das Kosovo seitdem unter internationaler Verwaltung steht. Diese hat eine zivile (UNMIK) und eine militärische Komponente (KFOR). Das Kosovo ist völkerrechtlich zwar weiterhin Teil des Staates Serbien und Montenegro (ehemals: Bundesrepublik Jugoslawien) und der Teilrepublik Serbien. Die VN-Mission übernimmt jedoch auf der Grundlage der VN-Sicherheitsrats-Resolution 1244 (1999) die Verantwortung für das gesamte öffentliche Leben im Kosovo. Ziele der Resolution sind der Aufbau der für demokratische und autonome Selbstverwaltung erforderlichen Strukturen, Wiederaufbau von Schlüsselinfrastrukturen und sonstiger wirtschaftlicher Wiederaufbau, humanitäre und Katastrophenhilfe, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Schutz und Förderung der Menschenrechte sowie sichere Rückkehr aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen. Im Kosovo sind ca. 17.800 KFOR-Soldaten stationiert (Stand: September 2004). UNMIK ist flächendeckend in den Verwaltungen aller Landkreise vertreten. Der Aufbau einer lokalen, multiethnischen Polizei ist weit vorangetrieben worden. Auch das Justizwesen wird auf multiethnischer Grundlage wieder aufgebaut. Am 23.10.2004 haben im Kosovo mittlerweile die zweiten Parlamentswahlen stattgefunden, die insgesamt friedlich und ohne Zwischenfälle verlaufen sind. Albanische Parteien bildeten erneut eine Koalitionsregierung. Vor der Parlamentswahl hatte der Chef der VN-Übergangsverwaltung (UNMIK) Jessen-Petersen die Übergabe von mehr Befugnissen an die künftige Regierung angekündigt (vgl. hierzu den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004; ferner zu § 51 Abs. 1 AuslG und Art. 16a Abs. 1 GG: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.03.2000 - A 14 S 1167/98 -, Urt. v. 16.03.2000 - A 14 S 2443/98 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -).
31 
Aus den Unruhen vom März 2004 ist in Bezug auf Kosovo-Albaner eine hiervon abweichende Beurteilung schon deshalb ausgeschlossen, weil die dabei verübte Gewalt vor allem von Albanern ausging. Darüber hinaus hat KFOR nach der Entsendung von weiteren 2.000 Mann die Sicherheitslage nun wieder unter Kontrolle. Die Einsatztaktik der deutschen KFOR-Soldaten wurde grundlegend geändert. Die Soldaten sind jetzt auch mit „nicht letalen Kampfmitteln“ wie Reizgas, Schlagstöcken und Schilden für den Straßenkampf ausgestattet. Außerdem wurden mehr als 270 Personen nach den Unruhen vorläufig festgenommen, darunter auch führende Mitglieder des Veteranenverbandes der UCK. 73 Spezialisten sind zusätzlich zur Strafverfolgung der Straftäter nach Pristina gekommen und bereits 80 Verdächtige verurteilt. Auch 100 Fälle, in denen Angehörigen des KPS (Kosovo Police Service) Fehlverhalten vorgeworfen wird, werden von UNMIK überprüft (hierzu: Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004, S. 10; „Angst vor neuer Gewalt“, Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 09.03.2005, S. 2; Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Kurzinformationen, „Schwere Unruhen im Kosovo“, Stand: 05.04.2004; teilweise zeitlich überholt: UNHCR-Position zur Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo im Lichte der jüngsten ethnisch motivierten Auseinandersetzungen vom 30.03.2004; Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Kosovo, Update zur Situation der ethnischen Minderheiten nach den Ereignissen vom März 2004“ vom 24.05.2004).
32 
Gründe, aus denen nach § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG von einem Widerruf abzusehen wäre, sind vorliegend nicht erkennbar.
33 
Ob der Widerruf „unverzüglich“ i.S.v. § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG erfolgte, kann dahinstehen. Denn der Kläger wäre selbst bei einer Verletzung der Pflicht zum unverzüglichen Widerruf nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf der Asylanerkennung dient allein dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Diese lassen nicht erkennen, das Gebot, die Asylanerkennung bei Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen "unverzüglich" zu widerrufen, solle - auch - den als Asylberechtigten anerkannten Ausländer schützen, insbesondere einem Vertrauen in den Fortbestand der Asylanerkennung Rechnung tragen. Das Gesetz ordnet den Widerruf im öffentlichen Interesse an, wobei der Widerruf - im Unterschied zu einem Widerruf nach § 49 VwVfG - zunächst (vgl. § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG) nicht im Ermessen der Behörde liegt. Ebenso ist die Unverzüglichkeit des Widerrufs erkennbar allein im öffentlichen Interesse vorgeschrieben. Das ergibt sich deutlich aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Bereits nach § 16 Abs. 1 S. 1 AsylVfG i.d.F. des Gesetzes vom 09.07.1990 (BGBl. I S. 1354) war der Widerruf zwingend geboten. Auch bei längerem Zeitablauf nach Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen konnte der Asylberechtigte angesichts der damaligen Rechtslage nicht darauf vertrauen, dass von einem Widerruf abgesehen würde. Die Ergänzung um das Wort "unverzüglich" in der Neuregelung des § 73 AsylVfG durch das Gesetz vom 26.06.1992 (BGBl. I S. 1126) wurde - allein - mit der Notwendigkeit der Beschleunigung des Verfahrens begründet (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 12/2062, S. 1). Die Unverzüglichkeit des Widerrufs dient demnach ausschließlich dem öffentlichen Interesse daran, den Status eines Asylberechtigten möglichst schnell auf diejenigen Personen zu beschränken, die tatsächlich Schutz vor politischer Verfolgung benötigen (BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 9 B 280/97 -, juris; VGH Bad.-Württ, Beschluss v. 26.03.1997 - A 14 S 2854/96 -, AuAS 1997, S. 162 f.; VG Sigmaringen, Urteil v. 02.12.2003 - A 4 K 11498/01 -, juris; a.A. VG Stuttgart, Urteil v. 07.01.2003 - A 5 K 11226/01 -, InfAuslR 2003, 261).
34 
Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG ist auf § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht anwendbar (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 12.08.2003 - A 6 S 820/03 -, vensa). Darüber hinaus hätte sie auch frühestens nach Ablauf der vom Bundesamt gesetzten Anhörungsfrist bzw. Eingang der Stellungnahme des Klägers (§ 73 Abs. 4 AsylVfG) zu laufen begonnen (BVerwG, Urteil v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, das offen lässt, ob § 48 Abs. 4 VwVfG auf § 73 AsylVfG anwendbar ist).
35 
Die Entscheidung der Beklagten über den Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG war auch nicht nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG nach Ermessen zu treffen (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -.) Die ab 01.01.2005 geltende Vorschrift des § 73 Abs. 2a S. 1-3 AsylVfG ist nämlich aus Gründen des materiellen Rechts nicht auf Widerrufsentscheidungen anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt bekannt gegeben oder richtigerweise zugestellt (§ 73 Abs. 5 AsylVfG) und damit wirksam wurden (§ 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Daher lassen sich aus § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG, wonach das Gericht für die Entscheidung auf die Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen hat, für den vorliegenden Fall keine gegenteiligen Schlussfolgerungen ableiten.
36 
Für die ab 01.01.2005 geltende Änderung des § 73 AsylVfG existiert keine ausdrücklich geregelte Übergangsvorschrift. Die Vorschriften in §§ 87 ff. AsylVfG gelten unmittelbar nur für frühere Rechtsänderungen. Fehlt eine Übergangsvorschrift, ist zunächst die konkrete Rechtsnorm und ihre Auslegung maßgeblich für die Beantwortung der Frage, auf welche Rechtsverhältnisse die Norm angewandt werden soll. Bei Zweifelsfällen geben die Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts Anhaltspunkte (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (595)). Hier folgt die Nichtanwendbarkeit des § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 bekannt gegebene Widerrufsentscheidungen aus einer Kombination aus Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und Anwendung der allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, die auch in § 96 VwVfG ihren Niederschlag gefunden haben. Eine vergleichende Anwendung der §§ 87 ff. AsylVfG führt hier nicht weiter, weil sich aus ihnen keine allgemein gültigen Aussagen ableiten lassen.
37 
Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG ist über den Widerruf oder die Rücknahme einer Asylanerkennung bzw. einer Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden, wenn nach der von S. 1 vorgeschriebenen Prüfung kein Widerruf bzw. keine Rücknahme erfolgt ist. Damit ist die Erforderlichkeit der Ermessensentscheidung an die vorherige Durchführung eines Prüfverfahrens gekoppelt, das nach § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen hat. Sinn der Einführung einer konkreten Frist für die Überprüfung der Asylanerkennungen ist nach dem Willen des Gesetzgebers, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang leer gelaufen sind, an Bedeutung gewinnen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 112). Damit wird wie bei dem im Jahr 1992 in Absatz 1 hinzugefügten Erfordernis eines „unverzüglichen“ Widerrufs dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition gedient. Aus § 73 Abs. 2a AsylVfG und seinem systematischen Zusammenhang mit § 26 Abs. 3 AufenthG ergibt sich weiter, dass die am 01.01.2005 eingeführte Prüfungspflicht darüber hinaus auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist. Denn das Bundesamt hat nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG das Ergebnis der Prüfung der Ausländerbehörde mitzuteilen, damit diese über den Aufenthaltstitel des Ausländers befinden kann. Kommt die Prüfung zum Ergebnis, dass kein Widerruf bzw. keine Rücknahme stattfindet, hat der Ausländer, der seit drei Jahren aufgrund seiner Asylanerkennung oder des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufentG eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis und damit auf eine Verfestigung seines Aufenthaltsrechts. Daraus wird deutlich, dass jedenfalls nach der Durchführung einer Prüfung nach Satz 1 des § 73 Abs. 2a AsylVfG und möglicherweise auch nach Ablauf der Dreijahresfrist ohne Durchführung einer Prüfung das Vertrauen des Ausländers darauf, dass er nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bzw. ein verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt (dazu: Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 80), im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG zu berücksichtigen ist.
38 
Dieser Ermessensentscheidung bedarf es jedoch nicht in Fällen, in denen kein Vertrauensschutz zu berücksichtigen ist, weil - wie hier - vom Bundesamt gar kein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) wurde hier widerrufen, bevor einer Prüfung des Widerrufs oder einem dreijährigen Nichtprüfen durch das Bundesamt aufgrund der Neuregelung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und des § 26 Abs. 3 AufenthG überhaupt ein Bedeutungsgehalt dergestalt zu kommen konnte, dass nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bestehe. Denn bis zum 01.01.2005 war das Bundesamt nicht innerhalb einer bestimmten Frist zur Prüfung, ob ein Widerruf oder eine Rücknahme in Betracht kommt, verpflichtet und musste auch keine Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG an die Ausländerbehörde vornehmen.
39 
Dass § 73 Abs. 2a S. 1 und 2 AsylVfG auf die bis zum 31.12.2004 bekannt gegebenen Widerrufs- bzw. Rücknahmeentscheidungen nicht anwendbar sind, ergibt sich aus den Grundsätzen des intertemporalen Verwaltungsrechts, wonach neues Verfahrensrecht nicht auf abgeschlossene Verfahren angewandt werden kann (vgl. Kopp, SGb 1993, S. 593 ff.; BVerwG, Urteil v. 26.03.1985 - 9 C 47/84 -, juris; Urteil v. 18.02.1992 - 9 C 59/91 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil v. 28.05.1991 - A 16 S 2357/90 -, juris). Ob ein Verwaltungsverfahren mit Bekanntgabe, das heißt Wirksamwerden, des Verwaltungsaktes oder jedenfalls mit Abschluss eines eventuell durchzuführenden Widerspruchsverfahrens abgeschlossen ist - wofür die Zielhaftigkeit des Verwaltungsverfahrens nach § 9 VwVfG sowie der Umstand spricht, dass die Übergangsvorschriften der §§ 87 und 87a AsylVfG im Hinblick auf die Regelung der Anwendung neuer Vorschriften zwischen Verwaltungsverfahren und gerichtlichem Verfahren unterscheiden - (so im Ergebnis auch: BVerwG, Urteil v. 12.08.1977 - IV C 20.76 -, BVerwGE 54, S. 257 (259); Urteil v. 27.09.1989 - 8 C 88.88 -, BVerwGE 82, 336 ff.; Clausen, in: Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 1; P. Stelkens/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 96, Rn. 2) oder erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit (so Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 4), kann vorliegend dahinstehen. Denn es können jedenfalls nicht nachträglich fristgebundene Verfahrenshandlungen verlangt werden, mit denen die Beteiligten nach dem bisherigen Recht nicht rechnen mussten und denen sie auch keine Rechnung mehr tragen können, weil die maßgeblichen Tatsachen bzw. Handlungen bereits in der Vergangenheit lagen oder in der Vergangenheit hätten gesetzt werden müssen, als die nunmehr damit verbundenen Folgerungen noch nicht daran geknüpft waren (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (601)). Dies ist hier der Fall. Das Bundesamt hat bei bereits bekannt gegebenen Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidungen keine Möglichkeit mehr, die Prüfungsfrist des § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG einzuhalten und die Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG im Anschluss an eine fristgerecht durchgeführte Prüfung zu machen.
40 
Die hilfsweise geltend gemachten Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG liegen nicht vor. Für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG fehlt es bereits an tatsächlichen Anhaltspunkten.
41 
Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG verlangt wegen der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dann, wenn sich der Ausländer nur auf Gefahren beruft, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, dass eine Gefahrenlage gegeben ist, die landesweit so beschaffen ist, dass der von einer Abschiebung Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der extremen Gefahr ausgesetzt wäre, mangels ausreichender Existenzmöglichkeiten an Hunger oder Krankheit zu sterben (vgl. BVerwG, Urteil v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531). Diese zu § 53 Abs. 6 AuslG ergangene Rechtsprechung gilt auch für § 60 Abs. 7 AufenthG, weil es sich insoweit nur um eine redaktionelle Änderung handelt (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 91). Eine derart extreme Gefahrenlage besteht für den Kläger im Kosovo im Hinblick auf die allgemeine soziale und wirtschaftliche Situation und die Sicherheitslage nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -).
42 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO.
43 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 71 Abs. 1 GKG. Der Gegenstandswert folgt aus § 83b Abs. 2 S.1 AsylVfG i.V.m. § 60 RVG.

Sonstige Literatur

 
44 
RECHTSMITTELBELEHRUNG:
45 
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Urteils beim Verwaltungsgericht Karlsruhe, Postfach 11 14 51, 76064 Karlsruhe, oder Nördliche Hildapromenade 1, 76133 Karlsruhe, zu stellen.
46 
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
47 
Lässt der Verwaltungsgerichtshof die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt.
48 
Bei der Beantragung der Zulassung der Berufung muss sich jeder Beteiligte durch einen Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen.
49 
Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit der Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst vertreten lassen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselben Verfahren beteiligt, erhöht sich der Wert für jede weitere Person in Klageverfahren um 1 000 Euro und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes um 500 Euro.

(2) Ist der nach Absatz 1 bestimmte Wert nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder einen niedrigeren Wert festsetzen.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung.

2

Die 1967 geborene Klägerin ist togoische Staatsangehörige. Sie reiste 1998 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Mit Bescheid vom 28. Mai 1999 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Asylantrag ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht das Bundesamt, hinsichtlich der Klägerin das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) festzustellen. Das Bundesamt kam dieser Verpflichtung im Juni 2004 nach.

3

Anfang 2008 leitete das Bundesamt wegen der in Togo zwischenzeitlich eingetretenen politischen Veränderungen ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung widerrief es mit Bescheid vom 28. Februar 2008 die Flüchtlingsanerkennung der Klägerin. Von einer Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wurde abgesehen, da der Widerruf aus Gründen der Statusbereinigung erfolge. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Schwerin mit Urteil vom 26. August 2008 abgewiesen.

4

Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit Beschluss vom 9. März 2011 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und den Bescheid des Bundesamts aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG lägen nicht vor. Die maßgeblichen Verhältnisse in Togo hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei.

5

Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt.

6

Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung. Das Erfordernis der hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung entspreche im Widerrufsverfahren bei Vorverfolgten dem Beweislastmaßstab aus Art. 14 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Selbst wenn das Berufungsgericht von einem fehlerhaften Maßstab ausgegangen sein sollte, beruhe die Entscheidung zumindest nicht auf diesem Fehler, da es keinen Sachverhalt festgestellt habe, der einen Widerruf rechtfertigen würde. Hilfsweise beantragt sie die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Berufungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung mit einer Begründung verneint, die mit Blick auf den seiner Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist (1.). Die Berufungsentscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO) (2.). Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bedarf es nicht (3.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache nicht selbst abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (4.).

8

1. Bei dem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, der im vorliegenden Fall formell nicht zu beanstanden ist (s.a. Urteil vom 29. September 2011 - BVerwG 10 C 24.10 - juris Rn. 11 ff.), ist für die Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen, den das Berufungsgericht verfehlt hat.

9

1.1 Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren (vgl. Urteile vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 und vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408 ; zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen).

10

Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

11

Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Danach muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit vgl. auch BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20 und 24 m.w.N.).

12

Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 21 ff.), kann wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft seit Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Der Richtlinie 2004/83/EG ist ein solches materiellrechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 84 ff., 98 f.).

13

Die Frage, ob die Mitgliedstaaten von diesem Prognosemaßstab in Widerrufsverfahren nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können, bedarf vorliegend keiner Entscheidung und braucht folglich nicht, wie von der Klägerin beantragt, dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt zu werden. Denn es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an der bisherigen Anwendung unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach nationalem Recht festhalten wollte. Vielmehr belegt gerade der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich bei der Flüchtlingsanerkennung - abweichend von der bisherigen nationalen Rechtslage - den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie 2004/83/EG zu eigen gemacht hat. Damit hat er auch ein - nach Umsetzung der Richtlinie ohnehin nicht zu vermeidendes - Auseinanderfallen der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Asyl nach Art. 16a GG einerseits und für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft andererseits bewusst in Kauf genommen.

14

1.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehlerhaften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt (BA S. 4). Dies bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im Jahr 2008 in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs zu einem anderen Ergebnis gelangt sei (BA S. 6).

15

1.3. Die Berufungsentscheidung beruht - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG. Mit den vom Bundesamt zum Anlass für eine Überprüfung der Flüchtlingsanerkennung genommenen politischen Änderungen in Togo (hier: insbesondere der Tod des früheren Präsidenten Eyadema im Februar 2005 und der von seinem Sohn im April 2006 eingeleitete strukturierte Dialog mit der Opposition) ist nach der Anerkennung der Klägerin eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland eingetreten. Das Berufungsgericht hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend erhebliche und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG handelt, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht (Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die bisherigen Machtstrukturen des früheren Regimes Eyadema sich nicht wesentlich verändert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der ein rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage zur Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

16

2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnissen in Togo erlauben dem Senat keine eigene Verfolgungsprognose auf der Grundlage des zutreffenden Prognosemaßstabes. Auch im Falle der gerichtlichen Anfechtung eines Widerrufs ist es grundsätzlich Aufgabe des Berufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung zugrunde lagen, eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Gefahrenprognose zu erstellen. Anders als in dem vom Senat mit Urteil vom 7. Juli 2011 (BVerwG 10 C 26.10 - juris Rn. 18; zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschiedenen Fall tragen die bisherigen tatrichterlichen Feststellungen vorliegend auch nicht ausnahmsweise den Schluss, dass bei Zugrundelegung der unionsrechtlichen Vorgaben die Veränderungen in Togo nicht so erheblich sind, dass sie den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin rechtfertigen. Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, wie sich die in Togo nach dem Tod Eyademas eingetretenen Änderungen der politischen Verhältnisse konkret in Ansehung der in der Person der Klägerin liegenden Umstände und Verhältnisse auswirken, sondern sich mit einer allgemeinen Bewertung der asylrelevanten Lage in Togo begnügt. Seine zusammenfassende Bewertung, die Menschenrechtslage werde weiterhin als ernst bewertet, die Reformen des Justizapparats schienen noch keine greifbaren Ergebnisse gebracht zu haben und die bisherigen Machtstrukturen hätten sich nicht wesentlich geändert, beschränkt sich im Kern auf eine Ergebnismitteilung, ohne die zugrunde liegenden Tatsachen für eine Neubewertung anhand des zutreffenden Prognosemaßstabs hinreichend differenziert aufzubereiten. Sie stützt sich zudem im Wesentlichen auf Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte, die fast alle aus der Zeit vor der Klärung der unionsrechtlichen Anforderungen an das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft durch den Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 2. März 2010 (a.a.O.) stammen und ihrer Gefahrenprognose ebenfalls den falschen Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde legen. Damit fehlt es an hinreichenden tatrichterlichen Feststellungen für eine - auf den Fall der Klägerin bezogene - individuelle Verfolgungsprognose. Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen daher nicht den Schluss, dass der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung (März 2011) bei einer Rückkehr weiterhin wegen ihrer früheren politischen Aktivitäten gegen das Regime Eyadema oder aus anderen, an ihre politische Überzeugung anknüpfenden Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Berufungsentscheidung kann auch nicht entnommen werden, dass es bei Anwendung des richtigen Maßstabs zu einem "non liquet" und damit der Notwendigkeit einer Beweislastentscheidung gekommen wäre.

17

3. Der - von der Klägerin hilfsweise beantragten - Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bedarf es schon deshalb nicht, weil der Senat mangels hinreichender tatrichterlicher Feststellungen nicht abschließend entscheiden kann. Dessen ungeachtet wirft die Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG im vorliegenden Verfahren auch keine Zweifelsfragen auf. Dem Wortlaut der Richtlinie ist zu entnehmen, dass ihr für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft materiell ein einheitlicher Prognosemaßstab zugrunde liegt und sie statt unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe - mit Art. 14 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 4 - einen beweisrechtlichen Ansatz verfolgt. Hiervon geht auch der EuGH in seinem Urteil vom 2. März 2010 (a.a.O.) aus. Zugleich hat er in dieser Entscheidung geklärt, unter welchen Voraussetzungen die Flüchtlingsanerkennung nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie erlischt. Dabei differenziert er zwischen den Umständen, aufgrund derer der Betroffene als Flüchtling anerkannt wurde, und anderen Umständen, aufgrund derer er entweder aus dem gleichen oder aus einem anderen (Verfolgungs-)Grund begründete Furcht vor Verfolgung hat. Ob die Umstände, auf denen die Anerkennung beruht, weggefallen sind, beurteilt sich ausschließlich nach Art. 11 der Richtlinie. Gleiches gilt regelmäßig auch für andere Umstände, mit denen sich der Betroffene auf eine Verfolgung aus demselben Verfolgungsgrund beruft. Dabei liegt die Beweislast nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie bei der Behörde. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie findet beim Erlöschen hingegen regelmäßig nur bei anderen Umständen Anwendung, bei denen sich der Betroffene auf einen anderen Verfolgungsgrund beruft (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 95 ff.).

18

4. Unter Beachtung dieser Vorgaben wird das Berufungsgericht in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen, ob sich die Verhältnisse in Togo inzwischen so erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben, dass für die Klägerin bei einer Rückkehr keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Hierzu bedarf es auf der Grundlage der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen einer umfassenden Würdigung der aktuellen tatsächlichen Verhältnisse in Togo mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin zugrunde lagen, und darauf aufbauend einer individuellen Verfolgungsprognose. In diesem Zusammenhang wird sich das Berufungsgericht auch mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zur Lage in Togo auseinanderzusetzen haben. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass es für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung grundsätzlich unerheblich ist, ob der Betroffene sein Heimatland unverfolgt oder - wie die Klägerin nach den Feststellungen im Anerkennungsverfahren - vorverfolgt verlassen hat. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kommt in diesen Fällen regelmäßig nicht zur Anwendung. Die Prüfung, ob die Umstände, die zur Anerkennung geführt haben, nachträglich weggefallen sind, richtet sich vielmehr nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie. Bei der Erstellung der Verfolgungsprognose wird das Berufungsgericht schließlich auch der Behauptung der Beklagten im Beschwerdeverfahren nachzugehen haben, dass der Vorsitzende der CAR, für deren Jugendorganisation sich die Klägerin nach ihren Angaben im Anerkennungsverfahren in Togo vor ihrer Ausreise u.a. politisch betätigt hat, ab September 2006 Premierminister von Togo gewesen sei.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein 1960 geborener algerischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

2

Er stellte im Oktober 1992 einen Asylantrag. Nachdem er unbekannt verzogen war, lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) - den Antrag mit Bescheid vom 8. November 1993 als offensichtlich unbegründet ab. Einen weiteren Asylantrag unter einem Aliasnamen lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 24. September 1993 ab.

3

Im November 1994 wurde der Kläger von den französischen Behörden wegen des Verdachts der Vorbereitung terroristischer Aktionen in Algerien festgenommen. Das Tribunal de Grande Instance de Paris verurteilte ihn am 22. Januar 1999 u.a. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren.

4

Nachdem der Kläger im März 2001 aus französischer Haft entlassen worden war, stellte er im Juli 2001 in Deutschland einen Asylfolgeantrag, den er auf die überregionale Berichterstattung über den Strafprozess in Frankreich und die daraus resultierende Verfolgungsgefahr in Algerien stützte. Er gab an, nie für eine terroristische Vereinigung aktiv gewesen zu sein; der Prozess in Frankreich sei eine Farce gewesen. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 lehnte das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte jedoch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Algeriens fest. Angesichts der Berichterstattung über den Strafprozess müsse davon ausgegangen werden, dass der algerische Auslandsgeheimdienst den Prozess beobachtet habe und der Kläger in das Blickfeld algerischer Behörden geraten sei. Bei einer Rückkehr nach Algerien bestehe deshalb die beachtliche Gefahr von Folter und Haft.

5

Mit Bescheid vom 1. Juni 2005 nahm das Bundesamt den Anerkennungsbescheid vom 15. Oktober 2002 mit Wirkung für die Zukunft zurück. Die Feststellung sei von Anfang an fehlerhaft gewesen, da das Vorliegen der Ausnahmetatbestände in § 51 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 Alt. 3 AuslG verkannt worden sei. Angesichts der rechtskräftigen Verurteilung in Frankreich stehe fest, dass der Kläger eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Das Verwaltungsgericht hat den Rücknahmebescheid mit rechtskräftigem Urteil vom 27. Oktober 2006 aufgehoben, da das Bundesamt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG versäumt habe.

6

Mit Schreiben vom 10. Juli 2007 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein, in dessen Verlauf der Kläger bestritt, dass sich die Verhältnisse in Algerien entscheidungserheblich geändert hätten. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2007 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 getroffene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG. Darüber hinaus stellte es fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Durch die im September 2005 per Referendum angenommene "Charta für Frieden und nationale Aussöhnung" sowie die zu deren Umsetzung erlassenen Vorschriften habe Algerien weitgehende Straferlasse für Mitglieder islamistischer Terrorgruppen eingeführt. Die Amnestieregelungen würden konsequent und großzügig umgesetzt und fänden auch nach Ablauf des vorgesehenen Stichtags weiter Anwendung. Der Kläger habe daher im Falle seiner Rückkehr nach Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch motivierte Verfolgung zu befürchten.

7

Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid durch Urteil vom 20. Mai 2008 aufgehoben, da dem Widerruf bereits die Rechtskraft des Urteils vom 27. Oktober 2006 entgegenstehe. Der angefochtene Widerruf erweise sich im Ergebnis als eine die Rücknahme vom 1. Juni 2005 ersetzende Entscheidung.

8

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. Dezember 2009 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zwar stehe die Rechtskraft des die Rücknahme aufhebenden Urteils dem Widerruf nicht entgegen, denn die Streitgegenstände dieser beiden Verwaltungsakte seien nicht identisch. Dennoch erweise sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis als richtig, da die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht vorlägen. Dieser sei gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nur möglich, wenn der Betroffene wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Heimatstaat vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher sei. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Er falle nicht unter die Stichtagsregelung der Amnestieregelung; ob die Anwendungspraxis auch den Fall des Klägers erfasse, sei unsicher. Angesichts der weiterhin bestehenden Repressionsstrukturen seien ausreichende Anhaltspunkte für eine allgemeine Liberalisierung in Algerien nicht vorhanden.

9

Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht sei zu Unrecht von dem abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab ausgegangen. Unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie würde selbst ein Vorverfolgter nur durch die widerlegbare Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie privilegiert. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH sei beim Widerruf eines nicht Vorverfolgten der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.

10

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil aus den Gründen der Ausgangsentscheidung. Darüber hinaus macht er geltend, dass einem anerkannten Flüchtling aufgrund seines Aufenthalts in der Bundesrepublik und des Vertrauens auf seinen gefestigten Status ein größerer Schutz zu gewähren sei als einem Asylbewerber bei der Entscheidung über seine Anerkennung.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet, denn das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar hat das Berufungsgericht den Widerrufsbescheid zu Recht sachlich geprüft und nicht bereits wegen des aus der Rechtskraft folgenden Wiederholungsverbots aufgehoben (1.). Es hat aber der Verfolgungsprognose, die es bei Prüfung der Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung gestellt hat, einen unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt (2.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache weder in positiver noch in negativer Hinsicht selbst entscheiden. Die Sache ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

12

1. Dem Erlass des streitgegenständlichen Widerrufsbescheids steht nicht entgegen, dass die zuvor verfügte Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung im Vorprozess rechtskräftig aufgehoben worden ist. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage daran gehindert, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. Urteile vom 8. Dezember 1992 - BVerwG 1 C 12.92 - BVerwGE 91, 256 <257 f.> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 63 und vom 28. Januar 2010 - BVerwG 4 C 6.08 - Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 99). Das Wiederholungsverbot erfasst aber nur inhaltsgleiche Verwaltungsakte, d.h. die Regelung desselben Sachverhalts durch Anordnung der gleichen Rechtsfolge (Urteil vom 30. August 1962 - BVerwG 1 C 161.58 - BVerwGE 14, 359 <362> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 4 und Beschluss vom 15. März 1968 - BVerwG 7 C 183.65 - BVerwGE 29, 210 <213 f.>).

13

In Anwendung dieser Kriterien erweisen sich Rücknahme einer Flüchtlingsanerkennung wegen Nichtbeachtung zwingender Ausschlussgründe und deren Widerruf wegen Wegfalls der sie begründenden Umstände nicht als inhaltsgleich. Zwar erfolgte die Rücknahme im Fall des Klägers nur mit Wirkung für die Zukunft, so dass die beiden Verwaltungsakte auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet waren (vgl. aus einer anderen Perspektive Urteil vom 24. November 1998 - BVerwG 9 C 53.97 - BVerwGE 108, 30 <35>). Aber die den beiden Aufhebungsakten zugrunde liegenden rechtlichen Voraussetzungen und die hierbei zu berücksichtigenden Tatsachen unterscheiden sich: Während die Rücknahme auf einer anderen rechtlichen Beurteilung eines vergangenen Sachverhalts beruht, stützt sich der Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG auf eine nach der Anerkennung eingetretene Sachverhaltsänderung. Daher greift das Wiederholungsverbot im vorliegenden Fall nicht.

14

2. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist § 73 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltenden Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2. September 2008, BGBl I S. 1798). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

15

Mit § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren. Dies gilt auch für Fälle, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - juris Rn. 9; zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen).

16

Der angefochtene Bescheid erweist sich nicht deshalb als rechtswidrig, weil das Bundesamt bei seiner Widerrufsentscheidung kein Ermessen ausgeübt hat. Durch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG ist geklärt, dass in den Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen hat. Damit hat der Gesetzgeber eine Übergangsregelung für vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen getroffen und festgelegt, bis wann diese auf einen Widerruf oder eine Rücknahme zu überprüfen sind. Daraus folgt, dass es vor einer solchen Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 1. Januar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keiner Ermessensentscheidung bedarf (Urteil vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 53.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31 Rn. 13 ff.).

17

Das Berufungsurteil ist aber hinsichtlich der materiellen Widerrufsvoraussetzungen und speziell mit Blick auf den der Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG zu vereinbaren, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

18

a) Diese unionsrechtlichen Vorgaben hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) dahingehend konkretisiert, dass der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie angesprochene "Schutz des Landes" sich nur auf den bis dahin fehlenden Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungshandlungen bezieht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 67, 76, 78 f.). Dazu hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung verhält. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG sieht - ebenso wie Art. 1 C Nr. 5 GFK - vor, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die Umstände, aufgrund derer sie zuerkannt wurde, weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht mehr vorliegen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 65). Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ist Flüchtling, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes seiner Staatsangehörigkeit befindet, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr als begründet, kann der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 66), soweit er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss (ebd. Rn. 76). Die Umstände, die zur Zuerkennung oder umgekehrt zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führen, stehen sich mithin in symmetrischer Weise gegenüber (so EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 68).

19

Mit Blick auf die Maßstäbe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein muss, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72). Dafür muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 73).

20

aa) Eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner Zeitablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Allerdings sind wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt (vgl. Urteile vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80 <84> und vom 18. September 2001 - BVerwG 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 <124 f.>).

21

Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Danach setzte der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung voraus, dass sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (Urteile vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 277 <281> und vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 18; so auch das Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung). Dieser gegenüber der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abgesenkte Maßstab ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht für Fälle der Vorverfolgung entwickelt worden. Er wurde dann auf den Flüchtlingsschutz übertragen und hat schließlich Eingang in die Widerrufsvoraussetzungen gefunden, soweit nicht eine gänzlich neue oder andersartige Verfolgung geltend gemacht wird, die in keinem inneren Zusammenhang mehr mit der früheren steht (Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 26).

22

Dieses materiellrechtliche Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/EG fremd. Sie verfolgt vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck kommt (Urteile vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 20 ff. und vom 7. September 2010 - BVerwG 10 C 11.09 - juris Rn. 15). Das ergibt sich neben dem Wortlaut der zuletzt genannten Vorschrift auch aus der Entstehungsgeschichte, denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Demzufolge gilt unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten hat. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 ; Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 22).

23

Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Umstände danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 84 ff., 98 f.). Die Richtlinie kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird. Es spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten hiervon in Widerrufsverfahren nicht nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können. Denn die zwingenden Erlöschensgründe dürften zu den Kernregelungen zählen, die in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind, um das von der Richtlinie 2004/83/EG geschaffene System nicht zu beeinträchtigen (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2010 - Rs. C-57/09 und C-101/09, B und D - NVwZ 2011, 285 Rn. 120 zu den Ausschlussgründen). Das kann aber hier dahinstehen, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an den oben dargelegten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte. Vielmehr belegt der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie zu eigen gemacht hat.

24

bb) Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72 ff.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Der Senat hat in einem Fall, in dem ein verfolgendes Regime gestürzt worden ist (Irak), bereits entschieden, dass eine Veränderung in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden kann, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (Urteil vom 24. Februar 2011 a.a.O. Rn. 17). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>; Beschluss vom 7. Februar 2008 a.a.O. juris Rn. 37), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 90). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden.

25

b) Das Berufungsgericht hat vorliegend bei seiner Verfolgungsprognose den Maßstab der hinreichenden Sicherheit zugrunde gelegt. Damit hat es § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG verletzt; auf dieser Verletzung beruht die Berufungsentscheidung. Da das Berufungsgericht seine tatsächlichen Feststellungen unter einem - wie dargelegt - rechtlich unzutreffenden Maßstab getroffen hat, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn es ist Aufgabe des Berufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung des Betroffenen zugrunde lagen, eine Gefahrenprognose unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu erstellen.

Gründe

1

Die auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat Erfolg. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils an das Berufungsgericht zurück.

2

Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr des Klägers in Tschetschenien und dem Fehlen einer zumutbaren internen Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht in der gebotenen Weise nachgekommen ist. Hierzu macht sie geltend, das Berufungsgericht habe sich in den Entscheidungsgründen nicht mit der abweichenden Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinandergesetzt, auf die sich der am Verfahren beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten ausdrücklich berufen habe. Dieser hat im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 6. April 2011 unter Bezugnahme auf im Einzelnen nach Aktenzeichen und Entscheidungsdatum spezifizierte Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte darauf hingewiesen, dass Tschetschenen bei einer Rückkehr nach Tschetschenien hinreichend sicher seien bzw. im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG stichhaltige Gründe dagegen sprächen, dass ihnen Verfolgung oder sonstiger ernsthafter Schaden drohe, soweit sie keine besonderen Gefährdungsfaktoren aufwiesen. Außerdem hat er geltend gemacht, dass Tschetschenen nach allgemeiner Spruchpraxis selbst bei Annahme einer weiter andauernden Verfolgungsgefahr in Tschetschenien zumindest eine inländische Ausweichmöglichkeit bzw. im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG interner Schutz in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation zustehe.

3

Mit den in diesen obergerichtlichen Entscheidungen vertretenen Auffassungen setzt sich das Berufungsgericht inhaltlich nicht auseinander. Es erwähnt in seiner Entscheidung zwar eine der vom Bundesbeauftragten angeführten Entscheidungen als Beleg für eine von seiner eigenen Einschätzung abweichende Auffassung zur aktuellen Lage in Tschetschenien, ohne jedoch weiter auf das Vorbringen des Bundesbeauftragten einzugehen und sich mit der abweichenden tatsächlichen und rechtlichen Würdigung der anderen Oberverwaltungsgerichte zur Lage in Tschetschenien und dem Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative näher zu befassen. Das lässt angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses Vorbringen nicht in Erwägung gezogen hat. Das Berufungsgericht führt zur Begründung seiner Entscheidung zwar auch neuere Erkenntnismittel an, die den vom Bundesbeauftragten angeführten Entscheidungen der anderen Oberverwaltungsgerichte nicht vorlagen. Diesen entnimmt das Berufungsgericht aber keine grundlegende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, sondern verweist ausdrücklich darauf, dass seine aktuelle Lageeinschätzung älteren - von den anderen Oberverwaltungsgerichten bei ihren Entscheidungen mitberücksichtigten - Erkenntnissen entspreche (UA S. 11) und deshalb "weiterhin" für die in Tschetschenien lebenden Personen eine tatsächliche Gefahr bestehe (UA S. 12). Bei dieser Sachlage verletzt das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; darin liegt zugleich ein formeller Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.

4

Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebotene Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 1. März 2006 - BVerwG 1 B 85.05 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 324 und - BVerwG 1 B 86.05). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn sich ein Beteiligter - wie hier - einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).

5

Auf diesen Verfahrensmangel kann sich jedenfalls in der vorliegenden prozessualen Konstellation auch die Beklagte berufen. Denn sie ist der Berufung des Klägers entgegengetreten und hat sich damit das in die gleiche Richtung zielende Vorbringen des Beteiligten zumindest konkludent zu eigen gemacht.

6

Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu einer anderen Entscheidung hinsichtlich der vom Bundesbeauftragten angesprochenen Frage der Gefährdung in Tschetschenien und des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative gelangt wäre. Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergeben sich insbesondere keine Anhaltspunkte für ein besonderes Gefährdungspotential des Klägers, bei dessen Vorliegen auch andere Oberverwaltungsgerichte eine Gefährdung bzw. das Fehlen einer inländischen Fluchtalternative annehmen.

7

Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht auch zu berücksichtigen haben, dass beim Flüchtlingsschutz allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG bedeutet. Auch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde.

8

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 28. September 2007 - A 6 K 43/07 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger erstrebt im Wege des Asylfolgeverfahrens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der am …1974 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und gehört der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an. Er hat zum Nachweis seiner Glaubenszugehörigkeit Bescheinigungen der Ahmadiyya Muslim Jamaat Frankfurt vom 30.07.2001 und 20.01.2010 vorgelegt.
Nach seinen eigenen Angaben reiste er am 03.06.2001 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12.06.2001 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung im Asylerstverfahren durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) am 30.08.2001 brachte er im Wesentlichen vor, er sei von Geburt an Ahmadi und habe bestimmte Funktionen in seiner örtlichen Glaubensgemeinschaft ausgeübt. Zuletzt habe er seit dem Jahre 1998 das Amt eines Saik innegehabt. Weiter berief er sich auf mehrere Übergriffe aus den Jahren 1998 und 1999 sowie auf Strafanzeigen gegen Verwandte und deren Inhaftierung. Zentraler Gegenstand des Vorbringens war ein Vorfall am 08.06.2000, bei dem ein Onkel des Klägers durch einen Schuss getötet und auch der Bruder des Klägers durch einen Schuss verletzt worden sein soll, sowie die sich daran anschließenden Ermittlungsverfahren gegen den Kläger und weitere ortsansässige Ahmadis. Am 28.10.2000 sei der Name des Klägers in einer weiteren Strafanzeige gemäß § 302 des Pakistanischen Strafgesetzbuches erwähnt worden. Aufgrund dieser Anzeige seien sein Bruder und sein Neffe festgenommen worden. Zum Beleg seines Verfolgungsvorbringens legte der Kläger bei seiner Bundesamtsanhörung zahlreiche Unterlagen, insbesondere Strafanzeigen und Zeitungsberichte über die Tötung seines Onkels sowie ein ärztliches Attest über von seinem Bruder erlittene Verletzungen, in Kopie vor.
Mit Bescheid vom 26.11.2003 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Zugleich wurde dem Kläger die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Der Kläger erhob hiergegen Klage zum Verwaltungsgericht Sigmaringen, die mit Urteil vom 28.10.2005 (Az.: A 6 K 12413/03) abgewiesen wurde. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es fehle an einem beachtlichen individuellen Vorverfolgungsschicksal des Klägers. Die von ihm im Behördenverfahren vorgelegten FIRs (First Information Reports) seien nach der durchgeführten Beweisaufnahme durch Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes mit großer Wahrscheinlichkeit gefälscht. Jedenfalls bestehe im Falle einer Rückkehr des Klägers keine individuelle Verfolgungsgefahr, weil die Gerichtsverfahren betreffend den Vorfall am 08.06.2000 ausweislich der Beweisaufnahme eingestellt worden seien. Eine Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan sei nicht gegeben, auch nicht unter Berücksichtigung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie, durch die sich an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff des religiösen Existenzminimums und des sog. „forum internum“ nichts ändere. Dahingestellt könne deshalb bleiben, ob der Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz bereits die Qualifikationsrichtlinie mit der Folge umgesetzt habe, dass diese nunmehr im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG trotz der noch nicht abgelaufenen Umsetzungsfrist Anwendung finde. Das Urteil wurde durch Nichtzulassung der Berufung mit Beschluss des Senats vom 31.05.2006 (Az.: A 10 S 25/06) rechtskräftig.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 05.01.2007 - bei der Außenstelle Reutlingen des Bundesamtes persönlich abgegeben am 10.01.2007 - stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag und trug zur Begründung vor: Durch die Richtlinie 2004/83/EG habe sich die Rechtslage zu seinen Gunsten verändert. Nunmehr sei von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan auszugehen. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - präzisiere den Verfolgungsgrund der Religion dahingehend, dass nunmehr auch Glaubensausübungen im öffentlichen Bereich mit umfasst seien. Damit sei unter anderem auch das aktive Missionieren vom Schutzbereich umfasst. Die bisherige Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum könne vor dem veränderten europarechtlichen Hintergrund nicht mehr aufrecht erhalten werden. Darüber hinaus legte der Kläger einen Antrag an den Lahore High Court - Criminal Appeal Nr. 3/3/2003 - als neues Beweismittel vor, den er von Verwandten in Kopie erhalten habe. Damit könne nunmehr belegt werden, dass entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts in seinem klageabweisenden Urteil vom 28.10.2005 das im Asylerstverfahren thematisierte Gerichtsverfahren bei dem Lahore High Court fortgeführt werde und nicht bereits von dem Untergericht endgültig eingestellt worden sei. Es handle sich dabei um ein sog. Gegenverfahren der Ahmadis gegen die sunnitischen Moslems; aus diesem Grund müsse der Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan mit Verfolgung durch fanatische Moslems rechnen.
Mit Bescheid vom 22.01.2007 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und auf Abänderung des Bescheids vom 26.11.2003 hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG ab.
Am 24.01.2007 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben mit dem Ziel einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug genommen und zur Frage von Rechtsänderungen durch die Richtlinie 2004/83/EG vorgetragen.
Mit Urteil vom 28.09.2007 - A 6 K 43/07 - hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen die Klage insgesamt abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Eine staatliche oder nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan könne derzeit nicht angenommen werden und drohe auch nicht in absehbarer Zukunft. Das Gericht folge dabei der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg und der übereinstimmenden obergerichtlichen Rechtsprechung. Insoweit habe sich an der Sachlage bis zum heutigen Zeitpunkt nichts Relevantes geändert. Auch das Inkrafttreten von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union rechtfertige keine abweichende Beurteilung der Sachlage aus Rechtsgründen. Die Neubestimmung des Flüchtlingsbegriffs in Anwendung der Genfer Konvention führe nicht zur Annahme einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan. Weder die Qualifikationsrichtlinie noch die Genfer Flüchtlingskonvention forderten inhaltlich eine wesentlich andere Betrachtungsweise, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob nach Inkrafttreten der neuen Rechtslage die bisherige Rechtsprechung zum sog. „forum internum“ und zur Gewährleistung des asylrechtlich erforderlichen religiösen Existenzminimums weiterhin fortbestehen könne und inwieweit dies Folgen für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Ahmadis habe.
Jedenfalls erreichten die im Hinblick auf Ahmadis in Pakistan dokumentierten Verfolgungsfälle, selbst wenn man den Kreis der einzubeziehenden Referenzfälle erweitere, auch zum derzeitigen Zeitpunkt nicht die zur Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie könnten nur schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte die Flüchtlingseigenschaft begründen. Deshalb seien nicht sämtliche Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit bei der Auswahl der zu berücksichtigenden Referenzfälle einzubeziehen. Unter Beachtung der Rechtsanwendungspraxis in Pakistan sei weiter darauf abzustellen, welche Referenzfälle zu Gefahren für Leib, Leben oder die physische Freiheit führten. Hinsichtlich der Frage der öffentlichen Religionsausübung sei darauf hinzuweisen, dass den Ahmadis eine öffentliche Religionsausübung nicht völlig unmöglich sei. Das Auswärtige Amt weise in seinem Lagebericht vom 18.05.2007 beispielhaft darauf hin, dass es Gotteshäuser gebe, in denen Ahmadis trotz der bestehenden Strafvorschriften öffentlich ihren Glauben ausüben könnten. Ahmadis sei es auch nicht untersagt, sich öffentlich zum Quadianismus oder Ahmadiismus als ihrer Religion zu bekennen. Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 24.10.2007 zugestellt.
10 
Am 24.11.2007 hat der Kläger die Zulassung der Berufung beantragt.
11 
Mit Beschluss vom 07.03.2008 - dem Kläger am 14.03.2008 zugestellt - hat der Senat die Berufung zugelassen, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt. Im Übrigen blieb der Antrag bezogen auf die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ohne Erfolg.
12 
Am 14.04.2008 hat der Kläger die Berufung unter Stellung eines förmlichen Antrags und unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Zulassungsantrag begründet.
13 
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Als Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a QRL gälten nunmehr Handlungen, die sich nach ihrer Art oder Wiederholung als eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellten. Als Verfolgung seien aber nach Buchst. b auch Maßnahmen anzusehen, die so gravierend seien, dass eine Person auf eine ähnliche Weise wie nach Buchst. a betroffen sei. Die Religionsfreiheit stelle ein Menschenrecht im Sinne dieser Vorschrift dar, was sich insbesondere aus Art. 18 Abs. 1 und 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie aus Art. 9 Abs. 1 EMRK ergebe. Vor diesem Hintergrund sei ein Rückgriff auf die Rechtsprechung zum Begriff der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 a GG nicht zulässig. Vielmehr dürften Einschränkungen der Religionsfreiheit nur unter Beachtung von Art. 18 Abs. 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie Art. 9 Abs. 2 EMRK vorgenommen werden. Die hiernach erforderlichen Gesetze müssten allgemeiner Natur sein, d. h. für alle Staatsbürger, egal welcher religiösen Ausrichtung sie angehörten, gelten. Bezogen auf die Ahmadis in Pakistan bedeute dies, dass sämtliche gegen diese Bevölkerungsgruppe gerichteten Strafgesetze offensichtlich nicht den vorgenannten Anforderungen genügten. Bereits diese Regelungen seien für sich genommen daher geeignet, als schwerwiegende Verletzung eines Menschenrechts zu gelten.
14 
Mit einzubeziehen seien auch die staatlichen Regelungen, wonach Ahmadis, um einen Nationalpass ausgestellt zu bekommen, ihre Glaubensgrundsätze dadurch verleugnen müssten, dass sie sich schriftlich auf einem Sonderformular als Nicht-Moslems bezeichnen müssten. Weiter seien die diskriminierenden Regelungen des Wahlrechts zu berücksichtigen, die es Ahmadis seit längerem unmöglich machten, sich auf normalen Wahllisten als Kandidat aufstellen zu lassen oder die normalen Kandidaten zu wählen, was zur Folge habe, dass Ahmadis an den Parlamentswahlen nicht mehr teilnähmen und daher im Parlament auch nicht mehr vertreten seien. Zu verweisen sei in diesem Zusammenhang auf den sog. Präsidentenerlass Nr. 15 vom 17.06.2002 zur Ergänzung des Erlasses über die allgemeinen Wahlen 2002. Nach dieser Regelung bleibe der Status von Ahmadis unverändert, nach Ziff. 7 c der Regelung müssten aber Personen, die sich als Wähler registrieren lassen wollten, für den Fall, dass Einspruch eingelegt werde, innerhalb von 15 Tagen bei der Aufsichtsbehörde erscheinen und ein Formular mit einer Erklärung über die Finalität des Propheten unterzeichnen. Falls der Betreffende sich weigere, werde er als Nicht-Muslim betrachtet und sein Name werde aus dem allgemeinen Wahlverzeichnis gestrichen und der Zusatzliste für Nicht-Muslime zugeteilt. Damit werde sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht deutlich eingeschränkt. Ferner müssten auch die Regelungen bei der Registrierung von Geburten in Betracht gezogen werden, da bei den öffentlichen Registrierungsstellen die Religion des Kindes bzw. der Eltern angegeben werden müsse. Ahmadis müssten dort „Ahmadi“ angeben und dürften nicht entsprechend ihrem Selbstverständnis „Moslem“ eintragen lassen. Dies führe in Pakistan faktisch zu einer stigmatisierenden Ausgrenzung.
15 
Im Übrigen seien die faktischen Beeinträchtigungen im Schul-, Hochschul- und Ausbildungsbereich sowie die Benachteiligungen bei der Einstellung bzw. Beförderung im öffentlichen Dienst zu berücksichtigen. Benachteiligungen bestünden auch in Bezug auf das Bildungswesen, weil die Studenten auf den Antragsformularen ihre Religionszugehörigkeit angeben müssten. Bezeichneten die Ahmadis sich auf diesem Formular entsprechend ihrem Selbstverständnis als „Moslem“, riskierten sie eine Freiheitsstrafe. Bezeichneten sie sich hingegen als „Ahmadi“, müssten sie mit einer Verweigerung des Zugangs rechnen. Im Fall einer Zulassung dürften sie in der Regel nicht am Pflichtfach „Islamiyat“ teilnehmen, was zur Benachteiligung beim Schulabschluss führe. Hinzuweisen sei auf die weit verbreiteten Entweihungen der ahmadischen Grab- und Gebetsstätten, den Ausschluss von der Beerdigung auf den meisten Friedhöfen, die Beschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit sowie die Beschränkungen im Bereich der Publizistik. Betrachte man dieses Bündel von diskriminierenden und ausgrenzenden Maßnahmen unterschiedlichen Charakters einerseits sowie andererseits die Tatsache, dass bei einer Gesamtzahl von ca. zwei bis vier Millionen Ahmadis in Pakistan nur noch ca. 500.000 sog. bekennende Ahmadis lebten, so liege es nahe, dass die weit überwiegende Anzahl der Ahmadis sich nur deshalb nicht traue, sich in der Öffentlichkeit zu ihrem Glauben zu bekennen, um dem auf ihnen lastenden Ausgrenzungsdruck zu entgehen, wobei auch die Existenz und der Vollzug der religiösen Strafgesetze berücksichtigt werden müsse. Auch die Anzahl der tätlichen Übergriffe von privaten Dritten in Bezug auf religiöses Verhalten der Ahmadis müsse in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden.
16 
Mit Schriftsätzen vom 09.03.2009 und 27.07.2010 ließ der Kläger ergänzend vortragen, dass sich nach der neueren Erkenntnislage die Situation der Ahmadis in Pakistan hinsichtlich ihrer Religionsausübungsmöglichkeiten erneut wesentlich verschlechtert habe. Ausweislich eines Berichts der Human Rights Commission of Pakistan vom 09.07.2008 sei gegen die ganze ahmadische Bevölkerung von Rabwah ein religiös motiviertes Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, nachdem die ahmadische Bevölkerung das 100-jährige Kalifat ihrer Gemeinde gefeiert habe. Ausgehend von der Einwohnerzahl von Rabwah und dem Anteil der Ahmadis hieran könne geschlossen werden, dass sich dieses Ermittlungsverfahren auf mindestens 50.000 Mitglieder der Ahmadiyya-Gemeinde beziehe; die vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 22.10.2008 genannte Zahl von lediglich „über tausend“ Strafverfahren gegen Ahmadis nach § 289c des Pakistanischen Strafgesetzbuches sei deshalb deutlich zu niedrig geschätzt. Auch hätten in einer Fernsehsendung vom 07.09.2008 pakistanische Mullahs unwidersprochen die Auffassung vertreten, dass Ahmadis aus religiösen Gründen zu töten seien; in der Folgezeit seien daraufhin zwei bekannte ahmadische Persönlichkeiten ermordet worden. Seit dieser Sendung habe sich das Klima zwischen Ahmadis und Nichtahmadis in Pakistan weiter verschlechtert, so dass Ahmadis landesweit von Tötung bedroht seien. Am 28.01.2009 seien fünf Ahmadis, davon vier Jugendliche im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, nach § 295c des Pakistanischen Strafgesetzbuches wegen Blasphemie angezeigt worden, der Vorwurf habe auf Beleidigung des Propheten mittels verunglimpfender Graffiti in einer Toilette gelautet.
17 
Der Kläger beantragt,
18 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 28. September 2007 - A 6 K 43/07 - zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides vom 22. Januar 2007 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen.
19 
Die Beklagte beantragt,
20 
die Berufung zurückzuweisen.
21 
Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid und führt im Übrigen aus, § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b QRL führe zu keiner grundsätzlich abweichenden Bewertung. Entgegen der vom Senat in seinem Urteil vom 20.05.2008 (Az.: A 10 S 72/08) vertretenen Auffassung habe sich der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie nicht wesentlich erweitert; an der Rechtsprechung des Senats könne im Hinblick auf eine neuere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.03.2009 (Az.:10 C 51.07) nicht uneingeschränkt festgehalten werden. Denn das Bundesverwaltungsgericht habe in diesem Urteil klargestellt, dass auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG nicht jede Einschränkung der Religionsfreiheit zu einer Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts führe. Ob ein Ausländer als Flüchtling anzuerkennen sei, müsse vielmehr nach höchstrichterlicher Sicht maßgeblich nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie beurteilt werden, denn dieser Bestimmung sei zu entnehmen, welches Rechtsgut in welchem Ausmaß geschützt sei. Entscheidend sei auf die Gefährdungslage abzustellen, die aus einer aktiven Wahrnehmung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit durch einen Ahmadi resultiere, die also aufgrund einer öffentlichkeitswirksamen Betätigung eintrete. Einschränkungen der religiösen Betätigung als solche stellten nur dann hinreichend schwere Eingriffe dar, wenn die Religionsausübung grundsätzlich unterbunden werde oder sie zu einer Beeinträchtigung eines unabdingbaren Teils des religiösen Selbstverständnisses des Gläubigen führen würde und daher ein Verzicht nicht zugemutet werden könne. Nur dieser Kernbereich der Religionsausübung sei nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar. Unabhängig hiervon habe die Qualifikationsrichtlinie keine Veränderung insoweit erbracht, als Schutzbedarf notwendigerweise eine individuelle Betroffenheit voraussetze. Selbst wenn zugunsten des Klägers von einer Rechtsänderung durch die Qualifikationsrichtlinie ausgegangen werde, bedürfe es tragfähiger Feststellungen dazu, wie er seinen Glauben bisher gelebt habe und eine Prognose, ob er dies auch bei Rückkehr entsprechend fortsetzen wolle. Im Übrigen spreche jedoch die Entstehungsgeschichte und die bisherige Rechtslage nicht für die Auffassung des Klägers, dass mit Umsetzung der Vorgaben aus der Richtlinie 2004/83/EG eine erhebliche Rechtsänderung eingetreten sei.
22 
Der Senat hat den Kläger und seine Lebensgefährtin, Frau A. S., in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört; wegen der dabei getätigten Angaben wird auf die gefertigte Anlage zur Niederschrift verwiesen.
23 
Dem Senat liegen die Asylverfahrensakten des Bundesamts sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Sigmaringen hinsichtlich des Erst- und des gegenständlichen Folgeverfahrens vor.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig unter Stellung eines Antrags und unter Bezugnahme auf die ausführliche Begründung des Zulassungsantrags begründete Berufung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420 m.w.N.) bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts stellt sich im Ergebnis als richtig dar. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.01.2007 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Buchst. c der zur Auslegung heranzuziehenden Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) im Wege des Asylfolgeverfahrens.
25 
Entsprechend der Berufungszulassung ist Gegenstand des Berufungsverfahrens nur noch die von dem Kläger begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG, nicht auch die im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.
26 
Da der erste Asylantrag des Klägers bereits im Jahre 2006 bestandskräftig abgelehnt wurde, handelt es sich bei dem gegenständlichen Asylantrag um einen Folgeantrag. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor (1.). Auch hat sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG sowohl der flüchtlingsrechtliche Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit als auch der anwendbare Prognosemaßstab für eine festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit im Vergleich zu den im Asylerstverfahren einschlägigen Vorgaben verändert (2.). Jedoch kann sich der Kläger auch bei Anwendung dieses günstigeren Maßstabs für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf den Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung der Ahmadis berufen (3.). Eine - grundsätzlich denkbare - individuelle flüchtlingsrelevante Rückkehrgefährdung scheidet mangels hinreichender Glaubensgebundenheit des Klägers aus (4.).
27 
1. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auf einen nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags gestellten Folgeantrag ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Hiernach setzt ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens insbesondere voraus, dass eine Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten ist oder neue Beweismittel vorliegen und dass die Geeignetheit dieser Umstände für eine dem Antragsteller günstigere Entscheidung schlüssig dargelegt wird. Der Folgeantrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene Kenntnis von dem Wiederaufgreifensgrund hat (§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG). Diese einschränkenden Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG finden auch dann Anwendung, wenn der Antragsteller in einem weiteren Verfahren eine ihm günstige Rechtsänderung unter Hinweis auf die nunmehr eingetretene unmittelbare Wirkung der Richtlinie 2004/83/EG geltend macht (vgl. hierzu Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren Az.: A 10 S 688/08).
28 
a) Entgegen der vom Bundesamt in seinem Bescheid vom 22.01.2007 vertretenen Auffassung ist mit Rücksicht auf die Qualifikationsrichtlinie und in Bezug auf die Beurteilung der maßgeblichen Lage der Ahmadis in Pakistan eine relevante Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris). Ob für den Betroffenen tatsächlich eine günstigere Entscheidung im Einzelfall in Betracht kommt, muss der Prüfung in dem durchzuführenden Asylfolgeverfahren vorbehalten bleiben; das Bundesamt hat zu Unrecht in dem versagenden Bescheid eine Vollprüfung am Maßstab der Richtlinie vorgenommen und mit diesen Überlegungen einen Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG verneint. Nach der Konzeption des Asylverfahrensgesetzes ist jedoch eine abschließende Prüfung der Erheblichkeit der geltend gemachten Sachverhalts- oder Rechtsänderung auf einer zweiten Stufe erst dem weiteren Asylverfahren vorbehalten, sofern eine günstige Entscheidung aufgrund der geänderten Umstände jedenfalls möglich erscheint. Deshalb muss es auch ausreichen, wenn der Betroffene innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG sich auf die mögliche Rechtsänderung durch das Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie berufen hat; der Vortrag weiterer Tatsachen, die einen Rückschluss darauf zulassen, dass ein Ahmadi mit seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie aktuell aktiv ausgeübt hat, ist demgegenüber keine Zulässigkeitsvoraussetzung (a. A. VG des Saarlandes, Urteil vom 20.01.2010 - 5 K 621/08 - juris).
29 
b) Wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht erkannt hat, steht einem Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG unter dem Gesichtspunkt der Rechtsänderung auch nicht entgegen, dass es bereits in seinem das Erstverfahren abschließenden Urteil vom 28.10.2005 (Az.: A 6 K 12413/03) die materiellen Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie zumindest hilfsweise seiner inhaltlichen Prüfung zugrunde gelegt hat. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Urteil offen gelassen, ob der Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz bereits einen Teil der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt hat und bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kraft nationalen Rechts im Lichte von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang dann im Einzelnen näher dargelegt, dass selbst bei Anwendung der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie nicht von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan ausgegangen werden könne, da Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG eine mit dem nationalen Recht vergleichbare Struktur aufweise und den Schutzbereich der Religionsausübung nicht über die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze zum „forum internum“ hinaus erweitert habe.
30 
Diese vom Verwaltungsgericht der Sache nach vorgenommene Überprüfung des Asylbegehrens anhand der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie steht der Annahme einer Rechtsänderung nicht entgegen. Maßgeblich ist allein, dass erst mit Ablauf des 10.10.2006 (Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie und Eintritt deren unmittelbarer Anwendbarkeit, vgl. Art. 38 Abs. 1 QRL) objektiv-rechtlich eine Rechtsänderung eingetreten ist. Für dieses Verständnis sprechen nicht zuletzt Gesichtspunkte des effektiven Rechtsschutzes. Da der Senat in seinem die Zulassung der Berufung ablehnenden Beschluss vom 31.05.2006 (Az.: A 10 S 25/06) die vom Verwaltungsgericht erwogene Vorwirkung bzw. vorzeitige Umsetzung des Richtlinienentwurfs in nationales Recht abgelehnt hat, war dem Kläger eine obergerichtliche Überprüfung des vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Verständnisses der Qualifikationsrichtlinie verwehrt. Der Kläger konnte daher im Asylerstverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, dass sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG gerade im Hinblick auf die Religionsausübungsfreiheit eine Erweiterung des Schutzbereichs ergeben hat.
31 
c) Der Kläger hat auch die maßgebliche Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG eingehalten, ohne dass es darauf ankommt, wann der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter positive Kenntnis von der Rechtsänderung erlangt hat. Da der Kläger seinen Asylfolgeantrag persönlich bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes bereits am 10.01.2007 gestellt hat, wird auch die denkbar kürzeste Frist (drei Monate ab Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie) gewahrt.
32 
Nach alledem liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor. Was die unanfechtbare negative Entscheidung des Erstverfahrens und die dort gewürdigten individuellen Vorfluchtgründe betrifft, ist jedoch eine erneute Überprüfung und Bewertung im weiteren Asylverfahren nicht eröffnet. Denn die Qualifikationsrichtlinie misst sich keine Geltung auch für Sachverhalte bei, über die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens oder bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist unanfechtbar entschieden wurde (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris ). Im Folgenden ist deshalb lediglich zu überprüfen, ob bei Anwendung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie bzw. deren Umsetzung durch § 60 Abs. 1 AufenthG eine flüchtlingsrechtlich relevante individuelle oder gruppenbezogene Rückkehrgefährdung des Klägers besteht.
33 
2. Der Senat geht im Anschluss an sein Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert hat.
34 
2.1.a) Art. 10 QRL definiert in Anknüpfung an Art. 2 Buchst. c QRL die flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgründe. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere der Schutz der Religionsausübung gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. b QRL maßgeblich. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Die Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definiert, was unter dem Verfolgungsgrund der Religion zu verstehen ist, d. h. an welche religiösen Einstellungen oder Betätigungen eine Verfolgungshandlung anknüpfen muss, um flüchtlingsrechtlich beachtlich zu sein. Die Vorschrift gewährleistet dabei bereits nach ihrem Wortlaut für den Einzelnen einen sehr weitgehenden Schutz, wenn sie sowohl die Entscheidung, aus innerer Überzeugung religiös zu leben, wie auch die Entscheidung, aufgrund religiösen Desinteresses jede religiöse Betätigung zu unterlassen, schützt und dem Einzelnen zubilligt, dass er sich zu seiner religiösen Grundentscheidung auch nach außen bekennen darf, insbesondere auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen erfasst wird.
35 
Wie im Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, dürfte die Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinausgehen, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16 a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt wurde, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede steht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehört somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung sind nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst wird schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen (vgl. Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032.07 - a.a.O. sowie Bay. VGH, Urteil vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - InfAuslR 2008, 101).
36 
b) Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setzt darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt wird, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmacht (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL), wobei in Art. 9 Abs. 2 QRL beispielhaft verschiedene in Betracht zu ziehende Verfolgungshandlungen benannt werden. Erst an dieser Stelle erweist sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden kann, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitzt.
37 
Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt in jedem Falle dann vor, wenn der Gläubige so schwerwiegend an der Ausübung seines Glaubens gehindert wird, dass das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Kernbereich verletzt wird. Der Kern der Religionsfreiheit ist für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar und gehört damit zum menschenrechtlichen Mindeststandard. Er ist nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar (vgl. zu den Einzelheiten etwa BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <158 ff.>; sowie BVerwG, Urteile vom 20.01.2004 - 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 und vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - a.a.O.). Wird dieser Kernbereich verletzt, ist in jedem Fall eine schwerwiegende Rechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu bejahen und dementsprechend Flüchtlingsschutz zu gewähren.
38 
Der in Art. 9 Abs. 2 QRL entfaltete beispielhafte Katalog (insbesondere Buchst. b und d) möglicher Verfolgungshandlungen macht jedoch deutlich, dass eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nicht nur dann gegeben ist, wenn durch die Verfolgungshandlung - von Eingriffen in Leib oder Leben abgesehen - in die physische Bewegungsfreiheit eingegriffen wird, und dass der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der Freiheit nicht in diesem engen Sinne verstanden werden kann. Vielmehr können erhebliche Einschränkungen oder Verbote öffentlicher Glaubensbetätigung, die nach dem Verständnis der jeweiligen Religion oder dem - nicht notwendigerweise völlig identischen - glaubhaft dargelegten Verständnisses des einzelnen Flüchtlings von grundlegender Bedeutung sind, zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, sofern sie nicht in völkerrechtskonformer Ausübung der jeweiligen Schrankenregelungen erfolgen. Insbesondere kann hiernach den Betroffenen nicht angesonnen werden, diese zu unterlassen, um keine entsprechend vorgesehenen Sanktionen herauszufordern.
39 
2.2.a) Wie vom Senat bereits in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07- a.a.O.) näher dargestellt, hat sich unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie auch der Prognosemaßstab für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert. Nach Art. 4 Abs. 3 QRL ist - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung - eine strikt einzelfallbezogene Betrachtung vorzunehmen. Soweit nach der bisherigen Rechtsprechung für die Beurteilung der Frage, ob einem Flüchtling nach den Maßstäben des § 60 Abs. 1 AufenthG Schutz zu gewähren ist, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen waren, je nachdem, ob dieser seinen Heimatstaat auf der Flucht vor bereits eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <344 ff.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; st. Rspr.), trifft die Qualifikationsrichtlinie eine entsprechende Unterscheidung ebenfalls. So ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgericht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenziert zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen, zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
40 
b) Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdulla -). Der in dem Tatbestandsmerkmal „…tatsächlich Gefahr liefe…“ des Art. 2 Buchst. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330, RdNr. 125 ff. - Saadi -); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192).
41 
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden; die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 - a.a.O). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände der Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - a.a.O.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
42 
2.3. Nicht anders als im Falle des Asylgrundrechts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143) gilt auch hier, dass eine pauschale und rein formale Betrachtung aller Angehörigen einer Religionsgemeinschaft nicht sachgerecht sein kann und daher ausscheiden muss. Es leuchtet unmittelbar ein, dass nach Maßgabe der jeweiligen religiösen Bindungen des einzelnen Asylsuchenden und abhängig von den Verhältnissen im Herkunftsland die Betroffenheit in dem Menschenrecht und daher dessen Beeinträchtigung überhaupt, jedenfalls aber deren Schwere völlig unterschiedliches Gewicht haben können. Allerdings ist an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für eine Gruppenverfolgung auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 sowie Beschluss vom 02.02.2010 - 10 B 18.09 -, juris).
43 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines staatlichen Verfolgungspogroms - (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200).
44 
b) Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Bezug gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.). An diesem Grundkonzept hat sich nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG nichts geändert. Es stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.).
45 
3. Der Kläger kann sich bei Anwendung dieser Grundsätze für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung der Gruppe der Ahmadis (oder der Untergruppe der ihren Glauben aktiv ausübenden Ahmadis) berufen.
46 
3.1 Die Lage in Pakistan - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs des Klägers von Bedeutung ist - stellt sich auch im September 2010 im Wesentlichen so wie bereits im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) geschildert dar. Der Senat hat in diesem Urteil folgendes ausgeführt:
47 
„Nach Auswertung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel stellt sich vermutlich die Lage der Ahmadis in Pakistan für den Senat, wie folgt, dar:
48 
1. Zur Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya und ihrer Entstehung hat der HessVGH im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A – juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
49 
„.Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
50 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubens-gemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
51 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bayer. VGH am 22.01.1985, S. 7).
52 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
53 
Auch die aktuellen Zahlen sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern und diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.41). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 18.05.2007, S. 16) nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien.
54 
2. Die Lage der Ahmadis wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
55 
a) Der Islam wird in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist allerdings von Verfassungs wegen garantiert (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit bezeichnet und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
56 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren können und nur solche wählen können. Um ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.34 ff.). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16).
57 
b) Seit 1984 bzw.1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und diese gewissermaßen zur Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung in den Blick nehmen.
58 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <146>):
59 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
60 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ameerui Mumineen', 'Khalifar-ul-Mimineem', 'Shaabi' oder 'Razi-Allah-Anho' bezeichnet oder anredet;
61 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ummul-Mumineen' bezeichnet oder anredet;
62 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ahle-bait' bezeichnet oder anredet;
63 
d) sein Gotteshaus als 'Masjid' bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
64 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als 'Azan' bezeichnet oder den 'Azan' so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
65 
Sec. 298 C lautet:
66 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
67 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
68 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
69 
Die genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch ausführlich HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 92 ff.; vgl. auch BVerfG, Kammerb. v. 21.12.1992 – 2 BvR 1263/92 - juris m.w.N.; BVerwG, U.v. 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; v. 25.01.1995 – 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere auch zur Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen diskriminierenden, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, U.v. 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960 – Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/ -, wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, „die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind“ (so BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts). Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden hier einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen nicht von ihnen ausgehen, sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 und 10; vgl. auch HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 34).
70 
Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung von sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, sollen etwa 2000 Strafverfahren gegen Ahmadis eingeleitet worden sein (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56; vgl. aber auch Ziffer 19.55 mit etwas niedrigeren Zahlen von ausdrücklich und im Einzelnen von der Glaubensgemeinschaft selbst dokumentierten Fällen); allein im Jahre 2006 soll es zu 21 Anklagen gegen Ahmadis gekommen sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 15, das im Übrigen ausdrücklich die steigende Tendenz als besorgniserregend qualifiziert, vgl. dort S. 5; vgl. auch Freedom House 2007, mit dem Hinweis auf eine Zunahme in den jüngsten Jahren; vgl. auch zu ähnlichen Zahlen Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.51; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 123 ff., wonach seit 1988 von 647 Fällen allein in den Medien berichtet worden sei). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären. Weitere Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz häufig nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt darauf beruht, dass sie zum Teil durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 9 f.). In der Regel werden die Betroffenen bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (U.S. Department of State, a.a.O., S. 10). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt (vgl. U.S. Department of State, a.a.O., S. 16 f.). Die Bestimmung der sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten (vgl. hierzu im Einzelnen HessVGH, U. v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 46 und 69).
71 
Was die Strafbestimmungen der sec. 298 B und C betrifft, sollen gegenwärtig etwa 1000 Verfahren anhängig sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; vgl. auch zu Zahlen der insgesamt durchgeführten Verfahren Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.55 f.), wobei hier die Angeklagten sich zumeist auf freiem Fuß befinden (vgl. zu den Hintergründen und Motiven für die Einleitung von Verfahren auch AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.57).
72 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen, in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn deren Gefühle durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2).
73 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte. Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten d).
74 
c) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf den öffentlich gebetet wird (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.53). Hingegen wird es Ahmadis nicht generell unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies durch die Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann und wird (AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen. Allerdings wird die gemeinsame Ausübung des Glaubens immer wieder dadurch behindert, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird, während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können, sowie Gebetshäuser oder Versammlungsstätten immer wieder von Extremisten überfallen werden (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.).
75 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
76 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
77 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten im weitesten Sinn sind verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus größere Verbreitung (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 4).
78 
d) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligen Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen untätig zugesehen und diese geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah, jetzt Chenab Nagar (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006). Zu in den 70-er Jahre vorgefallenen pogromartigen Ausschreitungen vergleichbaren Aktionen ist es jedoch nicht mehr gekommen.
79 
e) Nur der Vollständigkeit halber soll noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden, der allerdings das vom Senat für richtig gehaltene Ergebnis nicht entscheidend beeinflusst, sondern allenfalls zur Abrundung des Bildes beiträgt und geeignet ist: Die frühere überdurchschnittliche Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.62; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 114; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 16 f.). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65).
80 
3. Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) im Januar 2005 in der Weise zusammenfassend charakterisiert wurde, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellt für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung jedenfalls im Sinne einer kumulierenden Betrachtung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL darstellen. Der Präsident von amnesty international Pakistan wird dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführt, dass es – anders als bei Christen – niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.)
81 
Von zentraler Bedeutung für diese Schlussfolgerung des Senats ist dabei das gegen die Ahmadis gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung möglich sind.
82 
Bei diesem Ausgangspunkt kann nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung rechtfertigen würden. Denn es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten Übergriffe extremistischer Gruppen es der gesunde Menschenverstand nahe legen, wenn nicht gar gebieten wird, alle öffentlichkeitswirksamen Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Diese seit nunmehr weit über 20 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und –bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die bereits eingangs festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Insoweit muss die absolute Zahl der Strafverfahren und ihr Verhältnis zu der Zahl der gläubigen Ahmadis daher isoliert betrachtet notwendigerweise ein unzutreffendes Bild abgeben. Würden die gläubigen Ahmadis ihr selbstverständliches Menschenrecht aktiv wahrnehmen, so müssten sie bei realistischer Betrachtungsweise mit erheblichen und nach Art und Zahl zunehmenden Reaktionen von staatlicher Seite bzw. auch von Dritten rechnen. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für die Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, dass das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks ist.“
83 
3.2. Auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung beansprucht die vom Senat in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) dargestellte Einschätzung der Lage weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Nach aktueller Erkenntnislage kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Risiko für einfache Ahmadi, mit einem Strafverfahren nach dem Blasphemieparagrafen sec. 295c des pakistanischen Strafgesetzbuches oder den sonstigen sogenannten „Ahmadi-Paragrafen“ überzogen zu werden, signifikant erhöht hätte. Die vom Senat in dem genannten Urteil zugrunde gelegten Zahlenverhältnisse (vgl. insbesondere Randziffer 102 bis 104 im UA bei juris) treffen nach wie vor zu; allenfalls ist eine leichte Besserung der Verhältnisse eingetreten. So führt das Auswärtige Amt im seinem Lagebericht vom 22.10.2008 (Stand: September 2008) aus, dass im Jahre 2007 gegen 23 Ahmadis Anklage in Blasphemiefällen erhoben worden sei; die erhoffte Verbesserung der Lage sei deshalb nicht eingetreten. Die Zahl der Neufälle insgesamt stagniere bei ca. 50 pro Jahr und steige nicht weiter an. In seinem aktuellen Lagebericht vom 17.03.2010 (Stand: März 2010) geht das Auswärtige Amt für den Beurteilungszeitraum 2008 davon aus, dass gegen 14 Ahmadis wegen Blasphemie Anklage erhoben worden sei, mithin ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr beobachtet werden könne.
84 
Insgesamt gesehen steht diese zahlenmäßige Entwicklung mit den sonstigen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln in Einklang, auch wenn darin teilweise von leicht abweichenden Zahlen ausgegangen wird. So geht etwa das U.S. Department of State in seinem International Religious Freedom Report 2009 (Stand: 26. Oktober 2009) davon aus, dass nach eigenen Angaben von Organisationen der Ahmadiyya in Rabwah gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen Verstößen gegen die Religionsgesetze Strafverfahren eingeleitet worden seien, darunter in 18 Fällen wegen Blasphemievorwürfen und in 68 Fällen wegen Verstoßes gegen die sog. „Ahmadi-Gesetze“. Zu ähnlichen Zahlen gelangte das Home Office in seinem Country of Origin Report Pakistan vom 18.01.2010. Dort wird unter Berufung auf Ahmadi-Quellen davon ausgegangen, dass von Juni 2008 bis April 2009 gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen religiöser Gründe Strafverfahren eingeleitet worden seien, wobei eine genaue Unterscheidung der Vorwürfe und der Verfahrensstadien nicht erfolgt (vgl. Ziffer 19.63 des Reports). Ferner wird darin auch auf den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers angeführten Vorfall vom 8. Juni 2008 verwiesen, wonach ein FIR (First Information Report) gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah erstellt worden sei; dieser Vorfall wird vom U.S. Department of State in seinem Human Rights Report Pakistan 2009 (11. März 2010) bestätigt (S. 15). Entgegen der Meinung des Klägers kann aus letztgenanntem Vorfall jedoch nicht geschlossen werden, dass die vom Auswärtigen Amt wiedergegebenen Zahlen nicht mehr zutreffend sind. Wie sich insbesondere dem Human Rights Report Pakistan des U.S. Departement of State (S. 15) entnehmen lässt, hat das mit dem genannten FIR eingeleitete Verfahren bis zum dort genannten Zeitpunkt noch keinen Fortgang genommen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass dieser pauschale Vorwurf gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah Anlass für weitergehende strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen gegen einzelne Ahmadis bietet. Für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung können deshalb nur die Fälle berücksichtigt werden, in denen es tatsächlich zu individuellen Ermittlungsverfahren oder gar Anklagen gekommen ist. Neueres oder umfassenderes Zahlenmaterial, das eine abweichende Gefährdungsprognose ermöglichen könnte, liegt dem Senat nicht vor.
85 
3.3. Dafür, dass generell jeder pakistanische Staatsangehörige allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Verfolgung zu gegenwärtigen hätte, bestehen nach den obigen Ausführungen und den dort verwerteten Erkenntnismitteln keine hinreichenden Anhaltspunkte. Soweit eine innere und verpflichtende Verbundenheit nicht festgestellt werden kann, sind die Betreffenden, selbst wenn man die vorgenannten rechtlichen und tatsächlichen Vorgaben zur Auslegung der Qualifikationsrichtlinie und deren Anwendung auf die Lage der Ahmadis in Pakistan zu ihren Gunsten unterstellt, nicht in dem erforderlichen Maße von den im Einzelnen festgestellten Verfolgungshandlungen betroffen. Insbesondere stellt es nach Überzeugung des Senats keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar, wenn sich dieser Personenkreis in der Öffentlichkeit nicht als Muslim bezeichnen kann und darf. Die vom Senat verwerteten aktuellen Erkenntnismittel zeichnen, vor allem was den hier in erster Linie in den Blick zu nehmenden Aspekt der Verfolgungsdichte betrifft, kein grundlegend anderes Bild als dies in der Vergangenheit der Fall war (vgl. zu weiteren Nachweisen aus der auch älteren Rechtsprechung Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 -, a.a.O.). Nachdem nach wie vor die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya in Pakistan selbst davon ausgeht, dass sie insgesamt etwa 4 Millionen Angehörige zählt, darunter etwa 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder (vgl. Lagebericht des Antragsteller vom 17.03.2010, S. 13), sieht der Senat gegenwärtig keine ausreichende Grundlage dafür, dass die aktuelle Zahl in einem so signifikanten Maße darunter liegen könnte, dass eine vollständige Neubewertung des Bedrohungsszenarios erfolgen müsste.
86 
Dies gilt selbst dann, wenn in der Betrachtung allein die Zahl der aktiv ihren Glauben ausübenden Ahmadis, also die oben genannten 500.000 bis 600.000 Mitglieder, zugrunde gelegt wird. Auch bei dieser Untergruppe ergibt sich nicht die hinreichende Verfolgungsdichte, die eine Gruppenverfolgung nach dem oben Gesagten voraussetzt. Diese Betrachtung wird, soweit ersichtlich, im Übrigen von der sonstigen oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geteilt (vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 13.11.2008 - A 1 B 550/07 -, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29.06.2005 - 2 L 208/01 -, juris).
87 
4. Der Senat konnte, insbesondere aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Falle einer Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre.
88 
a) Der Senat vermochte dabei die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderte Ausübung seiner Religion in Pakistan und die von ihm in der Heimatgemeinde angeblich wahrgenommenen Funktionen weitgehend nicht zu glauben. Seine Angaben hierzu wichen nicht nur in teils erheblichem Maße von seinen Schilderungen im Asylerstverfahren ab, sie waren vor allem auch mit der vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2005 nicht in Einklang zu bringen. So gab der Kläger etwa in der mündlichen Verhandlung an, er habe in seiner Heimatgemeinde die Funktion eines „Saik“ inne gehabt, neben ihm habe nur noch eine weitere Person dieses Amt ausgeübt. Seine Aufgabe habe darin bestanden, sämtliche Mitglieder der Ahmadyyia-Gemeinde im Heimatdorf fünf Mal täglich von den Gebetszeiten zu unterrichten und dazu zu bewegen, in die Moschee zu kommen. Dabei ist es für den Senat bereits schwer nachzuvollziehen, wie der Kläger angesichts der Größe seines Heimatortes mit ca. 30.000 Einwohnern fünf Mal am Tag im Stadtgebiet verstreut wohnende 70 bis 80 Familien aufgesucht haben will. Entscheidend für die fehlende Glaubhaftigkeit ist jedoch, dass diese Angaben nicht mit der in sich stimmigen, auf den Erklärungen zahlreicher Vertrauenspersonen beruhenden Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2006 in Einklag stehen, an deren Richtigkeit der Senat keine Zweifel hat. Zwar bestätigte das Auswärtige Amt die Angaben des Klägers, wonach er die Funktion eines Saiks in seinem Heimatdorf Chak Nr. 18 inne hatte; er sei jedoch lediglich einer von acht bis zehn Saiks gewesen. Auch ist die Funktion eines Saik nach Auskunft des Auswärtigen Amtes eher mit der eines freiwilligen Gemeindehelfers zu vergleichen, der die Jugendlichen näher an die Religion heranbringen und sie auf ihre Pflichten aufmerksam machen soll. Dieser Widerspruch konnte auch durch entsprechende Vorhalte an den Kläger nicht aufgeklärt werden. Vielmehr relativierte der Kläger seine Angaben dann teilweise dahingehend, dass das Amt eines Saik durchaus erzieherische Elemente habe, nämlich durch die Motivation der Jugendlichen zur Teilnahme am Gebet. Ferner blieben die Einlassungen des Klägers in der mündlichen Berufungsverhandlung erheblich hinter den Schilderungen seiner in der Heimatgemeinde wahrgenommenen Ämter im Asylerstverfahren zurück, etwa was die angebliche stellvertretende Leitungsfunktion betrifft.
89 
b) Was die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angeht, so waren diese zumindest überwiegend glaubhaft. Der Senat glaubt dem Kläger uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2001 in der zuständigen Gemeinde der Ahmadis in Balingen betätigt, regelmäßig zum Gebet in die dortige Moschee geht und verschiedene Funktionen ausübt. So schilderte der Kläger etwa überzeugend und glaubhaft, wie er für die Gemeinde Fahrdienste leistet, an Informationsveranstaltungen mitwirkt und sich in sonstiger Weise vielfältig sozial und kulturell für seine Gemeinde engagiert. Auffällig war in diesem Zusammenhang jedoch, dass der Kläger spontan von sich aus vor allem kulturelle und soziale Aktivitäten schilderte, die mit dem Kernbereich der Glaubensausübung nur wenig zu tun haben. Vor allem entfaltete der Kläger nach seinen eigenen Angaben keine nennenswerten missionarischen Aktivitäten, obwohl es eine zentrale Intention seiner Glaubensgemeinschaft ist, eigene Landsleute vom Glauben zu überzeugen. Erst auf Nachfrage gab der Kläger in diesem Zusammenhang an, er unterhalte sich mit anderen Moslems in seiner Unterkunft bzw. am Arbeitsplatz genauso wie mit Christen über Glaubensinhalte. Diese Gespräche waren nach seinen eigenen Angaben jedoch von dem Bemühen geprägt, sich für Verständigung und ein gutes Zusammenleben zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften einzusetzen bzw. bestehende Missverständnisse und Animositäten zwischen den Glaubensgemeinschaften auszuräumen. Aktive Missionierungsbemühungen, also Versuche, Andersgläubige von der Richtigkeit des eigenen Glaubens zu überzeugen, wurden von dem Kläger auch auf Nachfrage nicht geschildert. Dies wurde im Übrigen auch durch die informatorische Befragung der Lebensgefährtin des Klägers verdeutlicht, wonach er ihr gegenüber ebenfalls keinerlei Missionierungsbemühungen entfalte.
90 
Schließlich waren die Angaben des Klägers zu den maßgeblichen Glaubensinhalten und deren Bedeutung für sein Leben relativ undifferenziert, wenn er etwa auf die Frage nach den wesentlichen Unterschieden zu dem Glauben der Mehrheit der Muslime lediglich ausführen konnte, dass die Ahmadis glaubten, der Messias sei schon gekommen und die anderen dies nicht glauben würden. Auch auf Nachfrage konnte er lediglich angeben, dass die Ahmadis an ihre Kalifen, die anderen jedoch nicht daran glaubten. Ebenso vage blieben die Angaben des Klägers, wie er seinen Glauben bei einer unterstellten Rückkehr nach Pakistan auszuüben gedenke.
91 
Nach alledem vermochte der Senat nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass der Kläger in einer wirklich engen und verpflichtenden Beziehung zum Glauben der Ahmadis steht und es insbesondere als für sich verpflichtend ansieht, in irgendeiner Weise auch für diesen Glauben öffentlich einzutreten.
92 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.
93 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein gesetzlicher Zulassungsgrund gemäß § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
24 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig unter Stellung eines Antrags und unter Bezugnahme auf die ausführliche Begründung des Zulassungsantrags begründete Berufung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420 m.w.N.) bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts stellt sich im Ergebnis als richtig dar. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.01.2007 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Buchst. c der zur Auslegung heranzuziehenden Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) im Wege des Asylfolgeverfahrens.
25 
Entsprechend der Berufungszulassung ist Gegenstand des Berufungsverfahrens nur noch die von dem Kläger begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG, nicht auch die im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.
26 
Da der erste Asylantrag des Klägers bereits im Jahre 2006 bestandskräftig abgelehnt wurde, handelt es sich bei dem gegenständlichen Asylantrag um einen Folgeantrag. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor (1.). Auch hat sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG sowohl der flüchtlingsrechtliche Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit als auch der anwendbare Prognosemaßstab für eine festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit im Vergleich zu den im Asylerstverfahren einschlägigen Vorgaben verändert (2.). Jedoch kann sich der Kläger auch bei Anwendung dieses günstigeren Maßstabs für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf den Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung der Ahmadis berufen (3.). Eine - grundsätzlich denkbare - individuelle flüchtlingsrelevante Rückkehrgefährdung scheidet mangels hinreichender Glaubensgebundenheit des Klägers aus (4.).
27 
1. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist auf einen nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags gestellten Folgeantrag ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Hiernach setzt ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens insbesondere voraus, dass eine Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten ist oder neue Beweismittel vorliegen und dass die Geeignetheit dieser Umstände für eine dem Antragsteller günstigere Entscheidung schlüssig dargelegt wird. Der Folgeantrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene Kenntnis von dem Wiederaufgreifensgrund hat (§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG). Diese einschränkenden Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG finden auch dann Anwendung, wenn der Antragsteller in einem weiteren Verfahren eine ihm günstige Rechtsänderung unter Hinweis auf die nunmehr eingetretene unmittelbare Wirkung der Richtlinie 2004/83/EG geltend macht (vgl. hierzu Urteil des Senats vom heutigen Tage im Verfahren Az.: A 10 S 688/08).
28 
a) Entgegen der vom Bundesamt in seinem Bescheid vom 22.01.2007 vertretenen Auffassung ist mit Rücksicht auf die Qualifikationsrichtlinie und in Bezug auf die Beurteilung der maßgeblichen Lage der Ahmadis in Pakistan eine relevante Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris). Ob für den Betroffenen tatsächlich eine günstigere Entscheidung im Einzelfall in Betracht kommt, muss der Prüfung in dem durchzuführenden Asylfolgeverfahren vorbehalten bleiben; das Bundesamt hat zu Unrecht in dem versagenden Bescheid eine Vollprüfung am Maßstab der Richtlinie vorgenommen und mit diesen Überlegungen einen Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG verneint. Nach der Konzeption des Asylverfahrensgesetzes ist jedoch eine abschließende Prüfung der Erheblichkeit der geltend gemachten Sachverhalts- oder Rechtsänderung auf einer zweiten Stufe erst dem weiteren Asylverfahren vorbehalten, sofern eine günstige Entscheidung aufgrund der geänderten Umstände jedenfalls möglich erscheint. Deshalb muss es auch ausreichen, wenn der Betroffene innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG sich auf die mögliche Rechtsänderung durch das Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie berufen hat; der Vortrag weiterer Tatsachen, die einen Rückschluss darauf zulassen, dass ein Ahmadi mit seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie aktuell aktiv ausgeübt hat, ist demgegenüber keine Zulässigkeitsvoraussetzung (a. A. VG des Saarlandes, Urteil vom 20.01.2010 - 5 K 621/08 - juris).
29 
b) Wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht erkannt hat, steht einem Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG unter dem Gesichtspunkt der Rechtsänderung auch nicht entgegen, dass es bereits in seinem das Erstverfahren abschließenden Urteil vom 28.10.2005 (Az.: A 6 K 12413/03) die materiellen Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie zumindest hilfsweise seiner inhaltlichen Prüfung zugrunde gelegt hat. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Urteil offen gelassen, ob der Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz bereits einen Teil der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt hat und bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kraft nationalen Rechts im Lichte von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang dann im Einzelnen näher dargelegt, dass selbst bei Anwendung der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie nicht von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan ausgegangen werden könne, da Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG eine mit dem nationalen Recht vergleichbare Struktur aufweise und den Schutzbereich der Religionsausübung nicht über die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze zum „forum internum“ hinaus erweitert habe.
30 
Diese vom Verwaltungsgericht der Sache nach vorgenommene Überprüfung des Asylbegehrens anhand der Maßstäbe der Qualifikationsrichtlinie steht der Annahme einer Rechtsänderung nicht entgegen. Maßgeblich ist allein, dass erst mit Ablauf des 10.10.2006 (Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie und Eintritt deren unmittelbarer Anwendbarkeit, vgl. Art. 38 Abs. 1 QRL) objektiv-rechtlich eine Rechtsänderung eingetreten ist. Für dieses Verständnis sprechen nicht zuletzt Gesichtspunkte des effektiven Rechtsschutzes. Da der Senat in seinem die Zulassung der Berufung ablehnenden Beschluss vom 31.05.2006 (Az.: A 10 S 25/06) die vom Verwaltungsgericht erwogene Vorwirkung bzw. vorzeitige Umsetzung des Richtlinienentwurfs in nationales Recht abgelehnt hat, war dem Kläger eine obergerichtliche Überprüfung des vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Verständnisses der Qualifikationsrichtlinie verwehrt. Der Kläger konnte daher im Asylerstverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, dass sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG gerade im Hinblick auf die Religionsausübungsfreiheit eine Erweiterung des Schutzbereichs ergeben hat.
31 
c) Der Kläger hat auch die maßgebliche Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG eingehalten, ohne dass es darauf ankommt, wann der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter positive Kenntnis von der Rechtsänderung erlangt hat. Da der Kläger seinen Asylfolgeantrag persönlich bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes bereits am 10.01.2007 gestellt hat, wird auch die denkbar kürzeste Frist (drei Monate ab Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie) gewahrt.
32 
Nach alledem liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor. Was die unanfechtbare negative Entscheidung des Erstverfahrens und die dort gewürdigten individuellen Vorfluchtgründe betrifft, ist jedoch eine erneute Überprüfung und Bewertung im weiteren Asylverfahren nicht eröffnet. Denn die Qualifikationsrichtlinie misst sich keine Geltung auch für Sachverhalte bei, über die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens oder bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist unanfechtbar entschieden wurde (vgl. näher Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris ). Im Folgenden ist deshalb lediglich zu überprüfen, ob bei Anwendung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie bzw. deren Umsetzung durch § 60 Abs. 1 AufenthG eine flüchtlingsrechtlich relevante individuelle oder gruppenbezogene Rückkehrgefährdung des Klägers besteht.
33 
2. Der Senat geht im Anschluss an sein Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert hat.
34 
2.1.a) Art. 10 QRL definiert in Anknüpfung an Art. 2 Buchst. c QRL die flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgründe. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere der Schutz der Religionsausübung gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. b QRL maßgeblich. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Die Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definiert, was unter dem Verfolgungsgrund der Religion zu verstehen ist, d. h. an welche religiösen Einstellungen oder Betätigungen eine Verfolgungshandlung anknüpfen muss, um flüchtlingsrechtlich beachtlich zu sein. Die Vorschrift gewährleistet dabei bereits nach ihrem Wortlaut für den Einzelnen einen sehr weitgehenden Schutz, wenn sie sowohl die Entscheidung, aus innerer Überzeugung religiös zu leben, wie auch die Entscheidung, aufgrund religiösen Desinteresses jede religiöse Betätigung zu unterlassen, schützt und dem Einzelnen zubilligt, dass er sich zu seiner religiösen Grundentscheidung auch nach außen bekennen darf, insbesondere auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen erfasst wird.
35 
Wie im Urteil vom 20.05.2008 (- A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, dürfte die Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinausgehen, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16 a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt wurde, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede steht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehört somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung sind nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst wird schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen (vgl. Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032.07 - a.a.O. sowie Bay. VGH, Urteil vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - InfAuslR 2008, 101).
36 
b) Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setzt darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt wird, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmacht (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL), wobei in Art. 9 Abs. 2 QRL beispielhaft verschiedene in Betracht zu ziehende Verfolgungshandlungen benannt werden. Erst an dieser Stelle erweist sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden kann, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitzt.
37 
Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt in jedem Falle dann vor, wenn der Gläubige so schwerwiegend an der Ausübung seines Glaubens gehindert wird, dass das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Kernbereich verletzt wird. Der Kern der Religionsfreiheit ist für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar und gehört damit zum menschenrechtlichen Mindeststandard. Er ist nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar (vgl. zu den Einzelheiten etwa BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <158 ff.>; sowie BVerwG, Urteile vom 20.01.2004 - 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 und vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - a.a.O.). Wird dieser Kernbereich verletzt, ist in jedem Fall eine schwerwiegende Rechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu bejahen und dementsprechend Flüchtlingsschutz zu gewähren.
38 
Der in Art. 9 Abs. 2 QRL entfaltete beispielhafte Katalog (insbesondere Buchst. b und d) möglicher Verfolgungshandlungen macht jedoch deutlich, dass eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nicht nur dann gegeben ist, wenn durch die Verfolgungshandlung - von Eingriffen in Leib oder Leben abgesehen - in die physische Bewegungsfreiheit eingegriffen wird, und dass der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der Freiheit nicht in diesem engen Sinne verstanden werden kann. Vielmehr können erhebliche Einschränkungen oder Verbote öffentlicher Glaubensbetätigung, die nach dem Verständnis der jeweiligen Religion oder dem - nicht notwendigerweise völlig identischen - glaubhaft dargelegten Verständnisses des einzelnen Flüchtlings von grundlegender Bedeutung sind, zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, sofern sie nicht in völkerrechtskonformer Ausübung der jeweiligen Schrankenregelungen erfolgen. Insbesondere kann hiernach den Betroffenen nicht angesonnen werden, diese zu unterlassen, um keine entsprechend vorgesehenen Sanktionen herauszufordern.
39 
2.2.a) Wie vom Senat bereits in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07- a.a.O.) näher dargestellt, hat sich unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie auch der Prognosemaßstab für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert. Nach Art. 4 Abs. 3 QRL ist - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung - eine strikt einzelfallbezogene Betrachtung vorzunehmen. Soweit nach der bisherigen Rechtsprechung für die Beurteilung der Frage, ob einem Flüchtling nach den Maßstäben des § 60 Abs. 1 AufenthG Schutz zu gewähren ist, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen waren, je nachdem, ob dieser seinen Heimatstaat auf der Flucht vor bereits eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <344 ff.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; st. Rspr.), trifft die Qualifikationsrichtlinie eine entsprechende Unterscheidung ebenfalls. So ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgericht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenziert zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen, zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
40 
b) Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdulla -). Der in dem Tatbestandsmerkmal „…tatsächlich Gefahr liefe…“ des Art. 2 Buchst. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330, RdNr. 125 ff. - Saadi -); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192).
41 
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden; die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 - a.a.O). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände der Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - a.a.O.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
42 
2.3. Nicht anders als im Falle des Asylgrundrechts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143) gilt auch hier, dass eine pauschale und rein formale Betrachtung aller Angehörigen einer Religionsgemeinschaft nicht sachgerecht sein kann und daher ausscheiden muss. Es leuchtet unmittelbar ein, dass nach Maßgabe der jeweiligen religiösen Bindungen des einzelnen Asylsuchenden und abhängig von den Verhältnissen im Herkunftsland die Betroffenheit in dem Menschenrecht und daher dessen Beeinträchtigung überhaupt, jedenfalls aber deren Schwere völlig unterschiedliches Gewicht haben können. Allerdings ist an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für eine Gruppenverfolgung auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 sowie Beschluss vom 02.02.2010 - 10 B 18.09 -, juris).
43 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines staatlichen Verfolgungspogroms - (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200).
44 
b) Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Bezug gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.). An diesem Grundkonzept hat sich nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG nichts geändert. Es stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, a.a.O.).
45 
3. Der Kläger kann sich bei Anwendung dieser Grundsätze für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung der Gruppe der Ahmadis (oder der Untergruppe der ihren Glauben aktiv ausübenden Ahmadis) berufen.
46 
3.1 Die Lage in Pakistan - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs des Klägers von Bedeutung ist - stellt sich auch im September 2010 im Wesentlichen so wie bereits im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) geschildert dar. Der Senat hat in diesem Urteil folgendes ausgeführt:
47 
„Nach Auswertung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel stellt sich vermutlich die Lage der Ahmadis in Pakistan für den Senat, wie folgt, dar:
48 
1. Zur Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya und ihrer Entstehung hat der HessVGH im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A – juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
49 
„.Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
50 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubens-gemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
51 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bayer. VGH am 22.01.1985, S. 7).
52 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
53 
Auch die aktuellen Zahlen sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern und diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.41). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 18.05.2007, S. 16) nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien.
54 
2. Die Lage der Ahmadis wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
55 
a) Der Islam wird in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist allerdings von Verfassungs wegen garantiert (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit bezeichnet und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
56 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren können und nur solche wählen können. Um ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.34 ff.). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16).
57 
b) Seit 1984 bzw.1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und diese gewissermaßen zur Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung in den Blick nehmen.
58 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 <146>):
59 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
60 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ameerui Mumineen', 'Khalifar-ul-Mimineem', 'Shaabi' oder 'Razi-Allah-Anho' bezeichnet oder anredet;
61 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ummul-Mumineen' bezeichnet oder anredet;
62 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als 'Ahle-bait' bezeichnet oder anredet;
63 
d) sein Gotteshaus als 'Masjid' bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
64 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als 'Azan' bezeichnet oder den 'Azan' so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
65 
Sec. 298 C lautet:
66 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich 'Ahmadis' oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
67 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
68 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
69 
Die genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch ausführlich HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 92 ff.; vgl. auch BVerfG, Kammerb. v. 21.12.1992 – 2 BvR 1263/92 - juris m.w.N.; BVerwG, U.v. 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; v. 25.01.1995 – 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere auch zur Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen diskriminierenden, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, U.v. 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960 – Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/ -, wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, „die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind“ (so BVerfG, B.v. 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts). Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden hier einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen nicht von ihnen ausgehen, sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 und 10; vgl. auch HessVGH, U.v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 34).
70 
Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung von sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, sollen etwa 2000 Strafverfahren gegen Ahmadis eingeleitet worden sein (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56; vgl. aber auch Ziffer 19.55 mit etwas niedrigeren Zahlen von ausdrücklich und im Einzelnen von der Glaubensgemeinschaft selbst dokumentierten Fällen); allein im Jahre 2006 soll es zu 21 Anklagen gegen Ahmadis gekommen sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 15, das im Übrigen ausdrücklich die steigende Tendenz als besorgniserregend qualifiziert, vgl. dort S. 5; vgl. auch Freedom House 2007, mit dem Hinweis auf eine Zunahme in den jüngsten Jahren; vgl. auch zu ähnlichen Zahlen Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.51; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 123 ff., wonach seit 1988 von 647 Fällen allein in den Medien berichtet worden sei). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären. Weitere Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz häufig nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt darauf beruht, dass sie zum Teil durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 9 f.). In der Regel werden die Betroffenen bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (U.S. Department of State, a.a.O., S. 10). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt (vgl. U.S. Department of State, a.a.O., S. 16 f.). Die Bestimmung der sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten (vgl. hierzu im Einzelnen HessVGH, U. v. 31.08.1999 – 10 UE 864/98.A – juris – Tz. 46 und 69).
71 
Was die Strafbestimmungen der sec. 298 B und C betrifft, sollen gegenwärtig etwa 1000 Verfahren anhängig sein (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; vgl. auch zu Zahlen der insgesamt durchgeführten Verfahren Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.55 f.), wobei hier die Angeklagten sich zumeist auf freiem Fuß befinden (vgl. zu den Hintergründen und Motiven für die Einleitung von Verfahren auch AA a.a.O., S. 17; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.57).
72 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen, in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn deren Gefühle durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 2).
73 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte. Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten d).
74 
c) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf den öffentlich gebetet wird (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.53). Hingegen wird es Ahmadis nicht generell unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies durch die Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann und wird (AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen. Allerdings wird die gemeinsame Ausübung des Glaubens immer wieder dadurch behindert, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird, während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können, sowie Gebetshäuser oder Versammlungsstätten immer wieder von Extremisten überfallen werden (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.).
75 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
76 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 4).
77 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten im weitesten Sinn sind verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus größere Verbreitung (U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 4).
78 
d) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligen Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen untätig zugesehen und diese geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Pakistan, Country Reports on Human Rights Practices, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah, jetzt Chenab Nagar (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006). Zu in den 70-er Jahre vorgefallenen pogromartigen Ausschreitungen vergleichbaren Aktionen ist es jedoch nicht mehr gekommen.
79 
e) Nur der Vollständigkeit halber soll noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden, der allerdings das vom Senat für richtig gehaltene Ergebnis nicht entscheidend beeinflusst, sondern allenfalls zur Abrundung des Bildes beiträgt und geeignet ist: Die frühere überdurchschnittliche Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen (vgl. AA Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.62; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 114; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report, 10.09.2007, S. 3 und 16 f.). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65).
80 
3. Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) im Januar 2005 in der Weise zusammenfassend charakterisiert wurde, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellt für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung jedenfalls im Sinne einer kumulierenden Betrachtung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL darstellen. Der Präsident von amnesty international Pakistan wird dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführt, dass es – anders als bei Christen – niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.)
81 
Von zentraler Bedeutung für diese Schlussfolgerung des Senats ist dabei das gegen die Ahmadis gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung möglich sind.
82 
Bei diesem Ausgangspunkt kann nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung rechtfertigen würden. Denn es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten Übergriffe extremistischer Gruppen es der gesunde Menschenverstand nahe legen, wenn nicht gar gebieten wird, alle öffentlichkeitswirksamen Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Diese seit nunmehr weit über 20 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und –bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die bereits eingangs festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Insoweit muss die absolute Zahl der Strafverfahren und ihr Verhältnis zu der Zahl der gläubigen Ahmadis daher isoliert betrachtet notwendigerweise ein unzutreffendes Bild abgeben. Würden die gläubigen Ahmadis ihr selbstverständliches Menschenrecht aktiv wahrnehmen, so müssten sie bei realistischer Betrachtungsweise mit erheblichen und nach Art und Zahl zunehmenden Reaktionen von staatlicher Seite bzw. auch von Dritten rechnen. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für die Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, dass das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks ist.“
83 
3.2. Auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung beansprucht die vom Senat in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) dargestellte Einschätzung der Lage weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Nach aktueller Erkenntnislage kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Risiko für einfache Ahmadi, mit einem Strafverfahren nach dem Blasphemieparagrafen sec. 295c des pakistanischen Strafgesetzbuches oder den sonstigen sogenannten „Ahmadi-Paragrafen“ überzogen zu werden, signifikant erhöht hätte. Die vom Senat in dem genannten Urteil zugrunde gelegten Zahlenverhältnisse (vgl. insbesondere Randziffer 102 bis 104 im UA bei juris) treffen nach wie vor zu; allenfalls ist eine leichte Besserung der Verhältnisse eingetreten. So führt das Auswärtige Amt im seinem Lagebericht vom 22.10.2008 (Stand: September 2008) aus, dass im Jahre 2007 gegen 23 Ahmadis Anklage in Blasphemiefällen erhoben worden sei; die erhoffte Verbesserung der Lage sei deshalb nicht eingetreten. Die Zahl der Neufälle insgesamt stagniere bei ca. 50 pro Jahr und steige nicht weiter an. In seinem aktuellen Lagebericht vom 17.03.2010 (Stand: März 2010) geht das Auswärtige Amt für den Beurteilungszeitraum 2008 davon aus, dass gegen 14 Ahmadis wegen Blasphemie Anklage erhoben worden sei, mithin ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr beobachtet werden könne.
84 
Insgesamt gesehen steht diese zahlenmäßige Entwicklung mit den sonstigen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln in Einklang, auch wenn darin teilweise von leicht abweichenden Zahlen ausgegangen wird. So geht etwa das U.S. Department of State in seinem International Religious Freedom Report 2009 (Stand: 26. Oktober 2009) davon aus, dass nach eigenen Angaben von Organisationen der Ahmadiyya in Rabwah gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen Verstößen gegen die Religionsgesetze Strafverfahren eingeleitet worden seien, darunter in 18 Fällen wegen Blasphemievorwürfen und in 68 Fällen wegen Verstoßes gegen die sog. „Ahmadi-Gesetze“. Zu ähnlichen Zahlen gelangte das Home Office in seinem Country of Origin Report Pakistan vom 18.01.2010. Dort wird unter Berufung auf Ahmadi-Quellen davon ausgegangen, dass von Juni 2008 bis April 2009 gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen religiöser Gründe Strafverfahren eingeleitet worden seien, wobei eine genaue Unterscheidung der Vorwürfe und der Verfahrensstadien nicht erfolgt (vgl. Ziffer 19.63 des Reports). Ferner wird darin auch auf den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers angeführten Vorfall vom 8. Juni 2008 verwiesen, wonach ein FIR (First Information Report) gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah erstellt worden sei; dieser Vorfall wird vom U.S. Department of State in seinem Human Rights Report Pakistan 2009 (11. März 2010) bestätigt (S. 15). Entgegen der Meinung des Klägers kann aus letztgenanntem Vorfall jedoch nicht geschlossen werden, dass die vom Auswärtigen Amt wiedergegebenen Zahlen nicht mehr zutreffend sind. Wie sich insbesondere dem Human Rights Report Pakistan des U.S. Departement of State (S. 15) entnehmen lässt, hat das mit dem genannten FIR eingeleitete Verfahren bis zum dort genannten Zeitpunkt noch keinen Fortgang genommen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass dieser pauschale Vorwurf gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah Anlass für weitergehende strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen gegen einzelne Ahmadis bietet. Für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung können deshalb nur die Fälle berücksichtigt werden, in denen es tatsächlich zu individuellen Ermittlungsverfahren oder gar Anklagen gekommen ist. Neueres oder umfassenderes Zahlenmaterial, das eine abweichende Gefährdungsprognose ermöglichen könnte, liegt dem Senat nicht vor.
85 
3.3. Dafür, dass generell jeder pakistanische Staatsangehörige allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Verfolgung zu gegenwärtigen hätte, bestehen nach den obigen Ausführungen und den dort verwerteten Erkenntnismitteln keine hinreichenden Anhaltspunkte. Soweit eine innere und verpflichtende Verbundenheit nicht festgestellt werden kann, sind die Betreffenden, selbst wenn man die vorgenannten rechtlichen und tatsächlichen Vorgaben zur Auslegung der Qualifikationsrichtlinie und deren Anwendung auf die Lage der Ahmadis in Pakistan zu ihren Gunsten unterstellt, nicht in dem erforderlichen Maße von den im Einzelnen festgestellten Verfolgungshandlungen betroffen. Insbesondere stellt es nach Überzeugung des Senats keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar, wenn sich dieser Personenkreis in der Öffentlichkeit nicht als Muslim bezeichnen kann und darf. Die vom Senat verwerteten aktuellen Erkenntnismittel zeichnen, vor allem was den hier in erster Linie in den Blick zu nehmenden Aspekt der Verfolgungsdichte betrifft, kein grundlegend anderes Bild als dies in der Vergangenheit der Fall war (vgl. zu weiteren Nachweisen aus der auch älteren Rechtsprechung Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 -, a.a.O.). Nachdem nach wie vor die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya in Pakistan selbst davon ausgeht, dass sie insgesamt etwa 4 Millionen Angehörige zählt, darunter etwa 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder (vgl. Lagebericht des Antragsteller vom 17.03.2010, S. 13), sieht der Senat gegenwärtig keine ausreichende Grundlage dafür, dass die aktuelle Zahl in einem so signifikanten Maße darunter liegen könnte, dass eine vollständige Neubewertung des Bedrohungsszenarios erfolgen müsste.
86 
Dies gilt selbst dann, wenn in der Betrachtung allein die Zahl der aktiv ihren Glauben ausübenden Ahmadis, also die oben genannten 500.000 bis 600.000 Mitglieder, zugrunde gelegt wird. Auch bei dieser Untergruppe ergibt sich nicht die hinreichende Verfolgungsdichte, die eine Gruppenverfolgung nach dem oben Gesagten voraussetzt. Diese Betrachtung wird, soweit ersichtlich, im Übrigen von der sonstigen oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geteilt (vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 13.11.2008 - A 1 B 550/07 -, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29.06.2005 - 2 L 208/01 -, juris).
87 
4. Der Senat konnte, insbesondere aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Falle einer Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre.
88 
a) Der Senat vermochte dabei die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderte Ausübung seiner Religion in Pakistan und die von ihm in der Heimatgemeinde angeblich wahrgenommenen Funktionen weitgehend nicht zu glauben. Seine Angaben hierzu wichen nicht nur in teils erheblichem Maße von seinen Schilderungen im Asylerstverfahren ab, sie waren vor allem auch mit der vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2005 nicht in Einklang zu bringen. So gab der Kläger etwa in der mündlichen Verhandlung an, er habe in seiner Heimatgemeinde die Funktion eines „Saik“ inne gehabt, neben ihm habe nur noch eine weitere Person dieses Amt ausgeübt. Seine Aufgabe habe darin bestanden, sämtliche Mitglieder der Ahmadyyia-Gemeinde im Heimatdorf fünf Mal täglich von den Gebetszeiten zu unterrichten und dazu zu bewegen, in die Moschee zu kommen. Dabei ist es für den Senat bereits schwer nachzuvollziehen, wie der Kläger angesichts der Größe seines Heimatortes mit ca. 30.000 Einwohnern fünf Mal am Tag im Stadtgebiet verstreut wohnende 70 bis 80 Familien aufgesucht haben will. Entscheidend für die fehlende Glaubhaftigkeit ist jedoch, dass diese Angaben nicht mit der in sich stimmigen, auf den Erklärungen zahlreicher Vertrauenspersonen beruhenden Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.06.2006 in Einklag stehen, an deren Richtigkeit der Senat keine Zweifel hat. Zwar bestätigte das Auswärtige Amt die Angaben des Klägers, wonach er die Funktion eines Saiks in seinem Heimatdorf Chak Nr. 18 inne hatte; er sei jedoch lediglich einer von acht bis zehn Saiks gewesen. Auch ist die Funktion eines Saik nach Auskunft des Auswärtigen Amtes eher mit der eines freiwilligen Gemeindehelfers zu vergleichen, der die Jugendlichen näher an die Religion heranbringen und sie auf ihre Pflichten aufmerksam machen soll. Dieser Widerspruch konnte auch durch entsprechende Vorhalte an den Kläger nicht aufgeklärt werden. Vielmehr relativierte der Kläger seine Angaben dann teilweise dahingehend, dass das Amt eines Saik durchaus erzieherische Elemente habe, nämlich durch die Motivation der Jugendlichen zur Teilnahme am Gebet. Ferner blieben die Einlassungen des Klägers in der mündlichen Berufungsverhandlung erheblich hinter den Schilderungen seiner in der Heimatgemeinde wahrgenommenen Ämter im Asylerstverfahren zurück, etwa was die angebliche stellvertretende Leitungsfunktion betrifft.
89 
b) Was die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angeht, so waren diese zumindest überwiegend glaubhaft. Der Senat glaubt dem Kläger uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2001 in der zuständigen Gemeinde der Ahmadis in Balingen betätigt, regelmäßig zum Gebet in die dortige Moschee geht und verschiedene Funktionen ausübt. So schilderte der Kläger etwa überzeugend und glaubhaft, wie er für die Gemeinde Fahrdienste leistet, an Informationsveranstaltungen mitwirkt und sich in sonstiger Weise vielfältig sozial und kulturell für seine Gemeinde engagiert. Auffällig war in diesem Zusammenhang jedoch, dass der Kläger spontan von sich aus vor allem kulturelle und soziale Aktivitäten schilderte, die mit dem Kernbereich der Glaubensausübung nur wenig zu tun haben. Vor allem entfaltete der Kläger nach seinen eigenen Angaben keine nennenswerten missionarischen Aktivitäten, obwohl es eine zentrale Intention seiner Glaubensgemeinschaft ist, eigene Landsleute vom Glauben zu überzeugen. Erst auf Nachfrage gab der Kläger in diesem Zusammenhang an, er unterhalte sich mit anderen Moslems in seiner Unterkunft bzw. am Arbeitsplatz genauso wie mit Christen über Glaubensinhalte. Diese Gespräche waren nach seinen eigenen Angaben jedoch von dem Bemühen geprägt, sich für Verständigung und ein gutes Zusammenleben zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften einzusetzen bzw. bestehende Missverständnisse und Animositäten zwischen den Glaubensgemeinschaften auszuräumen. Aktive Missionierungsbemühungen, also Versuche, Andersgläubige von der Richtigkeit des eigenen Glaubens zu überzeugen, wurden von dem Kläger auch auf Nachfrage nicht geschildert. Dies wurde im Übrigen auch durch die informatorische Befragung der Lebensgefährtin des Klägers verdeutlicht, wonach er ihr gegenüber ebenfalls keinerlei Missionierungsbemühungen entfalte.
90 
Schließlich waren die Angaben des Klägers zu den maßgeblichen Glaubensinhalten und deren Bedeutung für sein Leben relativ undifferenziert, wenn er etwa auf die Frage nach den wesentlichen Unterschieden zu dem Glauben der Mehrheit der Muslime lediglich ausführen konnte, dass die Ahmadis glaubten, der Messias sei schon gekommen und die anderen dies nicht glauben würden. Auch auf Nachfrage konnte er lediglich angeben, dass die Ahmadis an ihre Kalifen, die anderen jedoch nicht daran glaubten. Ebenso vage blieben die Angaben des Klägers, wie er seinen Glauben bei einer unterstellten Rückkehr nach Pakistan auszuüben gedenke.
91 
Nach alledem vermochte der Senat nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass der Kläger in einer wirklich engen und verpflichtenden Beziehung zum Glauben der Ahmadis steht und es insbesondere als für sich verpflichtend ansieht, in irgendeiner Weise auch für diesen Glauben öffentlich einzutreten.
92 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.
93 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein gesetzlicher Zulassungsgrund gemäß § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.

Die Klägerin trägt 1/3 und die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die nach ihren Angaben am ... in ... (Kreis Sangri, Bezirk Lhoka) in Tibet / Volksrepublik China geborene und zuletzt wohnhafte Klägerin ist nach ihrem Vorbringen chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit. Wie sie weiter angab, reiste sie am 27.11.2008 mit dem Flugzeug von Nepal und auf weiter ungeklärte Weise in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15.12.2008 stellte sie einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hörte sie am 12.02.2009 zu ihrem Begehren an. Sie gab an, sie habe einen älteren Bruder gehabt, der am 16.06.2008 von chinesischen Polizisten getötet worden sei. Der Bruder habe sich an diesem Tage bei ihr versteckt, nachdem er erzählt habe, die Polizei suche ihn, weil er am 10.03.2008 in Lhasa gegen China demonstriert habe. Als sie am 18.06.2008 zu ihrem Zelt zurückgekehrt sei, sei ihr Bruder verschwunden gewesen. Am 30.06.2008 habe man seine Leiche gefunden. Am 05.07.2008 seien drei Polizisten gekommen. Sie hätten sie ins Auto gezerrt und vergewaltigt. Sie hätten gesagt, ihr Bruder sei ein Reaktionär und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“. Am 09. und 15.07.2008 sei sie wieder von den Polizisten vergewaltigt worden. Daraufhin sei sie zu ihrem Onkel gegangen, der ihr bei der Ausreise geholfen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Mit Bescheid vom 21.04.2009 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Es drohte der Klägerin für den Fall der Nichtbeachtung einer einmonatigen Ausreisefrist die Abschiebung in die Volksrepublik China oder einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, „insbesondere nach Nepal“, an (Nr. 4).
Mit ihrer am 07.05.2009 vor dem Verwaltungsgericht Freiburg - A 6 K 739/09 - erhobenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten begehrt, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25.02.2010 die Beklagte verpflichtet, zugunsten der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot für China und Nepal gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG besteht. Die Nummern 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 hat es aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung der Klageabweisung hat es unter anderem ausgeführt, mit Gefahren, die eine politische Verfolgung begründeten, müsse die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Aus solchen Gründen sei sie aus ihrer Heimat auch nicht ausgereist. Zwar trage die Klägerin vor, in ihrer Heimat noch immer wegen der politischen Aktivitäten ihres Bruders gefährdet zu sein. Auch könne ihr nicht widerlegt werden, dass sie tatsächlich aus Tibet stamme. Ihr Bruder sei jedoch schon seit geraumer Zeit tot; eine weitere Verfolgung von Familienangehörigen erscheine daher unwahrscheinlich und unglaubhaft. Dazu sei auch kein ausreichend schwerwiegendes politisches Gewicht ihres Bruders im tibetischen Widerstand dargetan worden. Die Klägerin habe ihrem Bruder auch nicht zugearbeitet oder ihn nachgeahmt. Die Vergewaltigung der Klägerin erscheine - solle ihrem Vorbringen insoweit überhaupt gefolgt werden - als Übergriff der Polizisten im Amt. Das Auffinden ihres Bruders in ihrem Zelt möge für die Polizisten lediglich eine Gelegenheit gewesen sein, die damit „angreifbar“ gewordene Klägerin gefügig zu machen. Das zeige auch die Wiederholung der Taten am 09.07. und 15.07.2008, die nach dem gleichen Muster abgelaufen seien, obwohl der unmittelbare „politische“ Anlass bereits entfallen gewesen sei. Damit erscheine die Klägerin nicht wegen der Ereignisse in ihrer Heimat aus politischen Gründen gefährdet. Gegen sie liege nichts vor. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe auch nicht wegen nachträglich eingetretener Gefahren, die ihr bei einer Rückkehr nach China drohen könnten, zu erfolgen. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie illegal ausgereist sei. Für eine illegale Ausreise habe kein Anlass bestanden. Sie habe über Zentralchina ausreisen können. Soweit die Klägerin sich exilpolitisch betätigt habe, könne sie sich darauf nicht berufen, weil es sich um einen selbstgeschaffenen Nachfluchtgrund handele. Abgesehen davon sei die Gefährdung wegen der exilpolitischen Betätigung dadurch wesentlich gemindert, dass ihr keine politische „Karriere“ in der Heimat vorausgegangen sei. Auch dürfte die Klägerin nicht sonderlich hervorgetreten sein. Unabhängig von der „nicht die Schwelle asylerheblicher Relevanz erreichenden“ Bedrängnis durch Polizisten bestehe zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot für China und Nepal im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Gericht habe den Eindruck gewonnen, dass „die dargestellten Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen wahren Kern enthalten“ hätten. Daran ändere es nichts, dass sie der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben dargestellt worden seien. Eine Abschiebung sei auch nach Nepal nicht zulässig.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat die Berufung gegen das Urteil mit Beschluss vom 07.04.2011 - A 8 S 780/10 - zugelassen. In ihrem Schriftsatz vom 27.04.2010 hat die Klägerin ihre Berufung begründet. Sie ist der Ansicht, ihr sei internationaler Schutz gemäß Art. 13 RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren und begründet dies mit einer Vorverfolgung in Tibet sowie mit Nachfluchtgründen, insbesondere ihrer exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - zu ändern, soweit es die Klage abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.
10 
Die Beklagte beantragt,
11 
die Berufung zurückzuweisen.
12 
Sie ist der Auffassung, eine illegale Ausreise, ein längerfristiger Auslandsverbleib und ein als exiloppositionell eingestuftes Auftreten im Bundesgebiet begründeten bei tibetischen Volkszugehörigen aus China weder allgemein noch nach den Einzelfallgegebenheiten eine relevante Verfolgungsgefahr. Die Frage einer Gefährdung in Anschluss an eine illegale Ausreise stelle sich im Übrigen schon nicht, weil eine illegale Ausreise nicht glaubhaft sei. Die exilpolitischen Bemühungen seien nicht in nötiger Weise exponiert. Eine Gefahr der politischen Verfolgung sei auch mit Blick auf die Erlebnisse, die zur Ausreise geführt haben sollten, nicht veranlasst. Es bestehe nicht die Überzeugung von der Richtigkeit der Schilderungen. Davon unabhängig werde die Bewertung des Verwaltungsgerichts geteilt, dass keine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale der Klägerin feststellbar sei. Ferner müsste eine Vorschädigungswiederholung mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren sein. Daran sei zu zweifeln. Es spreche Stichhaltiges gegen die Wiederholungsträchtigkeit gerade einer solchen Verfolgung, nachdem die Lage im Vorfeld der Proteste gegen die Olympischen Spiele von Peking gerade in der Provinz Tibet angespannt und das Geschehen durch das Handeln des Bruders situationsbedingt gewesen sei.
13 
Die Klägerin ist im Termin zur mündlichen Verhandlung zu ihrem Schutzbegehren angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
14 
Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25. August 2004 - A 18 K 11963/04 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten, die dieser auf sich behält.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der Kläger wurde am ... in B.../Nord-Kasachstan geboren. Er ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volks- und moslemischer Glaubenszugehörigkeit. Nach seinen Angaben hielt sich die Kläger zuletzt in Grosny auf und reiste zusammen mit seinen Söhnen D... (geb. am ...) und M... K... (geb. am ...) am 20.10.2003 auf dem Landweg nach Deutschland ein. Er stellte am 21.10.2003 einen Asylantrag.
Der Kläger ist verheiratet mit P... H..., die am 31.03.1968 geboren wurde. Sie war zusammen mit zwei Kindern (geb. am ...) bereits im Jahr 2000 aus Grosny kommend nach Deutschland ausgereist. Die Asylanträge der Ehefrau und der Kinder des Klägers sind seit 2004 unanfechtbar abgelehnt.
Der Kläger wurde am 30.10.2003 beim Bundesamt zu seinen Asylgründen angehört. Zusammengefasst erklärte der Kläger, im Februar 1996 sei er mit seinem Bruder festgenommen worden, danach nicht mehr. Sein Bruder M... sei im März 1996 verstorben. Seine Brüder S... und R... seien im August 1996 spurlos verschwunden. Er habe die Fachschule des Innenministeriums 1988 in Charkow mit dem Diplom als Techniker für Spezialtechnik abgeschlossen. Er sei von 1994 bis 1999 beim Innenministerium in Grosny beschäftigt gewesen. Er habe für die tschetschenische Regierung bei Dudajew gearbeitet. Es seien Kollegen verschwunden. Dann habe er begriffen, dass alle Angehörigen des Innenministeriums beseitigt werden sollten. Von wem er verfolgt worden sei, habe er nicht gewusst. Aber dies sei zielgerichtet gemacht worden. Seine Familie habe er im Juli 2000 zuletzt gesehen. Auf Nachfrage erklärte er, die Verfolgung komme aus den Kreisen des FSB, der nationalen Sicherheit. Er habe Aufklärung geleistet. Man habe ihn zum Major ernannt, aber den Dienstausweis habe er schon nicht mehr umtauschen können. Von 1999 bis zu seiner Ausreise 2003 habe er sich in Grosny versteckt.
Wegen seiner weiteren Angaben wird auf die darüber gefertigte Niederschrift verwiesen.
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 11.05.2004 den Asylantrag des Klägers ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und § 53 AuslG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise die Abschiebung in die Russische Föderation an.
Die vom Kläger beim Verwaltungsgericht Stuttgart am 09.06.2004 erhobene Klage hat dieses nach Anhörung des Klägers und der Vernehmung seiner Ehefrau als Zeugin in der mündlichen Verhandlung mit Urteil vom 25.08.2004 - A 18 K 11963/04 - abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal seien nicht glaubhaft. Zwar sei dem Kläger eine Rückkehr nach Tschetschenien nicht zumutbar. Ihm stehe aber in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
Der Senat hat mit Beschluss vom 01.02.2005 - A 3 S 1228/04 - die Berufung gegen das Verwaltungsgericht Stuttgart zugelassen, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) betrifft. Der Beschluss wurde dem Kläger am 07.02.2005 zugestellt.
Der Kläger hat die Berufung am 07.03.2005 begründet. Er beantragt,
10 
1. das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 25.08.2004 - A 18 K 11963/04 - insoweit zu ändern, als es die Klage gegen Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11.05.2004 abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11.05.2004 zu verpflichten festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen;
11 
2. hilfsweise festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG vorliegen;
12 
3. höchsthilfsweise festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG vorliegen;
13 
4. hilfsweise Beweis entsprechend den in den als Anlage zur Niederschrift genommenen Schriftsätzen des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012 aufgeführten vier Beweisanträgen zu erheben
14 
Zur Begründung trägt der Kläger zusammengefasst vor, er habe mehrere Ausbildungen absolviert. Zunächst habe er die Fachschule des Innenministeriums in Charkow und sodann ein Hochschulstudium (Philologie) absolviert. Daneben habe er sich zum Fahrlehrer ausbilden lassen und eine Fahrschule in Grosny betrieben. Bis Mai 1999 habe er im tschetschenischen Innenministerium als „Kurator“ im Bereich Aufsicht über Feuerwehren und Gefängnisse gearbeitet. Er habe dann im ersten Tschetschenienkrieg auf Seiten der tschetschenischen Truppen in einer Einheit gekämpft, die für Aufklärungsarbeit zuständig gewesen sei. Nach dem Ende dieses Krieges sei er von seinem Dienstherrn mit Aufklärungsarbeiten betraut worden. Spätestens seit Frühjahr 1999 habe er Anlass für die Befürchtung gehabt, dass er als Angehöriger des tschetschenischen Innenministeriums liquidiert werden solle. Vorausgegangen seien Säuberungsaktionen, die mit „Verschwinden“ einiger Kollegen aus dem tschetschenischen Innenministerium einhergegangen seien. In einem Fall habe er erfahren, dass die Leiche des Betreffenden in einem Waldstück mit Folterspuren aufgefunden worden sei. Er habe diese Information u.a. von den Familienangehörigen der verschwundenen Kollegen erhalten. Er habe deshalb allen Anlass gehabt für die Annahme, dass der russische Geheimdienst FSB hinter diesen professionellen Säuberungsaktionen stehe - ggf. unterstützt durch islamistische „Wahabisten“ -. er habe deshalb annehmen müssen, dass auch sein Leben in Gefahr sei, zumal er erfahren habe, dass die verschwundenen Kollegen nicht etwa mit Sonderaufgaben betraut worden seien. Er sei deshalb im Frühjahr 1999 zunächst untergetaucht. Seine Familie habe er zu Verwandten gebracht, bis er deren Ausreise im Sommer 2000 habe organisieren können. Weder in Tschetschenien noch in der Russischen Föderation bestehe ein interner Schutz. Die russischen Behörden wüssten über sein Asylverfahren und über die Asylantragstellung sowie über den Aufenthalt seiner Familie in Deutschland Bescheid. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass das Regierungspräsidium Stuttgart beim Konsul des russischen Generalkonsulats über die Umstände einer Passbeschaffung für die gesamte Familie nachgefragt habe. Seine damalige Stellung in Tschetschenien und die Tatsache der Asylantragstellung und des jahrelangen Auslandsaufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland seien für die russischen Behörden Grund genug, ihn bei einer Rückkehr zu verfolgen. Außerdem leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung und deshalb würde bei einer Rückkehr ein sog. Wiederholungstrauma die derzeitige psychische Erkrankung akut verschlimmern.
15 
Die Beklagte beantragt,
16 
die Berufung zurückzuweisen.
17 
Zur Begründung weist er daraufhin, dass die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal nicht überzeugten; im Übrigen stehe dem Kläger jedenfalls in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
18 
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat keinen Antrag gestellt. Zusammengefasst hat er ausgeführt, Tschetschenen seien in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens von keiner Verfolgung betroffen.
19 
Mit Beschluss vom 01.08.2007 - A 3 S 104/05 - hat der Senat auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Berufungsverfahrens angeordnet. Die Wiederanrufung des Verfahrens erfolgte durch das Bundesamt am 20.08.2009.
20 
In der mündlichen Verhandlung ist der Kläger zu den Gründen seines Asylantrags angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die darüber gefertigte Niederschrift verwiesen.
21 
Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten, auch soweit sie P... H... betreffen, und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Stuttgart A 18 K 11963/04 und A 18 12023/03 (P... H... betreffend) und des Senats A 3 S 625/04 (gleichfalls P... H... betreffend) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
22 
Der Senat kann trotz Nichterscheinens des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten entscheiden, da dieser mit der Ladung nach § 102 Abs. 2 VwGO auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
23 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung des Klägers ist unbegründet.
24 
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist - entgegen der Zulassung der Berufung durch den Senat nicht nur der Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Russischen Föderation und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974), sondern auch sein hilfsweise geltend gemachter Anspruch auf Feststellung unionsrechtlicher und nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes von 2007 bilden die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 zum einen und die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG 2004 zum anderen jeweils eigenständige Streitgegenstände, wobei die unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbote vorrangig vor dem nationalen Abschiebungsverbot u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG 2004 zu prüfen sind. Damit sind die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 in dem Verfahren angewachsen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Beschluss vom 10.10.2011 - 10 B 24/11-, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244). Für die nationalen Abschiebungsverbote gilt nichts anderes.
25 
Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; I.). In der Person des Klägers liegen ferner weder unionsrechtliche (II.) noch nationalrechtliche (III.) Abschiebungsverbote vor. Die Abschiebungsandrohung ist gleichfalls rechtlich nicht zu beanstanden (IV.).
I.
26 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation nicht vorliegen.
27 
Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, da nach Art. 40 RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
28 
Nach Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
29 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG).
30 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181-, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
31 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377; Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla, NVwZ 2010, 505). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982).
32 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377 = NVwZ 2011, 51). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris).
33 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a) beschrieben Weise betroffen ist (Buchst. b)). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
34 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
35 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237).
36 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, juris; Urteil vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 -, juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 -, juris).
37 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20.08 -, juris).
38 
1. In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben war der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise keiner anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt, weshalb ihm insoweit die Privilegierung aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zu Gute kommt.
39 
Das Vorbringen des Klägers zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal ist wegen erheblicher Widersprüchen, insbesondere wegen deutlich gesteigerten Vorbringens sowie wegen stereotyper Angaben insgesamt nicht glaubhaft. Beim Bundesamt hat der Kläger vorgetragen, er sei beim Innenministerium tätig gewesen und zwar in einer Sonderabteilung. Sie hätten operative Aufgaben durchgeführt. Sie hätten Informationen über die Bewegung der Truppen, ihre Bewaffnung und ihre Zahl gesammelt. Er sei zum Major befördert worden. Substantiierte Angaben zu seiner Tätigkeit im Innenministerium hat der Kläger beim Bundesamt nicht gemacht. Bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart hat er erstmals angegeben, nach dem Kriegsende sei er wieder beim Innenministerium als Aufsicht über Feuerwehr und Gefängnisse eingesetzt worden. Daneben sei er noch in einer Aufklärungstruppe tätig gewesen. Seine Gruppe sei u.a. bei den Kämpfen gegen Wahabiten beteiligt gewesen. Dieses aber hat der Kläger beim Bundesamt nicht erwähnt. Auf die Frage beim Bundesamt, von wem er denn verfolgt worden sei, hat der Kläger geantwortet, wenn er das gewusst hätte. Aber das werde zielgerichtet gemacht. Auf Nachfrage hat er angegeben, er glaube, dass dies aus den Kreisen des FSB, der Nationalen Sicherheit komme. Demgegenüber hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart erklärt, er vermute, dass es die Wahabiten gewesen seien, die sie verfolgt hätten. Nicht nachvollziehbar ist auch die Aussage des Klägers beim Bundesamt, er habe von 1994 bis 1999 für die tschetschenische Regierung bei Dudajew gearbeitet. Denn Dschochar Mussajewitsch Dudajew starb bereits im April 1996. Sein Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde 1997 Aslan Maschadow. Zu seinen Aufgaben beim Innenministerium hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine weiteren substantiierten Angaben gemacht. Völlig widersprüchlich sind auch die Angaben des Klägers zu seiner Ausbildung. Auf entsprechende Frage beim Bundesamt hat der Kläger angegeben, er habe die Fachschule des Innenministeriums 1988 in Charkov abgeschlossen und zwar mit einem Diplom als Techniker für Spezialtechnik. Auf Nachfrage hat er erklärt, es habe sich um Waffen- und Fahrzeugtechnik, spezielle Technik für das Innenministerium gehandelt. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, er habe in Grosny im Jahre 1994 mit dem Hochschulabschluss als Philologe abgeschlossen. Über seine Ausbildung als Fahrlehrer und das Betreiben einer Fahrschule in Grosny hat der Kläger weder beim Bundesamt noch beim Verwaltungsgericht berichtet. Das Vorbringen des Klägers steht ferner auch im Widerspruch zu den Angaben seiner Ehefrau. Diese hat bereits bei ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 25.08.2000 im Rahmen ihres eigenen Asylverfahrens erklärt, die Russen hätten ihren Ehemann im Winter 1999/2000 bei ihr gesucht. Bei ihrer Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung hat sie dies bestätigt und ergänzt, die Männer hätten ihr gesagt, sie seien von der Rayon-Abteilung für Inneres, also der Miliz. Sie habe ihrem Mann nichts davon erzählt. Später hat sie dann ausgeführt, Soldaten seien mit einem Panzer gekommen und hätten ihr Haus, in dem inzwischen eine Nachbarin gewohnt habe, in die Luft gejagt. Das habe sie ihrem Mann erzählt, als sie ihn das letzte Mal gesehen habe. Dies hat der Kläger indessen weder beim Bundesamt noch bei seiner gerichtlichen Anhörung beim Verwaltungsgericht Stuttgart noch bei seiner Anhörung vor dem Senat erwähnt. Auch der Senat hält es nicht für glaubhaft, dass die Ehefrau ihrem Mann nichts davon erzählt hätte, wenn russische Milizionäre nach ihm gesucht hätten. Widersprüchlich sind weiterhin die Angaben zu den Umständen der Flucht der Ehefrau des Klägers. Der Kläger hat beim Bundesamt erklärt, die Ausreise seiner Frau hätten seine Schwiegereltern organisiert und auch finanziert. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, zwei Freunde von ihm hätten auf seine Bitte das Ganze über weitere Bekannte organisiert. Bereits diese dargestellten Widersprüche zeigen die Unglaubhaftigkeit der Angaben des Klägers. Diese wird durch seine weiteren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Hier hat der Kläger nunmehr erstmals angegeben, er habe, während er sich in der Zeit von 1999 bis 2003 versteckt bzw. im Untergrund aufgehalten habe, mit Menschenrechtsorganisationen zusammengearbeitet. Er habe mit seinem Freund R... Meetings organisiert und an Demonstrationen teilgenommen, allerdings nicht offiziell. Er habe Fälle von Misshandlungen und Angriffe an R... weitergegeben, die dieser dann wiederum an I... E... weitergeleitet habe. Auf Nachfrage gab der Kläger dann an, an Demonstrationen habe er nicht teilgenommen. Er habe aus dem Untergrund Informationen gesammelt. I... E... habe er erst im August 2003 kennengelernt. Aber auch dieses Vorbringen bleibt, abgesehen davon, dass der Kläger diese für ihn wichtige Tätigkeit erstmals vor dem Senat schildert, im Ungefähren. Dem Kläger war es nicht möglich anzugeben, für welche Menschenrechtsorganisationen er angeblich Informationen gesammelt habe, obwohl I... E... - wie der Kläger weiter behauptet hat - Vorsitzender und Leiter der Organisation gewesen sei. Auf Frage, wer ihn verfolgt habe, gibt der Kläger nun wieder an, er sei von russischen Streitkräften verfolgt worden, nicht so sehr von Wahabiten. Eine Erklärung für die Behauptung, es sei herausgekommen, dass er Informationen an I... E... geliefert habe, konnte der Kläger nicht geben. Aufgrund all dessen konnte sich der Senat nicht von der Wahrheit der Angaben des Klägers überzeugen.
40 
Vor diesem Hintergrund war dem hilfsweise gestellten Antrag Ziffer 4 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger im Rang eines Majors im Innenministerium in Grosny gearbeitet habe, dass er festgenommen, gefoltert, misshandelt und erniedrigt worden sei, dass man ihn getötet hätte, wenn er nicht geflohen wäre, I... E... als Zeuge zu vernehmen, nicht nachzugehen. Darüber hinaus hat der Kläger angegeben, er habe I... E... erst im August 2003 persönlich kennengelernt, wobei das Treffen ca. 10 bis 30 Minuten gedauert habe. Aus eigener Kenntnis könnte I... E... daher zu den unter Beweis gestellten Umständen, soweit es sich überhaupt um Tatsachen und nicht nur um Mutmaßungen - wie z.B. hinsichtlich der Tötung des Klägers - handelt, keine Angaben machen. Im Übrigen ist das Vorbringen des Klägers zu I... E... ebenfalls widersprüchlich. Vor dem Senat hat der Kläger angegeben, I... E... habe keinen regulären Beruf gehabt. Zur Begründung des hilfsweise gestellten Beweisantrags hat der Kläger aber angegeben, der Zeuge sei früheres Mitglied der tschetschenischen Regierung gewesen und kenne ihn aus früheren Zeiten. Er arbeite jetzt für amnesty international. Demgegenüber hat der Kläger - wie oben bereits ausgeführt - keine Angaben dazu machen können, für welche Menschenrechtsorganisationen er und I... E... gearbeitet habe.
41 
2. Ob der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise einer - regionalen - Gruppenverfolgung in Tschetschenien ausgesetzt war und noch ist (letzteres verneinend OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20) bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn dem Kläger steht jedenfalls in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens eine inländische Fluchtalternative nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG und damit ein interner Schutz im Sinne des Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung. Es ist ihm zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, an dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
42 
Der Senat geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die Bewohner Tschetscheniens im Zeitpunkt seiner Ausreise einer regionalen Gruppenverfolgung ausgesetzt waren. Ob dies tatsächlich der Fall war - ob mithin tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen (wegen ihres Volkstums oder ihrer politischen Überzeugung) in der erforderlichen Verfolgungsdichte und -intensität von staatlichen russischen [oder der tschetschenischen Republik zuzuordnenden] Stellen verfolgt wurden - braucht demgemäß nicht entschieden zu werden. Die Gefahr einer künftigen Verfolgung des Klägers ist deshalb zwar unter Zubilligung der sich aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ergebenden Beweiserleichterung zu prüfen. Es sprechen im Sinn dieser Bestimmung jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger gegenwärtig jedenfalls in den übrigen Teilen der Russischen Föderation von irgendeiner Art von Verfolgung betroffen sein wird oder dass eine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden (Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 15 RL 2004/83/EG). Das gilt auch für Vorfälle, denen sich die Bevölkerung Tschetscheniens bis zur Ausreise des Kläger allgemein ausgesetzt gesehen hat.
43 
Auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Art. 8 RL 2004/83/EG, an denen die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative zu messen ist (BVerwG vom 1.2.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007,590), steht politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung (vgl. BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 21.06.2010 – 11 B 08.30103 -, juris; Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; OVG Hamburg, Beschluss vom 27.11.2009 - 2 Bf 337/02.A -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; OVG Sachen-Anhalt, Urteil vom 31.07.2008 - 2 L 23/06 -, juris; HessVGH, Urteil vom 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.10.2006 - A 3 S 46/06 -, juris; OVG Saarland, Beschluss vom 29.05.2006 - 3 Q 1/06 -; juris; NdsOVG, Beschluss vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Sächsisches OVG, Beschluss vom 07.02.2011 - A 5 A 152/09 -). Davon ist auch für den Fall des Klägers auszugehen.
44 
a.) Zunächst ist festzustellen, dass der Kläger politisch unverdächtig ist. Eine politisch relevante gegen die tschetschenische Republik, gegen Russland und die Russische Föderation insgesamt gerichtete Tätigkeit hat der Kläger nicht glaubhaft dargelegt. Dies gilt insbesondere - wie der Senat oben aufgezeigt hat - für die Behauptung des Klägers, er habe in den Jahren 1999 bis 2003 für Menschenrechtsorganisationen Informationen gesammelt. Den Angaben des Klägers, soweit sie überhaupt glaubhaft sind, ist auch nichts für ein Strafverfahren gegen ihn zu entnehmen. Ebenso wenig führt allein der Umstand, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, dazu, dass er nach seiner Rückkehr in die Russische Föderation - jedenfalls außerhalb Tschetscheniens - deshalb staatlich verfolgt wird (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Anlass, entsprechend den in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Anträgen Ziff. 1 und Ziff. 2 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) Beweis zu erheben. Weder die vom Senat als widersprüchlich erachteten Angaben des Klägers noch seine Asylantragstellung und sein langjähriger Auslandsaufenthalt vermögen die in den hilfsweise gestellten Beweisanträgen aufgestellte Behauptung zu begründen, er könnte bei einer Rückkehr als Verräter und Spion oder als tschetschenischer Terrorist angesehen werden.
45 
b.) Dem Kläger ist es auch möglich, sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederzulassen.
46 
Art. 27 der russischen Verfassung von 1993 garantiert die Niederlassungsfreiheit. Dieses Recht ist allerdings strikt begrenzt durch regionale und lokale Bestimmungen und durch das de facto vielerorts noch gültige Propiska-System, das vor dem mit dem Föderationsgesetz im Jahre 1993 eingeführten Registrierungssystem galt und das nicht nur eine Meldung durch den Bürger, sondern auch die Gestattung oder Verweigerung durch die Behörden vorsah. Nach dem Registrierungssystem ist Voraussetzung für eine dauerhafte Registrierung, dass der Antragsteller einen Wohnraumnachweis führen kann und über einen russischen Inlandspass verfügt. Ein in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht für eine dauerhafte Registrierung nicht aus (AA, Lagebericht vom 18.08.2006, S. 26). Trotz der Systemumstellung durch das Föderationsgesetz wenden viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an, weshalb Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens erhebliche Schwierigkeiten haben, eine offizielle Registrierung zu erhalten. Besonders in Moskau haben zurückgeführte Tschetschenen in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie über genügend Geld verfügen oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können.
47 
Die genannten Registrierungsvoraussetzungen gelten im ganzen Land. Gleichwohl ist eine offizielle Registrierung in anderen Regionen der Russischen Föderation, vor allem in Südrussland, grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil Wohnraum - eine der Registrierungsvoraussetzungen - dort erheblich billiger ist als in der russischen Hauptstadt mit ihren hohen Mieten. Neben Moskau, wo etwa 200.000 Tschetschenen leben, ist es Tschetschenen auch gelungen, sich in den Gebieten Rostow, Wolgograd, Stawropol, Krasnodar, Astrachan, Nordossetien und in Karatschajewo-Tscherkessien anzusiedeln (AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007, Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 - Oktober 2007 - im Folgenden: Memorial-Bericht Oktober 2007).
48 
Der für die Registrierung erforderliche Inlandspass kann nach der Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 „am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung“ und damit auch außerhalb Tschetschenien beantragt werden (AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Ethnische Tschetschenen, die sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation niederlassen wollen, müssen zwar damit rechnen, dass ihnen die Bestätigung der Anmeldung (die sog. "Registrierung") verweigert werden könnte (vgl. dazu die Abschnitte II.4 und IV.2 des Lageberichts vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Diese - rechtswidrige - Praxis ist unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG indessen nicht erheblich, da das Vorenthalten der Einstempelung in den Inlandspass, durch den die erfolgte Anmeldung einer Person beurkundet wird, als solches nicht mit einer Verletzung der in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" und "Freiheit" einhergeht. Auch werden durch ein derartiges behördliches Verhalten nicht grundlegende Menschenrechte im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG schwerwiegend beeinträchtigt. Zwar legalisiert erst eine Registrierung den Aufenthalt des Betroffenen; zudem ist sie Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem, zum offiziellen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. AA, Lagebericht vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007). Mit der Nichterteilung einer Zuzugsgenehmigung in eine bestimmte Gemeinde oder Stadt ist nach dem Charakter der Maßnahme aber nicht ein - zielgerichteter - Eingriff in das Leben oder die Gesundheit intendiert, sondern lediglich eine Aufenthaltsnahme in anderen Landesteilen (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; BVerwG, 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982). Ferner ergibt sich aufgrund der Erkenntnislage, dass gerade in bestimmten Großstädten der Russischen Föderation, teilweise aber auch darüber hinaus die Registrierungsverweigerung der lokalen Behörden nicht an die tschetschenische Volkszugehörigkeit oder die Herkunft aus dem Nordkaukasus anknüpft, sondern sämtliche Zuzugswilligen in gleicher Weise betrifft (vgl. etwa Niedersächsisches OVG, Beschlüsse vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Beschluss vom 24.06.2006 - 13 LA 398/05 -, juris ; OVG Bremen, Urteil vom 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -, juris). Schließlich wird die Ausgrenzung aus der staatlichen Rechtsgemeinschaft, die der Nichtbesitz einer Registrierung in Bezug auf wichtige Lebensbereiche deshalb nach sich ziehen kann, dadurch spürbar gemildert, dass die Registrierungspflicht - nach Änderung der Registrierungsvorschrift am 22.12. 2004 - nunmehr erst nach 90 Tagen ab dem Beginn des Aufenthalts an einem Ort Platz greift (Memorial-Bericht Oktober 2007; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris). Anhaltspunkte dafür, dass diese Regelung tatsächlich keine Anwendung findet, sind nicht ersichtlich.
49 
Ungeachtet dessen können sich Tschetschenen mit sehr guten Erfolgsaussichten gegen derartige Rechtsverstöße zur Wehr setzen, ohne dass sie vorübergehend nach Tschetschenien zurückkehren müssten. In den zum Gegenstand dieses Verfahrens gemachten, seit 2002 erschienenen Berichten der Menschenrechtsorganisation "Memorial" sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen es durch die Einschaltung von Abgeordneten, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen oder Rechtsanwälten sowie erforderlichenfalls durch das Beschreiten des Rechtswegs gelungen ist, Tschetschenen eine Registrierung zu verschaffen. In Gestalt der 58 Beratungsstellen, über die die Organisation "Migration und Recht" verfügt, steht Betroffenen ein russlandweites Netz zur Verfügung, in dem jährlich mehr als 20.000 Menschen beraten werden. Soweit nicht bereits mit außerprozessualen Mitteln Abhilfe geschaffen werden kann, darf zumindest in aller Regel davon ausgegangen werden, dass der Betroffene vor Gericht Recht erhalten wird. Denn die russischen Gerichte üben Verwaltungskontrolle nach US-Vorbild aus; behördliche Bescheide können vor dem örtlich zuständigen Bezirksgericht angefochten werden. Die Gerichte sind die einzigen staatlichen Institutionen in Russland, die Tschetschenen Rechtsschutz gewähren. Da stattgebende gerichtliche Entscheidungen im Durchschnitt nach einigen Monaten ab Verfahrenseinleitung ergehen, kann ungeachtet des Umstandes, dass die Verwaltung fallweise rechtswidrige Bescheide trotz ihrer Aufhebung mehrmals erlassen hat, nicht davon gesprochen werden, eine Verweigerung der Registrierung stelle einen Eingriff in nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG geschützte Rechte dar, der zudem die nach diesen Bestimmungen erforderliche Schwere erreicht. Soweit es einige Monate dauern sollte, bis der Kläger eine Registrierung erhält, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm und durch Aushilfstätigkeiten überbrückt werden (vgl. BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
50 
c.) Bei einer Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation als Tschetschenien hätte der Kläger auch keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Verfolgung im Hinblick auf ihm dort etwa drohende polizeiliche Maßnahmen zu befürchten.
51 
Auch wenn der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen etwas abgenommen hat, berichten russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; die Angehörigen dieses Personenkreises stünden unter einer Art Generalverdacht (AA, Lageberichte vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Personenkontrollen auf der Straße oder in der U-Bahn sowie Hausdurchsuchungen fänden weiterhin statt, hätten jedoch an Intensität nachgelassen; Anweisungen russischer Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen seien nicht bekannt (AA, Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011).
52 
Auch derartige Vorgänge sind indessen unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG grundsätzlich noch nicht rechtserheblich. Muss ein Tschetschene häufiger seinen Ausweis vorzeigen oder sieht er sich öfter mit Durchsuchungsmaßnahmen konfrontiert, als das bei sonstigen Bewohnern der Russischen Föderation der Fall ist, so mag diese Schlechterstellung zwar an die Volkszugehörigkeit, das körperliche Erscheinungsbild oder die regionale Herkunft - und damit an ein Merkmal im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG - anknüpfen. Da solche polizeiliche Handlungen indes weder die in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" oder "Freiheit" noch grundlegende Menschenrechte (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG) verletzen und sie die Betroffenen auch nicht im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG in ähnlich gravierender Weise beeinträchtigen, kommt diesen Praktiken - ungeachtet ihres diskriminierenden Charakters - im Regelfall keine flüchtlingsrechtliche Relevanz zu.
53 
Eine hiervon abweichende Betrachtung wäre dann geboten, wenn es bei derartigen Kontroll- oder Durchsuchungsmaßnahmen zu Übergriffen auf Leib oder Leben der Betroffenen käme oder sie mit einem Freiheitsentzug einhergehen würden, der von seiner zeitlichen Länge her den Rahmen übersteigt, innerhalb dessen eine Person auch in einem Rechtsstaat durch die vollziehende Gewalt vorübergehend festgehalten werden darf. Dass sich der Kläger solchen Praktiken ausgesetzt sehen wird, lässt sich jedoch mit praktischer Sicherheit ausschließen. Gleiches gilt für die Besorgnis, ihm könnten gefälschte Beweismittel untergeschoben werden, um ihn ungerechtfertigt mit einem Strafverfahren zu überziehen. Denn eine Auswertung der einschlägigen Erkenntnismittel ergibt, dass jedenfalls solche Tschetschenen, bei denen es sich nicht um junge Männer handelt, die sich - unmittelbar aus dem früheren Bürgerkriegsgebiet kommend - in andere Teile der Russischen Föderation begeben haben, und die auch nicht durch individuelles rechtswidriges Vorverhalten Anlass für ein polizeiliches Einschreiten gegeben haben, bei Kontakten mit den staatlichen Sicherheitsorganen keine Übergriffe befürchten müssen, denen flüchtlingsrechtliche Relevanz zukommt. So liegt der Fall beim Kläger. Zum einen hat er etwa neun Jahre im Ausland verbracht, so dass keine Rede davon sein kann, dass er direkt aus dem Bürgerkriegsgebiet in andere Gebiete der Russischen Föderation eingereist ist. Zum anderen hat er auch nicht glaubhaft angegeben, in einer militärisch organisierten Rebelleneinheit gekämpft zu haben. Aus den Erkenntnismitteln geht hervor, dass bei Tschetschenen, die nicht die vorbezeichneten Ausnahmekriterien erfüllen, stichhaltige Gründe dagegen sprechen, sie könnten mit ungerechtfertigten strafrechtlichen Vorwürfen überzogen werden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
54 
d.) Die in der Russischen Föderation zu beobachtenden Vorkommnisse, deren Ursache in rassistischen oder fremdenfeindlichen Motiven zu suchen sind, stehen der Annahme einer inländischen Fluchtalternative bzw. eines internen Schutzes nach § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG gleichfalls nicht entgegen.
55 
Der Senat übersieht nicht, dass Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen. M. Grob (SFH vom 12.09.2011) spricht davon, dass Rassismus gegenüber Kaukasiern in Russland weit verbreitet sei und auch gewalttätigen Charakter habe. Hierbei handelt es sich allerdings lediglich um eine allgemeine Aussage; nachvollziehbare Einzelheiten werden nicht angegeben. Auch R. Mattern (SFH vom 03.06.2010) berichtet von Rassismus als gesellschaftliches Problem. Gefährdungen bestünden für Ausländer mit dunkler Hautfarbe. Allerdings würden russische Sicherheitskräfte versuchen, rassistische Gewalt mit repressiven Methoden zu bekämpfen. Allein im ersten Quartal 2010 seien in 18 Urteilen 74 Personen wegen rassistischer Gewalt verurteilt worden. Im Lagebericht des AA vom 07.03.2011 werden keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Rassismusvorfälle gegenüber Tschetschenen berichtet, die nicht nach Tschetschenien, sondern in andere Teile der Russischen Föderation zurückkehren. Im Bericht von U. Rybi (FFH vom 25.11.2009) finden sich hierzu gleichfalls keine Angaben. Zwar spricht auch der Memorial-Bericht April 2009 (Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Oktober 2007 - April 2009 - im Folgenden: Memorial-Bericht April 2009) von einem „neuen“ Feindbild in Russland, das sich gegen Tschetschenen richte. Die Berichterstattung beschreibt aber im Wesentlichen ein geistiges Klima. Gewalttätige Übergriffe rechtsradikaler russischer Kräfte auf Tschetschenen, die staatlicherseits initiiert oder geduldet würden, werden in einem asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Ausmaß hingegen - auch im vorausgehenden Memorial-Bericht Oktober 2007, - nicht geschildert. Soweit es Mitte August 2005 im südrussischen Jandyki und in Naltschik - der Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien - zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Tschetschenen und Angehörigen anderer Volksgruppen gekommen ist (vgl. Memorial-Bericht 2006 [Juli 2005 - Juli 2006]), sind solche Vorkommnisse, bei denen die Gewalttätigkeiten im Übrigen auch von der tschetschenischen Seite ausgingen, in jüngerer Zeit nicht mehr bekannt geworden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris). Den Erkenntnismitteln kann bei der gebotenen Objektivität nicht entnommen werden, dass ethnische Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Opfer gewalttätiger Übergriffe aus fremdenfeindlichen Beweggründen werden. Angesichts der Vielzahl von in der Russischen Föderation sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Tschetschenen bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben über gegen sie gerichteten Maßnahmen keine zureichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen asyl- bzw. flüchtlingserheblichen Verfolgungsbetroffenheit (vgl. auch OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20. Die Frage, inwieweit sich der russische Staat solche von gesellschaftlichen Kräften ausgehenden Übergriffe gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG zurechnen lassen muss, kann deshalb auf sich beruhen.
56 
e.) Dem Kläger droht aufgrund seines Alters von 55 Jahren auch nicht mehr die Einberufung zum Wehrdienst in der russische Armee (vgl. Lagebericht vom 4.4.2010, wonach die allgemeine Wehrpflicht nur für Männer zwischen 18 und 28 Jahren besteht).
57 
f.) Dem Auswärtigen Amt sind ferner keine Fälle bekannt geworden, in denen tschetschenische Volkszugehörige bei oder nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt waren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011). Zwar geht das Auswärtige Amt davon aus, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren; diese Befürchtung bezieht sich jedoch insbesondere auf solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage besonders engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.201; vgl. insoweit auch BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris). Zu diesen besonderen Risikogruppen gehört der Kläger indessen nicht.
58 
g.) Dem Kläger ist auch mit Blick auf die Gewährleistung des Existenzminimums eine Aufenthaltsnahme in den übrigen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zumutbar.
59 
Eine interne Fluchtalternative im Sinne von Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG setzt neben der - oben dargelegten - Verfolgungssicherheit voraus, dass von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Maßgeblich ist insofern, ob der Kläger im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein wird, wobei es im Hinblick auf die Neufassung des § 60 AufenthG zur Umsetzung der RL 2004/83/EG nicht (mehr) darauf ankommt, ob diese Gefahren am Herkunftsort ebenso bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11/07 -, BVerwGE 131, 186). Zur Interpretation des Begriffs der persönlichen Umstände im Sinne des Art. 8 Abs. RL 2004/83/EG kann auf Art. 4 Abs. 3 Buchst. c RL 2004/83/EG zurückgegriffen werden, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind. Zu fragen ist sodann auf der Grundlage dieses gemischt objektiv-individuellen Maßstabs, ob von einem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort der internen Fluchtalternative aufhält. Erforderlich hierfür ist, dass er am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben.
60 
Eine existentielle Bedrohung ist gegeben, wenn das Existenzminimum nicht gesichert ist. Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel, wenn sie dort - was grundsätzlich zumutbar ist - durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer "Schatten- oder Nischenwirtschaft" stattfinden. Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine kriminelle Arbeit - etwa durch Beteiligung an Straftaten im Rahmen „mafiöser“ Strukturen - ist dagegen nicht zumutbar (BVerwG, Beschluss vom 17.05.2005 - 1 B 100/05 -, juris). Maßgeblich ist grundsätzlich auch nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.08.2006 - 1 B 96.06 -, juris; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590), d.h. ob mit den erlangten Mitteln auch die notwendigsten Aufwendungen für Leben und Gesundheit bestritten werden können. Ein Leben in der Illegalität, das den Kläger jederzeit der Gefahr polizeilicher Kontrollen und der strafrechtlichen Sanktionierung aussetzt, stellt demgegenüber keine zumutbare Fluchtalternative dar (BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590).
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen ist es dem Kläger - nach der gegenwärtigen Sachlage (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG sowie Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) - zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, in dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
62 
Wie bereits ausgeführt erweitert die Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 die Möglichkeit zur Beantragung und Ausstellung des Inlandspasses in räumlicher Hinsicht. Dieser kann nunmehr am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung ausgestellt werden (vgl. AA, Lageberichte vom 22.11.2008 und vom 07.03.2011; ebenso Memorial-Bericht Oktober 2007). Die Innehabung eines gültigen Inlandspasses ist ihrerseits Voraussetzung für die in diesen Pass zu stempelnde Wohnsitzregistrierung. Die Registrierung, die dem Kläger - wie oben ausgeführt - wenn auch ggf. mit leichter Verzögerung ebenso wie seiner Ehefrau möglich ist, legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht, Oktober 2007). Mit der Registrierung besteht auch für die Kinder des Klägers Zugang zur Bildung (Memorial-Bericht Oktober 2007). Svetlana Gannuschkina berichtet im Memorial-Bericht Oktober 2007, dass im vergangenen Jahr keine Klagen von Menschen aus Tschetschenien über Diskriminierung bei der Arbeitsaufnahme vorlägen.
63 
Die persönlichen Umstände des Klägers rechtfertigen keine andere Einschätzung. Der Kläger ist mit 55 Jahren noch in einem arbeitsfähigen Alter. Hinzu kommt, dass seine Ehefrau mit 44 Jahren deutlich jünger ist und damit ebenfalls durch legale Arbeit infolge Registrierung zum notwendigen Lebensunterhalt beitragen kann. So berichtet Svetlana Gannuschkina, dass tschetschenische Frauen auf der Straße und den Märkten durch Handel ihr Geld verdienen können (Memorial-Bericht Oktober 2007). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch keine seine Arbeitsfähigkeit wesentlich einschränkende Erkrankung substantiiert dargelegt. Dem Senat liegt zwar das psychologische Gutachten des Evangelischen Migrationsdienstes in Württemberg e.V. vom 26.10.2006 über den Kläger vor. Darin wird angegeben, der Kläger leide an einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Zusätzlich bestehe eine Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger indessen lediglich angegeben, er gehe ein- bis zweimal im Monat zum Arzt. Er leide an Bluthochdruck. Er sei auch in Behandlung wegen der Nerven und wegen Operationen. Weitere detaillierte Angaben hat der Kläger nicht gemacht. Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass für den Kläger infolge der Registrierung ein Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem besteht und posttraumatische Belastungsstörungen in der Russischen Föderation in großen und größeren Städten grundsätzlich behandelt werden können (vgl. R. Mattern, SFH, Auskunft vom 20.04.2009), kann vom Kläger vernünftigerweise erwartet werden, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens Aufenthalt zusammen mit seiner Ehefrau und seinen Kindern zu nehmen. Angesichts dessen, dass der Kläger zu seiner psychischen Erkrankung, wie sie im psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 - also vor mehr als sechs Jahren - dargestellt wird, keine weiteren substantiierten Angaben gemacht hat, insbesondere dem Senat nicht erläutert hat, ob die seinerzeit diagnostizierte psychische Erkrankung überhaupt noch besteht und wenn ja, welche Behandlungsmaßnahmen erfolgen, war dem vom Kläger hilfsweise gestellten Beweisantrag Ziff. 3 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) auf Einholung eines Gutachtens von Herrn Dr. T... S... zum Beweis der Tatsache, dass „der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, an einer jetzt schon chronifizierten Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, dass diese psychische Erkrankung bereits jetzt schon chronifiziert ist aufgrund der Dauer des Verfahrens, dass diese psychische Erkrankung auch Auswirkungen auf sein Aussageverhalten hat im Sinne eines Verdrängungsmechanismus, so dass bei einer Rückkehr oder Abschiebung der Kläger ein akutes Wiederholungstrauma erleiden würde, eine sog. Retraumatisierung in jedem Fall jedoch diese Erkrankung behandlungsbedürftig ist und zwar in einem sicheren Rahmen in der Bundesrepublik Deutschland, ansonsten sich die Erkrankung akut verschlimmert“, nicht nachzugehen. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind keine zureichenden Anhaltspunkte für eine akute posttraumatische Belastungsstörung und erst recht nicht für eine chronifizierte Persönlichkeitsänderung zu entnehmen. Die entsprechenden Behauptungen im Beweisantrag werden daher nicht durch tatsächliche Indizien gestützt. Sie erscheinen vielmehr als „ins Blaue hinein“ erhoben; der Beweisantrag ist daher als Ausforschungsbeweisantrag unzulässig. Für den Senat kommt hinzu, dass - wie bereits aufgezeigt - in der Russischen Föderation posttraumatische Belastungsstörungen behandelt werden können. Weiterhin wird in dem psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 ausgeführt, dass die Sorge um die Rückkehr aufgrund massiver Ängste vor einer möglichen Folterung und/oder Ermordung zwar die Symptomatik verstärke, jedoch nicht die Ursache der Erkrankung sei. Die Symptomatik und die Verhaltensweisen könnten zudem nicht durch eine Sorge vor einer möglichen Rückkehr erklärt werden. Auch könne die Entwurzelung im Exilland (Unkenntnis der Landessprache, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse) als Ursache der bestehenden psychischen Störung ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings zusätzlich festzustellen, dass das Gutachten von einer Rückkehr nach Tschetschenien ausgegangen ist. Da der Kläger sowohl tschetschenisch als auch russisch versteht und spricht, kann von einer Unkenntnis der Landessprache wohl nicht ausgegangen werden. Auch besteht angesichts der fehlenden inhaltlich aussagekräftigen Angaben des Klägers zu seiner derzeitigen psychischen Verfassung keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er bei einer Niederlassung in einem anderen Teil der Russischen Föderation als Tschetschenien eine Registrierung erst nach dem Ablauf einer Zeitspanne erhalten wird, die so lange ist, dass sich ein aus seiner psychischen Verfassung ergebendes Lebens- bzw. Gesundheitsrisiko - wie im Beweisantrag behauptet - bis dahin realisieren könnte.
64 
In Würdigung all dessen kann vom Kläger vernünftigerweise verlangt werden, dass er sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens aufhält. Nach den eben beschriebenen dortigen allgemeinen Gegebenheiten besteht für den Kläger weder eine begründete Furcht vor Verfolgung noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.
II.
65 
Der Kläger erfüllt ferner nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG (i.V.m. Abs. 11 und Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG).
66 
Über die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist auch in den Fällen zu entscheiden, in denen das Bundesamt - wie vorliegend - vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes über das (Nicht-)Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten entschieden hat und hiergegen Klage erhoben worden ist. In den anhängigen gerichtlichen Verfahren wächst der am 28.08.2007 neu hinzugetretene unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz automatisch an und ist damit zwingend zu prüfen. Über dieses Prüfprogramm können die Verfahrensbeteiligten nicht disponieren und damit in Übergangsfällen das Anwachsen des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes während des gerichtlichen Verfahrens nicht verhindern. In diesen Fällen bedarf es keiner ausdrücklichen Einbeziehung des neuen, auf Unionsrecht beruhenden subsidiären Abschiebungsschutzes in das anhängige gerichtliche Verfahren durch einen der Verfahrensbeteiligten (zur prozessrechtlichen Bedeutung dieser Abschiebungsverbote und zu ihrem Verhältnis zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 3 AufenthG sowie zum Streitgegenstand im asylrechtlichen Verwaltungsprozess vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
67 
1. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG (i.V.m. Art. 15 Buchst. b RL 2004/83/EG und Art. 3 EMRK) liegen nicht vor.
68 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Regelung des § 60 Abs. 2 AufenthG dient der Umsetzung von Artikel 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG, der seinerseits im Wesentlichen dem Grundrecht aus Art. 3 EMRK entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 – Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen bestehen in der Person des Klägers insbesondere auch deshalb keine zureichenden Anhaltspunkte, weil kein Strafverfahren gegen ihn anhängig ist oder ihm droht.
69 
2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 3 AufenthG liegt gleichfalls nicht vor.
70 
Nach § 60 Abs. 3 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. a RL 2004/83/EG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Gefahr.
71 
3. Die Voraussetzungen für eine Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben.
72 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685 - EMRK -) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für das Vorliegen eines solchen Abschiebungsverbotes ist nichts ersichtlich, insbesondere muss der Kläger - wie oben ausgeführt - nicht befürchten, außerhalb Tschetscheniens in unmenschlicher oder erniedrigender Weise behandelt oder gar gefoltert zu werden (Art. 3 EMRK). Andere Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention sind im Fall des Klägers tatbestandlich nicht einschlägig. Dies gilt auch mit Blick auf Art. 8 EMRK. Denn die Asylanträge seiner Ehefrau und seiner Kinder bleiben gleichfalls ohne Erfolg; ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland besteht nicht.
73 
4. Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG sind nicht erfüllt.
74 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, durch den die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c und Art. 2 Buchst. e RL 2004/83/EG ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Bestimmung entspricht trotz geringfügig abweichender Formulierungen den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG und ist in diesem Sinne auszulegen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris).
75 
Es kann vorliegend dahinstehen, ob in Tschetschenien derzeit noch ein - regional begrenzter (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008, - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198) - innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht und ob deshalb in dieser Region auch eine individuelle Bedrohung des Klägers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner Gefahren im Rahmen des bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56 Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris ) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris) anzunehmen ist. Denn ein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht bei einem - nur - regional begrenzten Konflikt dann nicht, wenn dem Betroffenen ein interner Schutz nach Art. 8 RL 2004/83/EG (i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG) zur Verfügung steht, weil außerhalb der Region keine Gefahrenlage im oben dargestellten Sinn besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.2009, - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188; Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 17.02.2009, - C-465/07 - Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Dies ist vorliegend der Fall. Denn dem Kläger steht nach den obigen Ausführungen in anderen Teilen der Russischen Föderation eine zumutbare interne Schutzalternative zur Verfügung. Diese ist auch erreichbar und es kann von ihm - wie dargelegt - auch unter Würdigung seiner persönlichen Belange und bei Bewertung der gesamten Umstände vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält.
III.
76 
In der Person des Klägers liegen schließlich auch nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3 (vgl. zum einheitlichen Streitgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris) vor.
77 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
78 
Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07-, BVerwGE 131, 198). Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
79 
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = InfAuslR 2010, 404 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226 = AuAS 2010, 249 = InfAuslR 2010, 458 = NVwZ 2011, 48; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
80 
In Anwendung dieser Grundsätze besteht, wie der Senat unter I. 2. festgestellt hat, eine solche extreme konkrete Gefahrenlage für den Kläger in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht.
IV.
81 
Die in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 11.05.2004 enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung entspricht den gesetzlichen Vorschriften (vgl. § 34 und § 38 Abs. 1 AsylVfG) und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
82 
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
83 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entsprach nicht der Billigkeit (§ 154 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung), dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten aufzuerlegen, da dieser keinen Antrag gestellt und somit auch kein Kostenrisiko übernommen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung).
84 
Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben.
85 
Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
22 
Der Senat kann trotz Nichterscheinens des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten entscheiden, da dieser mit der Ladung nach § 102 Abs. 2 VwGO auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
23 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung des Klägers ist unbegründet.
24 
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist - entgegen der Zulassung der Berufung durch den Senat nicht nur der Anspruch des Klägers auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Russischen Föderation und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974), sondern auch sein hilfsweise geltend gemachter Anspruch auf Feststellung unionsrechtlicher und nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes von 2007 bilden die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 zum einen und die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG 2004 zum anderen jeweils eigenständige Streitgegenstände, wobei die unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbote vorrangig vor dem nationalen Abschiebungsverbot u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG 2004 zu prüfen sind. Damit sind die auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG 2004 in dem Verfahren angewachsen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Beschluss vom 10.10.2011 - 10 B 24/11-, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244). Für die nationalen Abschiebungsverbote gilt nichts anderes.
25 
Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; I.). In der Person des Klägers liegen ferner weder unionsrechtliche (II.) noch nationalrechtliche (III.) Abschiebungsverbote vor. Die Abschiebungsandrohung ist gleichfalls rechtlich nicht zu beanstanden (IV.).
I.
26 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation nicht vorliegen.
27 
Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, da nach Art. 40 RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
28 
Nach Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
29 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG).
30 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181-, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
31 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377; Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla, NVwZ 2010, 505). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982).
32 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377 = NVwZ 2011, 51). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris).
33 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a) beschrieben Weise betroffen ist (Buchst. b)). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
34 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
35 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237).
36 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, juris; Urteil vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 -, juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 -, juris).
37 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20.08 -, juris).
38 
1. In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben war der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise keiner anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt, weshalb ihm insoweit die Privilegierung aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zu Gute kommt.
39 
Das Vorbringen des Klägers zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal ist wegen erheblicher Widersprüchen, insbesondere wegen deutlich gesteigerten Vorbringens sowie wegen stereotyper Angaben insgesamt nicht glaubhaft. Beim Bundesamt hat der Kläger vorgetragen, er sei beim Innenministerium tätig gewesen und zwar in einer Sonderabteilung. Sie hätten operative Aufgaben durchgeführt. Sie hätten Informationen über die Bewegung der Truppen, ihre Bewaffnung und ihre Zahl gesammelt. Er sei zum Major befördert worden. Substantiierte Angaben zu seiner Tätigkeit im Innenministerium hat der Kläger beim Bundesamt nicht gemacht. Bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart hat er erstmals angegeben, nach dem Kriegsende sei er wieder beim Innenministerium als Aufsicht über Feuerwehr und Gefängnisse eingesetzt worden. Daneben sei er noch in einer Aufklärungstruppe tätig gewesen. Seine Gruppe sei u.a. bei den Kämpfen gegen Wahabiten beteiligt gewesen. Dieses aber hat der Kläger beim Bundesamt nicht erwähnt. Auf die Frage beim Bundesamt, von wem er denn verfolgt worden sei, hat der Kläger geantwortet, wenn er das gewusst hätte. Aber das werde zielgerichtet gemacht. Auf Nachfrage hat er angegeben, er glaube, dass dies aus den Kreisen des FSB, der Nationalen Sicherheit komme. Demgegenüber hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart erklärt, er vermute, dass es die Wahabiten gewesen seien, die sie verfolgt hätten. Nicht nachvollziehbar ist auch die Aussage des Klägers beim Bundesamt, er habe von 1994 bis 1999 für die tschetschenische Regierung bei Dudajew gearbeitet. Denn Dschochar Mussajewitsch Dudajew starb bereits im April 1996. Sein Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde 1997 Aslan Maschadow. Zu seinen Aufgaben beim Innenministerium hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine weiteren substantiierten Angaben gemacht. Völlig widersprüchlich sind auch die Angaben des Klägers zu seiner Ausbildung. Auf entsprechende Frage beim Bundesamt hat der Kläger angegeben, er habe die Fachschule des Innenministeriums 1988 in Charkov abgeschlossen und zwar mit einem Diplom als Techniker für Spezialtechnik. Auf Nachfrage hat er erklärt, es habe sich um Waffen- und Fahrzeugtechnik, spezielle Technik für das Innenministerium gehandelt. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, er habe in Grosny im Jahre 1994 mit dem Hochschulabschluss als Philologe abgeschlossen. Über seine Ausbildung als Fahrlehrer und das Betreiben einer Fahrschule in Grosny hat der Kläger weder beim Bundesamt noch beim Verwaltungsgericht berichtet. Das Vorbringen des Klägers steht ferner auch im Widerspruch zu den Angaben seiner Ehefrau. Diese hat bereits bei ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 25.08.2000 im Rahmen ihres eigenen Asylverfahrens erklärt, die Russen hätten ihren Ehemann im Winter 1999/2000 bei ihr gesucht. Bei ihrer Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung hat sie dies bestätigt und ergänzt, die Männer hätten ihr gesagt, sie seien von der Rayon-Abteilung für Inneres, also der Miliz. Sie habe ihrem Mann nichts davon erzählt. Später hat sie dann ausgeführt, Soldaten seien mit einem Panzer gekommen und hätten ihr Haus, in dem inzwischen eine Nachbarin gewohnt habe, in die Luft gejagt. Das habe sie ihrem Mann erzählt, als sie ihn das letzte Mal gesehen habe. Dies hat der Kläger indessen weder beim Bundesamt noch bei seiner gerichtlichen Anhörung beim Verwaltungsgericht Stuttgart noch bei seiner Anhörung vor dem Senat erwähnt. Auch der Senat hält es nicht für glaubhaft, dass die Ehefrau ihrem Mann nichts davon erzählt hätte, wenn russische Milizionäre nach ihm gesucht hätten. Widersprüchlich sind weiterhin die Angaben zu den Umständen der Flucht der Ehefrau des Klägers. Der Kläger hat beim Bundesamt erklärt, die Ausreise seiner Frau hätten seine Schwiegereltern organisiert und auch finanziert. Demgegenüber hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegeben, zwei Freunde von ihm hätten auf seine Bitte das Ganze über weitere Bekannte organisiert. Bereits diese dargestellten Widersprüche zeigen die Unglaubhaftigkeit der Angaben des Klägers. Diese wird durch seine weiteren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Hier hat der Kläger nunmehr erstmals angegeben, er habe, während er sich in der Zeit von 1999 bis 2003 versteckt bzw. im Untergrund aufgehalten habe, mit Menschenrechtsorganisationen zusammengearbeitet. Er habe mit seinem Freund R... Meetings organisiert und an Demonstrationen teilgenommen, allerdings nicht offiziell. Er habe Fälle von Misshandlungen und Angriffe an R... weitergegeben, die dieser dann wiederum an I... E... weitergeleitet habe. Auf Nachfrage gab der Kläger dann an, an Demonstrationen habe er nicht teilgenommen. Er habe aus dem Untergrund Informationen gesammelt. I... E... habe er erst im August 2003 kennengelernt. Aber auch dieses Vorbringen bleibt, abgesehen davon, dass der Kläger diese für ihn wichtige Tätigkeit erstmals vor dem Senat schildert, im Ungefähren. Dem Kläger war es nicht möglich anzugeben, für welche Menschenrechtsorganisationen er angeblich Informationen gesammelt habe, obwohl I... E... - wie der Kläger weiter behauptet hat - Vorsitzender und Leiter der Organisation gewesen sei. Auf Frage, wer ihn verfolgt habe, gibt der Kläger nun wieder an, er sei von russischen Streitkräften verfolgt worden, nicht so sehr von Wahabiten. Eine Erklärung für die Behauptung, es sei herausgekommen, dass er Informationen an I... E... geliefert habe, konnte der Kläger nicht geben. Aufgrund all dessen konnte sich der Senat nicht von der Wahrheit der Angaben des Klägers überzeugen.
40 
Vor diesem Hintergrund war dem hilfsweise gestellten Antrag Ziffer 4 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger im Rang eines Majors im Innenministerium in Grosny gearbeitet habe, dass er festgenommen, gefoltert, misshandelt und erniedrigt worden sei, dass man ihn getötet hätte, wenn er nicht geflohen wäre, I... E... als Zeuge zu vernehmen, nicht nachzugehen. Darüber hinaus hat der Kläger angegeben, er habe I... E... erst im August 2003 persönlich kennengelernt, wobei das Treffen ca. 10 bis 30 Minuten gedauert habe. Aus eigener Kenntnis könnte I... E... daher zu den unter Beweis gestellten Umständen, soweit es sich überhaupt um Tatsachen und nicht nur um Mutmaßungen - wie z.B. hinsichtlich der Tötung des Klägers - handelt, keine Angaben machen. Im Übrigen ist das Vorbringen des Klägers zu I... E... ebenfalls widersprüchlich. Vor dem Senat hat der Kläger angegeben, I... E... habe keinen regulären Beruf gehabt. Zur Begründung des hilfsweise gestellten Beweisantrags hat der Kläger aber angegeben, der Zeuge sei früheres Mitglied der tschetschenischen Regierung gewesen und kenne ihn aus früheren Zeiten. Er arbeite jetzt für amnesty international. Demgegenüber hat der Kläger - wie oben bereits ausgeführt - keine Angaben dazu machen können, für welche Menschenrechtsorganisationen er und I... E... gearbeitet habe.
41 
2. Ob der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise einer - regionalen - Gruppenverfolgung in Tschetschenien ausgesetzt war und noch ist (letzteres verneinend OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20) bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn dem Kläger steht jedenfalls in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens eine inländische Fluchtalternative nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG und damit ein interner Schutz im Sinne des Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung. Es ist ihm zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, an dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
42 
Der Senat geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die Bewohner Tschetscheniens im Zeitpunkt seiner Ausreise einer regionalen Gruppenverfolgung ausgesetzt waren. Ob dies tatsächlich der Fall war - ob mithin tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen (wegen ihres Volkstums oder ihrer politischen Überzeugung) in der erforderlichen Verfolgungsdichte und -intensität von staatlichen russischen [oder der tschetschenischen Republik zuzuordnenden] Stellen verfolgt wurden - braucht demgemäß nicht entschieden zu werden. Die Gefahr einer künftigen Verfolgung des Klägers ist deshalb zwar unter Zubilligung der sich aus Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ergebenden Beweiserleichterung zu prüfen. Es sprechen im Sinn dieser Bestimmung jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger gegenwärtig jedenfalls in den übrigen Teilen der Russischen Föderation von irgendeiner Art von Verfolgung betroffen sein wird oder dass eine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden (Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 15 RL 2004/83/EG). Das gilt auch für Vorfälle, denen sich die Bevölkerung Tschetscheniens bis zur Ausreise des Kläger allgemein ausgesetzt gesehen hat.
43 
Auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Art. 8 RL 2004/83/EG, an denen die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative zu messen ist (BVerwG vom 1.2.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007,590), steht politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG zur Verfügung (vgl. BayVGH, Urteil vom 29.01.2010 - 11 B 07.30343 -, juris; Urteil vom 21.06.2010 – 11 B 08.30103 -, juris; Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; OVG Hamburg, Beschluss vom 27.11.2009 - 2 Bf 337/02.A -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - OVG 3 B 16.08 -, juris; OVG Sachen-Anhalt, Urteil vom 31.07.2008 - 2 L 23/06 -, juris; HessVGH, Urteil vom 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.10.2006 - A 3 S 46/06 -, juris; OVG Saarland, Beschluss vom 29.05.2006 - 3 Q 1/06 -; juris; NdsOVG, Beschluss vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Sächsisches OVG, Beschluss vom 07.02.2011 - A 5 A 152/09 -). Davon ist auch für den Fall des Klägers auszugehen.
44 
a.) Zunächst ist festzustellen, dass der Kläger politisch unverdächtig ist. Eine politisch relevante gegen die tschetschenische Republik, gegen Russland und die Russische Föderation insgesamt gerichtete Tätigkeit hat der Kläger nicht glaubhaft dargelegt. Dies gilt insbesondere - wie der Senat oben aufgezeigt hat - für die Behauptung des Klägers, er habe in den Jahren 1999 bis 2003 für Menschenrechtsorganisationen Informationen gesammelt. Den Angaben des Klägers, soweit sie überhaupt glaubhaft sind, ist auch nichts für ein Strafverfahren gegen ihn zu entnehmen. Ebenso wenig führt allein der Umstand, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, dazu, dass er nach seiner Rückkehr in die Russische Föderation - jedenfalls außerhalb Tschetscheniens - deshalb staatlich verfolgt wird (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Anlass, entsprechend den in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Anträgen Ziff. 1 und Ziff. 2 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) Beweis zu erheben. Weder die vom Senat als widersprüchlich erachteten Angaben des Klägers noch seine Asylantragstellung und sein langjähriger Auslandsaufenthalt vermögen die in den hilfsweise gestellten Beweisanträgen aufgestellte Behauptung zu begründen, er könnte bei einer Rückkehr als Verräter und Spion oder als tschetschenischer Terrorist angesehen werden.
45 
b.) Dem Kläger ist es auch möglich, sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederzulassen.
46 
Art. 27 der russischen Verfassung von 1993 garantiert die Niederlassungsfreiheit. Dieses Recht ist allerdings strikt begrenzt durch regionale und lokale Bestimmungen und durch das de facto vielerorts noch gültige Propiska-System, das vor dem mit dem Föderationsgesetz im Jahre 1993 eingeführten Registrierungssystem galt und das nicht nur eine Meldung durch den Bürger, sondern auch die Gestattung oder Verweigerung durch die Behörden vorsah. Nach dem Registrierungssystem ist Voraussetzung für eine dauerhafte Registrierung, dass der Antragsteller einen Wohnraumnachweis führen kann und über einen russischen Inlandspass verfügt. Ein in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht für eine dauerhafte Registrierung nicht aus (AA, Lagebericht vom 18.08.2006, S. 26). Trotz der Systemumstellung durch das Föderationsgesetz wenden viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an, weshalb Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens erhebliche Schwierigkeiten haben, eine offizielle Registrierung zu erhalten. Besonders in Moskau haben zurückgeführte Tschetschenen in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie über genügend Geld verfügen oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können.
47 
Die genannten Registrierungsvoraussetzungen gelten im ganzen Land. Gleichwohl ist eine offizielle Registrierung in anderen Regionen der Russischen Föderation, vor allem in Südrussland, grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil Wohnraum - eine der Registrierungsvoraussetzungen - dort erheblich billiger ist als in der russischen Hauptstadt mit ihren hohen Mieten. Neben Moskau, wo etwa 200.000 Tschetschenen leben, ist es Tschetschenen auch gelungen, sich in den Gebieten Rostow, Wolgograd, Stawropol, Krasnodar, Astrachan, Nordossetien und in Karatschajewo-Tscherkessien anzusiedeln (AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007, Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 - Oktober 2007 - im Folgenden: Memorial-Bericht Oktober 2007).
48 
Der für die Registrierung erforderliche Inlandspass kann nach der Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 „am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung“ und damit auch außerhalb Tschetschenien beantragt werden (AA, Lagebericht vom 07.03.2011). Ethnische Tschetschenen, die sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation niederlassen wollen, müssen zwar damit rechnen, dass ihnen die Bestätigung der Anmeldung (die sog. "Registrierung") verweigert werden könnte (vgl. dazu die Abschnitte II.4 und IV.2 des Lageberichts vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Diese - rechtswidrige - Praxis ist unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG indessen nicht erheblich, da das Vorenthalten der Einstempelung in den Inlandspass, durch den die erfolgte Anmeldung einer Person beurkundet wird, als solches nicht mit einer Verletzung der in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" und "Freiheit" einhergeht. Auch werden durch ein derartiges behördliches Verhalten nicht grundlegende Menschenrechte im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG schwerwiegend beeinträchtigt. Zwar legalisiert erst eine Registrierung den Aufenthalt des Betroffenen; zudem ist sie Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem, zum offiziellen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. AA, Lagebericht vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011; Memorial-Bericht Oktober 2007). Mit der Nichterteilung einer Zuzugsgenehmigung in eine bestimmte Gemeinde oder Stadt ist nach dem Charakter der Maßnahme aber nicht ein - zielgerichteter - Eingriff in das Leben oder die Gesundheit intendiert, sondern lediglich eine Aufenthaltsnahme in anderen Landesteilen (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; BVerwG, 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982). Ferner ergibt sich aufgrund der Erkenntnislage, dass gerade in bestimmten Großstädten der Russischen Föderation, teilweise aber auch darüber hinaus die Registrierungsverweigerung der lokalen Behörden nicht an die tschetschenische Volkszugehörigkeit oder die Herkunft aus dem Nordkaukasus anknüpft, sondern sämtliche Zuzugswilligen in gleicher Weise betrifft (vgl. etwa Niedersächsisches OVG, Beschlüsse vom 16.01.2007 - 13 LA 67/06 -, juris; Beschluss vom 24.06.2006 - 13 LA 398/05 -, juris ; OVG Bremen, Urteil vom 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -, juris). Schließlich wird die Ausgrenzung aus der staatlichen Rechtsgemeinschaft, die der Nichtbesitz einer Registrierung in Bezug auf wichtige Lebensbereiche deshalb nach sich ziehen kann, dadurch spürbar gemildert, dass die Registrierungspflicht - nach Änderung der Registrierungsvorschrift am 22.12. 2004 - nunmehr erst nach 90 Tagen ab dem Beginn des Aufenthalts an einem Ort Platz greift (Memorial-Bericht Oktober 2007; OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20; BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris). Anhaltspunkte dafür, dass diese Regelung tatsächlich keine Anwendung findet, sind nicht ersichtlich.
49 
Ungeachtet dessen können sich Tschetschenen mit sehr guten Erfolgsaussichten gegen derartige Rechtsverstöße zur Wehr setzen, ohne dass sie vorübergehend nach Tschetschenien zurückkehren müssten. In den zum Gegenstand dieses Verfahrens gemachten, seit 2002 erschienenen Berichten der Menschenrechtsorganisation "Memorial" sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen es durch die Einschaltung von Abgeordneten, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen oder Rechtsanwälten sowie erforderlichenfalls durch das Beschreiten des Rechtswegs gelungen ist, Tschetschenen eine Registrierung zu verschaffen. In Gestalt der 58 Beratungsstellen, über die die Organisation "Migration und Recht" verfügt, steht Betroffenen ein russlandweites Netz zur Verfügung, in dem jährlich mehr als 20.000 Menschen beraten werden. Soweit nicht bereits mit außerprozessualen Mitteln Abhilfe geschaffen werden kann, darf zumindest in aller Regel davon ausgegangen werden, dass der Betroffene vor Gericht Recht erhalten wird. Denn die russischen Gerichte üben Verwaltungskontrolle nach US-Vorbild aus; behördliche Bescheide können vor dem örtlich zuständigen Bezirksgericht angefochten werden. Die Gerichte sind die einzigen staatlichen Institutionen in Russland, die Tschetschenen Rechtsschutz gewähren. Da stattgebende gerichtliche Entscheidungen im Durchschnitt nach einigen Monaten ab Verfahrenseinleitung ergehen, kann ungeachtet des Umstandes, dass die Verwaltung fallweise rechtswidrige Bescheide trotz ihrer Aufhebung mehrmals erlassen hat, nicht davon gesprochen werden, eine Verweigerung der Registrierung stelle einen Eingriff in nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG geschützte Rechte dar, der zudem die nach diesen Bestimmungen erforderliche Schwere erreicht. Soweit es einige Monate dauern sollte, bis der Kläger eine Registrierung erhält, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG/GARP-Programm und durch Aushilfstätigkeiten überbrückt werden (vgl. BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
50 
c.) Bei einer Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation als Tschetschenien hätte der Kläger auch keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Verfolgung im Hinblick auf ihm dort etwa drohende polizeiliche Maßnahmen zu befürchten.
51 
Auch wenn der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen etwas abgenommen hat, berichten russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; die Angehörigen dieses Personenkreises stünden unter einer Art Generalverdacht (AA, Lageberichte vom 04.04.2010 und vom 07.03.2011). Personenkontrollen auf der Straße oder in der U-Bahn sowie Hausdurchsuchungen fänden weiterhin statt, hätten jedoch an Intensität nachgelassen; Anweisungen russischer Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen seien nicht bekannt (AA, Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011).
52 
Auch derartige Vorgänge sind indessen unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 2004/83/EG grundsätzlich noch nicht rechtserheblich. Muss ein Tschetschene häufiger seinen Ausweis vorzeigen oder sieht er sich öfter mit Durchsuchungsmaßnahmen konfrontiert, als das bei sonstigen Bewohnern der Russischen Föderation der Fall ist, so mag diese Schlechterstellung zwar an die Volkszugehörigkeit, das körperliche Erscheinungsbild oder die regionale Herkunft - und damit an ein Merkmal im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bzw. Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG - anknüpfen. Da solche polizeiliche Handlungen indes weder die in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" oder "Freiheit" noch grundlegende Menschenrechte (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/83/EG) verletzen und sie die Betroffenen auch nicht im Sinn von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG in ähnlich gravierender Weise beeinträchtigen, kommt diesen Praktiken - ungeachtet ihres diskriminierenden Charakters - im Regelfall keine flüchtlingsrechtliche Relevanz zu.
53 
Eine hiervon abweichende Betrachtung wäre dann geboten, wenn es bei derartigen Kontroll- oder Durchsuchungsmaßnahmen zu Übergriffen auf Leib oder Leben der Betroffenen käme oder sie mit einem Freiheitsentzug einhergehen würden, der von seiner zeitlichen Länge her den Rahmen übersteigt, innerhalb dessen eine Person auch in einem Rechtsstaat durch die vollziehende Gewalt vorübergehend festgehalten werden darf. Dass sich der Kläger solchen Praktiken ausgesetzt sehen wird, lässt sich jedoch mit praktischer Sicherheit ausschließen. Gleiches gilt für die Besorgnis, ihm könnten gefälschte Beweismittel untergeschoben werden, um ihn ungerechtfertigt mit einem Strafverfahren zu überziehen. Denn eine Auswertung der einschlägigen Erkenntnismittel ergibt, dass jedenfalls solche Tschetschenen, bei denen es sich nicht um junge Männer handelt, die sich - unmittelbar aus dem früheren Bürgerkriegsgebiet kommend - in andere Teile der Russischen Föderation begeben haben, und die auch nicht durch individuelles rechtswidriges Vorverhalten Anlass für ein polizeiliches Einschreiten gegeben haben, bei Kontakten mit den staatlichen Sicherheitsorganen keine Übergriffe befürchten müssen, denen flüchtlingsrechtliche Relevanz zukommt. So liegt der Fall beim Kläger. Zum einen hat er etwa neun Jahre im Ausland verbracht, so dass keine Rede davon sein kann, dass er direkt aus dem Bürgerkriegsgebiet in andere Gebiete der Russischen Föderation eingereist ist. Zum anderen hat er auch nicht glaubhaft angegeben, in einer militärisch organisierten Rebelleneinheit gekämpft zu haben. Aus den Erkenntnismitteln geht hervor, dass bei Tschetschenen, die nicht die vorbezeichneten Ausnahmekriterien erfüllen, stichhaltige Gründe dagegen sprechen, sie könnten mit ungerechtfertigten strafrechtlichen Vorwürfen überzogen werden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris).
54 
d.) Die in der Russischen Föderation zu beobachtenden Vorkommnisse, deren Ursache in rassistischen oder fremdenfeindlichen Motiven zu suchen sind, stehen der Annahme einer inländischen Fluchtalternative bzw. eines internen Schutzes nach § 60 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 RL 2004/83/EG gleichfalls nicht entgegen.
55 
Der Senat übersieht nicht, dass Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen. M. Grob (SFH vom 12.09.2011) spricht davon, dass Rassismus gegenüber Kaukasiern in Russland weit verbreitet sei und auch gewalttätigen Charakter habe. Hierbei handelt es sich allerdings lediglich um eine allgemeine Aussage; nachvollziehbare Einzelheiten werden nicht angegeben. Auch R. Mattern (SFH vom 03.06.2010) berichtet von Rassismus als gesellschaftliches Problem. Gefährdungen bestünden für Ausländer mit dunkler Hautfarbe. Allerdings würden russische Sicherheitskräfte versuchen, rassistische Gewalt mit repressiven Methoden zu bekämpfen. Allein im ersten Quartal 2010 seien in 18 Urteilen 74 Personen wegen rassistischer Gewalt verurteilt worden. Im Lagebericht des AA vom 07.03.2011 werden keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Rassismusvorfälle gegenüber Tschetschenen berichtet, die nicht nach Tschetschenien, sondern in andere Teile der Russischen Föderation zurückkehren. Im Bericht von U. Rybi (FFH vom 25.11.2009) finden sich hierzu gleichfalls keine Angaben. Zwar spricht auch der Memorial-Bericht April 2009 (Hrsg. Svetlana Gannuschkina, „ Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Oktober 2007 - April 2009 - im Folgenden: Memorial-Bericht April 2009) von einem „neuen“ Feindbild in Russland, das sich gegen Tschetschenen richte. Die Berichterstattung beschreibt aber im Wesentlichen ein geistiges Klima. Gewalttätige Übergriffe rechtsradikaler russischer Kräfte auf Tschetschenen, die staatlicherseits initiiert oder geduldet würden, werden in einem asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Ausmaß hingegen - auch im vorausgehenden Memorial-Bericht Oktober 2007, - nicht geschildert. Soweit es Mitte August 2005 im südrussischen Jandyki und in Naltschik - der Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien - zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Tschetschenen und Angehörigen anderer Volksgruppen gekommen ist (vgl. Memorial-Bericht 2006 [Juli 2005 - Juli 2006]), sind solche Vorkommnisse, bei denen die Gewalttätigkeiten im Übrigen auch von der tschetschenischen Seite ausgingen, in jüngerer Zeit nicht mehr bekannt geworden (vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 09.08.2010 - 11 B 09.30091 -, juris; Urteil vom 11.11.2010 - 11 B 09.30087 -, juris). Den Erkenntnismitteln kann bei der gebotenen Objektivität nicht entnommen werden, dass ethnische Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Opfer gewalttätiger Übergriffe aus fremdenfeindlichen Beweggründen werden. Angesichts der Vielzahl von in der Russischen Föderation sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Tschetschenen bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben über gegen sie gerichteten Maßnahmen keine zureichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen asyl- bzw. flüchtlingserheblichen Verfolgungsbetroffenheit (vgl. auch OVG Bremen, Urteil vom 29.04.2010 - 2 A 315/08.A -, EZAR-NF 62 Nr. 20. Die Frage, inwieweit sich der russische Staat solche von gesellschaftlichen Kräften ausgehenden Übergriffe gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG zurechnen lassen muss, kann deshalb auf sich beruhen.
56 
e.) Dem Kläger droht aufgrund seines Alters von 55 Jahren auch nicht mehr die Einberufung zum Wehrdienst in der russische Armee (vgl. Lagebericht vom 4.4.2010, wonach die allgemeine Wehrpflicht nur für Männer zwischen 18 und 28 Jahren besteht).
57 
f.) Dem Auswärtigen Amt sind ferner keine Fälle bekannt geworden, in denen tschetschenische Volkszugehörige bei oder nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt waren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.2011). Zwar geht das Auswärtige Amt davon aus, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren; diese Befürchtung bezieht sich jedoch insbesondere auf solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage besonders engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen, oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren (Lageberichte vom 4.4.2010 und vom 07.03.201; vgl. insoweit auch BayVGH, Urteil vom 11.11.2010 – 11 B 09.30087 -, juris). Zu diesen besonderen Risikogruppen gehört der Kläger indessen nicht.
58 
g.) Dem Kläger ist auch mit Blick auf die Gewährleistung des Existenzminimums eine Aufenthaltsnahme in den übrigen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zumutbar.
59 
Eine interne Fluchtalternative im Sinne von Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG setzt neben der - oben dargelegten - Verfolgungssicherheit voraus, dass von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Maßgeblich ist insofern, ob der Kläger im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein wird, wobei es im Hinblick auf die Neufassung des § 60 AufenthG zur Umsetzung der RL 2004/83/EG nicht (mehr) darauf ankommt, ob diese Gefahren am Herkunftsort ebenso bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11/07 -, BVerwGE 131, 186). Zur Interpretation des Begriffs der persönlichen Umstände im Sinne des Art. 8 Abs. RL 2004/83/EG kann auf Art. 4 Abs. 3 Buchst. c RL 2004/83/EG zurückgegriffen werden, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind. Zu fragen ist sodann auf der Grundlage dieses gemischt objektiv-individuellen Maßstabs, ob von einem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort der internen Fluchtalternative aufhält. Erforderlich hierfür ist, dass er am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben.
60 
Eine existentielle Bedrohung ist gegeben, wenn das Existenzminimum nicht gesichert ist. Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel, wenn sie dort - was grundsätzlich zumutbar ist - durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer "Schatten- oder Nischenwirtschaft" stattfinden. Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine kriminelle Arbeit - etwa durch Beteiligung an Straftaten im Rahmen „mafiöser“ Strukturen - ist dagegen nicht zumutbar (BVerwG, Beschluss vom 17.05.2005 - 1 B 100/05 -, juris). Maßgeblich ist grundsätzlich auch nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.08.2006 - 1 B 96.06 -, juris; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590), d.h. ob mit den erlangten Mitteln auch die notwendigsten Aufwendungen für Leben und Gesundheit bestritten werden können. Ein Leben in der Illegalität, das den Kläger jederzeit der Gefahr polizeilicher Kontrollen und der strafrechtlichen Sanktionierung aussetzt, stellt demgegenüber keine zumutbare Fluchtalternative dar (BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590).
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen ist es dem Kläger - nach der gegenwärtigen Sachlage (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG sowie Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) - zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, in dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
62 
Wie bereits ausgeführt erweitert die Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20.12.2006 die Möglichkeit zur Beantragung und Ausstellung des Inlandspasses in räumlicher Hinsicht. Dieser kann nunmehr am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung ausgestellt werden (vgl. AA, Lageberichte vom 22.11.2008 und vom 07.03.2011; ebenso Memorial-Bericht Oktober 2007). Die Innehabung eines gültigen Inlandspasses ist ihrerseits Voraussetzung für die in diesen Pass zu stempelnde Wohnsitzregistrierung. Die Registrierung, die dem Kläger - wie oben ausgeführt - wenn auch ggf. mit leichter Verzögerung ebenso wie seiner Ehefrau möglich ist, legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. AA, Lagebericht vom 07.03.2011; Memorial-Bericht, Oktober 2007). Mit der Registrierung besteht auch für die Kinder des Klägers Zugang zur Bildung (Memorial-Bericht Oktober 2007). Svetlana Gannuschkina berichtet im Memorial-Bericht Oktober 2007, dass im vergangenen Jahr keine Klagen von Menschen aus Tschetschenien über Diskriminierung bei der Arbeitsaufnahme vorlägen.
63 
Die persönlichen Umstände des Klägers rechtfertigen keine andere Einschätzung. Der Kläger ist mit 55 Jahren noch in einem arbeitsfähigen Alter. Hinzu kommt, dass seine Ehefrau mit 44 Jahren deutlich jünger ist und damit ebenfalls durch legale Arbeit infolge Registrierung zum notwendigen Lebensunterhalt beitragen kann. So berichtet Svetlana Gannuschkina, dass tschetschenische Frauen auf der Straße und den Märkten durch Handel ihr Geld verdienen können (Memorial-Bericht Oktober 2007). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch keine seine Arbeitsfähigkeit wesentlich einschränkende Erkrankung substantiiert dargelegt. Dem Senat liegt zwar das psychologische Gutachten des Evangelischen Migrationsdienstes in Württemberg e.V. vom 26.10.2006 über den Kläger vor. Darin wird angegeben, der Kläger leide an einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Zusätzlich bestehe eine Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger indessen lediglich angegeben, er gehe ein- bis zweimal im Monat zum Arzt. Er leide an Bluthochdruck. Er sei auch in Behandlung wegen der Nerven und wegen Operationen. Weitere detaillierte Angaben hat der Kläger nicht gemacht. Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass für den Kläger infolge der Registrierung ein Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem besteht und posttraumatische Belastungsstörungen in der Russischen Föderation in großen und größeren Städten grundsätzlich behandelt werden können (vgl. R. Mattern, SFH, Auskunft vom 20.04.2009), kann vom Kläger vernünftigerweise erwartet werden, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens Aufenthalt zusammen mit seiner Ehefrau und seinen Kindern zu nehmen. Angesichts dessen, dass der Kläger zu seiner psychischen Erkrankung, wie sie im psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 - also vor mehr als sechs Jahren - dargestellt wird, keine weiteren substantiierten Angaben gemacht hat, insbesondere dem Senat nicht erläutert hat, ob die seinerzeit diagnostizierte psychische Erkrankung überhaupt noch besteht und wenn ja, welche Behandlungsmaßnahmen erfolgen, war dem vom Kläger hilfsweise gestellten Beweisantrag Ziff. 3 (vgl. den als Anhang zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung genommenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 15.02.2012) auf Einholung eines Gutachtens von Herrn Dr. T... S... zum Beweis der Tatsache, dass „der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, an einer jetzt schon chronifizierten Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, dass diese psychische Erkrankung bereits jetzt schon chronifiziert ist aufgrund der Dauer des Verfahrens, dass diese psychische Erkrankung auch Auswirkungen auf sein Aussageverhalten hat im Sinne eines Verdrängungsmechanismus, so dass bei einer Rückkehr oder Abschiebung der Kläger ein akutes Wiederholungstrauma erleiden würde, eine sog. Retraumatisierung in jedem Fall jedoch diese Erkrankung behandlungsbedürftig ist und zwar in einem sicheren Rahmen in der Bundesrepublik Deutschland, ansonsten sich die Erkrankung akut verschlimmert“, nicht nachzugehen. Den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind keine zureichenden Anhaltspunkte für eine akute posttraumatische Belastungsstörung und erst recht nicht für eine chronifizierte Persönlichkeitsänderung zu entnehmen. Die entsprechenden Behauptungen im Beweisantrag werden daher nicht durch tatsächliche Indizien gestützt. Sie erscheinen vielmehr als „ins Blaue hinein“ erhoben; der Beweisantrag ist daher als Ausforschungsbeweisantrag unzulässig. Für den Senat kommt hinzu, dass - wie bereits aufgezeigt - in der Russischen Föderation posttraumatische Belastungsstörungen behandelt werden können. Weiterhin wird in dem psychologischen Gutachten vom 26.10.2006 ausgeführt, dass die Sorge um die Rückkehr aufgrund massiver Ängste vor einer möglichen Folterung und/oder Ermordung zwar die Symptomatik verstärke, jedoch nicht die Ursache der Erkrankung sei. Die Symptomatik und die Verhaltensweisen könnten zudem nicht durch eine Sorge vor einer möglichen Rückkehr erklärt werden. Auch könne die Entwurzelung im Exilland (Unkenntnis der Landessprache, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse) als Ursache der bestehenden psychischen Störung ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings zusätzlich festzustellen, dass das Gutachten von einer Rückkehr nach Tschetschenien ausgegangen ist. Da der Kläger sowohl tschetschenisch als auch russisch versteht und spricht, kann von einer Unkenntnis der Landessprache wohl nicht ausgegangen werden. Auch besteht angesichts der fehlenden inhaltlich aussagekräftigen Angaben des Klägers zu seiner derzeitigen psychischen Verfassung keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er bei einer Niederlassung in einem anderen Teil der Russischen Föderation als Tschetschenien eine Registrierung erst nach dem Ablauf einer Zeitspanne erhalten wird, die so lange ist, dass sich ein aus seiner psychischen Verfassung ergebendes Lebens- bzw. Gesundheitsrisiko - wie im Beweisantrag behauptet - bis dahin realisieren könnte.
64 
In Würdigung all dessen kann vom Kläger vernünftigerweise verlangt werden, dass er sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens aufhält. Nach den eben beschriebenen dortigen allgemeinen Gegebenheiten besteht für den Kläger weder eine begründete Furcht vor Verfolgung noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.
II.
65 
Der Kläger erfüllt ferner nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG (i.V.m. Abs. 11 und Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG).
66 
Über die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 sowie Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist auch in den Fällen zu entscheiden, in denen das Bundesamt - wie vorliegend - vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes über das (Nicht-)Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten entschieden hat und hiergegen Klage erhoben worden ist. In den anhängigen gerichtlichen Verfahren wächst der am 28.08.2007 neu hinzugetretene unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz automatisch an und ist damit zwingend zu prüfen. Über dieses Prüfprogramm können die Verfahrensbeteiligten nicht disponieren und damit in Übergangsfällen das Anwachsen des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes während des gerichtlichen Verfahrens nicht verhindern. In diesen Fällen bedarf es keiner ausdrücklichen Einbeziehung des neuen, auf Unionsrecht beruhenden subsidiären Abschiebungsschutzes in das anhängige gerichtliche Verfahren durch einen der Verfahrensbeteiligten (zur prozessrechtlichen Bedeutung dieser Abschiebungsverbote und zu ihrem Verhältnis zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 3 AufenthG sowie zum Streitgegenstand im asylrechtlichen Verwaltungsprozess vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198; Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris = DVBl 2011, 1565 [Ls.]; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
67 
1. Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG (i.V.m. Art. 15 Buchst. b RL 2004/83/EG und Art. 3 EMRK) liegen nicht vor.
68 
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Regelung des § 60 Abs. 2 AufenthG dient der Umsetzung von Artikel 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG, der seinerseits im Wesentlichen dem Grundrecht aus Art. 3 EMRK entspricht (vgl. EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 – Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen bestehen in der Person des Klägers insbesondere auch deshalb keine zureichenden Anhaltspunkte, weil kein Strafverfahren gegen ihn anhängig ist oder ihm droht.
69 
2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 3 AufenthG liegt gleichfalls nicht vor.
70 
Nach § 60 Abs. 3 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. a RL 2004/83/EG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Im vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Gefahr.
71 
3. Die Voraussetzungen für eine Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben.
72 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685 - EMRK -) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für das Vorliegen eines solchen Abschiebungsverbotes ist nichts ersichtlich, insbesondere muss der Kläger - wie oben ausgeführt - nicht befürchten, außerhalb Tschetscheniens in unmenschlicher oder erniedrigender Weise behandelt oder gar gefoltert zu werden (Art. 3 EMRK). Andere Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention sind im Fall des Klägers tatbestandlich nicht einschlägig. Dies gilt auch mit Blick auf Art. 8 EMRK. Denn die Asylanträge seiner Ehefrau und seiner Kinder bleiben gleichfalls ohne Erfolg; ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland besteht nicht.
73 
4. Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG sind nicht erfüllt.
74 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, durch den die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 Buchst. c und Art. 2 Buchst. e RL 2004/83/EG ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Bestimmung entspricht trotz geringfügig abweichender Formulierungen den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG und ist in diesem Sinne auszulegen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris).
75 
Es kann vorliegend dahinstehen, ob in Tschetschenien derzeit noch ein - regional begrenzter (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008, - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198) - innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht und ob deshalb in dieser Region auch eine individuelle Bedrohung des Klägers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner Gefahren im Rahmen des bewaffneten Konflikts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56 Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris ) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris; Beschluss vom 23.11.2011- 10 B 32/11 -, juris) anzunehmen ist. Denn ein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht bei einem - nur - regional begrenzten Konflikt dann nicht, wenn dem Betroffenen ein interner Schutz nach Art. 8 RL 2004/83/EG (i.V.m. § 60 Abs. 11 AufenthG) zur Verfügung steht, weil außerhalb der Region keine Gefahrenlage im oben dargestellten Sinn besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.2009, - 10 C 9.08 -, BVerwGE 134, 188; Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 17.02.2009, - C-465/07 - Elgafaji, InfAuslR 2009, 138 = NVwZ 2009, 705). Dies ist vorliegend der Fall. Denn dem Kläger steht nach den obigen Ausführungen in anderen Teilen der Russischen Föderation eine zumutbare interne Schutzalternative zur Verfügung. Diese ist auch erreichbar und es kann von ihm - wie dargelegt - auch unter Würdigung seiner persönlichen Belange und bei Bewertung der gesamten Umstände vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält.
III.
76 
In der Person des Klägers liegen schließlich auch nicht die Voraussetzungen für die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der verfassungskonformen Anwendung von Satz 1 und 3 (vgl. zum einheitlichen Streitgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris) vor.
77 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird - abgesehen von Fällen der richtlinienkonformen Auslegung bei Anwendung von Art. 15 Buchst. c RL 2004/83/EG für internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte - der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
78 
Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07-, BVerwGE 131, 198). Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
79 
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 = InfAuslR 2010, 404 = NVwZ 2011, 56; Urteil vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226 = AuAS 2010, 249 = InfAuslR 2010, 458 = NVwZ 2011, 48; Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris; Urteil vom 29.09.2011 - 10 C 23.10 -, NVwZ 2012, 244).
80 
In Anwendung dieser Grundsätze besteht, wie der Senat unter I. 2. festgestellt hat, eine solche extreme konkrete Gefahrenlage für den Kläger in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht.
IV.
81 
Die in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 11.05.2004 enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung entspricht den gesetzlichen Vorschriften (vgl. § 34 und § 38 Abs. 1 AsylVfG) und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
82 
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
83 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entsprach nicht der Billigkeit (§ 154 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung), dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten aufzuerlegen, da dieser keinen Antrag gestellt und somit auch kein Kostenrisiko übernommen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung).
84 
Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben.
85 
Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.

(2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.

Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 183 mit Strafe bedroht ist.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens; der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG.
Der am XXX geborene Kläger ist Staatsangehöriger von Serbien und Montenegro albanischer Volkszugehörigkeit aus dem Kosovo. Er reiste im Jahr 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden: Bundesamt) vom 10.08.1999 wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich seiner Abschiebung nach (Rest-)Jugoslawien (Republik Serbien und Montenegro) vorliegen. Hierzu war das Bundesamt durch das seit dem 30.07.1999 rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.1999 (A 14 K 30551/96) verpflichtet worden. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hatte seine Entscheidung damit begründet, dass dem Kläger aufgrund seiner albanischen Volkszugehörigkeit im serbischen und montenegrinischen Teil der Bundesrepublik Jugoslawien durch die von Milosevic geführte Regierung politische Gruppenverfolgung drohe. Es seien trotz des Abkommens über den Rückzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo keine Anzeichen dafür ersichtlich, dass das Regime von Milosevic seine Politik der ethnischen Säuberung aufgegeben habe und auf Dauer landesweit zur Gewährung und Aufrechterhaltung einer friedlichen Koexistenz zwischen den Bevölkerungsgruppen bereit wäre. Das Kosovo, in dem dem Kläger keine politische Verfolgung drohe, stelle zum Entscheidungszeitpunkt keine hinreichend sichere Fluchtalternative dar. Denn dort drohten dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit existenzielle Gefahren. Diese ergäben sich daraus, dass ca. 500.000 Kosovo-Albaner als Binnenflüchtlinge in Wäldern leben müssten. Ferner seien 2/3 der Dörfer im Kosovo zerstört. Wegen des Ausfalls der Ernte im Jahr 1999 drohe eine Hungersnot. Die medizinische und die Trinkwasserversorgung seien in der Folge der Vertreibungsmaßnahmen durch die Serben und die NATO-Luftangriffe zusammengebrochen. Außerdem sei das Kosovo großflächig vermint. In Einzelfällen komme es noch zu Übergriffen serbischer paramilitärischer Gruppen.
Am 10.07.2003 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein und gab dem Kläger mit Schreiben vom 30.07.2003 Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Bevollmächtigte des Klägers trug mit Schreiben vom 27.08.2003 vor, die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lägen nicht vor.
Mit Bescheid vom 05.09.2003 - ein Zustellungsnachweis findet sich nicht in den Akten - widerrief das Bundesamt die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Außerdem stellte es fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung des Widerrufs führte das Bundesamt aus, die innenpolitischen Verhältnisse im Kosovo hätten sich seit Beendigung der Kampfhandlungen im Sommer 1999 grundlegend geändert. Staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Albaner könnten mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG sei nicht festzustellen.
Der Kläger hat am 23.09.2003 Klage erhoben. Er beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 05.09.2003 aufzuheben,
hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung von Ziff. 2 des Bescheides vom 05.09.2003 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig. Zur Begründung verweist sie auf die angefochtene Entscheidung.
11 
Die Kammer hat mit Beschluss vom 24.01.2005 den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
12 
Dem Gericht liegen die einschlägigen Behördenakten vor. Diese waren ebenso Gegen-stand der mündlichen Verhandlung wie die den Beteiligten bekannt gegebenen Erkenntnismittel.

Entscheidungsgründe

 
13 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl keiner der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
14 
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig. Dabei geht das Gericht davon aus, dass mit Klageerhebung am 23.09.2003 die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 1 AsylVfG von zwei Wochen noch gewahrt wurde. Über die Zustellung des Bescheids vom 05.09.2003 befindet sich nämlich kein Nachweis in den Akten der Beklagten.
15 
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG besteht nicht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage hat das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abgestellt (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG).
16 
Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 05.09.2003 findet seine Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG in der seit dem 01.01.2005 geltenden Fassung. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
17 
Aufgrund dieser Vorschrift kann auch die Feststellung widerrufen werden, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, obwohl diese Vorschrift am 01.01.2005 außer Kraft getretenen ist (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil v. 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -, ebenso: VG Karlsruhe, Urteil v. 04.02.2005 - A 3 K 11689/04 -). Denn eine vor dem 01.01.2005 getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bleibt trotz der Rechtsänderung als Verwaltungsakt wirksam (vgl. §§ 43 Abs. 2 und 3, 44 VwVfG). Sie ist nach dem 01.01.2005 als Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu behandeln. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, wonach es sich bei den in den §§ 73, 31, 42 AsylVfG vorgenommenen Änderungen betreffend §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG lediglich um redaktionelle Änderungen handelt, die zur Anpassung an das Aufenthaltsgesetz erforderlich sind (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 110 ff.). Inhaltlich werden die Voraussetzungen des alten § 51 Abs. 1 AuslG vom neuen § 60 Abs. 1 AufenthG jedenfalls mit umfasst (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 91; VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -).
18 
Für das Entfallen der Voraussetzungen einer Asylanerkennung und einer Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bedarf es einer nachträglichen Änderung der für die positive asylrechtliche Entscheidung maßgebenden Sach- und Rechtslage. Eine lediglich abweichende Bewertung der entscheidungserheblichen Umstände auf der Grundlage einer unveränderten Tatsachenbasis oder eine Änderung der Erkenntnislage reicht demgegenüber nicht aus (BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12/00 -, BVerwGE 11, 80). Vielmehr müssen sich die tatsächlichen Verhältnisse so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor neuer Verfolgung sicher ist und daher ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, S. 367 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -, vensa).
19 
Darüber hinaus ist dann, wenn - wie hier - die Feststellung des Bundesamtes auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil beruht, das Rechtsinstitut der Rechtskraft zu beachten, aus dem folgt, dass ein Widerruf des Bundesamtsbescheides nur nach Änderung der für das Urteil maßgeblichen Sach- oder Rechtslage erfolgen darf. Rechtskräftige Urteile binden nach § 121 VwGO die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dabei hindert die Rechtskraft grundsätzlich jede erneute und erst Recht jede abweichende Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung über den Streitgegenstand. Von dieser Bindung stellt § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Behörde nicht frei. Diese Bestimmung setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraftwirkung geendet hat, weil sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert hat und so die sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft überschritten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118). Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118; BVerwG, Urt. v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, NVwZ 2004, 113) .
20 
Wird auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG n.F. eine Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen, ist für die Zulässigkeit eines Widerrufs neben dem nachträglichen Entfallen der für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG maßgeblichen Umstände zusätzlich erforderlich, dass zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch die Voraussetzungen des mit einem weiteren Anwendungsbereich versehenen § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.
21 
Die im Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.1999 festgestellte Sachlage, aufgrund derer es das Bundesamt verpflichtet hat, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen, hat sich nachträglich so wesentlich geändert, dass eine Durchbrechung der Rechtskraft des genannten Urteils gerechtfertigt ist. Insbesondere kann nun nicht mehr - wie im genannten Urteil - davon ausgegangen werden, das Kosovo, in dem der Kläger nicht politisch verfolgt werde, stelle keine hinreichend sichere und zumutbare Fluchtalternative dar. Das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche Existenzminimum ist jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewährleistet. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 23.08.2004 (A 6 S 70/04, vensa) sowie aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004 (ebenso bereits VGH Bad.-Württ., Urteil v. 17.03.2000 - 14 S 1167/98 -, juris). Diesen kann entnommen werden, dass im Hinblick auf die Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln und Trinkwasser sowie im Bereich der medizinischen Versorgung so wesentliche Veränderungen eingetreten sind, dass nicht mehr davon gesprochen werden kann, es drohe ein Leben unter dem Existenzminimum oder es sei mit lebensbedrohlichen Gefahren oder Nachteilen zu rechnen. Darüber hinaus hat sich auch die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe seinem Urteil vom 21.06.1999 noch zugrunde gelegte hohe Minengefahr durch das im Jahr 2001 durchgeführte Minenräumungsprogramm so verringert, dass nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dem Kläger drohten im Kosovo unzumutbare Nachteile. Gleiches gilt für die Gefahr, als albanischer Volkszugehöriger Opfer einer ethnisch motivierten Gewalttat zu werden. Die Unruhen vom März 2004 wurden von der albanischen Bevölkerungsmehrheit verübt und richteten sich vor allem gegen ethnische Minderheiten. Darüber hinaus hat sich die Situation mittlerweile wieder beruhigt (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -, vensa und den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004).
22 
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen in Bezug auf den Kläger auch nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor.
23 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
24 
Damit wird in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II S. 559) Bezug genommen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 18.01.1994 - 9 C 48/92 -, BVerwGE, 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG erkannte Identität zwischen dem Begriff „politische Verfolgung“ und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gilt für § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr. Maßgebend für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist nun der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (so auch: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.; Duchrow, ZAR 2004, 339). Wenn nun in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von „nichtstaatlichen Akteuren“ ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen „erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten“, so stellt dies einen Perspektivwechsel von der „täterbezogenen“ Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16a GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ zur „opferbezogenen“ Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und damit von der „Zurechnungslehre“ zur „Schutzlehre“ dar (ebenso: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; vgl. ferner Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 79 ff.).
25 
Diese veränderte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG im Vergleich zu § 51 Abs. 1 AuslG ergibt sich zunächst daraus, dass die beiden auf den Wortlaut des § 51 Abs. 1 AuslG gestützten Argumente, die das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung dafür herangezogen hat, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Begriff der „politischen Verfolgung“ des Art. 16a Abs. 1 GG identisch sind, mit der Formulierung des § 60 Abs. 1 AufenthG entfallen sind. Zur Begründung hatte das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung zum einen die amtliche Überschrift des § 51 AuslG („Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter“) herangezogen. Die amtliche Überschrift des § 60 AufenthG lautet nun jedoch lediglich: „Verbot der Abschiebung“. Zum anderen hatte das Bundesverwaltungsgericht auf § 51 Abs. 2 S. 2 AuslG verwiesen, in dem andere Fälle geregelt waren, „in denen sich der Ausländer auf politische Verfolgung beruft“. Diese Vorschrift wurde gestrichen bzw. wurde mit der Regelung des § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG modifiziert. Die Änderung des Wortlauts der letztgenannten Vorschrift war möglich, weil die Regelung des § 51 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG ersatzlos entfallen ist. Damit wurde - was ebenfalls für die hier vertretene Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG spricht - das Vorliegen der Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vom Vorliegen der Asylberechtigung materiell-rechtlich entkoppelt, auch wenn für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG weiterhin das Bundesamt zuständig und das AsylVfG anwendbar sein soll (§ 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG, § 5 AsylVfG); denn dies hängt mit der größeren länderspezifischen Sachkompetenz des Bundesamtes zusammen (vgl. auch § 72 Abs. 2 AufenthG). Des Weiteren ist aus dem Zusatz in § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG („und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht“) zu schließen, dass mit § 60 Abs. 1 AufenthG das im Begriff der „politischen Verfolgung“ enthaltene Merkmal der Verantwortlichkeit eines Staates keine Rolle mehr spielen soll. Generell ist in § 60 Abs. 1 AufenthG nur von „Verfolgung“ und nicht von „politischer Verfolgung“ die Rede.
26 
Die Motive des Gesetzgebers deuten ebenfalls auf eine Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im oben genannte Sinne hin (BT-Drucksache 15/420, S. 91). Zwar entspricht nach diesen § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG. In der folgenden Begründung des § 60 AufenthG wird jedoch in Bezug auf die Sätze 3-5 hervorgehoben, dass mit ihnen in zum Teil die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellender, zum Teil erstreckender Weise eine Anpassung an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgen sollte und dass sich Deutschland nunmehr auch insoweit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union anschließt.
27 
Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“, ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 Abs. 1 AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - „Inter-Environnement Wallonie ASBL“, Slg. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der „politischen Verfolgung“ im Sinne der sog. „Zurechnungslehre“, sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff im Sinne der sog. „Schutztheorie“ aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).
28 
Das oben dargelegte Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG hat über das Begriffliche hinaus auch inhaltliche Konsequenzen. Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard erfordert einen effektiven Schutz vor Verfolgung, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugerechnet werden kann oder nicht (VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -). Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Ziff. 65). Von einer mangelnden Schutzgewährung ist dabei nicht nur dann auszugehen, wenn die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel keinen effektiven Schutz gewähren können oder die Übergriffe unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen haben (vgl. zu Art. 16a Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 ff). Vielmehr kommt es unter dem Gesichtspunkt der Schutzgewährung darauf an, ob der Schutz im konkreten Einzelfall effektiv und angemessen ist (so auch VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -), wobei hier bei der prognostischen Prüfung der Frage, ob der zur Verfügung gestellte Schutz effektiv ist, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass effektiver Schutz gewährt wird, wenn die in § 60 Abs. 1 S. 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG sowie Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 117 f. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des House of Lords).
29 
In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass albanische Volkszugehörige im Kosovo vor Verfolgung effektiv geschützt sind.
30 
In Bezug auf die früher durch die serbischen Behörden ausgehende Verfolgung ist dies schon deshalb anzunehmen, weil sich nach Beendigung der Kampfhandlungen zwischen der NATO und der Bundesrepublik Jugoslawien am 10.06.1999 die jugoslawischen (serbischen) Sicherheitskräfte aus dem Kosovo zurückgezogen haben und das Kosovo seitdem unter internationaler Verwaltung steht. Diese hat eine zivile (UNMIK) und eine militärische Komponente (KFOR). Das Kosovo ist völkerrechtlich zwar weiterhin Teil des Staates Serbien und Montenegro (ehemals: Bundesrepublik Jugoslawien) und der Teilrepublik Serbien. Die VN-Mission übernimmt jedoch auf der Grundlage der VN-Sicherheitsrats-Resolution 1244 (1999) die Verantwortung für das gesamte öffentliche Leben im Kosovo. Ziele der Resolution sind der Aufbau der für demokratische und autonome Selbstverwaltung erforderlichen Strukturen, Wiederaufbau von Schlüsselinfrastrukturen und sonstiger wirtschaftlicher Wiederaufbau, humanitäre und Katastrophenhilfe, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Schutz und Förderung der Menschenrechte sowie sichere Rückkehr aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen. Im Kosovo sind ca. 17.800 KFOR-Soldaten stationiert (Stand: September 2004). UNMIK ist flächendeckend in den Verwaltungen aller Landkreise vertreten. Der Aufbau einer lokalen, multiethnischen Polizei ist weit vorangetrieben worden. Auch das Justizwesen wird auf multiethnischer Grundlage wieder aufgebaut. Am 23.10.2004 haben im Kosovo mittlerweile die zweiten Parlamentswahlen stattgefunden, die insgesamt friedlich und ohne Zwischenfälle verlaufen sind. Albanische Parteien bildeten erneut eine Koalitionsregierung. Vor der Parlamentswahl hatte der Chef der VN-Übergangsverwaltung (UNMIK) Jessen-Petersen die Übergabe von mehr Befugnissen an die künftige Regierung angekündigt (vgl. hierzu den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004; ferner zu § 51 Abs. 1 AuslG und Art. 16a Abs. 1 GG: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.03.2000 - A 14 S 1167/98 -, Urt. v. 16.03.2000 - A 14 S 2443/98 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -).
31 
Aus den Unruhen vom März 2004 ist in Bezug auf Kosovo-Albaner eine hiervon abweichende Beurteilung schon deshalb ausgeschlossen, weil die dabei verübte Gewalt vor allem von Albanern ausging. Darüber hinaus hat KFOR nach der Entsendung von weiteren 2.000 Mann die Sicherheitslage nun wieder unter Kontrolle. Die Einsatztaktik der deutschen KFOR-Soldaten wurde grundlegend geändert. Die Soldaten sind jetzt auch mit „nicht letalen Kampfmitteln“ wie Reizgas, Schlagstöcken und Schilden für den Straßenkampf ausgestattet. Außerdem wurden mehr als 270 Personen nach den Unruhen vorläufig festgenommen, darunter auch führende Mitglieder des Veteranenverbandes der UCK. 73 Spezialisten sind zusätzlich zur Strafverfolgung der Straftäter nach Pristina gekommen und bereits 80 Verdächtige verurteilt. Auch 100 Fälle, in denen Angehörigen des KPS (Kosovo Police Service) Fehlverhalten vorgeworfen wird, werden von UNMIK überprüft (hierzu: Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004, S. 10; „Angst vor neuer Gewalt“, Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 09.03.2005, S. 2; Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Kurzinformationen, „Schwere Unruhen im Kosovo“, Stand: 05.04.2004; teilweise zeitlich überholt: UNHCR-Position zur Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo im Lichte der jüngsten ethnisch motivierten Auseinandersetzungen vom 30.03.2004; Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Kosovo, Update zur Situation der ethnischen Minderheiten nach den Ereignissen vom März 2004“ vom 24.05.2004).
32 
Gründe, aus denen nach § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG von einem Widerruf abzusehen wäre, sind vorliegend nicht erkennbar.
33 
Ob der Widerruf „unverzüglich“ i.S.v. § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG erfolgte, kann dahinstehen. Denn der Kläger wäre selbst bei einer Verletzung der Pflicht zum unverzüglichen Widerruf nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf der Asylanerkennung dient allein dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Diese lassen nicht erkennen, das Gebot, die Asylanerkennung bei Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen "unverzüglich" zu widerrufen, solle - auch - den als Asylberechtigten anerkannten Ausländer schützen, insbesondere einem Vertrauen in den Fortbestand der Asylanerkennung Rechnung tragen. Das Gesetz ordnet den Widerruf im öffentlichen Interesse an, wobei der Widerruf - im Unterschied zu einem Widerruf nach § 49 VwVfG - zunächst (vgl. § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG) nicht im Ermessen der Behörde liegt. Ebenso ist die Unverzüglichkeit des Widerrufs erkennbar allein im öffentlichen Interesse vorgeschrieben. Das ergibt sich deutlich aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Bereits nach § 16 Abs. 1 S. 1 AsylVfG i.d.F. des Gesetzes vom 09.07.1990 (BGBl. I S. 1354) war der Widerruf zwingend geboten. Auch bei längerem Zeitablauf nach Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen konnte der Asylberechtigte angesichts der damaligen Rechtslage nicht darauf vertrauen, dass von einem Widerruf abgesehen würde. Die Ergänzung um das Wort "unverzüglich" in der Neuregelung des § 73 AsylVfG durch das Gesetz vom 26.06.1992 (BGBl. I S. 1126) wurde - allein - mit der Notwendigkeit der Beschleunigung des Verfahrens begründet (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 12/2062, S. 1). Die Unverzüglichkeit des Widerrufs dient demnach ausschließlich dem öffentlichen Interesse daran, den Status eines Asylberechtigten möglichst schnell auf diejenigen Personen zu beschränken, die tatsächlich Schutz vor politischer Verfolgung benötigen (BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 9 B 280/97 -, juris; VGH Bad.-Württ, Beschluss v. 26.03.1997 - A 14 S 2854/96 -, AuAS 1997, S. 162 f.; VG Sigmaringen, Urteil v. 02.12.2003 - A 4 K 11498/01 -, juris; a.A. VG Stuttgart, Urteil v. 07.01.2003 - A 5 K 11226/01 -, InfAuslR 2003, 261).
34 
Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG ist auf § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht anwendbar (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 12.08.2003 - A 6 S 820/03 -, vensa). Darüber hinaus hätte sie auch frühestens nach Ablauf der vom Bundesamt gesetzten Anhörungsfrist bzw. Eingang der Stellungnahme des Klägers (§ 73 Abs. 4 AsylVfG) zu laufen begonnen (BVerwG, Urteil v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, das offen lässt, ob § 48 Abs. 4 VwVfG auf § 73 AsylVfG anwendbar ist).
35 
Die Entscheidung der Beklagten über den Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG war auch nicht nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG nach Ermessen zu treffen (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -.) Die ab 01.01.2005 geltende Vorschrift des § 73 Abs. 2a S. 1-3 AsylVfG ist nämlich aus Gründen des materiellen Rechts nicht auf Widerrufsentscheidungen anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt bekannt gegeben oder richtigerweise zugestellt (§ 73 Abs. 5 AsylVfG) und damit wirksam wurden (§ 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Daher lassen sich aus § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG, wonach das Gericht für die Entscheidung auf die Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen hat, für den vorliegenden Fall keine gegenteiligen Schlussfolgerungen ableiten.
36 
Für die ab 01.01.2005 geltende Änderung des § 73 AsylVfG existiert keine ausdrücklich geregelte Übergangsvorschrift. Die Vorschriften in §§ 87 ff. AsylVfG gelten unmittelbar nur für frühere Rechtsänderungen. Fehlt eine Übergangsvorschrift, ist zunächst die konkrete Rechtsnorm und ihre Auslegung maßgeblich für die Beantwortung der Frage, auf welche Rechtsverhältnisse die Norm angewandt werden soll. Bei Zweifelsfällen geben die Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts Anhaltspunkte (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (595)). Hier folgt die Nichtanwendbarkeit des § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 bekannt gegebene Widerrufsentscheidungen aus einer Kombination aus Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und Anwendung der allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, die auch in § 96 VwVfG ihren Niederschlag gefunden haben. Eine vergleichende Anwendung der §§ 87 ff. AsylVfG führt hier nicht weiter, weil sich aus ihnen keine allgemein gültigen Aussagen ableiten lassen.
37 
Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG ist über den Widerruf oder die Rücknahme einer Asylanerkennung bzw. einer Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden, wenn nach der von S. 1 vorgeschriebenen Prüfung kein Widerruf bzw. keine Rücknahme erfolgt ist. Damit ist die Erforderlichkeit der Ermessensentscheidung an die vorherige Durchführung eines Prüfverfahrens gekoppelt, das nach § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen hat. Sinn der Einführung einer konkreten Frist für die Überprüfung der Asylanerkennungen ist nach dem Willen des Gesetzgebers, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang leer gelaufen sind, an Bedeutung gewinnen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 112). Damit wird wie bei dem im Jahr 1992 in Absatz 1 hinzugefügten Erfordernis eines „unverzüglichen“ Widerrufs dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition gedient. Aus § 73 Abs. 2a AsylVfG und seinem systematischen Zusammenhang mit § 26 Abs. 3 AufenthG ergibt sich weiter, dass die am 01.01.2005 eingeführte Prüfungspflicht darüber hinaus auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist. Denn das Bundesamt hat nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG das Ergebnis der Prüfung der Ausländerbehörde mitzuteilen, damit diese über den Aufenthaltstitel des Ausländers befinden kann. Kommt die Prüfung zum Ergebnis, dass kein Widerruf bzw. keine Rücknahme stattfindet, hat der Ausländer, der seit drei Jahren aufgrund seiner Asylanerkennung oder des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufentG eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis und damit auf eine Verfestigung seines Aufenthaltsrechts. Daraus wird deutlich, dass jedenfalls nach der Durchführung einer Prüfung nach Satz 1 des § 73 Abs. 2a AsylVfG und möglicherweise auch nach Ablauf der Dreijahresfrist ohne Durchführung einer Prüfung das Vertrauen des Ausländers darauf, dass er nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bzw. ein verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt (dazu: Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 80), im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG zu berücksichtigen ist.
38 
Dieser Ermessensentscheidung bedarf es jedoch nicht in Fällen, in denen kein Vertrauensschutz zu berücksichtigen ist, weil - wie hier - vom Bundesamt gar kein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) wurde hier widerrufen, bevor einer Prüfung des Widerrufs oder einem dreijährigen Nichtprüfen durch das Bundesamt aufgrund der Neuregelung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und des § 26 Abs. 3 AufenthG überhaupt ein Bedeutungsgehalt dergestalt zu kommen konnte, dass nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bestehe. Denn bis zum 01.01.2005 war das Bundesamt nicht innerhalb einer bestimmten Frist zur Prüfung, ob ein Widerruf oder eine Rücknahme in Betracht kommt, verpflichtet und musste auch keine Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG an die Ausländerbehörde vornehmen.
39 
Dass § 73 Abs. 2a S. 1 und 2 AsylVfG auf die bis zum 31.12.2004 bekannt gegebenen Widerrufs- bzw. Rücknahmeentscheidungen nicht anwendbar sind, ergibt sich aus den Grundsätzen des intertemporalen Verwaltungsrechts, wonach neues Verfahrensrecht nicht auf abgeschlossene Verfahren angewandt werden kann (vgl. Kopp, SGb 1993, S. 593 ff.; BVerwG, Urteil v. 26.03.1985 - 9 C 47/84 -, juris; Urteil v. 18.02.1992 - 9 C 59/91 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil v. 28.05.1991 - A 16 S 2357/90 -, juris). Ob ein Verwaltungsverfahren mit Bekanntgabe, das heißt Wirksamwerden, des Verwaltungsaktes oder jedenfalls mit Abschluss eines eventuell durchzuführenden Widerspruchsverfahrens abgeschlossen ist - wofür die Zielhaftigkeit des Verwaltungsverfahrens nach § 9 VwVfG sowie der Umstand spricht, dass die Übergangsvorschriften der §§ 87 und 87a AsylVfG im Hinblick auf die Regelung der Anwendung neuer Vorschriften zwischen Verwaltungsverfahren und gerichtlichem Verfahren unterscheiden - (so im Ergebnis auch: BVerwG, Urteil v. 12.08.1977 - IV C 20.76 -, BVerwGE 54, S. 257 (259); Urteil v. 27.09.1989 - 8 C 88.88 -, BVerwGE 82, 336 ff.; Clausen, in: Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 1; P. Stelkens/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 96, Rn. 2) oder erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit (so Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 4), kann vorliegend dahinstehen. Denn es können jedenfalls nicht nachträglich fristgebundene Verfahrenshandlungen verlangt werden, mit denen die Beteiligten nach dem bisherigen Recht nicht rechnen mussten und denen sie auch keine Rechnung mehr tragen können, weil die maßgeblichen Tatsachen bzw. Handlungen bereits in der Vergangenheit lagen oder in der Vergangenheit hätten gesetzt werden müssen, als die nunmehr damit verbundenen Folgerungen noch nicht daran geknüpft waren (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (601)). Dies ist hier der Fall. Das Bundesamt hat bei bereits bekannt gegebenen Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidungen keine Möglichkeit mehr, die Prüfungsfrist des § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG einzuhalten und die Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG im Anschluss an eine fristgerecht durchgeführte Prüfung zu machen.
40 
Die hilfsweise geltend gemachten Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG liegen nicht vor. Für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG fehlt es bereits an tatsächlichen Anhaltspunkten.
41 
Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG verlangt wegen der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dann, wenn sich der Ausländer nur auf Gefahren beruft, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, dass eine Gefahrenlage gegeben ist, die landesweit so beschaffen ist, dass der von einer Abschiebung Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der extremen Gefahr ausgesetzt wäre, mangels ausreichender Existenzmöglichkeiten an Hunger oder Krankheit zu sterben (vgl. BVerwG, Urteil v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531). Diese zu § 53 Abs. 6 AuslG ergangene Rechtsprechung gilt auch für § 60 Abs. 7 AufenthG, weil es sich insoweit nur um eine redaktionelle Änderung handelt (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 91). Eine derart extreme Gefahrenlage besteht für den Kläger im Kosovo im Hinblick auf die allgemeine soziale und wirtschaftliche Situation und die Sicherheitslage nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -).
42 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO.
43 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 71 Abs. 1 GKG. Der Gegenstandswert folgt aus § 83b Abs. 2 S.1 AsylVfG i.V.m. § 60 RVG.

Gründe

 
13 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl keiner der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
14 
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig. Dabei geht das Gericht davon aus, dass mit Klageerhebung am 23.09.2003 die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 1 AsylVfG von zwei Wochen noch gewahrt wurde. Über die Zustellung des Bescheids vom 05.09.2003 befindet sich nämlich kein Nachweis in den Akten der Beklagten.
15 
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG besteht nicht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage hat das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abgestellt (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG).
16 
Der Widerrufsbescheid der Beklagten vom 05.09.2003 findet seine Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG in der seit dem 01.01.2005 geltenden Fassung. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
17 
Aufgrund dieser Vorschrift kann auch die Feststellung widerrufen werden, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, obwohl diese Vorschrift am 01.01.2005 außer Kraft getretenen ist (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil v. 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -, ebenso: VG Karlsruhe, Urteil v. 04.02.2005 - A 3 K 11689/04 -). Denn eine vor dem 01.01.2005 getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bleibt trotz der Rechtsänderung als Verwaltungsakt wirksam (vgl. §§ 43 Abs. 2 und 3, 44 VwVfG). Sie ist nach dem 01.01.2005 als Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu behandeln. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, wonach es sich bei den in den §§ 73, 31, 42 AsylVfG vorgenommenen Änderungen betreffend §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG lediglich um redaktionelle Änderungen handelt, die zur Anpassung an das Aufenthaltsgesetz erforderlich sind (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 110 ff.). Inhaltlich werden die Voraussetzungen des alten § 51 Abs. 1 AuslG vom neuen § 60 Abs. 1 AufenthG jedenfalls mit umfasst (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 91; VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -).
18 
Für das Entfallen der Voraussetzungen einer Asylanerkennung und einer Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bedarf es einer nachträglichen Änderung der für die positive asylrechtliche Entscheidung maßgebenden Sach- und Rechtslage. Eine lediglich abweichende Bewertung der entscheidungserheblichen Umstände auf der Grundlage einer unveränderten Tatsachenbasis oder eine Änderung der Erkenntnislage reicht demgegenüber nicht aus (BVerwG, Urteil v. 19.09.2000 - 9 C 12/00 -, BVerwGE 11, 80). Vielmehr müssen sich die tatsächlichen Verhältnisse so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor neuer Verfolgung sicher ist und daher ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.07.1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, S. 367 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -, vensa).
19 
Darüber hinaus ist dann, wenn - wie hier - die Feststellung des Bundesamtes auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil beruht, das Rechtsinstitut der Rechtskraft zu beachten, aus dem folgt, dass ein Widerruf des Bundesamtsbescheides nur nach Änderung der für das Urteil maßgeblichen Sach- oder Rechtslage erfolgen darf. Rechtskräftige Urteile binden nach § 121 VwGO die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dabei hindert die Rechtskraft grundsätzlich jede erneute und erst Recht jede abweichende Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung über den Streitgegenstand. Von dieser Bindung stellt § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG die Behörde nicht frei. Diese Bestimmung setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraftwirkung geendet hat, weil sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert hat und so die sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft überschritten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118). Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil v. 18.09.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118; BVerwG, Urt. v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, NVwZ 2004, 113) .
20 
Wird auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG n.F. eine Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen, ist für die Zulässigkeit eines Widerrufs neben dem nachträglichen Entfallen der für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG maßgeblichen Umstände zusätzlich erforderlich, dass zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch die Voraussetzungen des mit einem weiteren Anwendungsbereich versehenen § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.
21 
Die im Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.06.1999 festgestellte Sachlage, aufgrund derer es das Bundesamt verpflichtet hat, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen, hat sich nachträglich so wesentlich geändert, dass eine Durchbrechung der Rechtskraft des genannten Urteils gerechtfertigt ist. Insbesondere kann nun nicht mehr - wie im genannten Urteil - davon ausgegangen werden, das Kosovo, in dem der Kläger nicht politisch verfolgt werde, stelle keine hinreichend sichere und zumutbare Fluchtalternative dar. Das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche Existenzminimum ist jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewährleistet. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 23.08.2004 (A 6 S 70/04, vensa) sowie aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004 (ebenso bereits VGH Bad.-Württ., Urteil v. 17.03.2000 - 14 S 1167/98 -, juris). Diesen kann entnommen werden, dass im Hinblick auf die Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln und Trinkwasser sowie im Bereich der medizinischen Versorgung so wesentliche Veränderungen eingetreten sind, dass nicht mehr davon gesprochen werden kann, es drohe ein Leben unter dem Existenzminimum oder es sei mit lebensbedrohlichen Gefahren oder Nachteilen zu rechnen. Darüber hinaus hat sich auch die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe seinem Urteil vom 21.06.1999 noch zugrunde gelegte hohe Minengefahr durch das im Jahr 2001 durchgeführte Minenräumungsprogramm so verringert, dass nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dem Kläger drohten im Kosovo unzumutbare Nachteile. Gleiches gilt für die Gefahr, als albanischer Volkszugehöriger Opfer einer ethnisch motivierten Gewalttat zu werden. Die Unruhen vom März 2004 wurden von der albanischen Bevölkerungsmehrheit verübt und richteten sich vor allem gegen ethnische Minderheiten. Darüber hinaus hat sich die Situation mittlerweile wieder beruhigt (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -, vensa und den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004).
22 
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen in Bezug auf den Kläger auch nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor.
23 
Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).
24 
Damit wird in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II S. 559) Bezug genommen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 18.01.1994 - 9 C 48/92 -, BVerwGE, 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG erkannte Identität zwischen dem Begriff „politische Verfolgung“ und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gilt für § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr. Maßgebend für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist nun der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (so auch: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.; Duchrow, ZAR 2004, 339). Wenn nun in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von „nichtstaatlichen Akteuren“ ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen „erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten“, so stellt dies einen Perspektivwechsel von der „täterbezogenen“ Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16a GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ zur „opferbezogenen“ Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und damit von der „Zurechnungslehre“ zur „Schutzlehre“ dar (ebenso: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; vgl. ferner Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 79 ff.).
25 
Diese veränderte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG im Vergleich zu § 51 Abs. 1 AuslG ergibt sich zunächst daraus, dass die beiden auf den Wortlaut des § 51 Abs. 1 AuslG gestützten Argumente, die das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung dafür herangezogen hat, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Begriff der „politischen Verfolgung“ des Art. 16a Abs. 1 GG identisch sind, mit der Formulierung des § 60 Abs. 1 AufenthG entfallen sind. Zur Begründung hatte das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung zum einen die amtliche Überschrift des § 51 AuslG („Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter“) herangezogen. Die amtliche Überschrift des § 60 AufenthG lautet nun jedoch lediglich: „Verbot der Abschiebung“. Zum anderen hatte das Bundesverwaltungsgericht auf § 51 Abs. 2 S. 2 AuslG verwiesen, in dem andere Fälle geregelt waren, „in denen sich der Ausländer auf politische Verfolgung beruft“. Diese Vorschrift wurde gestrichen bzw. wurde mit der Regelung des § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG modifiziert. Die Änderung des Wortlauts der letztgenannten Vorschrift war möglich, weil die Regelung des § 51 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG ersatzlos entfallen ist. Damit wurde - was ebenfalls für die hier vertretene Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG spricht - das Vorliegen der Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vom Vorliegen der Asylberechtigung materiell-rechtlich entkoppelt, auch wenn für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG weiterhin das Bundesamt zuständig und das AsylVfG anwendbar sein soll (§ 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG, § 5 AsylVfG); denn dies hängt mit der größeren länderspezifischen Sachkompetenz des Bundesamtes zusammen (vgl. auch § 72 Abs. 2 AufenthG). Des Weiteren ist aus dem Zusatz in § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG („und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht“) zu schließen, dass mit § 60 Abs. 1 AufenthG das im Begriff der „politischen Verfolgung“ enthaltene Merkmal der Verantwortlichkeit eines Staates keine Rolle mehr spielen soll. Generell ist in § 60 Abs. 1 AufenthG nur von „Verfolgung“ und nicht von „politischer Verfolgung“ die Rede.
26 
Die Motive des Gesetzgebers deuten ebenfalls auf eine Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im oben genannte Sinne hin (BT-Drucksache 15/420, S. 91). Zwar entspricht nach diesen § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG. In der folgenden Begründung des § 60 AufenthG wird jedoch in Bezug auf die Sätze 3-5 hervorgehoben, dass mit ihnen in zum Teil die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellender, zum Teil erstreckender Weise eine Anpassung an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgen sollte und dass sich Deutschland nunmehr auch insoweit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union anschließt.
27 
Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“, ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 Abs. 1 AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - „Inter-Environnement Wallonie ASBL“, Slg. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der „politischen Verfolgung“ im Sinne der sog. „Zurechnungslehre“, sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff im Sinne der sog. „Schutztheorie“ aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).
28 
Das oben dargelegte Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG hat über das Begriffliche hinaus auch inhaltliche Konsequenzen. Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard erfordert einen effektiven Schutz vor Verfolgung, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugerechnet werden kann oder nicht (VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -). Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der „mittelbaren staatlichen Verfolgung“ nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Ziff. 65). Von einer mangelnden Schutzgewährung ist dabei nicht nur dann auszugehen, wenn die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel keinen effektiven Schutz gewähren können oder die Übergriffe unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen haben (vgl. zu Art. 16a Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 ff). Vielmehr kommt es unter dem Gesichtspunkt der Schutzgewährung darauf an, ob der Schutz im konkreten Einzelfall effektiv und angemessen ist (so auch VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -), wobei hier bei der prognostischen Prüfung der Frage, ob der zur Verfügung gestellte Schutz effektiv ist, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass effektiver Schutz gewährt wird, wenn die in § 60 Abs. 1 S. 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG sowie Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 117 f. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des House of Lords).
29 
In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass albanische Volkszugehörige im Kosovo vor Verfolgung effektiv geschützt sind.
30 
In Bezug auf die früher durch die serbischen Behörden ausgehende Verfolgung ist dies schon deshalb anzunehmen, weil sich nach Beendigung der Kampfhandlungen zwischen der NATO und der Bundesrepublik Jugoslawien am 10.06.1999 die jugoslawischen (serbischen) Sicherheitskräfte aus dem Kosovo zurückgezogen haben und das Kosovo seitdem unter internationaler Verwaltung steht. Diese hat eine zivile (UNMIK) und eine militärische Komponente (KFOR). Das Kosovo ist völkerrechtlich zwar weiterhin Teil des Staates Serbien und Montenegro (ehemals: Bundesrepublik Jugoslawien) und der Teilrepublik Serbien. Die VN-Mission übernimmt jedoch auf der Grundlage der VN-Sicherheitsrats-Resolution 1244 (1999) die Verantwortung für das gesamte öffentliche Leben im Kosovo. Ziele der Resolution sind der Aufbau der für demokratische und autonome Selbstverwaltung erforderlichen Strukturen, Wiederaufbau von Schlüsselinfrastrukturen und sonstiger wirtschaftlicher Wiederaufbau, humanitäre und Katastrophenhilfe, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Schutz und Förderung der Menschenrechte sowie sichere Rückkehr aller Flüchtlinge und Binnenvertriebenen. Im Kosovo sind ca. 17.800 KFOR-Soldaten stationiert (Stand: September 2004). UNMIK ist flächendeckend in den Verwaltungen aller Landkreise vertreten. Der Aufbau einer lokalen, multiethnischen Polizei ist weit vorangetrieben worden. Auch das Justizwesen wird auf multiethnischer Grundlage wieder aufgebaut. Am 23.10.2004 haben im Kosovo mittlerweile die zweiten Parlamentswahlen stattgefunden, die insgesamt friedlich und ohne Zwischenfälle verlaufen sind. Albanische Parteien bildeten erneut eine Koalitionsregierung. Vor der Parlamentswahl hatte der Chef der VN-Übergangsverwaltung (UNMIK) Jessen-Petersen die Übergabe von mehr Befugnissen an die künftige Regierung angekündigt (vgl. hierzu den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004; ferner zu § 51 Abs. 1 AuslG und Art. 16a Abs. 1 GG: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.03.2000 - A 14 S 1167/98 -, Urt. v. 16.03.2000 - A 14 S 2443/98 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -).
31 
Aus den Unruhen vom März 2004 ist in Bezug auf Kosovo-Albaner eine hiervon abweichende Beurteilung schon deshalb ausgeschlossen, weil die dabei verübte Gewalt vor allem von Albanern ausging. Darüber hinaus hat KFOR nach der Entsendung von weiteren 2.000 Mann die Sicherheitslage nun wieder unter Kontrolle. Die Einsatztaktik der deutschen KFOR-Soldaten wurde grundlegend geändert. Die Soldaten sind jetzt auch mit „nicht letalen Kampfmitteln“ wie Reizgas, Schlagstöcken und Schilden für den Straßenkampf ausgestattet. Außerdem wurden mehr als 270 Personen nach den Unruhen vorläufig festgenommen, darunter auch führende Mitglieder des Veteranenverbandes der UCK. 73 Spezialisten sind zusätzlich zur Strafverfolgung der Straftäter nach Pristina gekommen und bereits 80 Verdächtige verurteilt. Auch 100 Fälle, in denen Angehörigen des KPS (Kosovo Police Service) Fehlverhalten vorgeworfen wird, werden von UNMIK überprüft (hierzu: Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004, S. 10; „Angst vor neuer Gewalt“, Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 09.03.2005, S. 2; Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Kurzinformationen, „Schwere Unruhen im Kosovo“, Stand: 05.04.2004; teilweise zeitlich überholt: UNHCR-Position zur Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo im Lichte der jüngsten ethnisch motivierten Auseinandersetzungen vom 30.03.2004; Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Kosovo, Update zur Situation der ethnischen Minderheiten nach den Ereignissen vom März 2004“ vom 24.05.2004).
32 
Gründe, aus denen nach § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG von einem Widerruf abzusehen wäre, sind vorliegend nicht erkennbar.
33 
Ob der Widerruf „unverzüglich“ i.S.v. § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG erfolgte, kann dahinstehen. Denn der Kläger wäre selbst bei einer Verletzung der Pflicht zum unverzüglichen Widerruf nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf der Asylanerkennung dient allein dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Diese lassen nicht erkennen, das Gebot, die Asylanerkennung bei Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen "unverzüglich" zu widerrufen, solle - auch - den als Asylberechtigten anerkannten Ausländer schützen, insbesondere einem Vertrauen in den Fortbestand der Asylanerkennung Rechnung tragen. Das Gesetz ordnet den Widerruf im öffentlichen Interesse an, wobei der Widerruf - im Unterschied zu einem Widerruf nach § 49 VwVfG - zunächst (vgl. § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG) nicht im Ermessen der Behörde liegt. Ebenso ist die Unverzüglichkeit des Widerrufs erkennbar allein im öffentlichen Interesse vorgeschrieben. Das ergibt sich deutlich aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Bereits nach § 16 Abs. 1 S. 1 AsylVfG i.d.F. des Gesetzes vom 09.07.1990 (BGBl. I S. 1354) war der Widerruf zwingend geboten. Auch bei längerem Zeitablauf nach Eintritt der Widerrufsvoraussetzungen konnte der Asylberechtigte angesichts der damaligen Rechtslage nicht darauf vertrauen, dass von einem Widerruf abgesehen würde. Die Ergänzung um das Wort "unverzüglich" in der Neuregelung des § 73 AsylVfG durch das Gesetz vom 26.06.1992 (BGBl. I S. 1126) wurde - allein - mit der Notwendigkeit der Beschleunigung des Verfahrens begründet (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 12/2062, S. 1). Die Unverzüglichkeit des Widerrufs dient demnach ausschließlich dem öffentlichen Interesse daran, den Status eines Asylberechtigten möglichst schnell auf diejenigen Personen zu beschränken, die tatsächlich Schutz vor politischer Verfolgung benötigen (BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 9 B 280/97 -, juris; VGH Bad.-Württ, Beschluss v. 26.03.1997 - A 14 S 2854/96 -, AuAS 1997, S. 162 f.; VG Sigmaringen, Urteil v. 02.12.2003 - A 4 K 11498/01 -, juris; a.A. VG Stuttgart, Urteil v. 07.01.2003 - A 5 K 11226/01 -, InfAuslR 2003, 261).
34 
Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG ist auf § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht anwendbar (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 12.08.2003 - A 6 S 820/03 -, vensa). Darüber hinaus hätte sie auch frühestens nach Ablauf der vom Bundesamt gesetzten Anhörungsfrist bzw. Eingang der Stellungnahme des Klägers (§ 73 Abs. 4 AsylVfG) zu laufen begonnen (BVerwG, Urteil v. 08.05.2003 - 1 C 15/02 -, das offen lässt, ob § 48 Abs. 4 VwVfG auf § 73 AsylVfG anwendbar ist).
35 
Die Entscheidung der Beklagten über den Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG war auch nicht nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG nach Ermessen zu treffen (siehe bereits: VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2005 - A 2 K 12256/03 -.) Die ab 01.01.2005 geltende Vorschrift des § 73 Abs. 2a S. 1-3 AsylVfG ist nämlich aus Gründen des materiellen Rechts nicht auf Widerrufsentscheidungen anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt bekannt gegeben oder richtigerweise zugestellt (§ 73 Abs. 5 AsylVfG) und damit wirksam wurden (§ 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Daher lassen sich aus § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG, wonach das Gericht für die Entscheidung auf die Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen hat, für den vorliegenden Fall keine gegenteiligen Schlussfolgerungen ableiten.
36 
Für die ab 01.01.2005 geltende Änderung des § 73 AsylVfG existiert keine ausdrücklich geregelte Übergangsvorschrift. Die Vorschriften in §§ 87 ff. AsylVfG gelten unmittelbar nur für frühere Rechtsänderungen. Fehlt eine Übergangsvorschrift, ist zunächst die konkrete Rechtsnorm und ihre Auslegung maßgeblich für die Beantwortung der Frage, auf welche Rechtsverhältnisse die Norm angewandt werden soll. Bei Zweifelsfällen geben die Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts Anhaltspunkte (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (595)). Hier folgt die Nichtanwendbarkeit des § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 bekannt gegebene Widerrufsentscheidungen aus einer Kombination aus Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und Anwendung der allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, die auch in § 96 VwVfG ihren Niederschlag gefunden haben. Eine vergleichende Anwendung der §§ 87 ff. AsylVfG führt hier nicht weiter, weil sich aus ihnen keine allgemein gültigen Aussagen ableiten lassen.
37 
Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG ist über den Widerruf oder die Rücknahme einer Asylanerkennung bzw. einer Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden, wenn nach der von S. 1 vorgeschriebenen Prüfung kein Widerruf bzw. keine Rücknahme erfolgt ist. Damit ist die Erforderlichkeit der Ermessensentscheidung an die vorherige Durchführung eines Prüfverfahrens gekoppelt, das nach § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen hat. Sinn der Einführung einer konkreten Frist für die Überprüfung der Asylanerkennungen ist nach dem Willen des Gesetzgebers, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang leer gelaufen sind, an Bedeutung gewinnen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 112). Damit wird wie bei dem im Jahr 1992 in Absatz 1 hinzugefügten Erfordernis eines „unverzüglichen“ Widerrufs dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung einer dem Ausländer nicht mehr zustehenden Rechtsposition gedient. Aus § 73 Abs. 2a AsylVfG und seinem systematischen Zusammenhang mit § 26 Abs. 3 AufenthG ergibt sich weiter, dass die am 01.01.2005 eingeführte Prüfungspflicht darüber hinaus auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist. Denn das Bundesamt hat nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG das Ergebnis der Prüfung der Ausländerbehörde mitzuteilen, damit diese über den Aufenthaltstitel des Ausländers befinden kann. Kommt die Prüfung zum Ergebnis, dass kein Widerruf bzw. keine Rücknahme stattfindet, hat der Ausländer, der seit drei Jahren aufgrund seiner Asylanerkennung oder des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufentG eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis und damit auf eine Verfestigung seines Aufenthaltsrechts. Daraus wird deutlich, dass jedenfalls nach der Durchführung einer Prüfung nach Satz 1 des § 73 Abs. 2a AsylVfG und möglicherweise auch nach Ablauf der Dreijahresfrist ohne Durchführung einer Prüfung das Vertrauen des Ausländers darauf, dass er nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bzw. ein verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt (dazu: Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 80), im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a S. 3 AsylVfG zu berücksichtigen ist.
38 
Dieser Ermessensentscheidung bedarf es jedoch nicht in Fällen, in denen kein Vertrauensschutz zu berücksichtigen ist, weil - wie hier - vom Bundesamt gar kein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) wurde hier widerrufen, bevor einer Prüfung des Widerrufs oder einem dreijährigen Nichtprüfen durch das Bundesamt aufgrund der Neuregelung des § 73 Abs. 2a AsylVfG und des § 26 Abs. 3 AufenthG überhaupt ein Bedeutungsgehalt dergestalt zu kommen konnte, dass nun die Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung bestehe. Denn bis zum 01.01.2005 war das Bundesamt nicht innerhalb einer bestimmten Frist zur Prüfung, ob ein Widerruf oder eine Rücknahme in Betracht kommt, verpflichtet und musste auch keine Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG an die Ausländerbehörde vornehmen.
39 
Dass § 73 Abs. 2a S. 1 und 2 AsylVfG auf die bis zum 31.12.2004 bekannt gegebenen Widerrufs- bzw. Rücknahmeentscheidungen nicht anwendbar sind, ergibt sich aus den Grundsätzen des intertemporalen Verwaltungsrechts, wonach neues Verfahrensrecht nicht auf abgeschlossene Verfahren angewandt werden kann (vgl. Kopp, SGb 1993, S. 593 ff.; BVerwG, Urteil v. 26.03.1985 - 9 C 47/84 -, juris; Urteil v. 18.02.1992 - 9 C 59/91 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil v. 28.05.1991 - A 16 S 2357/90 -, juris). Ob ein Verwaltungsverfahren mit Bekanntgabe, das heißt Wirksamwerden, des Verwaltungsaktes oder jedenfalls mit Abschluss eines eventuell durchzuführenden Widerspruchsverfahrens abgeschlossen ist - wofür die Zielhaftigkeit des Verwaltungsverfahrens nach § 9 VwVfG sowie der Umstand spricht, dass die Übergangsvorschriften der §§ 87 und 87a AsylVfG im Hinblick auf die Regelung der Anwendung neuer Vorschriften zwischen Verwaltungsverfahren und gerichtlichem Verfahren unterscheiden - (so im Ergebnis auch: BVerwG, Urteil v. 12.08.1977 - IV C 20.76 -, BVerwGE 54, S. 257 (259); Urteil v. 27.09.1989 - 8 C 88.88 -, BVerwGE 82, 336 ff.; Clausen, in: Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 1; P. Stelkens/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 96, Rn. 2) oder erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit (so Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl., § 96, Rn. 4), kann vorliegend dahinstehen. Denn es können jedenfalls nicht nachträglich fristgebundene Verfahrenshandlungen verlangt werden, mit denen die Beteiligten nach dem bisherigen Recht nicht rechnen mussten und denen sie auch keine Rechnung mehr tragen können, weil die maßgeblichen Tatsachen bzw. Handlungen bereits in der Vergangenheit lagen oder in der Vergangenheit hätten gesetzt werden müssen, als die nunmehr damit verbundenen Folgerungen noch nicht daran geknüpft waren (Kopp, SGb 1993, S. 593 ff. (601)). Dies ist hier der Fall. Das Bundesamt hat bei bereits bekannt gegebenen Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidungen keine Möglichkeit mehr, die Prüfungsfrist des § 73 Abs. 2a S. 1 AsylVfG einzuhalten und die Mitteilung nach § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG im Anschluss an eine fristgerecht durchgeführte Prüfung zu machen.
40 
Die hilfsweise geltend gemachten Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG liegen nicht vor. Für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG fehlt es bereits an tatsächlichen Anhaltspunkten.
41 
Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG verlangt wegen der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dann, wenn sich der Ausländer nur auf Gefahren beruft, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, dass eine Gefahrenlage gegeben ist, die landesweit so beschaffen ist, dass der von einer Abschiebung Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der extremen Gefahr ausgesetzt wäre, mangels ausreichender Existenzmöglichkeiten an Hunger oder Krankheit zu sterben (vgl. BVerwG, Urteil v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531). Diese zu § 53 Abs. 6 AuslG ergangene Rechtsprechung gilt auch für § 60 Abs. 7 AufenthG, weil es sich insoweit nur um eine redaktionelle Änderung handelt (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 91). Eine derart extreme Gefahrenlage besteht für den Kläger im Kosovo im Hinblick auf die allgemeine soziale und wirtschaftliche Situation und die Sicherheitslage nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.08.2004 - A 6 S 70/04 -).
42 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO.
43 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 71 Abs. 1 GKG. Der Gegenstandswert folgt aus § 83b Abs. 2 S.1 AsylVfG i.V.m. § 60 RVG.

Sonstige Literatur

 
44 
RECHTSMITTELBELEHRUNG:
45 
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Urteils beim Verwaltungsgericht Karlsruhe, Postfach 11 14 51, 76064 Karlsruhe, oder Nördliche Hildapromenade 1, 76133 Karlsruhe, zu stellen.
46 
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
47 
Lässt der Verwaltungsgerichtshof die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt.
48 
Bei der Beantragung der Zulassung der Berufung muss sich jeder Beteiligte durch einen Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen.
49 
Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit der Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst vertreten lassen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselben Verfahren beteiligt, erhöht sich der Wert für jede weitere Person in Klageverfahren um 1 000 Euro und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes um 500 Euro.

(2) Ist der nach Absatz 1 bestimmte Wert nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder einen niedrigeren Wert festsetzen.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.