Bundesgerichtshof Beschluss, 25. Juli 2014 - V ZB 137/14
Bundesgerichtshof
Tenor
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Die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 8. Mai 2014 gegen den Betroffenen angeordneten und durch Beschluss der 39. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 27. Juni 2014 aufrecht erhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen ausgesetzt.
Gründe
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I.
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Der Betroffene ist türkischer Staatsbürger und reiste am 27. April 2014 ohne Ausweis- oder Aufenthaltspapiere mit Hilfe eines Schleppers nach Deutschland ein. Am 7. Mai 2014 wurde er in Köln bei dem Versuch festgenommen, sich unter Vorlage einer gefälschten bulgarischen Identitätskarte anzumelden. Mit Verfügung vom gleichen Tag drohte ihm die beteiligte Behörde die Abschiebung an. Auf ihren Antrag hat das Amtsgericht am 8. Mai 2014 gegen den Betroffenen Haft bis zum 6. August 2014 angeordnet. Die Haft wird in einem gesonderten Gebäude auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt Büren vollzogen. Am 6. Juni 2014 hat der Betroffene aus der Haft heraus einen Asylantrag gestellt. Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 27. Juni 2014 die Rechtswidrigkeit der Haft für den Zeitraum vom 8. Mai 2014 bis zum 27. Juni 2014 festgestellt und die weitergehende Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt.
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Einen ersten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der angeordneten Haft hat der Senat mit Beschluss vom 3. Juli 2014 zurückgewiesen. Mit dem vorliegenden zweiten Aussetzungsantrag macht der Betroffene geltend, der Vollzug der Haft in der Justizvollzugsanstalt Büren widerspreche dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. Juli 2014 (Rs. 473/13 und 514/13 - Bero und Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095).
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II.
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Der Aussetzungsantrag hat Erfolg.
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1. Er ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97 Rn. 3). Seiner Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass der Senat den ersten Aussetzungsantrag des Betroffenen abgelehnt hat. Der Zurückweisungsbeschluss erwächst nicht in Rechtskraft. Deshalb kann eine Aussetzung bei Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen auch angeordnet werden, wenn ein vorausgegangener Aussetzungsantrag zurückgewiesen worden ist (vgl. auch BGH, Beschluss vom 4. März 2009 - AnwZ (B) 78/08, juris Rn. 3). Ein Rechtsschutzbedürfnis für den erneuten Antrag besteht jedenfalls deshalb, weil der Betroffene unter Hinweis auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union nunmehr erstmals die rechtswidrige Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt Büren rügt.
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2. Der Antrag ist auch begründet, weil die Rechtsbeschwerde des Betroffenen nach der gebotenen summarischen Prüfung erfolgreich sein wird. Im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des Unionsrechts untergebracht werden wird (Senat, Vorlagebeschluss vom 11. Juli 2013 - V ZB 40/11, NVwZ 2014, 166, Rn. 20). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
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a) Die Unterbringung des Betroffenen in der Justizvollzugsanstalt Büren widerspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.
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aa) Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG erfolgt die Inhaftierung von Betroffenen zur Sicherung der Ab- oder Zurückschiebung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Zwar dürfen Betroffene nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie in „gewöhnlichen Haftanstalten“ untergebracht werden, wenn in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden sind. Diese Ausnahme trifft aber nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union für Deutschland nicht zu, weil in mehreren deutschen Bundesländern spezielle Einrichtungen vorhanden sind (EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - C 473/13 und C 514/13 - Bero und Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014: 2095 Rn. 30 f.).
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§ 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist in diesem Sinne richtlinienkonform einschränkend auszulegen. Dem steht nicht entgegen, dass die Vorschrift nach ihrem Wortlaut auf die Verhältnisse in dem betroffenen Bundesland und nicht auf die Verhältnisse in Deutschland insgesamt abstellt. Der Gesetzgeber hat mit der Vorschrift ausweislich der Entwurfsbegründung Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie ohne Abstriche umsetzen wollen (BT-Drucks. 17/5470 S. 25). Er hat dabei ein - wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergibt - fehlerhaftes Verständnis der Richtlinie zugrunde gelegt, was aber an dem Willen zur richtlinienkonformen Anpassung des nationalen deutschen Rechts nichts ändert. Einem solchen Versehen ist mit einer richtlinienkonformen - hier einschränkenden - Auslegung Rechnung zu tragen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - VIII ZR 70/08, BGHZ 192, 148 Rn. 26; Senat, Beschluss vom 8. Januar 2014 - V ZB 137/12, InfAuslR 2014, 148 Rn. 9-11).
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bb) Nach dem erwähnten Urteil des Gerichtshofs kann die Unterbringung eines Betroffenen in einem gesonderten Gebäude auf dem Gelände einer Justizvollzugsanstalt, anders als die beteiligte Behörde meint, auch nicht als Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung angesehen werden, wie sie von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie verlangt wird. Wenn Betroffene in einem Mitgliedstaat überhaupt in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht werden dürfen, dürfte dies nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG nur „gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen“ geschehen. In einem weiteren Urteil vom 17. Juli 2014 hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich aus dem Wortlaut dieser Norm die unbedingte Verpflichtung ergibt, die illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen von den gewöhnlichen Strafgefangenen zu trennen, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann (Rs. C-474/13 - Pham, ECLI:EU:C:2014:2096 Rn. 17, 21). Daraus folgt, dass eine solche gesonderte Unterbringung von Betroffenen auf dem Gelände einer gewöhnlichen Haftanstalt keine Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung sein kann. Sie ist - unabhängig von ihrer Ausgestaltung im Einzelnen - eine Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt, die in Deutschland, wie ausgeführt, generell nicht zulässig ist.
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cc) Die Justizvollzugsanstalt Büren dient nach Teil 4 des geltenden Vollstreckungsplans für das Land Nordrhein-Westfalen (Allgemeinverfügung des Justizministeriums vom 16. September 2003 - 4431 - IV B. 28) dem Vollzug der Abschiebungshaft, der Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten und der Ersatzfreiheitsstrafe. Es handelt sich deshalb um eine gewöhnliche Haftanstalt, in der auch von einer Ab- oder Zurückschiebung Betroffene untergebracht sind. Diese Art der Unterbringung widerspricht dem Unionsrecht.
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b) Daran gemessen ist jedenfalls der weitere Vollzug der Haft rechtswidrig, weil der Betroffene derzeit unter Verstoß gegen die Vorgaben des Unionsrechts untergebracht ist und die Behörde eine Änderung der Unterbringung abgelehnt hat.
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Schmidt-Räntsch Roth Brückner
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Weinland Kazele
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Bundesgerichtshof Beschluss, 25. Juli 2014 - V ZB 137/14 zitiert oder wird zitiert von 30 Urteil(en).
(1) Die Beschwerde ist bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird. Anträge auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für eine beabsichtigte Beschwerde sind bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten werden soll.
(2) Die Beschwerde wird durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt. Die Einlegung der Beschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle ist in Ehesachen und in Familienstreitsachen ausgeschlossen. Die Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie ist von dem Beschwerdeführer oder seinem Bevollmächtigten zu unterzeichnen.
(3) Das Beschwerdegericht kann vor der Entscheidung eine einstweilige Anordnung erlassen; es kann insbesondere anordnen, dass die Vollziehung des angefochtenen Beschlusses auszusetzen ist.
(1) Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten.
(2) Den Abschiebungsgefangenen wird gestattet, mit Rechtsvertretern, Familienangehörigen, den zuständigen Konsularbehörden und einschlägig tätigen Hilfs- und Unterstützungsorganisationen Kontakt aufzunehmen.
(3) Bei minderjährigen Abschiebungsgefangenen sind unter Beachtung der Maßgaben in Artikel 17 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98) alterstypische Belange zu berücksichtigen. Der Situation schutzbedürftiger Personen ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
(4) Mitarbeitern von einschlägig tätigen Hilfs- und Unterstützungsorganisationen soll auf Antrag gestattet werden, Abschiebungsgefangene zu besuchen.
(5) Abschiebungsgefangene sind über ihre Rechte und Pflichten und über die in der Einrichtung geltenden Regeln zu informieren.
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene, ein albanischer Staatsangehöriger, war am 8. April 2009 aus der Bundesrepublik Deutschland nach Albanien abgeschoben worden. Nachdem er im Juli 2011 erfolglos versucht hatte, nach Italien einzureisen, und danach zu einem unbekannten Zeitpunkt erneut in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war, wurde er am 3. März 2012 von der Polizei in Gewahrsam genommen. Er war im Besitz eines gültigen albanischen Reisepasses. Mit Bescheid vom 9. März 2012 wurde der Betroffene - gestützt auf die Annahme einer unerlaubten Einreise - unter Androhung einer zwangsweisen Abschiebung aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.
- 2
- Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen am 22. März 2012 Sicherungshaft zum Zwecke der Abschiebung angeordnet. Gegen die Haftanordnung hat der Betroffene Beschwerde eingelegt. Nach der am 27. März 2012 vollzogenen Abschiebung nach Albanien hat er seinen Antrag dahin umgestellt, es möge die Verletzung seiner Rechte durch die erstinstanzliche Haftanordnung festgestellt werden. Das Landgericht hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde, mit der der Betroffene die Feststellung beantragt, durch die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts in seinen Rechten verletzt worden zu sein.
II.
- 3
- Nach Auffassung des Beschwerdegerichts ist die Haft zur Sicherung der Abschiebung zu Recht angeordnet worden. Insbesondere sei der Betroffene aufgrund unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Dem stehe nicht entgegen , dass der Betroffene mit einem gültigen biometrischen Reisepass eingereist sei. Aufgrund der früheren Abschiebung habe nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aF kraft Gesetzes ein Einreiseverbot bestanden, das nach Satz 3 der Bestimmung nur auf Antrag hätte befristet werden können. Etwas anderes folge auch nicht aus Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Richtlinie 2008/115/EG), weil die erste Abschiebung am 8. April 2009 und damit vor der erst am 24. Dezember 2010 abgelaufenen Umsetzungsfrist des Art. 20 Abs. 1 der Richt- linie 2008/115/EG durchgeführt worden sei. Die Haftgründe nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 5 AufenthG lägen vor.
III.
- 4
- Die nach Erledigung der Hauptsache mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG ohne Zulassung gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthafte Rechtsbeschwerde (vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359, 360; Beschluss vom 28. April 2011 - V ZB 184/10, juris Rn. 6) ist auch im Übrigen zulässig (§ 71 FamFG). Hat - wie hier - bereits das Beschwerdegericht über den Fortsetzungsfeststellungsantrag nach § 62 FamFG entschieden, geht es im Rechtsbeschwerdeverfahren zwar allein um die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung. Dabei ist jedoch inzident auch die Frage der Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung zu prüfen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 4; Beschluss vom 28. April 2011, aaO, Rn. 7 mwN). Den gestellten Antrag legt der Senat im Lichte der Rechtsbeschwerdebegründung entsprechend aus.
IV.
- 5
- Das Rechtsmittel ist begründet. Die Haft zur Sicherung der Abschiebung hätte nicht angeordnet werden dürfen. Jedenfalls aufgrund der übergangsrechtlichen Besonderheiten des Falles war der Betroffene nicht vollziehbar ausreisepflichtig. Dies folgt aus den europarechtlichen Vorgaben von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG, wie sie von dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) - allerdings erst nach Erlass der Beschwerdeentscheidung - durch Auslegung konkretisiert worden sind (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2013 - C-297/12, Rn. 35 ff.).
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- 1. Noch zutreffend geht das Beschwerdegericht davon aus, dass den Betroffenen infolge der ersten - am 8. April 2009 durchgeführten - Abschiebung kraft Gesetzes zunächst ein - nicht an eine Einzelfallprüfung anknüpfendes - unbefristetes Einreiseverbot traf (§ 11 Abs. 1 AufenthG aF). Der Gesetzgeber durfte die nach Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG bis zum 24. Dezember 2010 bestehende Umsetzungsfrist ausschöpfen.
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- 2. Verkannt hat es jedoch die Tragweite, die der Richtlinie 2008/115/EG bei der Anwendung des nationalen Rechts bei Entscheidungen zukommt, die zwar an ein vor Ablauf der Umsetzungsfrist kraft Gesetzes entstandenes unbefristetes Einreiseverbot anknüpfen, jedoch erst - wie hier die Haftanordnung - nach Ablauf der Frist getroffen werden.
- 8
- a) Die Richtlinie 2008/115/EG enthält keine Übergangsbestimmung. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt daraus, dass die Richtlinie unmittelbar auch auf „die künftigen Auswirkungen eines Sachverhalts“ anzuwenden ist, der unter der Geltung der alten Rechtslage entstanden ist (EuGH, Urteil vom 19. September 2013, Filev u.a., C-297/12, Rn. 40; vgl. auch EuGH, Urteil vom 1. März 2012, O'Brien, C-393/10 = EuZW 2012, 267, 269 Rn. 25). Mit Blick auf die Vorgabe des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG führt dies dazu, dass bei einem Betroffenen, der nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aF kraft Gesetzes einem unbefristeten Einreiseverbot unterlag, nachträglich über eine Befristung befunden werden muss, sofern an ein Einreiseverbot anknüpfende Maßnahmen getroffen werden sollen. Ohne eine solche nachträgliche einzelfallbezogene Entscheidung, auf die der Betroffene abgesehen von den Ausnahmetatbeständen des § 11 Abs. 1 Satz 7 AufenthG nF ein subjektives Recht hat (BVerwG, InfAuslR 2013, 141, 142 Rn. 11), darf eine unerlaubte Einreise nicht bejaht werden (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2013, aaO, Rn. 40 f.). Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die die Befristung von einem entsprechenden Antrag des Betroffenen abhängig macht, und dass dies selbst dann gilt, wenn der Betroffene auf die Möglichkeit der Antragstellung hingewiesen wird (EuGH, Urteil vom 19. September 2013, aaO, Rn. 27 ff.). Über die Frage der (nachträglichen) Befristung ist daher antragsunabhängig zu befinden (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 11 S 2303/12, juris Rn. 8). An dieses Auslegungsergebnis sind die nationalen Gerichte nicht nur gebunden; sie haben ihm auch bei der Anwendung des nationalen Rechts im Wege der Auslegung und Rechtsfortbildung soweit wie möglich Rechnung zu tragen (ausführlich dazu BGH, Urteil vom 26. November 2008 - VIII ZR 200/05, BGHZ, 179, 27, 33 ff. mwN auch zur Rspr. des EuGH).
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- b) Vor diesem Hintergrund scheitert eine antragsunabhängige nachträgliche Befristung des ursprünglich kraft Gesetzes entstandenen Einreiseverbots nicht daran , dass der Betroffene keinen Antrag auf eine nachträgliche Befristung gestellt hat. Die innerstaatliche Regelung des § 11 Abs. 1 AufenthG nF lässt eine richtlinienkonforme Rechtsanwendung zu.
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- aa) Der Wortlaut der Bestimmung stellt kein Hindernis für die gebotene europarechtskonforme Rechtsanwendung dar. Nach der Formulierung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist das Einreiseverbot „auf Antrag“ zu befristen. Dass dies „nur“ auf Antrag geschehen darf, ist der sprachlichen Fassung der Norm nicht zuentnehmen (vgl. auch § 22 Nr. 2 VwVfG) und entspricht auch nicht der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, NVwZ 2013, 365, 369 Rn. 33: Befristung in Ausnahmefällen von Amts wegen). Davon abgesehen markiert der Gesetzeswortlaut zwar eine Grenze für die Auslegung. Das steht jedoch einer davon abweichenden Inhaltsbestimmung nicht entgegen, sofern die Voraussetzungen für eine (Rechts-) Analogie bzw. für eine teleologischen Reduktion vorliegen (vgl. auch BGH, Urteil vom 26. November 2008 - VIII ZR 200/05, aaO, S. 34 f.). Nichts anderes gilt, wenn verfassungs - oder europarechtliche Vorgaben eine bestimmte Deutung gebieten. Die Grenze zulässiger Auslegung / Rechtsfortbildung ist erst dann überschritten, wenn der Norm - entgegen einer eindeutigen und widerspruchsfreien Entscheidung des Gesetzgebers - ein bestimmter Sinngehalt beigelegt wird (vgl. auch BGH, Urteil vom 26. November 2008, aaO, S. 34 f.). Der Richter darf eine Vorschrift nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war (BVerfGE 82, 6, 12). So verhält es sich hier jedoch nicht.
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- bb) Das mit der Neufassung verfolgte gesetzgeberische Anliegen bestand vor allem darin, die Regelung des § 11 Abs. 1 AufenthG richtlinienkonform anzupassen. Hierzu sollte u.a. an dem bisherigen Modell der antragsgebundenen Befristung festgehalten werden (BT-Drucks. 17/5470, S. 21), das - entgegen im Gesetzgebungsverfahren vereinzelt geäußerter Kritik (vgl. BT-Drucks. 17/6497, S. 12) - für richtlinienkonform erachtet wurde (vgl. auch BT-Ausschussdrucks. 17 [4] 282 I, wonach das Antragserfordernis nach der Rechtsprechung des EuGH zur nationalen Verfahrensautonomie deshalb nicht den nationalen Umsetzungsspielraum überschreite, weil keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass dadurch die Wirksamkeit der Befristungsregelung untergraben werde). Auf der Grundlage der nunmehr mit Bindungswirkung ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs zu Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG beruht diese Rechtsauffassung auf einer Fehleinschätzung der europarechtlichen Vorgaben. Somit steht die konkrete Regelungsabsicht hinsichtlich einer antragsgebundenen Befristung nicht lediglich in Widerspruch zu einem generellen, allgemein formulierten Umsetzungswillen, sondern zur konkret geäußerten - von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen - Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers. Deshalb ist auszuschließen, dass der Gesetzgeber auch dann am Antragserfordernis festgehalten hätte, wenn bereits damals klar gewesen wäre, dass dies nicht in Einklang mit der Richtlinie steht. Bei einer solchen Sachlage begegnet die richtlinienkonforme Umsetzung in nationales Recht keinen durchgreifenden Bedenken (vgl. auch BGH, Urteil vom 26. November 2008 - VIII ZR 200/05, aaO, S. 36 f.; Urteil vom 21. Dezember 2011 - VIII ZR 70/08, BGHZ 192, 148, 162 f.; Roth in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl., § 14 Rn. 53b).
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- cc) Soweit das Bundesverwaltungsgericht auch mit Blick auf die Neufassung des § 11 Abs. 1 AufenthG bislang grundsätzlich am Antragserfordernis festgehalten und lediglich die Anforderungen hieran abgemildert hat (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 14/12, InfAuslR 2013, 141-143 Rn. 11; vgl. aber BVerwG, NVwZ 2013, 365, 369 Rn. 33), nötigt dies schon deshalb nicht zu einer Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG, weil sich die maßgebende Rechtslage mit der nunmehr ergangenen - sämtliche Gerichte der Bundesrepublik Deutschland bindenden - Entscheidung des Gerichtshofs vom 19. September 2013 (C-297/12) wesentlich geändert hat. Das schließt eine Verpflichtung zur Vorlage jedenfalls aus (vgl. nur Senat, Urteil vom 30. September 2005 - V ZR 275/04, BGHZ 164, 190, 196 mwN).
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- 3. Auf dieser Grundlage darf jedenfalls in Übergangsfällen der vorliegenden Art die Haft zur Sicherung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn im Zuge der angestrebten zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung über die ursprünglich nicht erforderliche Befristung nachträglich entschieden worden ist, die Einreise des Betroffenen danach (immer noch) eine unerlaubte war und ein Zeitraum verstrichen ist, der es dem Betroffenen ermöglicht, die von Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG eingeräumten Rechtsbehelfe noch im Bundesgebiet zu ergreifen (zu Letzterem VGH Mannheim, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 11 S 2303/12, juris Rn. 8). Dabei ist es aus haftrechtlicher Sicht unerheblich, ob die erforderliche nachträgliche Befristung im Rahmen der für die Haftanordnung notwendigen Rückkehrentscheidung (dazu etwa Senat Beschluss vom 14. März 2013 - V ZB 135/12, NVwZ 2013, 1027, 1028 Rn. 7) oder durch einen eigenständigen Verwaltungsakt getroffen worden ist (zur gesetzlichen Systematik vgl. BVerwG, InfAuslR 2013, 141, 142 Rn. 11 mwN). Für die haftrechtliche Prüfung kommt es nur darauf an, ob hierüber befunden worden ist oder nicht.
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- Dem steht nicht entgegen, dass der Haftrichter grundsätzlich nicht zuprüfen hat, ob die zuständige Behörde die Abschiebung bzw. Zurückschiebung zu Recht betreibt (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 728 Rn. 23 mwN); die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden unterliegt der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Hier tritt jedoch die Besonderheit hinzu, dass erst seit der Entscheidung des Gerichtshofs vom 19. September 2013 und damit erst nach Erlass des Ausreisebescheids Klarheit darüber hergestellt wurde, dass das ursprünglich kraft Gesetzes bestehende Einreiseverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG aF nunmehr stets und unabhängig von einer Antragstellung auch einer nachträglichen einzelfallbezogenen Konkretisierung bedarf. Bei dieser Sachlage darf die grundsätzlich bestehende Funktionsteilung zwischen den Verwaltungs- und den Zivilgerichten nicht zu Lasten des Betroffenen gehen (zu diesem Gesichtspunkt vgl. auch Senat, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 12/10, juris Rn. 8). Jedenfalls im Zusammenhang mit Rückkehrentscheidungen, die auf eine unerlaubte Einreise gestützt werden, wäre es unverhältnismäßig, wenn auch in solchen Übergangsfällen das Fehlen einer Entscheidung über eine nachträgliche Befristung hingenommen würde. Eine gegenteilige Sichtweise würde auch der Bedeutung des Richtervorbehalts bei Freiheitsentziehungen (Art. 104 Abs. 2 GG; vgl. BVerfGE 105, 239, 248; BVerfGK 7, 87, 98; Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010, aaO), den Anforderungen , die von Verfassungs wegen an ein faires Verfahren zu stellen sind (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG), und dem Erfordernis einer effektiven Umsetzung europarechtlicher Vorgaben (vgl. dazu auch Schmidt-Räntsch in Riesenhuber, aaO, § 23 Rn.75) nicht gerecht.
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- 4. Da die nach allem notwendige Entscheidung über eine nachträgliche Befristung nicht getroffen worden ist - insbesondere enthält der auf eine unerlaubte Einrei- se abhebende Bescheid vom 9. März 2012 keine solche Entscheidung - war die Haftanordnung rechtswidrig.
V.
- 16
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Stresemann Czub Roth Brückner Kazele
Vorinstanzen:
AG Hannover, Entscheidung vom 22.03.2012 - 43 XIV 55/12 (B) -
LG Hannover, Entscheidung vom 02.07.2012 - 8 T 22/12 -