Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Okt. 2014 - 4 StR 397/14

bei uns veröffentlicht am07.10.2014

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR397/14
vom
7. Oktober 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen versuchten besonders schweren Raubes u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und der Beschwerdeführerinnen am 7. Oktober 2014 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Detmold vom 12. Mai 2014 in den Strafaussprüchen mit den Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen versuchten besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Die Angeklagte A. hat es unter Einbeziehung der Strafe aus einer anderweitigen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und die Angeklagte H. zu einer solchen von drei Jahren verurteilt. Die Revisionen der Angeklagten haben jeweils mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.


2
Die von der Angeklagten A. erhobene Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und deshalb unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

II.


3
1. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf Grund der von beiden Angeklagten erhobenen Sachrüge hat zu den Schuldsprüchen keinen die Angeklagten belastenden Rechtsfehler ergeben.
4
2. Die Strafaussprüche halten jedoch der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Annahme des Landgerichts, beide Angeklagte seien zum Zeitpunkt der Tatbegehung voll schuldfähig gewesen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
5
a) Nach den Feststellungen erörterten die Angeklagten am Nachmittag des 12. Januar 2014 in der Wohnung der Angeklagten H. verschiedene Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer jeweils prekären finanziellen Situation und tranken dabei mehrere Flaschen Bier. Durch den genossenen Alkohol enthemmt , fassten sie den Plan, in einer nahe gelegenen Spielhalle die Tageskasse an sich zu bringen und begaben sich gegen 20.00 Uhr zum Tatort. Wie abgesprochen , sprühte die Angeklagte H. in der Spielhalle der als Aufsicht tätigen Nebenklägerin aus einer mitgeführten Flasche unvermittelt Reizgas ins Gesicht, um sie außer Gefecht zu setzen und stieß sie zu Boden. Gemeinsam mit der Angeklagten A. , die nach ihr die Spielhalle betreten hatte und die ein Küchenmesser mit sich führte, versetzte sie der laut um Hilfe rufenden Nebenklägerin Schläge und Fußtritte. Als sich ein Besucher der Spielhalle, der Zeuge D. , für die Angeklagten unerwartet aus dem Toilettenbereichdem Geschehen näherte und drohte, er werde die Polizei rufen, waren diese „völlig geschockt“, sahen ihren Plan als gescheitert an und rannten zur Ausgangstür. Da diese klemmte, gelang es den Angeklagten „in ihrer Panik“ nicht, sie zu öffnen ; sie wandten sich zurück in den Gastraum, um einen Hintereingang zu suchen. Letztlich gelang ihnen die Flucht über ein Treppenhaus im vorderen Bereich des Gebäudes.
6
b) Das Landgericht hat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit der Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat ausgeschlossen. Zwar hätten die Angeklagten möglicherweise in der Zeit von 15.30 bis 20.00 Uhr jeweils nahezu dreieinhalb Liter Bier konsumiert. Dies habe bei beiden aber lediglich zu einer alkoholbedingten Enthemmung geführt. Die Angeklagten seien zu planvollem und zielgerichtetem Vorgehen in der Lage gewesen und hätten auf unvorhergesehene Situationsänderungen wie das Auftauchen des Zeugen D. adäquat reagiert. Anhaltspunkte für Ausfallerscheinungen während der Tatausführung hätten sich nicht ergeben. Die von beiden Angeklagten behaupteten Erinnerungslücken könnten für sich allein die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit nicht rechtfertigen.
7
3. Mit diesen Erwägungen hat die Strafkammer eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit der Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
8
a) Der Tatrichter muss Angaben eines Angeklagten zum Alkoholgenuss, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine Beweise gibt, nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen (Senatsurteil vom 6. März 1986 – 4 StR 48/86, BGHSt 34, 29, 34; BGH, Beschluss vom 31. Mai 1988 – 3 StR 203/88, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 13). Hält er diese dennoch für glaubhaft oder – wie hier – unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes für nicht widerlegbar, so hat er, gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe, die Tatzeit-Blutalkoholkonzentration zu berechnen und seiner weiteren Beweiswürdigung zugrunde zu legen (BGH, Urteil vom 22. Mai 1991 – 3 StR 473/90, BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 12). Daran fehlt es hier.
9
b) Auf Grund der Feststellungen zu Art und Menge des von beiden Angeklagten genossenen Alkohols und infolge fehlender überprüfbarer Berechnungsgrundlagen kann im vorliegenden Fall aber nicht ausgeschlossen werden, dass diese zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 2 ‰ oder mehr aufwiesen. Zwar gibt es keinen gesicherten Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach ab einer bestimmten Höhe der Blutalkoholkonzentration ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien regelmäßig vom Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung auszugehen ist. Bei einem Wert von über 2 ‰ ist eine erhebliche Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit aber je nach den Umständen des Einzelfalles in Betracht zu ziehen, naheliegend oder gar in hohem Maße wahrscheinlich (BGH, Urteil vom 29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66; Beschluss vom 10. Januar 2012 – 5 StR 517/11, StraFo 2012, 109; Beschluss vom 7. Februar 2012 – 5 StR 545/11, NStZ-RR 2012, 137). Das war hier erörterungsbedürftig.
10
Gewichtige psychodiagnostische Gegenindizien, die geeignet sein könnten , die Indizwirkung der Blutalkoholkonzentration für die Beurteilung der Schuldfähigkeit der Angeklagten zu relativieren, lassen sich dem Urteil entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts nicht entnehmen. Die Wertung der Strafkammer, die Angeklagten hätten sich planvoll und zielgerichtet verhalten und auf das unvorhergesehene Hinzutreten des Zeugen D. adäquat reagiert , steht vielmehr im Widerspruch zu den Feststellungen. Danach trägt bereits das Gesamtbild der Tatausführung deutliche Züge einer spontanen und unüberlegten Handlung in „durch den genossenen Alkohol enthemmter Stimmung“. Das unerwartete Erscheinen des Zeugen D. führte dazu, dass die Angeklagten „völlig geschockt“ innehielten und sich sofort zur Flucht wand- ten. Es gelang ihnen nicht, die klemmende Ausgangstür zu öffnen, da sie sich „in Panik“ befanden, deshalb flüchteten sie in den Gastraum zurück in Richtung eines vermuteten Hinterausgangs und änderten danach nochmals ihre Fluchtrichtung , um dann letztlich über einen Ausgang an einem Treppenhaus zu entkommen.
Mutzbauer Roggenbuck Cierniak
Franke Quentin

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Okt. 2014 - 4 StR 397/14

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Okt. 2014 - 4 StR 397/14

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafprozeßordnung - StPO | § 344 Revisionsbegründung


(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen. (2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer R
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Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

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Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 2 StR 118/16 vom 25. Oktober 2017 in der Strafsache gegen wegen versuchten Totschlags ECLI:DE:BGH:2017:251017U2STR118.16.0 Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Oktober

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.

(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

5 StR 517/11

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 10. Januar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Januar 2012

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 7. Juni 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, wobei es sechs Monate zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt erklärt hat. Die auf Verfahrensrügen und die näher ausgeführte Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Gegen den Schuldspruch ist aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts revisionsgerichtlich nichts zu erinnern. Insbesondere hat das Landgericht eine alkoholbedingt aufgehobene Steue- rungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 20 StGB rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
3
2. Hingegen begegnet die Begründung der Strafkammer, mit der sie auch eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB ausgeschlossen hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
4
a) Das Landgericht hat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten verneint, obgleich dieser die Taten in stark alkoholisiertem Zustand begangen hatte (maximale Blutalkoholkonzentration 2,75 ‰, wahrscheinliche Blutalkoholkonzentration von 2,33 ‰, UA S. 30). Zur Begründung führt es im Anschluss an ein mündlich erstattetes Gutachten der Sachverständigen aus, dass „der Grad der Alkoholisierung wenig aussagekräftig sei, da der Angeklagte zum Tatzeitpunkt alkoholgewöhnt gewesen sei. Der Angeklagte habe angegeben , dass er sich angetrunken, aber nicht schwer betrunken gefühlt habe. Sein Erinnerungsvermögen habe sich nicht wesentlich eingeschränkt gezeigt, er ha- be betont, gewusst zu haben, was er tat.“ Überdies spreche für eine genaue Planung der Tat, dass „der Angeklagte über einen längeren Zeitraum geplant Personen zur Verteidigung um sich geschart habe und den Angreifern letztlich gezielt im Erdgeschoss zuvorgekommen sei.“ Schließlichspreche sein „gezieltes Rückzugsverhalten“, in dem er sich freiwilliggestellt und auf Notwehr beru- fen hat, gegen „eine relevante Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungs- fähigkeit“ (UA S. 30 f.).
5
b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Bei einem Täter, der zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration zwischen 2,3 und 2,7 ‰ aufwies, ist die Annahme einer erheblichen Herabsetzung seiner Hemmungsfähigkeit regelmäßig in einem hohen Grad wahrscheinlich (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 48/86, BGHSt 34, 29, 31; Beschluss vom 31. Mai 1988 – 3 StR 203/88, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 13; vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., § 20 Rn. 21 mwN). Eine erheblich verminderte Hemmungsfähigkeit lässt sich bei einer solchen beträchtlichen Alkoholisierung nur ausschließen, wenn gewichtige Anzeichen für den Erhalt einer Hemmungsfähigkeit sprechen (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 68 ff.; Beschluss vom 26. November 1997 – 2 StR 553/97, NStZ-RR 1998, 107; hierzu ferner Fischer, aaO, Rn. 22 ff.).
6
Es erscheint bereits durchgreifend zweifelhaft, ob die von der Strafkammer festgestellten nicht überaus aussagekräftigen Umstände namentlich mit Blick auf die Höhe der – sogar mittels einer verhältnismäßig tatzeitnah entnommenen Blutprobe – ermittelten Alkoholintoxikation hinreichend tragfähig gewesen wären. Zudem ist die tatrichterliche Bewertung mit weiteren Fehlern behaftet. So lässt das Landgericht, das ersichtlich dem Sachverständigengutachten folgt, unerörtert, dass unauffälligem Verhalten sowie zielstrebigem und planvollem Vorgehen trotz Alkoholgewöhnung und ungetrübtem Erinnerungsvermögen nur ein beschränkter Beweiswert zukommt, weil gerade erfahrene und alkoholgewöhnte Trinker sich häufig im Rausch noch motorisch kontrollieren und sich äußerlich geordnet verhalten können, obwohl ihr Hemmungsvermögen möglicherweise schon erheblich beeinträchtigt ist (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 9. August 1988 – 1 StR 231/88, BGHSt 35, 308, 311). Weiter berücksichtigt das Landgericht nicht erkennbar, dass auch situationsgerechtes Verhalten nach der Tat nur eingeschränkten Beweiswert aufweist, da der Täter durch die Tat oder die Gefahr der Entdeckung „ernüchtert“ sein kann (BGH aaO).
7
3. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass ein neues Tatgericht im Falle einer Anwendung des § 21 StGB auf eine noch mildere Freiheitsstrafe erkennen könnte (§ 337 StPO), wenngleich sich dies mit Blick auf das Tatbild nicht aufdrängt.

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5 StR 545/11

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 7. Februar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. Februar 2012

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 14. September 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Es wird davon abgesehen, dem Beschwerdeführer die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung eines weiteren Urteils zu einer Einheitsjugendstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Gegen den Schuldspruch ist aus den zutreffenden Gründen der An2 tragsschrift des Generalbundesanwalts revisionsgerichtlich nichts zu erinnern. Insbesondere hat die Jugendkammer eine alkoholbedingte Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten (§ 20 StGB) rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
3
2. Hingegen begegnet die Begründung, mit der sie auch eine erhebli3 che Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB abgelehnt hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
4
a) Nach den Feststellungen war der Tat vom 13. Dezember 2010 ein
4
Trinkgelage im Innenhof der Altmarktgalerie in der Dresdner Innenstadt vorausgegangen , an dem neben dem Angeklagten drei weitere junge Leute teilnahmen und das sich über mehr als fünf Stunden erstreckte. Bereits zuvor hatte der Angeklagte Alkohol konsumiert. Ausgehend von den Trinkmengenangaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung (vgl. UA S. 10, 12) gelangt sie durch Rückrechnung zu einer maximalen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit beim Angeklagten von „2,07 ‰ bzw. 2,44 ‰“, mithin Werten, bei denen „grundsätzlich eine alkoholbedingte Verminderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu diskutieren“ sei (UA S. 21). Im Anschluss an das Sachverständigengutachten findet die Jugendkammer indes im Tatgeschehen keinerlei Anhaltspunkte für eine erhebliche Einschränkung der Schuldfä- higkeit des Angeklagten: „Durch keinen der Zeugen seien körperliche und neurologische Ausfallerscheinungen des Angeklagten berichtet worden. Der Angeklagte selbst könne sich genau erinnern. Das Tatgeschehen wie auch das Nachtatgeschehen zeigten keinerlei Ausfallerscheinungen“ (UA S. 21). Vielmehr sei der Angeklagte „offensichtlich zielgerichtet und absichtsvoll vor- gegangen“ (UA S. 22).
5
b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht
5
stand. Eine Blutalkoholkonzentration von maximal 2,44 ‰ legt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit nahe, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für eine Tat wie die vor- liegende ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,2 ‰ in Betracht zu ziehen ist (BGH, Urteil vom 22. November 1990 – 4 StR 117/90, BGHSt 37, 231, 235; Urteil vom 12. Januar 1994 – 3 StR 633/93, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 27; Beschluss vom 25. Februar 1998 – 2 StR 16/98, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 34). Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der festgestellte Wert ein gewichtiges Beweisanzeichen für die Stärke der alkoholischen Beeinflussung.
6
Zwar ist grundsätzlich der eingeschränkte Beweiswert aufgrund von
6
Trinkmengenangaben errechneter Blutalkoholwerte zu beachten. Die Bewertung der Jugendkammer, der Angeklagte habe seinen eigenen Alkoholkonsum in der Hauptverhandlung überhöht dargestellt, vermag der vom Sachverständigen berechneten und vom Landgericht übernommenen Blutalkoholkonzentration nicht die Bedeutung im Sinne einer Feststellung zu nehmen. Solange nämlich nicht auf der Grundlage einer schlüssigen Beweiswürdigung , die hier indes fehlt, ein geringerer Alkoholkonsum festgestellt wird, gebietet es der Zweifelssatz, den von der Jugendkammer errechneten Maximalwert mit der sich daraus ergebenden Indizwirkung der Beurteilung der Schuldfähigkeit zugrunde zu legen, wenn keine gegenteiligen Beweisanzeichen vorhanden sind (vgl. Schöch in LK, 12. Aufl., § 20 Rn. 111 mwN).
7
c) Als in diesem Sinne kontraindikatorische psychodiagnostische Be7 urteilungskriterien kommen dabei nur solche Umstände in Betracht, die Hinweise darauf geben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters trotz der erheblichen Alkoholisierung voll erhalten geblieben ist (BGH, Beschluss vom 30. Juli 1997 – 3 StR 144/97, NStZ 1997, 592). Den vom Landgericht herangezogenen Umständen kommt eine solche Bedeutung nicht zu. Das Verhalten des Angeklagten bei der Tatbegehung weist keine Merkmale auf, die aussagekräftige Rückschlüsse auf die Steuerungsfähigkeit zulassen. Vielmehr zeigt das Tatbild im Gegenteil Besonderheiten, die auf eine alko- holbedingte erhebliche Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit des Angeklagten schließen lassen können (spontane, rasche Verfolgung des nach einer geringfügigen, bereits beruhigten Auseinandersetzung weggehenden Ge- schädigten; wuchtiger Stich mit einem „Wehrmachtsehrendolch“ in seinen Oberbauch) und die von der Jugendkammer in diesem Zusammenhang nicht behandelt werden. Unerörtert bleibt auch der Umstand, dass die Gruppe um den Angeklagten auf ihrem Heimweg „laut grölend und ‚Dynamo-Sprüche‘ brüllend“ (UA S. 10) durch die Dresdner Innenstadt zog. Das Verhalten des Angeklagten nach der Tat (Flucht mit der Straßenbahn, Entsorgung des Dolchs im Schnee) hat nur geringe Aussagekraft, zumal durch die Tat eine wesentliche Ernüchterung eingetreten sein kann. Sein angeblich genaues Erinnerungsvermögen ist angesichts seiner dreimal abgewandelten Einlassung zum Tatablauf, die das Landgericht jeweils – in nachvollziehbarer Weise – für nicht glaubhaft hält, kein wesentliches Kriterium. Dass der Angeklagte den Zeugen nicht durch Torkeln oder Lallen oder ähnliche Ausfallerscheinungen aufgefallen ist, genügt alleine nicht, eine erhebliche Verminderung seines Steuerungsvermögens auszuschließen.
8
d) Ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei der Tat infolge seiner
8
Alkoholisierung erheblich vermindert war oder dies zumindest nicht auszuschließen ist (§ 21 StGB), bedarf deshalb erneuter Prüfung. Der Senat verkennt nicht, dass der Alkoholisierung – namentlich bei einer Ahndung nach Jugendstrafrecht – nicht unbedingt maßgebliche strafmildernde Wirkung zukommen muss. Die entsprechende Gewichtung obliegt indes dem Ermessen des Tatgerichts.
9
3. Darüber hinaus liegt ein Rechtsfehler darin, dass die Jugendkam9 mer eine Unterbringung nach § 64 StGB nicht geprüft hat. Die im Zusammenhang mit der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten wiederge- gebenen Ausführungen des Sachverständigen zur Frage eines „chronischen Abhängigkeitsverhaltens“ (UA S. 22) veranlassen den Senat zu dem Hinweis , dass eine Alkoholabhängigkeit nicht zwingende Voraussetzung für die Annahme eines Hanges ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. November2003 – 1 StR 406/03, BGHR StGB § 64 Hang 2, und vom 4. April 1995 – 4 StR 95/95, BGHR § 64 Abs. 1 Hang 5). Denn hierunter fällt nicht nur eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit, sondern es genügt eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, ohne dass diese den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss (BGH, Beschlüsse vom 18. August 1998 – 5 StR 363/98, und vom 18. Juli 2007 – 5 StR 279/07). Eine solche Neigung liegt bei dem festgestellten Alkoholmissbrauchsverhalten des Angeklagten („Alpha- und Betaalkoholismus“, UA S. 22) nicht von vornherein fern (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2010 – 5 StR 510/09, NStZ-RR 2010, 234).
10
4. Angesichts der Bestätigung des Schuldspruchs kann der Senat trotz
10
der Zurückverweisung der Hauptsache die auf § 74 JGG und § 473 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Kostenentscheidung bereits jetzt treffen.
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