Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Jan. 2019 - 5 StR 476/18

bei uns veröffentlicht am09.01.2019

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
5 StR 476/18
vom
9. Januar 2019
in der Strafsache
gegen
wegen versuchter besonders schwerer Vergewaltigung
ECLI:DE:BGH:2019:090119B5STR476.18.0

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 9. Januar 2019 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 16. April 2018 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zugleich hat es die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Nach den Feststellungen überfiel der Angeklagte am 29. August 2017 die ihm unbekannte 21-jährige Nebenklägerin nachmittags auf einem Parkweg, um mit ihr gewaltsam den Geschlechtsverkehr durchzuführen. In Sichtweite zu Wohnhäusern und in unmittelbarer Nähe zu einem belebten Freibad packte er sie von hinten, hielt ihr den Mund zu und zerrte sie hinter ein Gebüsch. Er drückte ihr Gesicht gewaltsam auf den Boden und würgte sie kräftig, um sie am Schreien zu hindern, ihre anfangs heftige Gegenwehr zu unterbinden und sie wehrlos zu machen. Mindestens dreimal würgte er die Geschädigte so kräftig, dass sie keine Luft mehr bekam und in akuter Lebensgefahr schwebte. Als der Angeklagte ein Geräusch hörte, lockerte er seinen Würgegriff, da er von einer Entdeckung seiner Tat ausging. Daraufhin konnte die Nebenklägerin aufspringen und flüchten.
3
2. Die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
4
3. Der Maßregelausspruch hält hingegen rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zwar hat das Landgericht rechtsfehlerfrei die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB festgestellt. Jedoch hat es einen Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB nicht tragfähig begründet. Damit entfällt auch die Grundlage für die Prognose, ob der Angeklagte infolge seines Hanges für die Allgemeinheit gefährlich ist.
5
a) Das Merkmal des Hangs verlangt – was das Landgericht im Ausgangspunkt nicht verkennt – nach der ständigen Rechtsprechung einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Der Hang als „eingeschliffenes Verhaltensmuster“ bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 – 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 195 f.; Beschlüsse vom 27. September 1994 – 4 StR 528/94, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 8; vom 6. Mai 2014 – 3 StR 382/13, NStZ-RR 2014, 271 f.; vom 24. Mai 2017 – 1StR 598/16, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 15 mwN). Sein Vorliegen hat das Tatgericht unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Symptom- und Anlasstaten maßgebenden Umstände festzustellen und in den Urteilsgründen darzulegen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die zeitliche Verteilung der Straftaten, wobei längere straffreie Zeiträume grundsätzlich gegen einen Hang sprechen (BGH, Beschluss vom 24. Mai 2017 – 1 StR 598/16, aaO).
6
b) Das Landgericht hat zur Begründung einer Hangtäterschaft des Angeklagten maßgeblich darauf abgestellt, dass hierfür „vor allem die Anzahl der Vorstrafen“ spräche (UA S. 23). Die indizielle Bedeutung der bloßen Anzahl von insgesamt vier Vorstrafen, zu denen der 39-jährige Angeklagte in einem Zeitraum von über 17 Jahren verurteilt worden war, erschließt sich allerdings nicht ohne weiteres und hätte weiterer Darlegung bedurft. Während mit den beiden Vorstrafen aus den Jahren 2003 und 2017 die beiden die formelle Voraussetzung des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB begründenden Symptomtaten geahndet wurden, resultieren die beiden weiteren Vorstrafen aus nicht einschlägigen Vorverurteilungen aus dem Jahr 2000. Die zugrunde liegenden Taten hat das Landgericht nicht näher mitgeteilt und ihnen damit offenbar auch keine Bedeutung als sonstige Beweisanzeichen für eine Hangtäterschaft im Rahmen der Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten beigemessen (vgl. zur Verwertung von Vortaten, die wegen Eintritts der Rückfallverjährung nicht mehr als Symptomtaten herangezogen werden können, BGH, Urteile vom 30. März 1999 – 5StR 563/98, NStZ 1999, 502, 503; vom 18. Februar 2010 – 3 StR 568/09, NStZ-RR 2010, 172, 173; vom 24. Februar 2010 – 2 StR 509/09, NStZ-RR 2010, 238, 239 mwN).
7
4. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass das neue Tatgericht zu Feststellungen gelangt, welche die Annahme des Hangs und der Gefährlichkeit des Angeklagten tragen. Über den Maßregelausspruch muss deshalb nochmals verhandelt und entschieden werden.
Mutzbauer Sander Schneider
Berger Mosbacher

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Jan. 2019 - 5 StR 476/18

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 66 Unterbringung in der Sicherungsverwahrung


(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn 1. jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die a) sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die per
Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Jan. 2019 - 5 StR 476/18 zitiert 3 §§.

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 598/16
vom
24. Mai 2017
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes
ECLI:DE:BGH:2017:240517B1STR598.16.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 24. Mai 2017 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 22. Juni 2016 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Jugendstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
2
Seine dagegen gerichtete, auf verschiedene Verfahrensbeanstandungen und die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

I.


3
1. Der wegen verschiedener Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vorgeahndete Angeklagte lernte im Jahr 2013 die Familie des später geschädigten Kindes L. kennen. Im Verlaufe der Zeit entwickelte sich ein vertrauensvolles Verhältnis zu deren Familie, der die Vorbelastungen des Angeklagten unbekannt waren. Angesichts des Vorhandenseins von zwei jüngeren Geschwistern von L. und der Berufstätigkeit beider Eltern waren diese froh darüber, dass sich der Angeklagte um L. kümmerte, sie in den Kindergarten und zum Turnen brachte sowie mit ihr Spielplätze besuchte.
4
Am Tattag im Dezember 2015 betreute er die zu diesem Zeitpunkt sechsjährige L. in seiner Wohnung. Während sich beide in seinem Schlafzimmer aufhielten, fragte er das Kind, ob L. seinen Penis sehen und in die Hand nehmen wolle. Der Angeklagte entblößte sein Glied und forderte L. auf, dieses in den Mund zu nehmen. L. berührte den Penis jedoch lediglich kurz mit den Lippen. Anschließend forderte er L. auf, sich zu entkleiden und auf sein Bett zu krabbeln, um sich dort in den „Vierfüßlerstand“ zu begeben. Nach- dem der Penis des Angeklagten erigiert war, führte er diesen von hinten zwischen die Schamlippen und drang bis in den Scheidenvorhof des Kindes ein. Als L. erklärte, dies sei ihr unangenehm, ließ er von ihr ab. Er begab sich ins Badezimmer, wo er bei geöffneter Badezimmertür bis zum Samenerguss onanierte , was von L. beobachtet wurde. Seiner Aufforderung, die Reste des noch an seinem Penis befindlichen Ejakulats abzulecken, kam das Kind nicht nach. L. offenbarte ihren Eltern das Geschehene unmittelbar, nachdem diese sie bei dem Angeklagten abgeholt hatten.
5
Das Missbrauchsgeschehen hat bei L. zu gravierenden, im landgerichtlichen Urteil näher dargelegten psychischen Beeinträchtigungen geführt, die eine längerfristige Therapie bei einer Kinder- und Jugendpsychologin erforderlich machen.
6
2. Das Landgericht hat die Tat als schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes gewertet. Die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB hat es auf frühere Verurteilungen des Angeklagten wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gestützt. Dabei handelt es sich um eine 1991 verübte Tat des sexuellen Missbrauchs eines Kindes, eine 1995 zur Verurteilung wegen Nötigung in Tateinheit u.a. mit Körperverletzung (erzwungener nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr) führende Tat zu Lasten seiner zweiten (damaligen) Ehefrau und um eine 2001 erfolgte Verurteilung wegen Vergewaltigung zum Nachteil seiner dritten, zum Tatzeitpunkt bereits von ihm geschiedenen Ehefrau zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. Diese Freiheitsstrafe ist von dem Angeklagten fast vollständig verbüßt worden.
7
Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB) stützt das Landgericht vor allem auf das bisherige „sexual- strafrechtliche Vorleben“ des Angeklagten.

II.


8
Die Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO), soweit sie sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtet.
9
1. Der Schuldspruch lässt keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten erkennen.
10
a) Die gegen den Schuldspruch gerichteten Verfahrensbeanstandungen dringen nicht durch.
11
aa) Die Rüge der Verletzung von „§ 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 StPO“ ist nicht in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise ausgeführt. Für diese Verfahrensbeanstandung hätte in tatsächlicher Hinsicht vorgetragen werden müssen, dass das von allen Berufsrichtern unterschriebene oder ggf. mit einem Verhinderungsvermerk (§ 275 Abs. 2 StPO) versehene Urteil nicht innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gelangt ist. An einem solchen Vortrag fehlt es. Die Revision stützt sich allein darauf, dass ihr – vor einer erneuten Zustellung – eine Urteilsausfertigung übersandt worden sei, die nicht mit der Urteilsurschrift übereinstimme. Dieser Vortrag beinhaltet keine den behaupteten Verfahrensfehler tragenden tatsächlichen Umstände. Im Übrigen wäre die Beanstandung aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen in der Sache erfolglos. Das Urteil ist einschließlich zweier Unterschriften und einem Verhinderungsvermerk am 27. Juli 2016 und damit am letzten Tag der hier maßgeblichen Absetzungsfrist vollständig zu den Akten gelangt.
12
bb) Soweit davon auszugehen ist, dass mit der nach erneuter Zustellung einer Urteilsausfertigung an die Verteidigung erfolgten Revisionsbegründungsschrift an den bereits mit der früheren Begründungsschrift vom 23. Juni 2016 implizit erhobenen Verfahrensbeanstandungen festgehalten werden soll, wäre die dortige Rüge einer Verletzung von § 257c StPO jedenfalls nicht zulässig ausgeführt. Bereits die Angriffsrichtung ist unklar. Nach dem Vortrag der Revision bleibt offen, ob eine Verletzung von § 257c StPO wegen einer sog. informellen Absprache (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 24. September 2013 – 2 StR 267/13, BGHSt 59, 21 ff. und vom 10. September 2014 – 5 StR 351/14, StV 2015, 153) geltend gemacht oder lediglich ein Verstoß gegen die allgemeine Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beanstandet werden soll. Für beide Rügen wäre es zudem erforderlich gewesen mitzuteilen, wie die übrigen Verfahrensbeteiligten auf die von der Revision behaupteten Äußerungen des Vorsitzenden über die möglichen Rechtsfolgen der Straftat reagiert haben.
13
cc) Mit der ebenfalls in der Revisionsbegründungsschrift vom 23. Juni 2016 enthaltenen Rüge, der Angeklagte habe ein Eindringen in den Scheidenvorhof von L. nicht gestanden, stellt sich die Revision erfolglos gegen die anderslautenden tatgerichtlichen Feststellungen. Eine Rekonstruktion des Inhalts der Hauptverhandlung ist dem Senat verwehrt (vgl. nur BGH, Urteil vom 23. Juli 2015 – 3 StR 470/14, juris Rn. 55).
14
dd) Soweit mit den Ausführungen in der Begründungsschrift vom 23. Juni 2016, aus dem verlesenen Gutachten der „Rechtsmedizin H. “ ergebe sich, dass der Angeklagte die Geschädigte L. nicht penetriert habe, eine Verletzung von § 261 StPO gerügt werden soll, ist die Beanstandung nicht in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Form erhoben. Die Revision teilt weder den Inhalt des Gutachtens noch die näheren Umstände seiner Verlesung in der Hauptverhandlung mit.
15
b) Auch in sachlich-rechtlicher Hinsicht ist der Schuldspruch nicht zu beanstanden.
16
Die dazu getroffenen Feststellungen hat das Landgericht auf das Geständnis des Angeklagten gestützt, das es in rechtlich nicht zu beanstandender Weise als vollumfänglich glaubhaft bewertet hat. Das davon umfasste Vordringen bis in den Scheidenvorhof von L. trägt die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB (vgl.
BGH, Beschluss vom 27. März 2014 – 1 StR 106/14, NStZ-RR 2014, 208 mwN).
17
2. Der Strafausspruch lässt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen ebenfalls keinen Rechtsfehler erkennen. Angesichts der erheblichen Vorahndungen des Angeklagten wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und vor allem wegen der gravierenden verschuldeten Tatfolgen für das geschädigte Kind löst sich die verhängte Strafe ersichtlich nicht von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein.

III.


18
Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB hält dagegen rechtlicher Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.
19
1. Das Landgericht hat zwar die formellen Anordnungsvoraussetzungen gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB ohne Rechtsfehler angenommen.
20
2. Dagegen wird die erforderliche Hangtäterschaft i.S.v. § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht tragfähig belegt.
21
a) Das Merkmal „Hang“ verlangt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer festen eingewurzelten Neigung straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag (etwa BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 – 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 195 f.; Beschluss vom 6. Mai 2014 – 3 StR 382/13, NStZ-RR 2014, 271 f. mwN; Urteile vom 28. April 2014 – 1 StR 594/14, juris Rn. 29 [in NStZ-RR 2016, 77 nur redaktioneller Leitsatz] und vom 5. April 2017 – 1StR 621/16, juris Rn. 10). Der Hang als eingeschliffenes Verhaltensmuster bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festzustellenden gegenwärtigen Zustand (BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 – 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 196; Beschlüsse vom 30. März 2010 – 3 StR 69/10, NStZ-RR 2010, 203 und vom 6. Mai 2014 – 3 StR 382/13, NStZ-RR 2014, 271 f.; Urteil vom 28. April 2015 – 1 StR 594/14, juris Rn. 29 [in NStZ-RR 2016, 77 nur redaktioneller Leitsatz]; siehe auch BGH, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 3 StR 399/09; zu den für den Hang bedeutsamen Kriterien näher Rissing-van Saan/Peglau in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., Band 3, § 66 Rn. 126 ff.).
22
Bei dem „Hang“ handelt es sich um einen der gerichtlichen Würdigung unterliegenden Rechtsbegriff, in Bezug auf den die Beurteilung seines Vorliegens nicht einem Sachverständigen überantwortet werden darf. Die gerichtliche Würdigung ist anhand einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten , der Symptom- und Anlasstaten unter Einbeziehung aller objektiven und subjektiven Umstände vorzunehmen (BGH, Urteil vom 5. April 2017 – 1 StR 621/16, juris Rn. 10, Rissing-van Saan/Peglau aaO § 66 Rn. 126 ff. mwN). Von besonderer Bedeutung ist dabei die zeitliche Verteilung der Straftaten, wobei längere straffreie Zeiträume zwar im Grundsatz aber nicht zwingend gegen einen Hang sprechen (BGH aaO; Rissing-van Saan/Peglau aaO § 66 Rn. 131 mwN).
23
b) Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.
24
Zwar hat das Landgericht den Begriff des „Hangs“ im rechtlichen Aus- gangspunkt zutreffend bestimmt. Allerdings fehlt es an einer umfassenden Vergangenheitsbetrachtung , die die Persönlichkeit des Angeklagten und seine frühere Straffälligkeit vollständig in den Blick nimmt. Soweit das Landgericht einen eingeschliffenen inneren Zustand annimmt, der den Angeklagten immer wieder neue erhebliche Sexualstraftaten begehen lässt, erschöpft sich das Urteil – außerhalb der Darstellung der früheren Verurteilungen – in der schlichten Aufzählung von Lebensumständen (UA S. 19, 20), deren Bedeutung für die Beurteilung der Hangtätereigenschaft näherer Darlegung bedurft hätte. Das Abstellen auf die „Gefühlsarmut und fehlende Empathie“, die sich auch gegen- über seinen bisherigen „Sexualopfern“ gezeigt habe, hätte als Grundlage für den Hang näherer Darlegung zumindest im Hinblick auf die jetzige Anlasstat und den 1991 begangenen sexuellen Missbrauch eines Kindes bedurft. Ungeachtet des gravierenden Unrechts- und Schuldgehalts der Anlasstat konnte das Landgericht insoweit nicht ohne Weiteres von Gefühlsarmut und fehlender Empathie ausgehen, weil nach der jeweiligen Weigerung des geschädigten Kindes , den Penis des Angeklagten in den Mund zu nehmen oder später Ejakulatreste vom Penis abzulecken, der Angeklagte von seinen diesbezüglichen Vorhaben abgelassen hat. Gefühlsarmut und fehlende Empathie sind lediglich für die schweren Straftaten zu Lasten von zwei seiner früheren Ehefrauen bereits durch die Schilderung der jeweiligen Tatgeschehen selbst belegt.
25
Die Urteilsgründe lassen zudem nicht in der gebotenen Weise erkennen, dass das Landgericht sich der grundsätzlichen indiziellen Bedeutung längerer Phasen straffreien Lebens bewusst gewesen ist. Dem kommt vorliegend nicht nur im Hinblick auf die zeitlichen Abstände zwischen den früheren Verurteilungen insgesamt Bedeutung zu, sondern auch vor dem Hintergrund der jeweils höchst unterschiedlichen Begehungsweise der Taten des Angeklagten zu Lasten erwachsener Frauen einerseits und den geschädigten Mädchen (Tatbegehungen 1991 und 2015) andererseits. Entgegen dem Gebot, die Hangtäterschaft auf der Grundlage einer (vergangenheitsbezogenen) Gesamtbetrachtung des Täters zu beurteilen, verhält sich das Urteil auch nicht zu den Verläufen und Inhalten der von dem Angeklagten in unterschiedlichen Zusammenhängen durchlaufenen Sexualtherapien.
26
3. Die unzureichende Begründung der Hangtätereigenschaft führt zur Aufhebung des Maßregelausspruchs. Dabei bedarf keiner Entscheidung, ob im Fall einer rechtsfehlerfreien Prognose zukünftiger Gefährlichkeit allein aus dieser auf das Vorliegen eines Hangs i.S.v. § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB geschlossen werden kann, was der Senat ohnehin wegen der vergangenheitsbezogenen Betrachtung beim Hang auf der einen und der Zukunftsperspektive der Gefährlichkeitsprognose auf der anderen Seite für zweifelhaft hält (siehe bereits BGH, Urteil vom 28. April 2014 – 1 StR 594/14, juris Fn. 30 mwN [in NStZ-RR 2016, 77 nur redaktioneller Leitsatz]; siehe aber auch BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 – 3 StR 382/13, NStZ-RR 2014, 271, 272). Vorliegend hat das Landgericht , im rechtlichen Ausgangspunkt insoweit an sich zutreffend (BGH, Urteil vom 28. April 2014 – 1 StR 594/14, juris Fn. 30 mwN [in NStZ-RR 2016, 77 nur redaktioneller Leitsatz]; BVerfG [2. Kammer des Zweiten Senats], Beschluss vom 5. August 2009 – 2 BvR 2098/08 u.a., BVerfGK 16, 98-114, juris Rn. 20), die zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten gerade auch mit seinem Hang begründet (UA S. 20). Da Letzterer aber nicht tragfähig belegt ist, betrifft der Mangel auch die Gefährlichkeitsprognose.
27
Da die Hangtätereigenschaft nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist, bedarf es der Aufhebung der zugrundeliegenden Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).
28
4. Wegen des Erfolgs der auf die Maßregelanordnung bezogenen Sachrüge kommt es auf die weiteren, allein die Anordnung der Sicherungsverwahrung betreffenden Verfahrensbeanstandungen nicht an.
29
5. Der rechtsfehlerfreie Strafausspruch (oben II.2.) ist angesichts der kategorialen Unterschiede zwischen Strafe und Maßregel (vgl. näher BGH, Urteil vom 15. März 2016 – 1 StR 526/15, StV 2017, 29, 31; siehe auch BGH, Urteile vom 24. November 2011 – 4 StR 331/11, NStZ-RR 2012, 156 f. und vom 28. April 2014 – 1 StR 594/14, juris Fn. 23 mwN [in NStZ-RR 2016, 77 nur redaktioneller Leitsatz]) von der Aufhebung der Maßregelanordnung nicht betroffen. Eine Konstellation, in der das Tatgericht – entgegen der gesetzlichen Konzeption – eine innere Verknüpfung zwischen Strafe und Maßregel hergestellt hätte, ist nicht gegeben.
30
6. Die erneute Anordnung von Sicherungsverwahrung durch den neuen Tatrichter ist nicht ausgeschlossen. Prognostisch könnte dem Umstand Bedeutung zukommen, dass der Angeklagte die Anlasstat bereits drei Monate, nachdem er mangels weggefallener finanzieller Mittel keine Sexualkontakte zu Prostituierten mehr hatte, ausgeführt hat.
Jäger Bellay Radtke Ri'inBGH Dr. Fischer ist wegen Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert. Jäger Hohoff

(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die
a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet,
b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder
c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und
4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.

(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.

(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 568/09
vom
18. Februar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung u. a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. Februar
2010, an der teilgenommen haben:
Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als Vorsitzende,
die Richter am Bundesgerichtshof
Pfister,
von Lienen,
Hubert,
Dr. Schäfer
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 12. August 2009 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung zu einer "Freiheitsstrafe" von drei Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafen von zwei Jahren sowie zwei Jahren und sechs Monaten) verurteilt sowie die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten war nur insoweit erfolgreich, als der Senat das Urteil im Strafausspruch dahin berichtigt hat, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt war, und im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen wegen fehlender Erörterungen zu einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen hat. Nunmehr hat das Landgericht sowohl die Maßregel nach § 64 StGB als auch die nach § 66 Abs. 1 StGB angeordnet und bestimmt, dass die Unterbringung in der Entziehungsanstalt zuerst zu vollziehen ist. Die Revision des Angeklagten richtet sich mit einer Verfahrensrüge sowie mit sachlichrechtlichen Beanstandungen allein gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
2
1. Die Beschränkung der Revision auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist nicht wirksam. Zwischen ihr und der durch den Beschwerdeführer vom Revisionsangriff ausgenommenen Maßregel nach § 64 StGB besteht hier ein nicht trennbarer Zusammenhang.
3
2. Die Rüge, das Landgericht habe fehlerhaft einen Antrag auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens abgelehnt, versagt. Das Gutachten sollte beweisen, dass die Handlungen des Angeklagten bei dem Opfer der beiden Körperverletzungen "keine schweren seelischen oder körperlichen Schäden herbeigeführt haben und hierzu auch nicht geeignet waren". Zutreffend hat das Landgericht den Antrag zurückgewiesen. Soweit in der Beweisbehauptung ein Tatsachenkern über den Umfang und die Auswirkungen der Körperverletzungen zu finden ist, stehen einer Beweisaufnahme die bindenden Feststellungen zum Schuld- und Strafausspruch entgegen. Soweit der Antrag auf eine Wertung der Verletzungen, naheliegend auf eine Subsumtion der Taten unter solche im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB abzielt, handelt es sich nicht um eine Tatsache, sondern um eine rechtliche Einordnung, die das Gericht in eigener Verantwortung zu treffen hat.
4
3. Die Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt hält rechtlicher Nachprüfung stand. Zwar hat das Landgericht die bei der Verhängung von Freiheitsstrafen von mehr als drei Jahren nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB vorgesehene Entscheidung über einen teilweisen Vollzug der Strafe vor der Maßregel unterlassen. Indes hat der Beschwerdeführer, der sich in dieser Sache seit dem 16. März 2008 in Haft befindet, inzwischen mehr als die Hälfte der erkannten Freiheitsstrafe verbüßt, so dass die Entscheidung über einen Vorwegvollzug nunmehr unterbleiben muss (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 233).
5
4. Frei von rechtlichen Bedenken ist - entgegen der Ansicht der Revision und des Generalbundesanwalts - auch die Annahme des Landgerichts, bei dem Angeklagten sei ein Hang gegeben zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und er sei deshalb für die Allgemeinheit gefährlich (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB).
6
Das Landgericht ist zutreffend von Folgendem ausgegangen: Was unter "erheblichen" Straftaten zu verstehen ist, kann nicht allgemein gesagt werden. Der Hinweis in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB auf Taten mit schweren körperlichen oder seelischen Schädigungen der Opfer (sowie - was hier nicht in Rede steht - mit schweren wirtschaftlichen Schäden) stellt keine abschließende Regelung dar. Vielmehr kann sich jenseits dieser Beispielsfälle die Erheblichkeit auch aus anderen Umständen ergeben. Entscheidend ist, ob der Täter als für die Allgemeinheit gefährlich erscheint, weil von ihm Straftaten zu erwarten sind, die den Rechtsfrieden empfindlich stören (st. Rspr.; BGHSt 24, 153, 154 f.; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Erheblichkeit 3, 6; BGH NStZ 1986, 165). Die Beurteilung, ob die Anlasstat und die übrigen Taten, in denen die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung gefunden werden, in diesem Sinne "erheblich" und damit symptomatisch für einen Hang sind, muss im Einzelfall aufgrund einer sorgfältigen Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten erfolgen (BGHSt 24, 153, 156). Dabei sind ggf. auch länger zurückliegende Taten zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1999, 502, 503; StV 2007, 633).
7
Die auf dieser Grundlage getroffene Beurteilung des Landgerichts, bei der zweiten Anlasstat sei das Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt worden und die erste Anlasstat sei - sofern eine solche Schädigung des Opfers nicht vorliege - jedenfalls geeignet, den Rechtsfrieden in empfindlicher und schwerwiegender Weise zu stören, ist rechtsfehlerfrei. In beiden Fällen brachte der Angeklagte seinem wehrlosen Opfer jeweils mit zahlreichen Faustschlägen blutende Verletzungen im Gesicht bei. Nach der ersten Tat befand es sich in einem so schlechten Zustand, dass der Angeklagte es selbst in die stabile Seitenlage verbrachte, weil er befürchtete, es werde andernfalls an seinem Blut ersticken. Bei der zweiten Tat war das Opfer etwa acht Stunden bewusstlos und musste anschließend drei Tage lang stationär im Krankenhaus behandelt werden. Die nur wenige Tage auseinanderliegenden Taten beging der Angeklagte gut einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Strafvollzug, wo er eine zwölfjährige Freiheitsstrafe wegen eines im Jahr 1993 begangenen Tötungsdelikts und den Rest einer neunjährigen Freiheitsstrafe u. a. wegen einer im Jahr 1985 begangenen schweren räuberischen Erpressung verbüßt hatte. Neben diesen Symptomtaten hat der Angeklagte auch durch den ebenfalls im Jahr 1985 begangenen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr seine außergewöhnliche Rücksichtslosigkeit gezeigt.
8
Auch die übrigen Darlegungen des Landgerichts sind ohne Rechtsfehler: Sachverständig beraten hat die Strafkammer ausführlich begründet, dass es sich bei dem Angeklagten um eine dissoziale Persönlichkeit mit geringer Frustrationstoleranz und extrem hoher Aggressionsneigung handelt, die durch einen ausgeprägten Mangel an Opferempathie, an Schuldbewusstsein und an der Fähigkeit, aus den Bestrafungen zu lernen, auffällt und von der vergleichbare Taten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Sost-Scheible Pfister von Lienen Hubert Schäfer