Bundesgerichtshof Beschluss, 02. März 2017 - IX ZB 70/16

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:020317BIXZB70.16.0
bei uns veröffentlicht am02.03.2017
vorgehend
Amtsgericht Saarbrücken, 103 IN 4/15, 03.06.2015
Landgericht Saarbrücken, 4 T 39/15, 27.07.2016

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
IX ZB 70/16
vom
2. März 2017
in dem Insolvenzeröffnungsverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
EuInsVO Art. 3 Abs. 1
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ist für die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens gegen einen unselbständig tätigen Schuldner regelmäßig
begründet, dessen gewöhnlicher Aufenthalt sich zum Zeitpunkt der Antragstellung
im Inland befindet.
BGH, Beschluss vom 2. März 2017 - IX ZB 70/16 - LG Saarbrücken
AG Saarbrücken
ECLI:DE:BGH:2017:020317BIXZB70.16.0

Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kayser, die Richter Prof. Dr. Gehrlein, die Richterin Lohmann sowie die Richter Grupp und Dr. Schoppmeyer
am 2. März 2017
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 27. Juli 2016 wird auf Kosten des Schuldners zurückgewiesen.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe:


I.


1
Der Antragsteller (weiterer Beteiligter zu 2) ist Verwalter in dem am 1. August 2014 über das Vermögen der J. GmbH & Co. KG (nachfolgend: Schuldnerin) eröffneten Insolvenzverfahren. Gegen den Schuldner als Geschäftsführer und Alleingesellschafter der Schuldnerin hat er unter Berufung auf - auch aus § 64 GmbHG hergeleitete - Forderungen von rund 2 Mio. € am 19. Januar 2015 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Außerdem ist der Schuldner Alleingesellschafter und Geschäftsführer weiterer zu dem Modehandelskonzern J. in M. gehö- render Gesellschaften, über deren Vermögen im Juli und August 2014 ebenfalls Insolvenzverfahren eröffnet wurden. Der Schuldner, der nunmehr als Arbeitnehmer in dem in Saarbrücken ansässigen Unternehmen seiner - getrennt lebenden - Ehefrau gegen eine unterhalb der Pfändungsfreigrenze liegende Vergütung tätig ist, beanstandet die Zuständigkeit der inländischen Gerichte, weil er am 4. August 2014 seinen Wohnsitz von Saarbrücken nach Grosbliederstroff /Frankreich verlegt habe.
2
Das Insolvenzgericht hat das Verfahren antragsgemäß eröffnet und den weiteren Beteiligten zu 1 zum Insolvenzverwalter bestellt. Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der von dem Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Schuldner sein Begehren, den Eröffnungsantrag abzulehnen, weiter.

II.


3
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO, §§ 4, 6 Abs. 1, § 34 Abs. 2 InsO statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.
4
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
5
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte sei gemäß Art. 3 EuInsVO gegeben. Zur Feststellung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners sei auf die Kriterien der Arbeit, der Familie sowie der sozialen und der kulturellen Integration abzustellen. Danach komme es nicht allein auf die Begründung eines Wohnsitzes durch den Abschluss eines Mietvertrages sowie die Ummeldung eines Fahrzeugs nach Frankreich an. Vielmehr falle besonders ins Gewicht, dass der Schuldner nach wie vor in Saarbrücken als Angestellter im Unternehmen seiner Frau tätig sei. Neben dem Schwerpunkt seiner Beschäftigung deuteten auch die familiären Verhältnisse des Schuldners nach Saarbrücken, wo seine Ehefrau und der gemeinsame Sohn in einem Haus lebten, an welchem dem Schuldner ein dingliches Wohnrecht zustehe. Die noch bestehende Ehe und der in Deutschland gelegene Lebensmittelpunkt der Ehefrau bilde ein Kriterium für einen Lebensmittelpunkt des Schuldners in Deutschland , auch wenn der Insolvenzantrag in den zeitlichen Rahmen einer frühen Trennungsphase gefallen sei. Der Umstand, dass der Schuldner jeden Abend nach Grosbliederstroff fahre, um dort zu nächtigen, begründe keinen dortigen Lebensmittelpunkt.
6
Im Übrigen sei eine tatsächliche Verlegung des Lebensmittelpunktes nach Frankreich unbeachtlich, weil sie rechtsmissbräuchlich erfolgt sei. Der Wohnsitz des Schuldners sei mit Rücksicht auf die gegen ihn geltend gemachten Forderungen in Millionenhöhe zur Erwirkung eines kurzen Restschuldbefreiungsverfahrens gewechselt worden.
7
2. Diese Ausführungen halten bereits in der Hauptbegründung den Angriffen der Beschwerde stand. Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO) war im maßgeblichen Zeitpunkt des gegen ihn gestellten Insolvenzantrages (BGH, Beschluss vom 9. Februar2006 - IX ZB 418/02, WM 2006, 695) in Deutschland gelegen.
8
a) Der in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO verwendete Rechtsbegriff des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen (Centre of main interests COMI) ist verordnungsautonom, das heißt in den Mitgliedsstaaten einheitlich und unabhängig von nationalen Rechtsvorschriften auszulegen.
9
aa) Seine Bedeutung erschließt sich aus der 13. Begründungserwägung der Verordnung, wo es heißt: "Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist". Aus dieser Definition geht hervor, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist. Diese Objektivität und die Möglichkeit der Feststellung durch Dritte sind erforderlich, um Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts zu garantieren. Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sind umso wichtiger, als die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 4 Abs. 1 EuInsVO die des anwendbaren Rechts nach sich zieht (BGH, Beschluss vom 22. März 2007 - IX ZB 164/06, WM 2007, 899 Rn. 14; vom 15. November 2010 - NotZ 6/10, ZIP 2011, 284 Rn. 11).
10
bb) Handelt es sich bei dem Schuldner um eine abhängig beschäftigte Person, kann für den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach allgemeiner Rechtsansicht regelmäßig auf den gewöhnlichen Aufenthalt als tatsächlichen Lebensmittelpunkt abgestellt werden, wo der Schwerpunkt der wirtschaftlichen , sozialen und kulturellen Beziehungen liegt (OLG Hamm IPrax 2012, 351 Rn. 58; LG Göttingen ZInsO 2007, 1358; AG Köln NZI 2009, 133, 134; 2012, 379, 380; HK-InsO/Dornblüth, 8. Aufl., § 3 EuInsVO Rn. 7; MünchKommInsO /Thole, 3. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 50; Gruber/Schulz in A/G/R, InsO, 3. Aufl., Art. 3 EuInsVO aF Rn. 23; Schmidt/Brinkmann, InsO, 19. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 8; HmbKomm-InsO/Undritz, 6. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 20; Gott- wald/Kolmann/Keller, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl., § 131 Rn. 28; FKInsO /Wenner/Schuster, 8. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 9; Uhlenbruck/Lüer, InsO, 14. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 10; Kemper in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2010, Art. 3 EuInsVO Rn. 8; Pannen, EuInsVO, 2007, Art. 3 Rn. 19 ff, 25; Mankowski, NZI 2005, 368, 369 f). Dabei ist die Intensität beruflicher und familiärer Bindungen von besonderer Bedeutung (BGH, Beschluss vom 3. Februar 1993 - XII ZB 93/90, NJW 1993, 2047, 2048; AG Köln NZI 2012, 379, 380; MünchKommInsO /Thole, aaO; Gruber/Schulz in A/G/R, aaO; HmbKomm-InsO/Undritz, aaO; Gottwald/Kolmann/Keller, aaO). Ob besondere Umstände dazu führen können, den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen abweichend von dem gewöhnlichen Aufenthalt zu bestimmen, kann vorliegend dahinstehen. Daher kann eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union unterbleiben.

b) Der durch die Aufnahme eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und familiäre Bindungen geprägte gewöhnliche Aufenthalt des Schuldners verweist nach der rechtsfehlerfreien Würdigung des Landgerichts auf das Inland. Dies ergibt eine Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. EuGH, Beschluss vom 20. Oktober 2011 - C-396/09, ZIP 2011, 2153 Rn. 52 "Interedil").
11
aa) Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist einmal zu berücksichtigen , dass der Schuldner bei einer in Deutschland ansässigen Gesellschaft eine Tätigkeit als Arbeitnehmer übernommen hat, die er nicht etwa überwiegend faktisch in Frankreich versieht. Wie ein zwischen dem Schuldner und einer Inkassogesellschaft geführtes Interview unterstreicht, ist dem Schuldner von seiner Arbeitgeberin auch der interne Geschäftsbereich des Forderungseinzugs überantwortet. Zum anderen nimmt der Schuldner den familiären Kontakt zu seinem Sohn in Saarbrücken wahr. Dabei handelt es sich nicht um die Situation eines Grenzgänger-Arbeitnehmers, der vom ausländischen Wohnsitz seiner Familie lediglich zu seinem inländischen Arbeitsplatz anreist. In einem solchen Fall liegt der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen eines Schuldners an dem Ort, wo er und seine Familie ansässig sind (MünchKomm-InsO/ Thole, 3. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 48; Schmidt/Brinkmann, aaO Art. 3 EuInsVO Rn. 9). Vorliegend bestehen die familiären Beziehungen des Schuldners hingegen ausschließlich an seinem Arbeitsort in Saarbrücken.
12
(2) Die danach festzustellenden hauptsächlichen erwerbswirtschaftlichen und familiären Bindungen des Schuldners nach Deutschland werden nicht dadurch in Frage gestellt, dass er in Frankreich eine Wohnung gemietet und dort seinen Wohnsitz angemeldet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juni 2006 - IX ZA 8/06, IPRspr 2006, Nr. 265, 616, 618; vom 22. März 2007 - IX ZB 164/06, WM 2007, 899 Rn. 14). In Anwendung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO genügt es, wenn die "hauptsächlichen", nicht notwendig alle Interessen des Schuldners auf das Inland verweisen (AG Köln, NZI 2011, 159, 160). Der Wohnort wurde von dem Schuldner ersichtlich in unmittelbarer Grenznähe gewählt, um tatsächlich im nahe gelegenen Saarbrücken seinen hauptsächlichen Interessen nachgehen zu können. Eine über den Kontakt zu Nachbarn hinausgehende soziale Integration des Schuldners an seinem Wohnort, wo er keinen engeren privaten Umgang pflegt, hat nicht stattgefunden. Zudem verfügt der Schuldner in Deutschland über ein dingliches Wohnrecht an einer Immobilie, das er nicht aufgegeben hat. Die dadurch eröffnete Rückkehroption spricht gegen eine dauerhaft gewollte Änderung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen (vgl. Schmidt/Brinkmann, InsO, 19. Aufl., Art. 3 EuInsVO, Rn. 19).
Kayser Gehrlein Lohmann
Grupp Schoppmeyer

Vorinstanzen:
AG Saarbrücken, Entscheidung vom 03.06.2015 - 103 IN 4/15 -
LG Saarbrücken, Entscheidung vom 27.07.2016 - 4 T 39/15 -

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 02. März 2017 - IX ZB 70/16

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 574 Rechtsbeschwerde; Anschlussrechtsbeschwerde


(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn1.dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder2.das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.§ 542 Ab

Insolvenzordnung - InsO | § 6 Sofortige Beschwerde


(1) Die Entscheidungen des Insolvenzgerichts unterliegen nur in den Fällen einem Rechtsmittel, in denen dieses Gesetz die sofortige Beschwerde vorsieht. Die sofortige Beschwerde ist bei dem Insolvenzgericht einzulegen. (2) Die Beschwerdefrist beginn

Insolvenzordnung - InsO | § 4 Anwendbarkeit der Zivilprozeßordnung


Für das Insolvenzverfahren gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozeßordnung entsprechend. § 128a der Zivilprozessordnung gilt mit der Maßgabe, dass bei Gläubigerversammlungen sowie sonstigen Versammlungen
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Insolvenzordnung - InsO | § 6 Sofortige Beschwerde


(1) Die Entscheidungen des Insolvenzgerichts unterliegen nur in den Fällen einem Rechtsmittel, in denen dieses Gesetz die sofortige Beschwerde vorsieht. Die sofortige Beschwerde ist bei dem Insolvenzgericht einzulegen. (2) Die Beschwerdefrist beginn

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Für das Insolvenzverfahren gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozeßordnung entsprechend. § 128a der Zivilprozessordnung gilt mit der Maßgabe, dass bei Gläubigerversammlungen sowie sonstigen Versammlungen

Insolvenzordnung - InsO | § 34 Rechtsmittel


(1) Wird die Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgelehnt, so steht dem Antragsteller und, wenn die Abweisung des Antrags nach § 26 erfolgt, dem Schuldner die sofortige Beschwerde zu. (2) Wird das Insolvenzverfahren eröffnet, so steht dem Schuldne

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Referenzen

(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn

1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder
2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
§ 542 Abs. 2 gilt entsprechend.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.

(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.

Für das Insolvenzverfahren gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozeßordnung entsprechend. § 128a der Zivilprozessordnung gilt mit der Maßgabe, dass bei Gläubigerversammlungen sowie sonstigen Versammlungen und Terminen die Beteiligten in der Ladung auf die Verpflichtung hinzuweisen sind, wissentliche Ton- und Bildaufzeichnungen zu unterlassen und durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass Dritte die Ton- und Bildübertragung nicht wahrnehmen können.

(1) Die Entscheidungen des Insolvenzgerichts unterliegen nur in den Fällen einem Rechtsmittel, in denen dieses Gesetz die sofortige Beschwerde vorsieht. Die sofortige Beschwerde ist bei dem Insolvenzgericht einzulegen.

(2) Die Beschwerdefrist beginnt mit der Verkündung der Entscheidung oder, wenn diese nicht verkündet wird, mit deren Zustellung.

(3) Die Entscheidung über die Beschwerde wird erst mit der Rechtskraft wirksam. Das Beschwerdegericht kann jedoch die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung anordnen.

(1) Wird die Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgelehnt, so steht dem Antragsteller und, wenn die Abweisung des Antrags nach § 26 erfolgt, dem Schuldner die sofortige Beschwerde zu.

(2) Wird das Insolvenzverfahren eröffnet, so steht dem Schuldner die sofortige Beschwerde zu.

(3) Sobald eine Entscheidung, die den Eröffnungsbeschluß aufhebt, Rechtskraft erlangt hat, ist die Aufhebung des Verfahrens öffentlich bekanntzumachen. § 200 Abs. 2 Satz 2 gilt entsprechend. Die Wirkungen der Rechtshandlungen, die vom Insolvenzverwalter oder ihm gegenüber vorgenommen worden sind, werden durch die Aufhebung nicht berührt.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
IX ZB 418/02
vom
27. November 2003
in dem Insolvenzeröffnungsverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
EuInsVO Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Art. 43
Zu der Frage, ob das Gericht des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf Eröffnung
des Insolvenzverfahrens gestellt worden ist, für die Entscheidung über die Eröffnung
des Insolvenzverfahrens zuständig bleibt, wenn der Schuldner nach Antragstellung
, aber vor der Eröffnung den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen
in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt, oder ob das Gericht des anderen
Mitgliedstaats zuständig wird (Vorlage an den EuGH).
BGH, Beschluß vom 27. November 2003 - IX ZB 418/02 - LG Wuppertal
AG Wuppertal
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Kreft und die Richter Dr. Ganter, Raebel, Kayser und Dr. Bergmann
am 27. November 2003

beschlossen:
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird zur Auslegung des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. EG Nr. L 160 vom 30. Juni 2000; im folgenden: EuInsVO) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: "Bleibt das Gericht des Mitgliedstaats, bei dem der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt worden ist, für die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig , wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Eröffnung den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt, oder wird das Gericht des anderen Mitgliedstaats zuständig?"

Gründe:


I.


Zur Beantwortung der vorstehenden Vorlagefrage, von der die Entscheidung des Rechtsstreits abhängt, ist Art. 3 EuInsVO auszulegen. Die Verordnung ist auf Art. 61c und Art. 67 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (im folgenden: EG) gestützt und am 31. Mai 2002 in Kraft getreten. Sie gilt in den Mitgliedstaaten unmittelbar (Art. 47 EuInsVO). Da dem Senat die Auslegung nicht offenkundig erscheint, hat er eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften einzuholen (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 234 EG).

II.


Im vorliegenden Rechtsstreit stellte die Schuldnerin, die in Form eines Einzelunternehmens einen Handel mit Telekommunikationsgeräten und Zubehör betrieb, am 6. Dezember 2001 den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen. Der Betrieb der Schuldnerin war bei Antragstellung bereits geschlossen. Wesentliche Vermögensgegenstände, die für eine zukünftige Insolvenzmasse zu sichern gewesen wären, konnten nicht ermittelt werden. Das Insolvenzgericht lehnte mit Beschluß vom 10. April 2002 die Eröffnung des Verfahrens mangels Masse ab. Das dagegen gerichtete Rechtsmittel der Schuldnerin, mit dem sie unter Aufhebung des Beschlusses vom 10. April 2002 die Eröffnung des Verfahrens beantragte, wurde - nach Gewährung von Wiedereinsetzung - mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß
der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen als unzulässig zurückgewiesen wurde (Beschluß des Landgerichts vom 14. August 2002 i.V.m. dem Berichtigungsbeschluß vom 15. Oktober 2003). Mit der Rechtsbeschwerde begehrt die Schuldnerin die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht.

III.


Vor der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde ist das Verfahren auszusetzen und eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu der im Beschlußtenor gestellten Frage einzuholen. Die Sachentscheidung im vorliegenden Verfahren ist abhängig von der Auslegung des Art. 3 EuInsVO.
1. Das Beschwerdegericht hat festgestellt, daß die Schuldnerin bereits am 1. April 2002 ihren Wohnsitz nach Spanien verlegt hat und dort leben und arbeiten will (Beschl. v. 14. August 2002, S. 3 Abs. 3). Diese Feststellung ist vom Rechtsbeschwerdegericht für die rechtliche Beurteilung in der Rechtsbeschwerdeinstanz zugrunde zu legen, § 577 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 559 Abs. 2 ZPO (vgl. BGH, Beschl. v. 18. September 2003 - IX ZB 40/03, z.V.b.). Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, damit habe die Schuldnerin den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen an ihrem spanischen Wohnsitz, so daß gemäß Art. 3 EuInsVO das für den (neuen) Wohnsitz der Schuldnerin zuständige spanische Gericht für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig sei.
Die Rechtsbeschwerde meint dagegen, für die Beurteilung der Zuständig- keit sei auf den Zeitpunkt des Eröffnungsantrages abzustellen. Da die Schuldnerin zum Zeitpunkt der Antragstellung den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Wuppertal gehabt habe, seien die deutschen Gerichte für die Eröffnung zuständig.
2. Die EuInsVO ist am 31. Mai 2002 in Kraft getreten, Art. 47. Nach dem Wortlaut von Art. 43 Satz 1 EuInsVO ist sie nur auf solche Insolvenzverfahren anzuwenden, die nach ihrem Inkrafttreten eröffnet worden sind. Damit kann nicht gemeint sein, daß sämtliche Bestimmungen der EuInsVO nur auf nach dem 31. Mai 2002 bereits eröffnete Insolvenzverfahren anwendbar sind. Denn Art. 3 EuInsVO enthält gerade Regelungen darüber, welches Gericht für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig ist. Gemäß Art. 43 Satz 1 EuInsVO sollen daher ersichtlich nur solche Insolvenzverfahren aus dem (zeitlichen ) Geltungsbereich der EuInsVO herausfallen, die schon vor deren Inkrafttreten eröffnet worden sind (vgl. auch Art. 44 Abs. 2 EuInsVO; vgl. ferner Virgos/Schmitt, in: Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EUÜbereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht, S. 130 Nr. 304 des erläuternden Berichtes zu dem - insoweit wörtlich übereinstimmenden - EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren vom 23.11.1995; Duursma, in: Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, Europäische Insolvenzordnung, Art. 43 Rn. 2). Für die Beantwortung der Frage, ob ein Verfahren vor oder nach dem Inkrafttreten der EuInsVO eröffnet wurde, ist entsprechend Art. 16 Abs. 1 EuInsVO darauf abzustellen, wann die Entscheidung über die Verfahrenseröffnung wirksam geworden ist (Virgos/Schmitt aaO S. 131 Nr. 305; Duursma aaO Rn. 4). Wirksamkeit in diesem Sinne meint die Entfaltung von Wirkungen, die
mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verbunden sind (Duursma-Kepplinger /Chalupsky aaO Art. 16 Rn. 11; Duursma aaO Art. 43 Rn. 13).
Im vorliegenden Verfahren ist eine positive Eröffnungsentscheidung vor dem Inkrafttreten der EuInsVO nicht getroffen worden. Das Insolvenzgericht hat mit Beschluß vom 10. April 2002 lediglich die Eröffnung des Verfahrens mangels Masse abgelehnt. Aufgrund der dagegen gerichteten Rechtsmittel der Schuldnerin war das Eröffnungsverfahren im Zeitpunkt des Inkrafttretens der EuInsVO noch anhängig. Die mit einer Eröffnung des Verfahrens nach deutschem Insolvenzrecht verbundenen Wirkungen waren folglich vor dem Inkrafttreten der EuInsVO noch nicht eingetreten. Das Eröffnungsverfahren als solches fällt nicht in den Anwendungsbereich der EuInsVO, vgl. Art. 1 Abs. 1 (Duursma aaO Art. 43 Rn. 12).
3. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO sind für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen soll gemäß Erwägungsgrund 13 der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist. Bei einer natürlichen Person kommt als Anknüpfungspunkt sowohl der Wohnsitz als auch der Ort in Betracht , an dem sie ihrer selbständigen oder unselbständigen Tätigkeit nachgeht (vgl. Duursma-Kepplinger aaO § 3 Rn. 19 ff; Virgos/Schmitt aaO S. 60 Nr. 75). Im vorliegenden Verfahren hat die Schuldnerin nach den bindenden Feststellungen des Beschwerdegerichts sowohl ihren Wohnsitz als auch den Ort ihrer Tätigkeit nach Spanien verlegt. Nach beiden Anknüpfungskriterien liegt der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen folglich nunmehr in Spanien. Ob
das Gericht eines Mitgliedstaats, das im Zeitpunkt des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO zuständig ist, für die Eröffnung zuständig bleibt, wenn der Schuldner vor der Eröffnung den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlegt , regelt § 3 EuInsVO nicht ausdrücklich.

a) Für die Auffassung der Rechtsbeschwerde, daß die Zuständigkeit erhalten bleibt, könnte das im Erwägungsgrund 4 genannte Ziel sprechen, im Interesse eines ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarktes zu verhindern , daß es für die Beteiligten vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlagern , um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben (sogenanntes "forum shopping").

b) Dagegen läßt sich entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde den Vorschriften des Art. 4 Abs. 1 und 2 EuInsVO, nach denen sich die Regelung, unter welchen Voraussetzungen das Verfahren eröffnet wird, nach dem Recht des Mitgliedstaats richtet, in dem das Verfahren eröffnet wird, nicht entnehmen, daß deshalb das bei Antragstellung zuständige Gericht für die Eröffnung zuständig bleiben muß. Bei einem Wechsel der Zuständigkeit wäre vielmehr gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 EuInsVO für die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Recht des Mitgliedstaats anzuwenden, in dessen Gebiet das nunmehr zuständige Gericht seinen Sitz hat. Dasselbe gilt für die Befugnis , bereits ab dem Zeitpunkt des Eröffnungsantrages Sicherungsmaßnahmen anzuordnen (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 4, Art. 38 EuInsVO sowie Erwägungsgrund 16). Auch diese Befugnis könnte mit dem Wechsel der Zuständigkeit übergehen.


c) Für die Ansicht des Beschwerdegerichts, daß auf die Zuständigkeit im Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung abzustellen ist, könnte angeführt werden , daß mit der Regelung des § 3 Abs. 1 EuInsVO, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat zu gestatten, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, ein Hauptinsolvenzverfahren mit universaler Geltung und mit dem Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen, eröffnet werden soll (vgl. Erwägungsgrund 12). Neben diesem Hauptinsolvenzverfahren können unter den Voraussetzungen von Art. 3 Abs. 2 und 3 EuInsVO lediglich (beschränkte) Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden. Wenn mit der Verlegung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen des Schuldners eine Verbringung seines gesamten oder wesentlicher Teile seines Vermögens in den anderen Mitgliedstaat verbunden ist, kann beispielsweise die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in diesem Mitgliedstaat sinnvoll sein. Verfügt der Schuldner wie im vorliegenden Fall im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung nicht über wesentliches Vermögen, kann der Schwerpunkt des Verfahrens nach der Eröffnung in dem Mitgliedstaat liegen , in den der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen verlegt hat, wenn wie etwa nach deutschem Recht das während des Insolvenzverfahrens erlangte Vermögen zur Insolvenzmasse gehört, § 35 InsO. Von Bedeutung kann ferner sein, daß es die Abwicklung des Insolvenzverfahrens erheblich erschweren kann, wenn sich der Schuldner nicht in dem Mitgliedstaat des Insolvenzgerichts aufhält. Bei natürlichen Personen wird in der Regel die Eröffnung eines Partikular- oder Sekundärinsolvenzverfahrens nicht in Betracht kommen. Ein solches Verfahren kann gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 EuInsVO in einem anderen Mitgliedstaat, in dem der Schuldner nicht den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, nur eröffnet
werden, wenn der Schuldner dort eine Niederlassung hat. Dies wird bei natürlichen Personen gewöhnlich nicht der Fall sein.

d) Die Vorlagefrage läßt sich nicht unter Heranziehung anderer europäischer Rechtsquellen, die Regelungen zur gerichtlichen Zuständigkeit enthalten , offenkundig beantworten. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt die eine gerichtliche Zuständigkeit begründenden Tatsachen vorliegen müssen und ob bei einer Änderung die einmal gegebene Zuständigkeit fortdauert, ist weder in der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. Nr. L 12 vom 16. Januar 2001) noch in der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl. Nr. L 160 S. 19 vom 30. Juni 2000) geregelt (vgl. Schlosser, EU-Zivilprozeßrecht 2. Aufl. Art. 2 EuGVVO Rn. 7 sowie Art. 2 EuEheVO Rn. 5; Czernich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands - und Vollstreckungsrecht 2. Aufl. Art. 2 EuGVVO Rn. 4). Das Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 (EuGVÜ) sowie das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen , geschlossen in Lugano am 16. September 1988, enthalten gleichfalls keine diesbezüglichen Regelungen (vgl. Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht Art. 2 GVÜ Rn. 111).
Kreft Ganter Raebel
Kayser Bergmann
14
(1) Für die Annahme der internationalen Zuständigkeit des angerufenen Insolvenzgerichts besteht nach den bisherigen Feststellungen eine überwiegende , auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit. Der in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO verwendete Rechtsbegriff des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen erschließt sich aus der 13. Begründungserwägung der Verordnung, wo es heißt: "Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist." Aus dieser Definition geht hervor, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist. Diese Objektivität und die Möglichkeit der Feststellung durch Dritte sind erforderlich, um Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts zu garantieren. Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sind umso wichtiger, als die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung die des anwendbaren Rechts nach sich zieht (EuGH ZIP 2006, 907, 908). Als feststellbares Kriterium, welches Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts garantiert, ist nach gesicherter Rechtsauffassung bei Kaufleuten, Gewerbetreibenden oder Selbständigen an die wirtschaftliche oder gewerbliche Tätigkeit des Schuldners anzuknüpfen (vgl. BGH, Beschl. v. 13. Juni 2006 - IX ZA 8/06, n.v.; HK-InsO/Stephan, 4. Aufl. Art. 3 EuInsVO Rn. 3; Balz ZIP 1996, 948, 949; Duursma-Kepplinger in Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, Europäische Insolvenzordnung Art. 3 Rn. 19; Huber ZZP 114 (2001), 133, 140; Kemper in Kübler/Prütting, InsO Art. 3 EuInsVO Rn. 5; Smid, Deutsches und Europäisches Internationales Insolvenzrecht Art. 3 EuInsVO Rn. 9). Das Landgericht hat sich diesem Standpunkt ersichtlich angeschlossen. Danach kommt es nicht darauf an, dass der Schuldner seinen Wohnsitz in Italien hat.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
IX ZA 8/06
vom
13. Juni 2006
in dem Insolvenzverfahren
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Fischer und die Richter Dr. Ganter, Raebel, Kayser und Cierniak
am 13. Juni 2006

beschlossen:
Das Gesuch des Schuldners, ihm zur Durchführung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 2. Februar 2006 Prozesskostenhilfe zu gewähren , wird zurückgewiesen.

Gründe:


1
dem Das Schriftsatz der Verfahrensbevollmächtigten des Schuldners vom 24. Februar 2006, eingegangen beim Bundesgerichtshof am 27. Februar 2006, zu entnehmende Prozesskostenhilfegesuch ist zurückzuweisen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 4 InsO, § 114 Satz 1 ZPO).
2
1. Eine Rechtsbeschwerde gegen eine Entscheidung, durch welche - wie hier - die sofortige Beschwerde gegen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners zurückgewiesen wird, ist nur zulässig, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 7 InsO in Verbindung mit § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO). Keine dieser Fallgestaltungen ist hier gegeben, insbesondere liegt kein Fall der Grundsätzlichkeit vor. Diese hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb das abs trakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (BGHZ 154, 288, 291; 159, 135, 137 f).
3
2. Das Landgericht hat die internationale Zuständigkeit der deutschen Insolvenzgerichte gemäß Art. 3 Abs. 1 EuInsVO, gegen welche der Schuldner sich im Rechtsbeschwerdeverfahren wenden will, damit begründet, dass der Mittelpunkt der Tätigkeiten des Schuldners in wirtschaftlicher Hinsicht in Deutschland liege. Hiergegen sind Zulassungsgründe nicht ersichtlich.
4
a) Das Landgericht hat ausgeführt: Sämtliche nennenswerten Einnahmen des Schuldners seien auf dessen nicht als anwaltlich zu qualifizierenden organschaftlichen Tätigkeiten für zwei Gesellschaften zurückzuführen. Anwaltshonorare habe er nach den nicht in Abrede gestellten Feststellungen des Insolvenzverwalters nur vor seiner Bestellung als Präsident der Gesellschaften vereinnahmt. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Gesellschaften seien von Deutschland aus gesteuert worden.
5
Zu der Gesellschaft "A.I. & F." sei festzustellen, dass es im Kern darum gegangen sei, die von Anlegern in Deutschland eingezahlten Beträge, die über ein in Deutschland aufgebautes Vertriebssystem eingeworben worden seien, ins Ausland zu transferieren, ohne dass dort eine Geschäftstätigkeit der Gesellschaft angefallen sei. Die Sollbuchungen seien von Deutschland aus gesteuert worden, weil sie auf Anweisung des Gesellschafters F. oder des Schuldners erfolgt seien, die den im Ausland ansässigen kontoberechtigten Personen entsprechende Anweisungen übermittelt hätten. Entsprechendes gelte für die "A.I.F.". Bei dieser Gesellschaft seien ebenfalls alle Gutschriften und Abgänge von Deutschland aus gesteuert worden. In der Gesamtschau der die Zahlungszugänge und -abgänge steuernden wirtschaftlichen Tätigkeit beider Gesellschaften stehe damit Pirna als deren Mittelpunkt fest.
6
Die in Deutschland angesiedelte Tätigkeit des Schuldners als Präsident der genannten Gesellschaften mache - wie das Landgericht weiter festgestellt hat - seine weit überwiegende Einnahmequelle aus. Daraus ergebe sich die internationale Zuständigkeit für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Deutschland. Die sozialen Bindungen des Schuldners seien für ein Insolvenzverfahren , welches im Wesentlichen die wirtschaftlichen Beziehungen zum Gegenstand habe, nicht entscheidend.
7
b) Diese Begründung wirft keine Grundsatzfragen auf, sondern erschöpft sich in einer weitgehend tatrichterlichen Würdigung in einem besonders gelagerten insolvenzrechtlichen Einzelfall.
8
aa) Der in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO verwendete Rechtsbegriff des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes im Grundsätzlichen geklärt. Er erhellt sich aus der 13. Begründungserwägung der Verordnung, wo es heißt: "Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist." Aus dieser Definition geht hervor, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist. Diese Objektivität und diese Möglichkeit der Feststellung durch Dritte sind erforderlich, um Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts zu garantieren. Diese Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sind umso wichtiger, als die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung die des anwendbaren Rechts nach sich zieht (EuGH, Urt. v. 2. Mai 2006 - Rs C-341/04, ZIP 2006, 907, 908). Als feststellbares Kriterium, welches Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts garantiert, ist nach gesicherter Rechtsauffassung, die nicht weiter klärungsbedürftig ist, bei Kaufleuten, Gewerbetreibenden oder Selbständigen an die wirtschaftliche oder gewerbliche Tätigkeit des Schuldners anzuknüpfen (vgl. HK-InsO/Stephan, 4. Aufl. Art. 3 EuInsVO Rn. 3; MünchKomm-InsO/Reinhart, Art. 3 EuInsVO Rn. 2; Balz ZIP 1996, 948, 949; Duursma-Kepplinger in Duursma -Kepplinger/Duursma/Chalupsky, Europäische Insolvenzordnung Art. 3 Rn. 19; Huber ZZP 114 (2001), 133, 140; Kemper in Kübler/Prütting, InsO Art. 3 EuInsVO Rn. 5; Smid, Deutsches und Europäisches Internationales Insolvenzrecht Art. 3 EuInsVO Rn. 9). Dass dieser Standpunkt von irgendeiner Seite ernsthaft in Frage gestellt wird, ist nicht ersichtlich. Das Landgericht hat sich ihm ausdrücklich angeschlossen. Damit kommt es nicht darauf an, dass der Schuldner seinen Wohnsitz in Schweden hat und seine Ehefrau nach seinen Angaben dort wohnt.
9
bb) Auf dieser gesicherten rechtlichen Grundlage konnte das Landgericht , ohne Grundsatzfragen zu berühren, den Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners in Deutschland sehen, weil er als Präsident der von Pirna aus gesteuerten Gesellschaften seine wesentlichen Einkünfte aus der Wahrnehmung seiner gesellschaftsrechtlichen Organfunktionen bezogen hat. Hierbei handelt es sich um eine auf den zu entscheidenden Einzelfall bezogene Würdigung des Tatrichters ohne Grundsatzbedeutung. Der Schuldner hat in der Begründung seines Prozesskostenhilfeantrags nichts vorgetragen, was diese Annahme des Landgerichts ernsthaft in Frage stellen kann. Seinem mit der Begründung des Prozesskostenhilfeantrags wiederholten Vortrag, für seine "Strohmann -Präsidentenstellung" habe er keine Vergütung erhalten und die ihm überwiesenen Gelder seien die Gegenleistung für anwaltliche Dienstleistungen, ist das Landgericht in Wahrnehmung seiner Aufgabe als Tatrichter nicht gefolgt. Dies wirft keine Fragen von Grundsatzbedeutung auf. Auf den Kanzleisitz in Schweden käme es entgegen der Auffassung des Schuldners allenfalls an, wenn er dort eine nennenswerte anwaltliche Geschäftstätigkeit mit entsprechenden Einnahmen außerhalb des hier in Rede stehenden Komplexes entfaltet hätte. Dafür gibt es indes keine Anhaltspunkte; der Schuldner macht dies in seiner Antragsschrift auch nicht geltend.
10
Dass die Vorinstanz dem Schuldner zugebilligt hat, im Einzelfall habe er von Schweden aus Entscheidungen für die von Pirna aus agierenden Gesellschaften getroffen, stellt die zutreffende Gesamtwürdigung des Landgerichts, Pirna stehe als Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners fest, nicht grundsätzlich in Frage.
Fischer Ganter Raebel
Kayser Cierniak
Vorinstanzen:
AG Dresden, Entscheidung vom 11.10.2004 - 540 IN 565/04 -
LG Dresden, Entscheidung vom 02.02.2006 - 5 T 1297/04 -
14
(1) Für die Annahme der internationalen Zuständigkeit des angerufenen Insolvenzgerichts besteht nach den bisherigen Feststellungen eine überwiegende , auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit. Der in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO verwendete Rechtsbegriff des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen erschließt sich aus der 13. Begründungserwägung der Verordnung, wo es heißt: "Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist." Aus dieser Definition geht hervor, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist. Diese Objektivität und die Möglichkeit der Feststellung durch Dritte sind erforderlich, um Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts zu garantieren. Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sind umso wichtiger, als die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung die des anwendbaren Rechts nach sich zieht (EuGH ZIP 2006, 907, 908). Als feststellbares Kriterium, welches Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts garantiert, ist nach gesicherter Rechtsauffassung bei Kaufleuten, Gewerbetreibenden oder Selbständigen an die wirtschaftliche oder gewerbliche Tätigkeit des Schuldners anzuknüpfen (vgl. BGH, Beschl. v. 13. Juni 2006 - IX ZA 8/06, n.v.; HK-InsO/Stephan, 4. Aufl. Art. 3 EuInsVO Rn. 3; Balz ZIP 1996, 948, 949; Duursma-Kepplinger in Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, Europäische Insolvenzordnung Art. 3 Rn. 19; Huber ZZP 114 (2001), 133, 140; Kemper in Kübler/Prütting, InsO Art. 3 EuInsVO Rn. 5; Smid, Deutsches und Europäisches Internationales Insolvenzrecht Art. 3 EuInsVO Rn. 9). Das Landgericht hat sich diesem Standpunkt ersichtlich angeschlossen. Danach kommt es nicht darauf an, dass der Schuldner seinen Wohnsitz in Italien hat.