Verwaltungsgericht Karlsruhe Urteil, 04. Juli 2018 - A 10 K 17769/17

bei uns veröffentlicht am04.07.2018

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens. Er begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der 1998 geborene Kläger reiste eigenen Angaben zufolge am 01.06.2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.01.2016 einen Asylantrag. In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 13.04.2017 gab er an, in Zakho geboren zu sein. Bis zum „03.08.2014“ habe er im Dorf Tel Özer gelebt, das liege etwa 20 Minuten Autofahrt von Sindschar entfernt. Am „08.03.“ habe ein Freund seines Vaters diesen angerufen und gesagt, der sog. Islamische Staat (im Folgenden: IS) habe das Dorf Giserk eingenommen. Die Familie habe daraufhin die nötigsten Sachen zusammengepackt und sei in die Berge geflohen. Nach sieben Tagen in den Bergen seien sie über Syrien nach Bacidmiri in ein Flüchtlingscamp weitergeflohen. Dort seien sie etwa drei Monate geblieben, sodann seien sie in das Flüchtlingscamp nach Khanke gegangen. Von dort sei er im April oder Mai 2015 ausgereist. Er habe immer noch Angst vor dem IS. Einem Freund von ihm hätten sie den Kopf abgeschnitten. Man könne nicht sagen, dass der IS richtig vertrieben sei, es könnte sein, dass er in ein paar Jahren wiederkomme. Er habe im Irak die Schule bis zur 11. Klasse besucht. Seine Eltern und vier Brüder lebten weiterhin im Flüchtlingscamp in Khanke. Zwei Onkel väterlicherseits und seine Großmutter mütterlicherseits lebten schon immer in Bajid, die Onkel in einem eigenen Haus. Eine Tante väterlicherseits lebe im eigenen Haus in Khanke.
Das Bundesamt lehnte den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 21.12.2017 ab, erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen. Es forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe seiner Entscheidung zu verlassen und drohte ihm die Abschiebung in den Irak an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger bei einer Rückkehr an seinen ursprünglichen Wohnort Sindschar, der mittlerweile von den Truppen des IS befreit sei, einer erneuten Bedrohung ausgesetzt wäre. Denn der Kläger müsse sich jedenfalls auf eine inländische Fluchtalternative in der Autonomen Region Kurdistan verweisen lassen, wo er sich bereits bis zu seiner Ausreise aufgehalten habe. Der Kläger könne sich auf ein familiäres Netzwerk stützen, das ihm bei der Suche nach einer Unterkunft und bei der Arbeitsaufnahme behilflich sein könne.
Am 28.12.2017 hat der Kläger Klage erhoben. Er sei im Flüchtlingslager in Khanke nicht vor religiös motivierten Übergriffen fanatischer Moslems sicher gewesen. Diese Verfolgungslage bestehe bis heute fort. Reste des IS hätten sich nach wie vor in der Provinz Ninive festgesetzt und verfolgten von dort weiterhin Yesiden durch gezielte Bombenanschläge beziehungsweise gezielte, bewaffnete Übergriffe. In der Stadt Mosul ein menschenwürdiges Existenzminimum zu finden, sei nicht möglich, da der IS die Infrastruktur beim Abzug nahezu vollständig zerstört habe. Der Wiederaufbau werde Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern. In seiner Heimatregion herrsche ein neuer bewaffneter Konflikt zwischen kurdischen Peshmerga und türkischen, zentralirakischen und internationalen Militäreinheiten, seitdem der Kurdenführer Barzani den kurdischen Teil des Nordiraks im Oktober 2017 faktisch und einseitig für unabhängig erklärt habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21.12.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheids.
12 
Dem Gericht liegt die Akte des Bundesamtes vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird hierauf verwiesen und auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
13 
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle der Kammer und mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

 
I.
14 
Die Entscheidung ergeht gemäß § 87a Abs. 2 u. 3, § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter anstelle der Kammer und ohne mündliche Verhandlung.
II.
15 
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS 2 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hierzu unter 1.) noch einen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes (hierzu unter 2.) beziehungsweise einen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten (hierzu unter 3.). Auch die Abschiebungsandrohung (hierzu unter 4.) und die Befristungsentscheidung des Bundesamtes sind nicht zu beanstanden (hierzu unter 5.).
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
17 
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 -Genfer Flüchtlingskonvention-, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2a), oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2b).
18 
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft u.a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2) oder unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3). Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Ausgehen kann die Verfolgung gemäß § 3c AsylG vom Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (Nr. 3).
19 
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Diesbezüglich ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des jeweiligen Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine so verstandene wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der - auch deutlich - unter 50 v.H. liegt. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen in ihrer Bedeutung überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung reicht noch nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch würde sie außer Betracht lassen. Ergeben alle Umstände des Einzelfalles jedoch die „tatsächliche Gefahr“ (sog. „real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er würde bei der Abwägung aller Umstände im Übrigen auch immer die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissem Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen entscheidungserheblichen und motivationsbildenden Unterschied machen, ob er etwa lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, juris Rn. 17; VGH Bad.-Württ, Urteil vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25 ff.; Urteil vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - juris Rn. 30 ff.). Hat der Antragsteller Vorverfolgung erlitten oder war er unmittelbar von solcher bedroht, ist dies ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht ist (Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU).
20 
Die Gründe für seine Verfolgungsfurcht hat der Asylsuchende im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 2. HS VwGO, § 15 und § 25 Abs. 1 AsylG vorzutragen. Die Glaubhaftmachung der Asylgründe setzt eine schlüssige, nachprüfbare Darlegung voraus. Der Schutzsuchende muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Jedenfalls in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Beschluss vom 19.10.2001 - 1 B 24.01 -, juris Rn. 5; Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, juris Rn. 9; Urteil vom 22.03.1983 - 9 C 68.81 -, juris Rn. 5).
21 
Nach diesen rechtlichen Vorgaben steht dem Kläger ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu. Eine konkrete Gefahr, dass der Kläger aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen bei einer Rückkehr nach Tel Özer bei Sindschar in der Provinz Ninive (vgl. zu dem Ort, an den der Kläger typischerweise zurückkehren würde, als Anknüpfungspunkt für diese Gefahrenprognose: BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Ls. 1, Rn. 13; Beschluss vom 14.11.2012 - 10 B 22.12 -, juris Rn. 7; zu einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager vgl. VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -, juris Rn. 32) aus einem der gesetzlich vorgesehenen Motive heraus Verfolgungshandlungen zu befürchten hat, ist nicht hinreichend wahrscheinlich.
22 
a) Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger im Irak eine individuelle Verfolgung erlitten oder eine solche in Zukunft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Er hat weder beim Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren konkrete, gegen ihn selbst gerichtete Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure geschildert. Im Wesentlichen hat er vorgetragen, dass er geflohen sei, weil er und seine Familie als Yesiden Angst vor den Gräueltaten des IS gehabt hätten, als dieser gen Sindschar vorgerückt sei. Dass er selbst eine Verfolgung durch den IS erlitten hätte oder mit diesem direkt in Kontakt gekommen wäre, hat der Kläger nicht vorgetragen. Auch ein sonstiges konkretes, die Schwelle einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a AsylG überschreitendes Erlebnis hat er nicht geschildert.
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b) Der Kläger kann sich auch nicht auf eine Gruppenverfolgung wegen seiner yesidischen Religionszugehörigkeit berufen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Annahme einer Gruppenverfolgung entweder ein staatliches Verfolgungsprogramm (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, juris Ls. 1) oder - im Fall einer nichtstaatlichen Verfolgung - eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Vermutung einer auch individuell bestehenden Verfolgungsgefahr rechtfertigt. Letzteres setzt eine solche Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter voraus, dass nicht mehr nur von einzelnen Übergriffen gesprochen werden kann, sondern die Verfolgungshandlungen auf alle sich im Verfolgungsgebiet aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an das die Gruppe definierende, asylerhebliche Merkmal treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13 m.w.N.).
24 
Gemessen an diesen Grundsätzen sieht sich der Kläger bezogen auf Tel Özer bei Sindschar in der Provinz Ninive keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt. Eine regionale Gruppenverfolgung durch staatliche Behörden macht der Kläger selbst nicht geltend und ist auch für das Gericht nicht erkennbar. Eine Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure, namentlich durch den IS oder sonstige strenggläubige Muslime liegt ebenfalls nicht (mehr) vor.
25 
aa) Dem Kläger droht im Falle einer Rückkehr keine Verfolgung durch den IS.
26 
Es fehlt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung jedenfalls an der erforderlichen „Verfolgungsdichte“, die für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung erforderlich ist. Dabei kann dahinstehen, ob angesichts des vom Kläger geschilderten Vorrückens des IS zum Zeitpunkt der erstmaligen Flucht des Klägers bis zum Dorf Giserk und angesichts der Tatsache, dass der IS Yesiden in den eingenommenen Dörfern und Städten - unstreitig - hinrichtete, versklavte und entführte, von einer Vorverfolgung des Klägers im Sinne des Art. 4 Satz 4 der Richtlinie 2011/95/EU auszugehen ist. Denn die dann einschlägige Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass die Furcht des Klägers vor zukünftiger Verfolgung angesichts der Verfolgung in der Vergangenheit begründet wäre, ist im vorliegenden Fall jedenfalls widerlegt.
27 
Für die Widerlegung der Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stehen (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32.11 -, juris Rn. 7).
28 
Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung des Berichterstatters vor. Die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich grundlegend verändert. Der IS übt in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar - der Herkunftsregion des Klägers - keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr aus. Er hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren.
29 
So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa, von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit, die Städte Sindschar und Ramadi sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 4; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 56). Einhergehend mit den Gebietsverlusten hat der IS auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 47; Focus Online, Wir erleben das Ende des falschen Staats von Daesch, 29.06.2017). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals wesentliche Teile des Nordiraks erobern wird können, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. In der Tat sind viele Kämpfer entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (Spiegel Online, Die Rückkehr des IS, 25.04.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 8). Vor diesem Hintergrund muss damit gerechnet werden, dass der IS künftig auch in Ninive terroristische Anschläge verüben wird. Derartige terroristische Anschläge stellen aber keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen ist (vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 29.04.2014 - A 4 A 104/14 -, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Yesiden in der Region Ninive systematisch zu verfolgen (so auch VG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 11.05.2018 - A 10 K 16197/17 -, S. 7, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 18.04.2018 - Au 5 K 18.30313 -, juris Rn. 51; VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 29; VG Oldenburg, Urteil vom 27.02.2018 - 15 A 883/17 -, juris Rn. 37; VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 -, juris Rn. 36; VG Düsseldorf, Urteil vom 25.10.2017 - 20 K 1742/17.A -, Ls. 1, juris; vgl. Bayer. VGH, Beschluss vom 19.03.2018 - 20 ZB 17.30121 -, juris Rn. 6 f.; a.A. VG Oldenburg, Urteil vom 23.8.2017 - 3 A 3903/16 -, juris Rn. 33).
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bb) Das durch Spannungen geprägte Verhältnis von Yeziden zu (fundamentalistischen) Muslimen begründet ebenfalls nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung.
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Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime Yesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und Yesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, S. 19 f., 24 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Yesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre (so bereits VG Karlsruhe, Urteil vom 10.10.2017 - A 10 K 1508/17 -, juris Rn. 30; ebenso nunmehr VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 36).
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2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Vorrausetzungen liegen nicht vor.
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a) Die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG und Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Die obigen Ausführungen zur Zurückdrängung des IS gelten insoweit entsprechend. Allein die schwierigen humanitären Bedingungen in der Provinz Ninive vermögen die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Es fehlt insoweit bereits am Vorliegen eines erforderlichen Akteurs im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 3c AsylG. Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“) führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung der subsidiären Schutzstatus. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 43 ff.; Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 70 ff., jew. m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf die Provinz Ninive nicht erfüllt. Die dortige gegenwärtige schlechte humanitäre Lage ist vor allem dem (vergangenen) Krieg geschuldet. Dass eine Verhaltensänderung eines der in Betracht kommenden Akteure zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte, ist nicht festzustellen. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
34 
b) Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.
35 
Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, Ls. 2, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. Bsp. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird. Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, juris Rn. 17).
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt mehr vor. Denn der IS wurde durch die irakischen Streitkräfte - wie dargelegt - landesweit fast vollständig zurückgedrängt. Aus dem Umstand, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben, ergibt sich nichts Anderes. Denn bei diesen Vorfällen handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind (ebenso VG Augsburg, Urteil vom 18.04.2018 - Au 5 K 18.30313 -, juris Rn. 58; VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 44; a.A. VG Oldenburg, Urteil vom 27.02.2018 - 15 A 883/17 -, juris Rn. 51; VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -, juris Rn. 44).
37 
Die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus käme aber selbst dann nicht in Betracht, wenn man vom Vorliegen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Ninive ausginge. Denn das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts begründet die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Zur Ermittlung der gegebenen Gefahrendichte ist nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäben eine quantitative Ermittlung einerseits der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und andererseits der Akte willkürlicher Gewalt erforderlich, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung. Im Fall individuell vorliegender gefahrerhöhender Umstände kann ein vergleichsweise geringes Niveau willkürlicher Gewalt genügen, während eine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bei Abwesenheit persönlicher gefahrerhöhender Umstände nur in einer außergewöhnlichen Situation angenommen werden kann, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, juris Rn. 33). Dabei soll ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, jedoch so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt sein, dass es nicht auf eine Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage ankomme (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22). Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht im vorliegenden Fall keine hinreichende Gefahrendichte. Der Grad willkürlicher Gewalt hat in Ninive kein so hohes Niveau erreicht beziehungsweise mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Ninive allein aufgrund seiner Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN zum Zeitpunkt der erstmaligen Flucht des Klägers im August 2014 landesweit noch 1.533 getötete und 1.944 verletzte Zivilisten, waren es im Februar 2017 392 Getötete und 613 Verletzte, im Mai 2018 landesweit „nur“ noch 95 Getötete und 163 Verletzte. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad, Anbar und in Kirkuk (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Die von der britischen Nichtregierungsorganisation betriebene Datenbank Iraq Body Count gibt in der Größenordnung vergleichbare Zahlen wieder (https://www.iraqbodycount.org/database/). Selbst wenn man davon ausgeht, dass zu den genannten Zahlen eine nicht unerhebliche Dunkelziffer hinzutritt, wird man die Zahl der Toten und Verletzten in Ninive auf kaum mehr als 100 Zivilpersonen im Monat, sprich 1.200 Zivilpersonen im Jahr schätzen können. Dem steht eine Bevölkerung Ninives von ungefähr 3,2 Millionen gegenüber (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 46).
38 
3. Das Bundesamt hat im angegriffenen Bescheid auch zutreffend ausgeführt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht gegeben sind.
39 
a) Ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegt nicht vor.
40 
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Schlechte humanitäre Verhältnisse können dann eine „Behandlung“ im Sinne des Art. 3 EMRK sein, wenn diese ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will, beruhen. Wenn die schlechten humanitären Bedingungen hingegen nicht zumindest überwiegend auf Handlungen der genannten Akteure zurückzuführen sind, müssen ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten, um sie als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 -, juris Rn. 123 ff. und Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 165 ff., jew. m.w.N.). Derartige Umstände liegen hier nicht vor. Zwar deuten die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel darauf hin, dass die humanitäre Lage in der Provinz Ninive weiterhin sehr schwierig ist (UNHCR, Schriftsatz an das VG Sigmaringen vom 25.04.2018, S. 2; Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 22; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 23.11.2017, S. 161 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 31). Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls bei solchen Flüchtlingen, welche spezifische, individuelle Einschränkungen oder Handicaps haben (sog. vulnerable Personengruppen), die zu diesen schwierigen humanitären Bedingungen hinzutreten, im Einzelfall festzustellen sein, dass ein Abschiebeverbot vorliegt. Im Falle des Klägers gilt aber etwas Anderes, da ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht, welche in entsprechender Anwendung des § 3e AsylG der Annahme eines Abschiebeverbotes entgegensteht. Der Kläger ist darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Autonomen Region Kurdistan niederzulassen.
41 
Es wäre dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak möglich, sich in der Autonomen Region Kurdistan niederzulassen. Als Kurde und Yezide benötigt der Kläger weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch einen Bürgen (UNHCR, Schreiben an das VG Sigmaringen vom 25.04.2018, S. 3; UK Home Office, Iraq: Country Policy and Information Note, Return/ Internal relocation, September 2017, Ziffer 7.3; UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative, 12.04.2017, S. 8). Selbst wenn sich dies im Zeitpunkt der tatsächlichen Rückkehr des Klägers in den Irak geändert haben sollte (vgl. UNHCR, Schreiben an das VG Sigmaringen vom 25.04.2018, S. 2, Fn. 7 sowie Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Binnenvertriebene, Zutrittsbestimmungen unter besonderer Berücksichtigung der shabakischen Minderheit, 05.10.2016, S. 1 zu den sich stetig ändernden Anforderungen für den Zuzug von Binnenflüchtlingen), so ist davon auszugehen, dass der Kläger eine entsprechende Genehmigung erhalten würde. Zwar ist es denkbar, dass die Eltern des Klägers, welche laut diesem weiterhin in einem Flüchtlingscamp in Khanke wohnen, den Kläger insoweit nicht werden unterstützen können. Der Kläger wird aber jedenfalls auf die Unterstützung seiner Großfamilie zählen können, die seit jeher in Bajid lebt. Vortrag, der diese Annahme in Zweifel ziehen könnte, fehlt.
42 
Der Berichterstatter ist auch überzeugt, dass der Kläger in der Autonomen Region Kurdistan sein Existenzminimum wird sichern können. Zwar ist die humanitäre Lage auch in der Autonomen Region Kurdistan generell schwierig. In der Region halten sich trotz einer zunehmenden Zahl an Binnenflüchtlingen, die zwischenzeitlich in ihre Heimatprovinzen zurückgekehrt sind, weiterhin 1,2 Millionen Binnenvertriebene auf (Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 5, 18, 22). Aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen, dem Fall des Ölpreises und fehlender Zahlungen der Zentralregierung leidet die Region unter einer Wirtschafts- und Finanzkrise (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.08.2017, S. 98 ff.). Auch soll es infolge der seit Jahren anhaltenden Krise nicht allen Binnenflüchtlingen uneingeschränkt möglich sein, ihre elementaren Bedürfnisse im Bereich Wohnraum, Nahrung und Gesundheitsvorsorge zu befriedigen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 23; Amnesty International, Report Irak 2018, S. 4; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.08.2017, S. 98 ff., 103 ff.; UK Home Office Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, Ziffern 9.12.1. u. 10.7.; UNHCR, Position zur Rückkehr in den Irak, 14.11.2016, S. 24; Danish Refugee Council, The Kurdistan Region of Iraq, 1/2016, S. 58 ff.). Im Fall des Klägers ist aber zum einen zu berücksichtigen, dass er als junger, gesunder, lediger Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen deutlich flexibler und belastbarer ist als zahlreiche andere Binnenflüchtlinge, insbesondere kranke Menschen, Familien mit kleinen Kindern und alleinstehende, in der irakischen Gesellschaft besonders diskriminierte Frauen (zu letzteren vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 10.10.2017 - A 10 K 1508/17 -, juris Rn. 32). Individuelle Einschränkungen oder Handicaps in der Person des Klägers liegen nicht vor. Die Situation des Klägers unterscheidet sich zum anderen deshalb wesentlich von der des Großteils der Rückkehrer und Binnenflüchtlinge, da seine gesamte Familie in der südlichen Autonomen Region Kurdistan lebt, die engere Familie seit gut drei Jahren, die erweiterte Großfamilie seit jeher. Dass er, seine Eltern und Geschwister in der gemeinsamen Zeit im Flüchtlingscamp in Khanke hätten Hunger leiden müssen oder dass es ihnen anderweitig nicht möglich gewesen wäre, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, hat der Kläger nicht dargelegt. Erst Recht fehlt es an Vortrag, dass sich die Situation für die weiterhin in Khanke lebende Kernfamilie zwischenzeitlich verschlechtert hätte (ähnlich VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 62; VG Düsseldorf, Urteil vom 25.10.2017 - 20 K 1742/17.A -, Ls. 2, juris; tendenziell wohl a.A. VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -, juris Rn. 49; VG des Saarlandes, Urteil vom 14.12.2017 - 6 K 1053/16 -, juris Rn. 29 ff.; mehrdeutig VG Oldenburg, Urteil vom 23.08.2017 - 3 A 3903/16 -, Ls., juris).
43 
b) Ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Ein krankheitsbedingtes Abschiebehindernis kommt von Vornherein nicht in Betracht. Der Kläger ist gesund. Der Schutzbereich des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage geht nicht weiter als der Schutzbereich des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 -, juris Rn. 385).
44 
4. Die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes ist ebenfalls rechtmäßig. Sie war gemäß § 34 Abs. 1 AsylG zu erlassen, weil der Kläger nicht als Asylberechtigter anerkannt wurden, ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wurde, der subsidiäre Schutz nicht gewährt wurde, die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen und der Kläger keinen Aufenthaltstitel besitzt. Die Dauer der Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
45 
5. Auch die Dauer des gemäß § 75 Nr. 12, § 11 Abs. 1, 2 AufenthG festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbotes ist rechtlich nicht zu beanstanden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wegen Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG allein aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung (vgl. § 11 Abs. 1 AufenthG), zumindest soweit es an eine Abschiebung anknüpft, nicht wirksam eintreten kann, so hat das Bundesamt jedenfalls durch die Befristung auf 30 Monate (vgl. Ziff. 5 des angefochtenen Bescheides) die insofern erforderliche behördliche Entscheidung getroffen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27.03.2018 - 1 A 4.17 -, juris Rn. 87; Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, juris Rn. 71 f.; möglicherweise a.A. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.06.2018 - 11 S 867/18 -, juris Rn. 2; Beschluss vom 22.03.2018 - 11 S 2776/17 -, juris Rn. 9 ff.). Die gewählte Befristung ist nicht zu beanstanden. Die Entscheidung des Bundesamtes lässt keine Ermessensfehler erkennen. Der Kläger kann die lange Sperrfrist vermeiden, indem er freiwillig ausreist. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot entfaltet, wie aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 AufenthG und im Umkehrschluss aus § 11 Abs. 6 Satz 1 AufenthG folgt, keine Sperrwirkung, wenn ein Ausländer, dem die Abschiebung angedroht wurde, freiwillig ausreist (VG Karlsruhe, Beschluss vom 13.02.2017 - A 10 K 5999/16 -, juris Rn. 30 m.w.N.).
III.
46 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Gründe

 
I.
14 
Die Entscheidung ergeht gemäß § 87a Abs. 2 u. 3, § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter anstelle der Kammer und ohne mündliche Verhandlung.
II.
15 
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS 2 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hierzu unter 1.) noch einen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes (hierzu unter 2.) beziehungsweise einen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten (hierzu unter 3.). Auch die Abschiebungsandrohung (hierzu unter 4.) und die Befristungsentscheidung des Bundesamtes sind nicht zu beanstanden (hierzu unter 5.).
16 
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
17 
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 -Genfer Flüchtlingskonvention-, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2a), oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2b).
18 
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft u.a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2) oder unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3). Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Ausgehen kann die Verfolgung gemäß § 3c AsylG vom Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (Nr. 3).
19 
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Diesbezüglich ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des jeweiligen Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine so verstandene wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der - auch deutlich - unter 50 v.H. liegt. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen in ihrer Bedeutung überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung reicht noch nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch würde sie außer Betracht lassen. Ergeben alle Umstände des Einzelfalles jedoch die „tatsächliche Gefahr“ (sog. „real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er würde bei der Abwägung aller Umstände im Übrigen auch immer die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissem Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen entscheidungserheblichen und motivationsbildenden Unterschied machen, ob er etwa lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, juris Rn. 17; VGH Bad.-Württ, Urteil vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25 ff.; Urteil vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - juris Rn. 30 ff.). Hat der Antragsteller Vorverfolgung erlitten oder war er unmittelbar von solcher bedroht, ist dies ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht ist (Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU).
20 
Die Gründe für seine Verfolgungsfurcht hat der Asylsuchende im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 2. HS VwGO, § 15 und § 25 Abs. 1 AsylG vorzutragen. Die Glaubhaftmachung der Asylgründe setzt eine schlüssige, nachprüfbare Darlegung voraus. Der Schutzsuchende muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Jedenfalls in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Beschluss vom 19.10.2001 - 1 B 24.01 -, juris Rn. 5; Urteil vom 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, juris Rn. 9; Urteil vom 22.03.1983 - 9 C 68.81 -, juris Rn. 5).
21 
Nach diesen rechtlichen Vorgaben steht dem Kläger ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu. Eine konkrete Gefahr, dass der Kläger aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen bei einer Rückkehr nach Tel Özer bei Sindschar in der Provinz Ninive (vgl. zu dem Ort, an den der Kläger typischerweise zurückkehren würde, als Anknüpfungspunkt für diese Gefahrenprognose: BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris Ls. 1, Rn. 13; Beschluss vom 14.11.2012 - 10 B 22.12 -, juris Rn. 7; zu einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager vgl. VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -, juris Rn. 32) aus einem der gesetzlich vorgesehenen Motive heraus Verfolgungshandlungen zu befürchten hat, ist nicht hinreichend wahrscheinlich.
22 
a) Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger im Irak eine individuelle Verfolgung erlitten oder eine solche in Zukunft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Er hat weder beim Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren konkrete, gegen ihn selbst gerichtete Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure geschildert. Im Wesentlichen hat er vorgetragen, dass er geflohen sei, weil er und seine Familie als Yesiden Angst vor den Gräueltaten des IS gehabt hätten, als dieser gen Sindschar vorgerückt sei. Dass er selbst eine Verfolgung durch den IS erlitten hätte oder mit diesem direkt in Kontakt gekommen wäre, hat der Kläger nicht vorgetragen. Auch ein sonstiges konkretes, die Schwelle einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a AsylG überschreitendes Erlebnis hat er nicht geschildert.
23 
b) Der Kläger kann sich auch nicht auf eine Gruppenverfolgung wegen seiner yesidischen Religionszugehörigkeit berufen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Annahme einer Gruppenverfolgung entweder ein staatliches Verfolgungsprogramm (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 -, juris Ls. 1) oder - im Fall einer nichtstaatlichen Verfolgung - eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Vermutung einer auch individuell bestehenden Verfolgungsgefahr rechtfertigt. Letzteres setzt eine solche Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter voraus, dass nicht mehr nur von einzelnen Übergriffen gesprochen werden kann, sondern die Verfolgungshandlungen auf alle sich im Verfolgungsgebiet aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an das die Gruppe definierende, asylerhebliche Merkmal treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13 m.w.N.).
24 
Gemessen an diesen Grundsätzen sieht sich der Kläger bezogen auf Tel Özer bei Sindschar in der Provinz Ninive keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt. Eine regionale Gruppenverfolgung durch staatliche Behörden macht der Kläger selbst nicht geltend und ist auch für das Gericht nicht erkennbar. Eine Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure, namentlich durch den IS oder sonstige strenggläubige Muslime liegt ebenfalls nicht (mehr) vor.
25 
aa) Dem Kläger droht im Falle einer Rückkehr keine Verfolgung durch den IS.
26 
Es fehlt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung jedenfalls an der erforderlichen „Verfolgungsdichte“, die für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung erforderlich ist. Dabei kann dahinstehen, ob angesichts des vom Kläger geschilderten Vorrückens des IS zum Zeitpunkt der erstmaligen Flucht des Klägers bis zum Dorf Giserk und angesichts der Tatsache, dass der IS Yesiden in den eingenommenen Dörfern und Städten - unstreitig - hinrichtete, versklavte und entführte, von einer Vorverfolgung des Klägers im Sinne des Art. 4 Satz 4 der Richtlinie 2011/95/EU auszugehen ist. Denn die dann einschlägige Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass die Furcht des Klägers vor zukünftiger Verfolgung angesichts der Verfolgung in der Vergangenheit begründet wäre, ist im vorliegenden Fall jedenfalls widerlegt.
27 
Für die Widerlegung der Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stehen (BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32.11 -, juris Rn. 7).
28 
Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung des Berichterstatters vor. Die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich grundlegend verändert. Der IS übt in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar - der Herkunftsregion des Klägers - keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr aus. Er hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren.
29 
So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa, von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit, die Städte Sindschar und Ramadi sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 4; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 56). Einhergehend mit den Gebietsverlusten hat der IS auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 47; Focus Online, Wir erleben das Ende des falschen Staats von Daesch, 29.06.2017). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals wesentliche Teile des Nordiraks erobern wird können, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. In der Tat sind viele Kämpfer entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (Spiegel Online, Die Rückkehr des IS, 25.04.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.11.2017, S. 8). Vor diesem Hintergrund muss damit gerechnet werden, dass der IS künftig auch in Ninive terroristische Anschläge verüben wird. Derartige terroristische Anschläge stellen aber keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen ist (vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 29.04.2014 - A 4 A 104/14 -, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Yesiden in der Region Ninive systematisch zu verfolgen (so auch VG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 11.05.2018 - A 10 K 16197/17 -, S. 7, n.v.; VG Augsburg, Urteil vom 18.04.2018 - Au 5 K 18.30313 -, juris Rn. 51; VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 29; VG Oldenburg, Urteil vom 27.02.2018 - 15 A 883/17 -, juris Rn. 37; VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 -, juris Rn. 36; VG Düsseldorf, Urteil vom 25.10.2017 - 20 K 1742/17.A -, Ls. 1, juris; vgl. Bayer. VGH, Beschluss vom 19.03.2018 - 20 ZB 17.30121 -, juris Rn. 6 f.; a.A. VG Oldenburg, Urteil vom 23.8.2017 - 3 A 3903/16 -, juris Rn. 33).
30 
bb) Das durch Spannungen geprägte Verhältnis von Yeziden zu (fundamentalistischen) Muslimen begründet ebenfalls nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung.
31 
Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime Yesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und Yesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, S. 19 f., 24 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Yesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre (so bereits VG Karlsruhe, Urteil vom 10.10.2017 - A 10 K 1508/17 -, juris Rn. 30; ebenso nunmehr VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 36).
32 
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Vorrausetzungen liegen nicht vor.
33 
a) Die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG und Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Die obigen Ausführungen zur Zurückdrängung des IS gelten insoweit entsprechend. Allein die schwierigen humanitären Bedingungen in der Provinz Ninive vermögen die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Es fehlt insoweit bereits am Vorliegen eines erforderlichen Akteurs im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 3c AsylG. Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“) führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung der subsidiären Schutzstatus. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 43 ff.; Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 70 ff., jew. m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf die Provinz Ninive nicht erfüllt. Die dortige gegenwärtige schlechte humanitäre Lage ist vor allem dem (vergangenen) Krieg geschuldet. Dass eine Verhaltensänderung eines der in Betracht kommenden Akteure zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte, ist nicht festzustellen. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
34 
b) Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.
35 
Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, Ls. 2, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. Bsp. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird. Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, juris Rn. 17).
36 
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt mehr vor. Denn der IS wurde durch die irakischen Streitkräfte - wie dargelegt - landesweit fast vollständig zurückgedrängt. Aus dem Umstand, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben, ergibt sich nichts Anderes. Denn bei diesen Vorfällen handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind (ebenso VG Augsburg, Urteil vom 18.04.2018 - Au 5 K 18.30313 -, juris Rn. 58; VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 44; a.A. VG Oldenburg, Urteil vom 27.02.2018 - 15 A 883/17 -, juris Rn. 51; VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -, juris Rn. 44).
37 
Die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus käme aber selbst dann nicht in Betracht, wenn man vom Vorliegen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Ninive ausginge. Denn das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts begründet die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Zur Ermittlung der gegebenen Gefahrendichte ist nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäben eine quantitative Ermittlung einerseits der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und andererseits der Akte willkürlicher Gewalt erforderlich, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung. Im Fall individuell vorliegender gefahrerhöhender Umstände kann ein vergleichsweise geringes Niveau willkürlicher Gewalt genügen, während eine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bei Abwesenheit persönlicher gefahrerhöhender Umstände nur in einer außergewöhnlichen Situation angenommen werden kann, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, juris Rn. 33). Dabei soll ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, jedoch so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt sein, dass es nicht auf eine Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage ankomme (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22). Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht im vorliegenden Fall keine hinreichende Gefahrendichte. Der Grad willkürlicher Gewalt hat in Ninive kein so hohes Niveau erreicht beziehungsweise mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Ninive allein aufgrund seiner Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN zum Zeitpunkt der erstmaligen Flucht des Klägers im August 2014 landesweit noch 1.533 getötete und 1.944 verletzte Zivilisten, waren es im Februar 2017 392 Getötete und 613 Verletzte, im Mai 2018 landesweit „nur“ noch 95 Getötete und 163 Verletzte. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad, Anbar und in Kirkuk (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Die von der britischen Nichtregierungsorganisation betriebene Datenbank Iraq Body Count gibt in der Größenordnung vergleichbare Zahlen wieder (https://www.iraqbodycount.org/database/). Selbst wenn man davon ausgeht, dass zu den genannten Zahlen eine nicht unerhebliche Dunkelziffer hinzutritt, wird man die Zahl der Toten und Verletzten in Ninive auf kaum mehr als 100 Zivilpersonen im Monat, sprich 1.200 Zivilpersonen im Jahr schätzen können. Dem steht eine Bevölkerung Ninives von ungefähr 3,2 Millionen gegenüber (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 46).
38 
3. Das Bundesamt hat im angegriffenen Bescheid auch zutreffend ausgeführt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht gegeben sind.
39 
a) Ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegt nicht vor.
40 
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Schlechte humanitäre Verhältnisse können dann eine „Behandlung“ im Sinne des Art. 3 EMRK sein, wenn diese ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will, beruhen. Wenn die schlechten humanitären Bedingungen hingegen nicht zumindest überwiegend auf Handlungen der genannten Akteure zurückzuführen sind, müssen ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten, um sie als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 -, juris Rn. 123 ff. und Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 165 ff., jew. m.w.N.). Derartige Umstände liegen hier nicht vor. Zwar deuten die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel darauf hin, dass die humanitäre Lage in der Provinz Ninive weiterhin sehr schwierig ist (UNHCR, Schriftsatz an das VG Sigmaringen vom 25.04.2018, S. 2; Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 22; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 23.11.2017, S. 161 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 31). Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls bei solchen Flüchtlingen, welche spezifische, individuelle Einschränkungen oder Handicaps haben (sog. vulnerable Personengruppen), die zu diesen schwierigen humanitären Bedingungen hinzutreten, im Einzelfall festzustellen sein, dass ein Abschiebeverbot vorliegt. Im Falle des Klägers gilt aber etwas Anderes, da ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht, welche in entsprechender Anwendung des § 3e AsylG der Annahme eines Abschiebeverbotes entgegensteht. Der Kläger ist darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Autonomen Region Kurdistan niederzulassen.
41 
Es wäre dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak möglich, sich in der Autonomen Region Kurdistan niederzulassen. Als Kurde und Yezide benötigt der Kläger weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch einen Bürgen (UNHCR, Schreiben an das VG Sigmaringen vom 25.04.2018, S. 3; UK Home Office, Iraq: Country Policy and Information Note, Return/ Internal relocation, September 2017, Ziffer 7.3; UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative, 12.04.2017, S. 8). Selbst wenn sich dies im Zeitpunkt der tatsächlichen Rückkehr des Klägers in den Irak geändert haben sollte (vgl. UNHCR, Schreiben an das VG Sigmaringen vom 25.04.2018, S. 2, Fn. 7 sowie Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Binnenvertriebene, Zutrittsbestimmungen unter besonderer Berücksichtigung der shabakischen Minderheit, 05.10.2016, S. 1 zu den sich stetig ändernden Anforderungen für den Zuzug von Binnenflüchtlingen), so ist davon auszugehen, dass der Kläger eine entsprechende Genehmigung erhalten würde. Zwar ist es denkbar, dass die Eltern des Klägers, welche laut diesem weiterhin in einem Flüchtlingscamp in Khanke wohnen, den Kläger insoweit nicht werden unterstützen können. Der Kläger wird aber jedenfalls auf die Unterstützung seiner Großfamilie zählen können, die seit jeher in Bajid lebt. Vortrag, der diese Annahme in Zweifel ziehen könnte, fehlt.
42 
Der Berichterstatter ist auch überzeugt, dass der Kläger in der Autonomen Region Kurdistan sein Existenzminimum wird sichern können. Zwar ist die humanitäre Lage auch in der Autonomen Region Kurdistan generell schwierig. In der Region halten sich trotz einer zunehmenden Zahl an Binnenflüchtlingen, die zwischenzeitlich in ihre Heimatprovinzen zurückgekehrt sind, weiterhin 1,2 Millionen Binnenvertriebene auf (Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 5, 18, 22). Aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen, dem Fall des Ölpreises und fehlender Zahlungen der Zentralregierung leidet die Region unter einer Wirtschafts- und Finanzkrise (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.08.2017, S. 98 ff.). Auch soll es infolge der seit Jahren anhaltenden Krise nicht allen Binnenflüchtlingen uneingeschränkt möglich sein, ihre elementaren Bedürfnisse im Bereich Wohnraum, Nahrung und Gesundheitsvorsorge zu befriedigen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak, 12.02.2018, S. 23; Amnesty International, Report Irak 2018, S. 4; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.08.2017, S. 98 ff., 103 ff.; UK Home Office Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, Ziffern 9.12.1. u. 10.7.; UNHCR, Position zur Rückkehr in den Irak, 14.11.2016, S. 24; Danish Refugee Council, The Kurdistan Region of Iraq, 1/2016, S. 58 ff.). Im Fall des Klägers ist aber zum einen zu berücksichtigen, dass er als junger, gesunder, lediger Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen deutlich flexibler und belastbarer ist als zahlreiche andere Binnenflüchtlinge, insbesondere kranke Menschen, Familien mit kleinen Kindern und alleinstehende, in der irakischen Gesellschaft besonders diskriminierte Frauen (zu letzteren vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 10.10.2017 - A 10 K 1508/17 -, juris Rn. 32). Individuelle Einschränkungen oder Handicaps in der Person des Klägers liegen nicht vor. Die Situation des Klägers unterscheidet sich zum anderen deshalb wesentlich von der des Großteils der Rückkehrer und Binnenflüchtlinge, da seine gesamte Familie in der südlichen Autonomen Region Kurdistan lebt, die engere Familie seit gut drei Jahren, die erweiterte Großfamilie seit jeher. Dass er, seine Eltern und Geschwister in der gemeinsamen Zeit im Flüchtlingscamp in Khanke hätten Hunger leiden müssen oder dass es ihnen anderweitig nicht möglich gewesen wäre, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, hat der Kläger nicht dargelegt. Erst Recht fehlt es an Vortrag, dass sich die Situation für die weiterhin in Khanke lebende Kernfamilie zwischenzeitlich verschlechtert hätte (ähnlich VG Hamburg, Urteil vom 13.03.2018 - 8 A 1135/17 -, juris Rn. 62; VG Düsseldorf, Urteil vom 25.10.2017 - 20 K 1742/17.A -, Ls. 2, juris; tendenziell wohl a.A. VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -, juris Rn. 49; VG des Saarlandes, Urteil vom 14.12.2017 - 6 K 1053/16 -, juris Rn. 29 ff.; mehrdeutig VG Oldenburg, Urteil vom 23.08.2017 - 3 A 3903/16 -, Ls., juris).
43 
b) Ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Ein krankheitsbedingtes Abschiebehindernis kommt von Vornherein nicht in Betracht. Der Kläger ist gesund. Der Schutzbereich des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage geht nicht weiter als der Schutzbereich des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 -, juris Rn. 385).
44 
4. Die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes ist ebenfalls rechtmäßig. Sie war gemäß § 34 Abs. 1 AsylG zu erlassen, weil der Kläger nicht als Asylberechtigter anerkannt wurden, ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wurde, der subsidiäre Schutz nicht gewährt wurde, die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen und der Kläger keinen Aufenthaltstitel besitzt. Die Dauer der Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
45 
5. Auch die Dauer des gemäß § 75 Nr. 12, § 11 Abs. 1, 2 AufenthG festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbotes ist rechtlich nicht zu beanstanden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wegen Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG allein aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung (vgl. § 11 Abs. 1 AufenthG), zumindest soweit es an eine Abschiebung anknüpft, nicht wirksam eintreten kann, so hat das Bundesamt jedenfalls durch die Befristung auf 30 Monate (vgl. Ziff. 5 des angefochtenen Bescheides) die insofern erforderliche behördliche Entscheidung getroffen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27.03.2018 - 1 A 4.17 -, juris Rn. 87; Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, juris Rn. 71 f.; möglicherweise a.A. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.06.2018 - 11 S 867/18 -, juris Rn. 2; Beschluss vom 22.03.2018 - 11 S 2776/17 -, juris Rn. 9 ff.). Die gewählte Befristung ist nicht zu beanstanden. Die Entscheidung des Bundesamtes lässt keine Ermessensfehler erkennen. Der Kläger kann die lange Sperrfrist vermeiden, indem er freiwillig ausreist. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot entfaltet, wie aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 AufenthG und im Umkehrschluss aus § 11 Abs. 6 Satz 1 AufenthG folgt, keine Sperrwirkung, wenn ein Ausländer, dem die Abschiebung angedroht wurde, freiwillig ausreist (VG Karlsruhe, Beschluss vom 13.02.2017 - A 10 K 5999/16 -, juris Rn. 30 m.w.N.).
III.
46 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Karlsruhe Urteil, 04. Juli 2018 - A 10 K 17769/17

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(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 34 Abschiebungsandrohung


(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn 1. der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,2. dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wir

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3a Verfolgungshandlungen


(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3e Interner Schutz


(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und2. sicher und legal in diesen Landesteil r

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3b Verfolgungsgründe


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen: 1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;2. der Begrif

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3c Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann


Die Verfolgung kann ausgehen von 1. dem Staat,2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließl

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 25 Anhörung


(1) Der Ausländer muss selbst die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über W

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 38 Ausreisefrist bei sonstiger Ablehnung und bei Rücknahme des Asylantrags


(1) In den sonstigen Fällen, in denen das Bundesamt den Ausländer nicht als Asylberechtigten anerkennt, beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist 30 Tage. Im Falle der Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Ab

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 15 Allgemeine Mitwirkungspflichten


(1) Der Ausländer ist persönlich verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch, wenn er sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lässt. (2) Er ist insbesondere verpflichtet, 1. den mit der Ausführung dieses Gese

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 75 Aufgaben


Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat unbeschadet der Aufgaben nach anderen Gesetzen folgende Aufgaben: 1. Koordinierung der Informationen über den Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit zwischen den Ausländerbehörden, der Bundesagentur

Referenzen - Urteile

Verwaltungsgericht Karlsruhe Urteil, 04. Juli 2018 - A 10 K 17769/17 zitiert oder wird zitiert von 9 Urteil(en).

Verwaltungsgericht Karlsruhe Urteil, 04. Juli 2018 - A 10 K 17769/17 zitiert 9 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

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Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Tatbestand

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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 11. Apr. 2018 - A 11 S 1729/17

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Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. April 2017 – A 2 K 4283/16 – wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen. T

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 11. Apr. 2018 - A 11 S 924/17

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Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen. T

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss, 22. März 2018 - 11 S 2776/17

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Tenor Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. November 2017 - 4 K 5304/17 - teilweise geändert. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt und Rechtsanwalt ..., ..., beigeo

Verwaltungsgericht Hamburg Urteil, 13. März 2018 - 8 A 1135/17

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Tenor Die Klage wird abgewiesen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Siche

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 02. Mai 2017 - A 11 S 562/17

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Tenor Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 18. Januar 2017 - A 5 K 4182/16 - wird zurückgewiesen.Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.Die Revision wird ni

Verwaltungsgericht Karlsruhe Beschluss, 13. Feb. 2017 - A 10 K 5999/16

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Tenor Die Anträge auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes werden abgelehnt.Die Antragsteller tragen die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens als Gesamtschuldner. Gründe  I.1 Die Antragsteller sind kosovarische Staatsangehörige, die Ant

Referenzen

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 18. Januar 2017 - A 5 K 4182/16 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, dem bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der 1976 geborene Kläger ist ausweislich von im Verwaltungsverfahren vorgelegten Kopien von Identitätsdokumenten ein aus Syrien stammender palästinensischer Volkszugehöriger. Er reiste im Sommer 2015 mit zwei Söhnen, seiner Schwester und einem Neffen über den Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 5. August 2015 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 15. Juni 2016 brachte der Kläger im Wesentlichen vor, er habe sich bis zu seiner Ausreise in Damaskus aufgehalten. Seinen Wehrdienst habe er von 1995 bis 1998 abgeleistet. Er habe als Krankenwagen-Fahrer gearbeitet und sei deswegen oft in Gefahr gewesen, weshalb er seinen Job habe wechseln wollen. Er habe dann einen Transporter gehabt, mit dem er die Angestellten des Krankenhauses nach Hause gefahren habe. Zwei seiner Kollegen seien entführt worden. Daraufhin habe er Angst bekommen und gekündigt. Nach zwischenzeitlichem viermonatigem Aufenthalt im Libanon im Jahre 2013 habe er nach seiner Rückkehr in Syrien keine Arbeit mehr gehabt. Wegen der schlimmen Lage und des Krieges habe er sich zur Ausreise entschlossen. Für den Fall einer Rückkehr fürchte er, zum Militär einberufen zu werden.
Mit Bescheid vom 28. September 2016, zugestellt am 30. September 2016, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger (und seinen beiden Söhnen) subsidiären Schutz zu, lehnte den Asylantrag im Übrigen aber ab. Aufgrund des „fehlenden Vortrags zu möglichen individuellen konkreten Verfolgungsgründen" lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vor.
Der Kläger erhob am 12. Oktober 2016 Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen. Zu deren Begründung nahm er im Wesentlichen auf die bisherige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden-Württemberg Bezug. Die Lage und Entwicklung in Syrien hätten sich nicht in einer Weise geändert, dass die zugrunde liegenden Einschätzungen in Frage zu stellen seien. Mehr denn je sei davon auszugeben, dass syrischen Staatsangehörigen, namentlich Männern im wehrfähigen Alter und damit auch ihm, aufgrund ihrer Flucht aus Syrien bereits eine Regimegegnerschaft unterstellt werde, derentwegen sie mit Verfolgung rechnen müssten.
Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Durch Gerichtsbescheid vom 18. Januar 2017 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 28. September 2016, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Zur Begründung führte es aus: Unabhängig von einer etwa bestehenden Vorverfolgung müssten grundsätzlich alle aus Deutschland zurückkehrende Syrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, Verfolgungshandlungen zu erleiden, die an eine ihnen vom Regime zugeschriebene regimefeindlichen Einstellung anknüpften. Im Falle des Klägers komme gefahrerhöhend hinzu, dass er im wehrdienstpflichtigen Alter sei und daher Gefahr laufe, bei der Wiedereinreise wegen seines Auslandsaufenthalts auch wegen einer Wehrdienstentziehung verhört und menschenrechtswidrig behandelt zu werden. Auch müsse er damit rechnen, im Falle der Einziehung sich an Handlungen beteiligen zu müssen, die sich gegen den Frieden richteten oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Wiederum gefahrerhöhend komme hinzu, dass der Kläger palästinensischer Volkszugehöriger sei.
Am 7. Februar 2017 stellte die Beklagten einen Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Senat durch Beschluss vom 2. März 2017 entsprach.
Am 13. März 2017 begründete die Beklagte die Berufung unter Stellung eines Antrags. Es gebe keine hinreichend verlässlichen Auskunftsquellen und Erkenntnisse, wonach Rückkehrern bei der Wiedereinreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit überhaupt eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung drohe. Abgesehen davon gebe es auch keine hinreichend verlässlichen Informationen, wonach das syrische Regime in jedem Rückkehrer aus Europa einen potentiellen Regimegegner sehe. Was eine mögliche Gefährdung wegen einer Wehrdienstentziehung betreffe, so sei nicht davon auszugehen, dass der syrische Staat insoweit an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal anknüpfe.
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Die Beklagte beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 18. Januar 2017 - A 5 K 4182/16 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu Eigen.
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Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung angehört. Insoweit wird auf die Niederschrift vom 2. Mai 2017 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
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Dem Senat lagen die Akten des Bundesamts sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vor.

Entscheidungsgründe

 
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Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat sie zu Recht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
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I. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht (vgl. § 3e AsylG).
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Ob die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3b AsylG) einerseits und den erlittenen oder bevorstehenden Rechtsgutsverletzungen bzw. dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen andererseits besteht, ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit festzustellen (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 Rn. 24). Die Verknüpfung ist also anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13). Es kommt demzufolge nicht auf die ohnehin kaum feststellbaren (künftigen) subjektiven Vorstellungen der jeweils für den Akteur im Sinne des § 3c AsylG handelnden Person(en) an (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 a.a.O.). Hier gilt nichts anderes als für das nationale Asylrecht nach Art. 16a GG (vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 -, BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.>; vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <334 f.>; vom 10.12.1991 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 und vom 11.02.1992 - 2 BvR 1155/91 -, InfAuslR 1992, 152 <154>).
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Diese Verknüpfung geht grundsätzlich auch nicht verloren, wenn mit der Verfolgungshandlung weitere, flüchtlingsrechtlich neutrale Zwecke verfolgt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat zum nationalen Asylrecht schon entschieden, dass auch in Fällen, in denen der Staat das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt, eine staatliche Verfolgung vorliegen kann (BVerfG, Beschluss vom 10.07. 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315-353; Beschluss vom 12.07.1993 - 2 BvR 855/93 -, juris). Für das unionsrechtliche und das internationale Flüchtlingsrecht nach der Genfer Konvention gilt nichts anderes (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24/08 -, BVerwGE 135, 252 Rn. 16).
22 
Soweit in Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Intensität der flüchtlingsrelevanten Zielrichtung des Handelns besteht - die Maßstäbe reichen von einer „Relevanz“ bzw. „contributing factor(s)“ bis hin zu „essential and significant reason(s)“ (vgl. Göbel-Zimmermann/Hruschka, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 3a AsylG Rn. 19; Hathaway, International Refugee Law: The Michigan Guidelines on Nexus to a Convention Ground, 2002, 210 <217> Rn. 13; Guide to Refugee Law in Australia: Chapter 5 - AAT, September 2016, http://www.aat.gov.au) - ist dies nicht entscheidend, wenn der flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgrund nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass auch die Verfolgung entfiele (sog. „but for-test“, vgl. Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3a AsylG Rn. 53, m.w.N.), da in solchen Fällen die erforderliche Intensität nach allen Auffassungen vorliegt.
23 
Es kommt zuletzt nicht darauf an, ob der Verfolgte diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG und Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EZ des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. L 337 S. 9)– im Folgenden Anerkennungsrichtlinie). Hierher rechnet auch der Fall, dass der Betreffende seitens des Verfolgers nur verdächtigt wird, ein solches Merkmal zu erfüllen und die Verfolgungsmaßnahme hier ansetzt, um eine entsprechende Feststellung zu treffen (vgl. hierzu schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris, m.w.N.). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine (bestimmte) Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
24 
Von diesen Maßstäben ausgehend und unter Berücksichtigung des prognostischen Charakters der Frage nach einer begründeten Furcht des Schutzsuchenden bei dessen Rückkehr sowie dessen sachtypischen Beweisnotstandes - der gerade in Bezug auf die Frage nach der Motivationslage des (potentiellen) Verfolgers offen zu Tage liegt - kann die Zielrichtung des Verfolgers, die unbeschadet der dargestellten objektivierten Betrachtungsweise als Intention ein subjektives Merkmal darstellt, aus den objektiven Gegebenheiten, so wie sie sich aktuell darstellen und aller Voraussicht nach entwickeln werden, zu folgern sein.
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So hat das Bundesverfassungsgericht zur Gerichtetheit in Asylfällen schon ausgeführt, dass auch die Verfolgung von Straftaten, die sich - zunächst - nicht als politische Verfolgung darstellt, in politische Verfolgung umschlagen kann, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Es hat daraus die Vermutungsregel zu Gunsten einer (politischen) Verfolgung abgeleitet, wenn der Flüchtling eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher - nicht politischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche (Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O.).
26 
Nach Auffassung des Senats gilt für den unionsrechtlichen Flüchtlingsschutz nichts anderes. Weder Art. 9 noch Art. 10 der Anerkennungsrichtlinie lassen einen Ansatz für eine abweichende Sichtweise erkennen. Die Funktion des völkerrechtlichen wie auch unionsrechtlichen effektiven Flüchtlingsschutzes ist darauf gerichtet, politische und soziale Erscheinungsformen staatlichen wie nicht-staatlichen Handelns in der objektiven Lebenswirklichkeit gesamtheitlich zu bewältigen, was eine Fragmentierung in vielfältige und unüberschaubare individuelle Sichtweisen bzw. Handlungsmotive der verschiedenen Akteure verbietet; der Fokus der Betrachtung muss daher darauf gerichtet sein, wie sich der Eingriff in der politischen wie sozialen Realität darstellt und wie er diese beeinflusst bzw. auf diese einwirkt. Anders ausgedrückt: Entscheidend ist, wie der oder die Verfolgte die jeweilige auf sich bezogene Maßnahmen hinsichtlich ihrer Zielrichtung nach objektivierter Betrachtungsweise einschätzen kann oder konnte.
27 
Die Diskussion darüber, ob auf die Intention des potentiellen Verfolgers abzustellen sei oder nicht (vgl. dazu Dörig, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, S. 1182 f.) geht daher nach Auffassung des Senats ins Leere, soweit sie als Gegensatz von objektiver und subjektiver Gerichtetheit zu verstehen sein sollte.
28 
Und auch eine Beweisregel, die es zur Voraussetzung machte, dass die Intention stets für sich genommen festzustellen sei, mit der Folge, dass deren Ableitung aus den feststellbaren objektiven Gegebenheiten ausscheiden müsste, stünde nach all dem nicht im Einklang mit der Zweckrichtung des Flüchtlingsrechts. Da die Chancen des Schutzsuchenden, die reale Gefahr von Verfolgung direkt zu belegen eher die Ausnahme als die Regel ist, kann eine solche auch alleine auf verlässliche Herkunftslandinformationen zu stützen bzw. daraus abzuleiten sein (so treffend Hathaway/Foster, a.a.O., S. 122, m.w.N.). Für die Feststellung einer Verfolgungsintention kann nichts anderes gelten.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vorn solcher Verfolgung bedroht ist, Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie. In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., S. 332 ff, 339 ff.). Erst in dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur. Für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3b Abs. 2 AsylG.
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Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Ist der Schutzsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
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Eine so verstandene wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann aber gerade auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der - auch deutlich - unter 50 v.H. liegt (vgl. auch Berlit, ZAR 2017, 110 < 115 f.>). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen in ihrer Bedeutung überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Allerdings reicht die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung noch nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen.
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Ergeben alle Umstände des Einzelfalles jedoch die „tatsächliche Gefahr“ (sog. „real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände im Übrigen auch immer die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen entscheidungserheblichen und motivationsbildenden Unterschied machen, ob er etwa lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (schon BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 <169 f.> m.w.N. und erneut Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, AuAS 2008, 118). Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen, auf die bei der Bewertung der drohenden Gefahr abzustellen ist (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389).
33 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gewonnen haben muss.
34 
In diesem Zusammenhang sehen sich die Rechtsanwender nicht selten mit der Situation konfrontiert, dass keine relevante und größere Zahl von Referenzfällen zu bestimmten Verfolgungsszenarios bekannt geworden ist und auch individualisierbar belegt werden kann. Es handelt sich um eine für den Flüchtlingsschutz grundlegende und nicht untypische Problemstellung. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Regimen, die weitgehend außerhalb rechtstaatlicher und menschrechtlicher Grundsätze operieren und bei denen eine menschenverachtende Verfolgungspraxis ein allgegenwärtiges Phänomen darstellt, Folterungen und Misshandlungen nach außen hin nicht zuverlässig und umfassend dokumentiert werden können, sondern sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, wenn nicht gar im Verborgenen in einer Grauzone abspielen.
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Unter solchen Umständen kommt den in den einzelnen Erkenntnisquellen dargelegten Berichten zur allgemeinen Menschenrechts- und Verfolgungssituation in dem betreffenden Herkunftsland hervorgehobene Bedeutung zu. Aus ihnen sind Schlussfolgerungen auch auf die den Einzelnen treffende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ziehen. Demgemäß können auch allgemeine Erkenntnisse zur Verfolgungssituation eines Landes in Verbindung mit einer nur begrenzten Anzahl bekannt gewordener Verfolgungsfälle im Einzelfall die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass in Wahrheit die Zahl der tatsächlichen Verfolgungsfälle erheblich über der der dokumentierten Sachverhalte liegt bzw. für den Zeitpunkt der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland liegen wird. Dagegen kann eine Flüchtlingsanerkennung nicht ausschließlich von einer nach Person und Schicksal der Opfer genau spezifizierten Auflistung von konkreten Verfolgungsfällen abhängen. Denn dies würde bedeuten, dass eine Verfolgungswahrscheinlichkeit für solche Länder zu verneinen wäre, deren Repressionspraxis zwar allgemein bekannt ist, aber nicht in ihren Abläufen im Einzelnen offen zu Tage liegt, weil sie naturgemäß abgeschirmt im Geheimen stattfindet und - oftmals um der Aufrechterhaltung eines gewissen Scheines - das Licht der Öffentlichkeit scheut, weshalb auch konkreten Opfer nach Person und Zahl weitgehend unbekannt bleiben müssen.
36 
II. Gemessen hieran droht dem 1976 geborenen Kläger, der bereits Wehrdienst geleistet hat, aber als Reservist nach wie vor wehrpflichtig ist, Verfolgung, weil er bei einer Rückkehr konkret von Strafverfolgung oder Bestrafung bedroht ist, zumindest aber muss er mit menschenwidriger Behandlung oder Folter bei Verhören bzw. Befragungen durch den syrischen Staat rechnen, weil er sich durch eine unerlaubte Ausreise aus Syrien und einem Verbleib im Ausland dem Militärdienst entzogen hat.
37 
1. In Syrien besteht Militärdienstpflicht, die grundsätzlich für alle syrischen Männer unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund (vgl. zu alledem ausführlich SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2914; Finnish Immigration Service, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups supporting Syrian Regime and armed Opposition v. 23.08.2016) wie auch für Palästinenser, die in Syrien leben (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien - im Folgenden BFA - vom 05.01.2017, S. 37; Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017), gilt; auch Oppositionelle werden einberufen. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren. Die Wehrpflicht dauerte in der Vergangenheit bis zum Alter von 42 Jahren; mehrere Auskünfte verweisen allerdings auf Quellen, wonach die Wehrpflicht in der Praxis gegenwärtig bis zum 50. bzw. sogar bis zum 52. Lebensjahr ausgeweitet wird (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8).
38 
Ausnahmen von der Wehrpflicht werden - von Bestechungen abgesehen - in eng begrenzten Fällen gemacht, so etwa bei Personen jüdischen Glaubens oder bei Untauglichkeit. Gesetze und Regelungen über Ansprüche auf Aufschub vom Antritt des Grundwehrdienstes etwa für Einzelkinder oder Studenten - hier je nach Art des Studiums gestaffelt, regelmäßig höchstens bis 27 Jahre (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015). Die Regelungen gelten wohl teilweise zwar formal weiter, in der Praxis finden sie allerdings aufgrund des stark zunehmenden Personalbedarfs nur mehr sehr eingeschränkt und zunehmend willkürlich Anwendung (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 3; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 9).
39 
Ebenso geraten zunehmend auch noch nicht 18 Jahre alte Jugendliche vornehmlich an den zahlreichen im ganzen Land verstreuten Checkpoints in den Blick der Sicherheitskräfte und des Militärs und laufen Gefahr, Repressalien ausgesetzt zu werden. Allerdings sind, was die Rekrutierung minderjähriger Syrer für das syrische Militär und deren Ausmaß betrifft, nicht völlig deckungsgleich, was aber hier keiner Vertiefung bedarf (Danish Refugee Council, „Syria: Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty an Recruitment to the YPG“, September 2015, S. 11; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 4; BFA S. 23 f.; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
40 
Es besteht keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern bzw. zivilen Ersatzdienst zu leisten (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014). Entlassungen aus dem Militärdienst sind nach den verwerteten Erkenntnismitteln seit dem Jahre 2011, dem Beginn der militärischen Auseinandersetzung eher zur Ausnahme geworden; viele Wehrpflichtige sind über Jahre hinweg in der Armee tätig und oftmals wäre Desertion die einzige Möglichkeit, den Militärdienst zu beenden (BFA S. 24; Finnish Immigration Service, a.a.O, S. 12.).
41 
Gediente Wehrpflichtige müssen nach Beendigung des Wehrdienstes als Reservisten jederzeit abrufbar sein (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015). In der Vergangenheit wurden alle Männer bis zum Alter von 42 Jahren als Reservisten geführt; aufgrund der prekären Personalsituation gibt es gegenwärtig kein festgesetztes Höchstalter für die Aktivierung von Reservisten mehr, vielmehr werden nach den vorliegenden Auskünften im Einzelfall - je nach Ausbildung und bisheriger Tätigkeiten für die Armee - Männer im Alter von bis zu 50 oder sogar 60 Jahren erneut zum Dienst verpflichtet (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
42 
Seit dem Herbst 2014 werden Reservisten in großem Stile eingezogen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Die syrische Armee hat nach mehreren Quellen mit örtlichen Generalmobilmachungen begonnen, neue Checkpoints etabliert und Razzien im privaten und öffentlichen Bereich intensiviert, um Reservisten zu finden, die sich bislang dem Dienst entzogen haben. Die Vorgehensweise wird als zunehmend aggressiv beschrieben (vgl. UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 5). In wenigen Monaten wurden zehntausende Personen (zwangs-)rekrutiert und es existieren Berichte, wonach im Frühjahr 2015 Listen mit über 70.000 Namen von Personen, die als Reservisten eingezogen werden sollen, an den Checkpoints der syrischen Armee zirkulierten (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 6 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Bei der Einberufung von Reservisten, die auf Grundlage des Kriegsrechts innerhalb weniger Tage erfolgen kann, wird offenbar keine Unterscheidung zwischen Anhängern bzw. Unterstützern des Regimes und potentiellen Oppositionellen gemacht (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014).
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Männer im Alter zwischen 18 und 42 Jahren dürfen seit März 2012 nur mit einer offiziellen Beglaubigung des Militärs, mit der bescheinigt wird, dass sie vom Militärdienst freigestellt sind, das Land verlassen; seit Herbst 2014 besteht darüber hinaus für Männer, die zwischen 1985 und 1991 geboren sind, ein generelles Ausreiseverbot (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; Deutsches Orient Institut, Auskunft an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016; UNHCR, „Illegal Exit“ from Syria and Relates Issues for Determining the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Syria, February 2017; S. 6 - im Folgenden „Illegal Exit“ - S. 3 f.). Jungen Männern vor Erreichen des 18. Lebensjahres wird die Ausreise erschwert, indem Reisepässe nur für eine kurze Gültigkeitsdauer ausgestellt werden (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016 S. 4 f.; BFA S. 24).
44 
Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 8 f.). Nach dessen Artikel 98 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Artikel 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
45 
Nach der sich dem Senat bietenden Erkenntnislage lässt sich feststellen, dass nach der Ergreifung einer Person, die sich der Einberufung oder Mobilisierung entzogen hat, die Untersuchungsmaßnahmen und eine sich möglicherweise anschließende, auch längere Haft mit Folterungen einhergehen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Es gibt Quellen, wonach Rekruten, denen das Regime nicht traut, mitunter in den Kampfeinsatz an die Front geschickt werden, um ihre Motivation zu kämpfen zu erhöhen (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 10). Männer, die von Sicherheitsdiensten aufgegriffen werden, werden meistens vom militärischen Sicherheitsdienst oder dem Luftwaffensicherheitsdienst verhaftet. Das Office of United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) hat bei beiden Sicherheitsdiensten Fälle von Folter dokumentiert. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen werden, erhalten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und werden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt.“ (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee,28.03.2015, S. 3 f.).
46 
2. Die Überzeugung des Senats, dass Rückkehrern im wehrdienstfähigen Alter im Zusammenhang mit den drohenden Ermittlungen und Bestrafungen auch Folterungen drohen, gründet sich neben den zitierten Quellen auch auf die folgenden Erkenntnisse, die sich auf die allgemeine Situation bei Inhaftierungen beziehen.
47 
Es lässt sich feststellen, dass die syrischen Sicherheitsbehörden weit außerhalbrechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Grundsätze operieren und eine menschenverachtender Verfolgungspraxis an den Tag legen (von den durchgängig beschriebenen unfairen Verfahren, wenn einmal ein Gericht befasst sein sollte, vgl. UNHCR, Ergänzende aktuell Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 9).
48 
Aus mehreren Berichten von amnesty international lässt sich seit Beginn des Bürgerkriegs eine endemische Zunahme von Misshandlungen und Folter einschließlich Verschwindenlassen der Betroffenen entnommen werden (vgl. ai, „Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria“, August 2011, S. 9 ff. und nunmehr auch ai, „It breaks the human“, torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 12 ff. und passim bzw. ai „Human Slaughterhouse“ Februar 2017). Es handelt sich um Praktiken, die von Seiten des syrischen Regimes seit Jahrzehnten systematisch eingesetzt werden, um jede Opposition und jeden Widerstand zu unterdrücken bzw. zu zerschlagen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 05.01.2017 – im Folgenden BFA – S. 19 f.) Je mehr das syrische Regime in Bedrängnis geriet und destabilisiert wurde, desto stärker und rücksichtloser wurde gegenüber wirklichen und vermeintlichen Regimegegner vorgegangen, um über die ohnehin schon von den Geheimdiensten beobachtete und unterwanderte Exilszene (vgl. hierzu etwa Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern, S. 263 ff.). So wird übereinstimmend in den verwerteten Erkenntnismitteln davon berichtet, dass Folter, Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen seit Jahren und bis heute zu den gängigen Praktiken der syrischen Sicherheitsorgane gehören. Hiervon sind nicht nur unmittelbar Regimekritiker oder Regimegegner betroffen, sondern auch unbeteiligte, die als Geiseln genommen werden und von den Informationen erpresst werden sollen, namentlich sind in beträchtlichem Ausmaß auch Familienangehörige, selbst kleinere Kinder betroffen (vgl. etwa SFH, „Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 25.01.2017 zu Syrien: Reflexverfolgung“ mwN; BFA S. 27). Insbesondere nach der bereits angesprochenen Dokumentation von amnesty international („It breaks the human“ von 2016; vgl. auch den Report Syrien 2016/2017, S. 6 f.) sind mindestens 17.723 Personen zwischen den Jahren 2011 und 2015 in Haft auf abscheuliche Weise getötet worden, wobei allerseits nachvollziehbar davon ausgegangen wird, dass die Dunkelziffer beträchtlich ist, weshalb die Zahl erheblich höher sein muss.
49 
In - abstoßender Weise - beeindruckend ist die Dokumentation von Human Rights Watch „If the Dead Could Speak – Mass Deaths and Torture in Syria’s Facilities“ vom 16. Dezember 2015, in der eine Vielzahl der 53.275 sog. „Caesar“-Photos, die im August 2013 von einem Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt worden waren. Human Rights Watch erhielt alle Bilder von der Syrischen Nationalbewegung, einer regierungskritischen, politischen Gruppe, die die Fotos direkt von „Caesar“ bekommen hatte. Der Bericht konzentriert sich auf 28.707 dieser Fotos, die allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene zeigen, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben sind. Die restlichen Fotos zeigen Orte, an denen Angriffe verübt wurden, oder Leichen, die namentlich identifiziert sind, darunter überwiegend Regierungssoldaten, bewaffnete Kämpfer und bei Angriffen, Explosionen oder Attentaten getötete Zivilisten.
50 
Das U.S. State Department berichtet auch im neuesten „Country Report on Human Rights Practices Syria 2016“ (vgl. auch schon den entsprechenden Bericht für das Jahr 2015) ausführlich und umfassend über - weiter zunehmende - schwerste Menschenrechtsverstöße in Syrien. Willkürliche und extralegale Tötungen, Folterungen und Verschwindenlassen von Personen jeder Herkunft und ungeachtet des konkreten Hintergrundes (eingeschlossen von - nicht nur nächsten - Familienangehörigen) sind hiernach an der Tagesordnung. In besonderem Maße werden auch hervorgehoben die weit verbreiteten sexuellen Erniedrigungen bis zu Vergewaltigungen (von Frauen wie Männern), die zu gängigen Praktiken geworden sind, um die Opfer zu brechen und aussagebereit zu machen. Dieses findet nicht nur statt in eigentlichen Gefängnissen, sondern auch in gleichem Maße in sonstigen Gewahrsams- und Verhörzentren der Geheimdienste, aber auch von militärischen Verbänden, wie v.a. der Luftwaffe (vgl. auch SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 26.10.2015: Geheimdienst; BFA S. 17). Ein hervorzuhebender Anlass dieser Maßnahmen sind die Festnahmen an den landesweit eingerichteten Kontrollstellen, vor denen die Bevölkerung panische Ängste haben soll, weil grundsätzlich jeder ohne Ansehen der Person hiervon betroffen sein kann (vgl. etwa den Bericht der „Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 11.08.2016, Rz. 77 f.) und häufig die betroffenen Personen verschwinden und nie mehr wieder gesehen werden.
51 
Die im Jahr 2014 und wohl auch in den Jahren 2015 und 2016 verkündeten Amnestien, die erkennbar auch darauf abzielten, die Zahl der Rekrutierungen zu erhöhen, wurden immer davon abhängig gemacht, dass sich die Betreffenden innerhalb einer bestimmten Frist stellten, weshalb diese für die hier interessierende Fragestellungen nicht relevant sind (vgl. SFH, „Umsetzung der Amnestien“ 14.04.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 12 f.; Accord vom 22.07.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 19; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24).
52 
Bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel ist der Senat davon überzeugt, dass syrische Männer im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen haben.
53 
So drohen denjenigen, die sich Einberufung oder Mobilisierung entziehen, bei einer Ergreifung Untersuchungen und Festnahmen teilweise mit längerer Haft und Folter (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Einige Quellen sprechen im Zusammenhang mit Desertion von lebenslanger Haft und Exekutionen (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23.03.2017, S. 10 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Ferner gibt es Berichte von Personen, die als Rückkehrer im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst befragt und dauerhaft verschwunden sind (Dt. Botschaft Beirut an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 03.02.2016). Ferner gibt es Hinweise darauf, dass alle, die sich dem Regime entziehen - wie es Wehrdienstpflichtige tun, zumal wenn sie illegal ins Ausland reisen -, als Oppositionelle und je nach bisheriger Funktion als „Landesverräter“ betrachtet werden (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Andere Quellen halten Männer im wehrpflichtigen Alter für besonders gefährdet, bei der Einreise über den Flughafen oder auf dem Landweg Misshandlungen durch das Sicherheitspersonal zu erfahren, insbesondere wenn sie ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet haben; so spricht eine Quelle davon, „military-aged men [are] the most vulnerable group in terms of treatment by Syrian authorities at points of entry“ (Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Auch diejenigen, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird, werden als Gegner des Regimes betrachtet und haben gewaltsames Verschwinden, Haft und Folter zu gewärtigen (Amnesty International, „Between prison and the grave“, S. 44). Schließlich ergibt sich aus zahlreichen Quellen, dass für Desertion und Wehrdienstentzug mitunter auch Familienangehörige haftbar gemacht, zur Rechenschaft gezogen und unter Druck gesetzt werden (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 27; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 13).
54 
Die Wahrscheinlichkeit, den genannten Foltermaßnahmen unterworfen zu werden, ist deshalb beachtlich, weil die Identifizierung der Betroffenen als männliche Personen im wehrdienstfähigen Alter bei der Einreise oder bei Kontrollstellen innerhalb des Landes leicht, schon nach äußerlichen Kriterien vornehmbar ist, und zwar sowohl bei der Einreise an den Grenzübergangstellen wie aber auch an einer der angesprochenen Kontrollstellen (vgl. auch Auswärtiges Amt vom 02.01.2017 an VG Düsseldorf; SFH, Syrien: Mobilisierung in der syrischen Armee vom 28.03.2015; BFA S. 24). Zumindest droht eine vorübergehende Festnahme, auch wenn der Betroffene dann ohne Bestrafung direkt einer militärischen Einheit zugeführt werden sollte (vgl. hierzu Immigration and Refugee Board of Canada vom 19.01.2016; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 5).
55 
Schon bei der ersten Befragung ist nach den obigen Ausführungen mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, nämlich Misshandlung und Folter zu rechnen. Dass hier nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass alle Einreisenden ausnahmslos betroffen sein werden (vgl. Deutsches Orient Institut vom 01.02.2017 an Hess.VGH), ist für die Erfüllung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit unerheblich. Der Umstand, dass der hier infrage kommende Personenkreis infolge der konkret bestehenden Wehrpflicht in besonderer Weise in das Visier der Sicherheitsorgane gekommen ist, wird dazu führen, dass er auch hervorgehobenem Maße gefährdet ist, wovon insbesondere UNHCR ausgeht (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26 und UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24 ff.). Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Betroffenen in Fahndungslisten aufgenommen werden, die an die Grenzübergänge verteilt werden, so dass schon bei der Einreise eine Identifizierung und Verhaftung bzw. Zwangsrekrutierung wahrscheinlich ist (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 24; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Nach UNHCR („Illegal Exit“, S. 4) umfasst die Kontrolle bei den Einreisen regelmäßig eine Prüfung, ob die Betreffenden mit der entsprechenden Erlaubnis ausgereist waren. Ferner existieren mobile „Checkpoints“, die ebenfalls im Besitz der Listen sind und bei einem Datenbankabgleich feststellen können, ob der Betreffende seinen Wehrdienst abgeleistet hat bzw. als Reservist rekrutiert werden soll; auch hier kommt es zu Verhaftungen, Verschleppungen bzw. unmittelbarer Zwangsrekrutierung (BFA S. 22 ff.); Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 7; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 21). Das syrische Militär hat gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal, da es von circa 325.000 Soldaten bei Ausbruch des Krieges auf wohl etwa 150.000 Soldaten dezimiert worden ist (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 9; Finnisch Immigration Service, a.a.O., S. 6); um Wehrdienstverweigerer und Reservisten zu rekrutieren und so den Personalbedarf zu decken, finden immer wieder Durchsuchungen, Razzien und Massenverhaftungen statt (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst, 30.11.2016 S. 4 f.; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; BFH S. 23). Auch ist für viele bürokratische Akte, etwa für Heiratszertifikate, eine Bewilligung des Militärs erforderlich (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014). Daher ist es für Wehrdienstverweigerer fast unmöglich, nach Syrien einzureisen oder gar in den von der Regierung kontrollierten Gebieten zu leben und sich dort zu bewegen, ohne aufgegriffen zu werden (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
56 
3. Im Falle des Klägers liegt auch der für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche Verknüpfung der Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG vor.
57 
Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel lässt sich feststellen, dass die den syrischen Männern im wehrdienstfähigen Alter drohenden staatlichen Maßnahmen, die das übliche Maß einer strafrechtlichen Ahndung eines Wehrdienstentzugs auch in Kriegszeiten deutlich übersteigen, an eines der in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Merkmale anknüpfen.
58 
Eine realitätsnahe Bewertung des Charakters des gegenwärtigen syrischen Regimes und seiner bereits vorstehend eingehend beschriebenen Handlungen und Aktivitäten gegenüber seiner Bevölkerung lässt nach Überzeugung des Senats keine andere Deutung zu, als dass diese nach der allein maßgeblichen objektiven und nicht nach der auf die höchst subjektiven Motive der jeweiligen Akteure abstellenden Betrachtungsweise an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne von jedenfalls § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpfen und im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG die erforderliche Verbindung gegeben ist.
59 
Die gegenläufige Auffassung der Beklagten und insbesondere des OVG Nordrhein-Westfalen (vgl. Urteil vom 21.02.2017 - 2316/16.A -, juris), des OVG Rheinland-Pfalz (vgl. Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG -, juris) wie auch des OVG des Saarlandes (Urteil vom 11.03.2017 - 2 A 215/17 -, juris) würdigt den Charakter des Regimes nach Auffassung des Senats nicht zutreffend.
60 
Das Regime ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht nur in besonderes abstoßender Weise über das Lebensrecht und die Menschenwürde der Personen, die in die Hände seiner Exekutoren fallen, hinwegsetzt, sondern auch bereits seit längerem eine durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg vornehmlich auch gegen die Zivilbevölkerung führt, die in den von einer anderen Bürgerkriegspartei gehaltenen Gebieten, d.h. auf der „anderen Seite“ steht (vgl. nur beispielhaft die ins Einzelne gehende Darstellung und Auflistung der General Assembly in ihrem „Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 02.02.2017 und vom 11.08.2016; vgl. auch Human Rights Watch, „Syria: Coordinates Chemical Attacks on Aleppo - Security Council should impose Sanctions“ vom 13.02.2017; BFA S. 27).
61 
Hinzu kommt schließlich, dass das Regime mittlerweile - wenn nicht schon seit vielen Jahren - vollständig von einem „Freund-Feind-Schema“ als alles durchziehendes Handlungsmuster geprägt ist, das vereinfacht und etwas plakativ ausgedrückt damit beschrieben werden kann, dass „jeder, der nicht für mich ist, gegen mich ist“, jedenfalls solange als er nicht vom Gegenteil überzeugt hat (vgl. hierzu auch Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015: Arbeitsverweigerung).
62 
Auch weiterhin (vgl. bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 A 11 S 2046/13 -, juris) vermag der Senat kein realistisches anderes Erklärungsmuster für das Vorgehen der syrischen Grenz- und Sicherheitsbehörden erkennen als dass hier an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal angeknüpft wird.
63 
Schon die besondere Intensität der real drohenden Verfolgungshandlungen indizieren hier die bestehende Gerichtetheit auf ein flüchtlingsrelevantes Merkmal hin (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -, NVwZ 2009, 1035 <1036>). Eine abweichende Einordnung könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, fernliegt.
64 
Der Annahme der Gerichtetheit steht es nicht entgegen, dass die Maßnahmen bei der Einreise möglicherweise im Rahmen der Aufklärung des zunächst allein bestehenden Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung zur Anwendung gelangen. Eine solche Differenzierung nach „Vorfeldmaßnahmen“ und einer „endgültigen“ Verfolgung nach Erhärtung des Verdachts einer abweichenden Gesinnung ist weder in der Anerkennungsrichtlinie, noch in der GFK noch im Asylgesetz angelegt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. sowie zu Art. 16a Abs. 1 GG kennt diese ebenfalls nicht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 -, NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 -, InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6).
65 
Sie ist auch inhaltlich nicht zu rechtfertigen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses - gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils - von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht.
66 
Dieser Schluss drängt sich bei Personen, die sich dem Wehrdienst durch Ausreise entzogen haben, bereits deswegen auf, weil ihr Verhalten aus Sicht des syrischen Regimes - und vermutlich auch bei objektiver Betrachtungsweise tatsächlich - zur Schwächung des totalitären Machtapparats in seinem Existenzkampf beigetragen hat. Bestehen ausgehend von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach realistischer Lagebeurteilung keine naheliegenden Deutungsmöglichkeiten für eine fehlende Gerichtetheit, so ist - auch unter Berücksichtigung der Beweisnot der Betroffenen und der humanitären Zielsetzungen des Flüchtlingsrechts - von der naheliegenden und realistischen Alternative auszugehen. Aussagekräftige verwertbare Erkenntnismittel, die es nahe legen könnten, andere Schlussfolgerung auch nur in Betracht zu ziehen, existieren nicht; im Gegenteil: Das angesprochene „Freund-Feind-Schema“ ist seither nur noch viel deutlicher zutage getreten.
67 
Hinsichtlich der Verfolgungsgefahr für Reservisten der syrischen Armee unmittelbar bei einer Wiedereinreise nach einem längeren Auslandsaufenthalt, während dem um internationalen Schutz nachgesucht wurde, gilt überdies: Zwar rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund und wendet auch die strafrechtlichen Regelungen bezüglich Wehrdienstentziehung und Desertion vermutlich mehr oder weniger unterschiedslos auf alle syrischen Wehrpflichtigen an, so dass nicht bereits im Hinblick auf eine insoweit diskriminierende Praxis ein Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG vorliegt. Dies Feststellung schließt aber die Annahme einer gerichteten Verfolgung ebenso wenig aus wie der Umstand, dass allen Personen, die sich der Wehrpflicht entziehen, in Syrien von Rechts wegen Verfolgung deshalb droht, weil sie mit der Dienstverweigerung eine Straftat begangen haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 6.80 -, NVwZ 1982, 41; vom 28.02.1984 - 9 C 81.81 -, InfAuslR 1985, 22; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83 -, NVWZ 1986, 459), die der Senat zugrunde legt, begründet die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung für sich genommen zwar noch nicht ohne weiteres die Asylerheblichkeit; für das Unionsrecht gilt nichts anderes (vgl. Marx. a.a.O., S. 73 ff. und EuGH, Urteil vom 26.02.2015 - C-472/13 - NVwZ 2015, 575 Rn. 35).
68 
Auch wenn die politische Gerichtetheit einer generellen Maßnahme oder Regelung wie der Verpflichtung zum Waffendienst nicht immer offen zutage liegt, kann gleichwohl einer solchen Wehrpflicht neben ihrer allgemeinen - flüchtlingsrechtlich nicht einschlägigen - Zielrichtung auch eine Verfolgungstendenz innewohnen; eine solche kann etwa darin liegen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. Anhaltspunkte für derartige Intentionen können sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung sowie die menschrechtswidrige Art und Weise ihre Umsetzung sind wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts etwa daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden.
69 
Deswegen ist gerade im Falle des totalitären syrischen Regimes nach der gegenwärtigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass die drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentzugs oder Desertion nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts dient, vielmehr ist die Bestrafung des Wehrdienstentzugs auch auf eine vermutete regimefeindliche Gesinnung gerichtet, die - auch zum Zwecke der Abschreckung anderer - eliminiert werden soll. In besonderem Maße gilt dies vor dem Hintergrund der mit den Ermittlungen und Verhören einhergehenden Misshandlungen.
70 
Bei dem Regime von Baschar al-Assad handelt es sich nicht nur seit vielen Jahren um ein menschenverachtendes diktatorisches System, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft (vgl. schon den Senatsbeschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris). Die Mobilisierung und Rekrutierung der syrischen Land- und Luftstreitkräfte erfolgen hier gerade nicht zu dem Zweck, einen kriegerischen Konflikt mit einem auswärtigen dritten Staat auszutragen und zu ermöglichen, sie dienen vielmehr der Bekämpfung der oppositionellen Rebellengruppen im eigenen Land; wer sich an diesem existentiellen Kampf der Staatsmacht gegen Teile der eigenen Bevölkerung nicht beteiligt, sondern sich trotz des bekannt großen Personalbedarfs in der syrischen Armee seiner Wehrpflicht - zumal durch eine illegale Flucht ins Ausland - entzieht, manifestiert damit nach außen sichtbar seine Illoyalität gegenüber dem syrischen Staat in besonderer Weise, auch wenn eine solche in concreto gar nicht gegeben sein sollte.
71 
Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), es sei syrischen Machthabern bekannt, dass die Flucht aus Syrien oftmals nicht durch politische Gegnerschaft zum Staat, sondern durch Angst vor dem Krieg motiviert sei, steht angesichts des vorgenannten Befundes dem nicht entgegen. Vielmehr lassen die vorliegenden Erkenntnismittel nur den Schluss zu, dass die Verfolgung von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern dass es sich hierbei auch ganz maßgeblich um Verfolgung aufgrund der und Vergeltung der (bis zum Beweis des Gegenteils unterstellten) regimekritischen politischen Überzeugung der Betreffenden handelt (so auch BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 - 21 B 16.30372 -, juris; Österr. BVwG, Entscheidung vom 22.03.2017 - W221 2134862-1/E; vgl. auch, wenn auch auf zusätzliche Risikogesichtspunkte abstellend, Schweizer. BVerwG, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013). Der Ansatz des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz, wonach „die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt“, eine Verfolgung nicht zu begründen vermögen (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), steht der Auffassung des Senats zur kausalen Verknüpfung von Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung nicht entgegen. Denn bei den drohenden Menschenrechtsverletzungen geht es nicht um „allgemeine Lasten und Beschränkungen“, sondern um gezielte Eingriffe zur Ahndung einer - den Betroffenen jedenfalls zugeschriebenen - oppositionellen Überzeugung und zur Disziplinierung der übrigen, in Syrien verbliebenen Bevölkerung.
72 
Ebenso vermag der Senat den Schluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes nicht nachzuvollziehen, wonach gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee spreche (Urteil vom 02.02.2017 - 2 A 515/16 -, juris Rn. 31). Aus diesem Umstand könnte sich allenfalls ein Interesse des syrischen Staates, nicht alle Wehrpflichtigen einer langjährigen Haftstrafe zuzuführen, ableiten lassen. Abgesehen davon, dass auch dieser Ansatz spekulativ ist und ein nach rationalen Maßstäben handelndes Regime unterstellt, verhält er sich nicht zu der Gefahr der vorherigen schwerwiegenden Misshandlung oder Folter unmittelbar nach der Ergreifung.
73 
4. Dem Kläger steht schließlich keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG offen. Die Deutsche Botschaft Beirut (Auskunft vom 03.02.2016; vgl. auch Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017) geht davon aus, dass grundsätzlich alle Regionen in Syrien vom Bürgerkrieg betroffen sind, wenn nicht durch direkte Kampfhandlungen, dann indirekt (Kriegswirtschaft, Einzug ins Militär, marodierende Banden, beispielsweise in einigen Vororten von Damaskus etc.).
74 
Selbst wenn man unterstellen wollte, dass es dennoch Gebiete innerhalb Syriens gibt, die als zumutbare Fluchtalternative dienen könnten, lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass der Kläger ein solches Gebiet in zumutbarer Weise und sicher erreichen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. SFH, Rekrutierung durch die syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformation Syrien: Militärdienst, 30.11.2016) und sie sind derart verbreitet, dass mehr dafür als dagegen spricht, dass der Kläger, wenn er nicht schon beim Versuch der Einreise nach Syrien erfasst und ergriffen wird, an einem solchen Checkpoint aufgegriffen wird.
75 
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG; Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
18 
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat sie zu Recht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
19 
I. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht (vgl. § 3e AsylG).
20 
Ob die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3b AsylG) einerseits und den erlittenen oder bevorstehenden Rechtsgutsverletzungen bzw. dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen andererseits besteht, ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit festzustellen (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 Rn. 24). Die Verknüpfung ist also anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13). Es kommt demzufolge nicht auf die ohnehin kaum feststellbaren (künftigen) subjektiven Vorstellungen der jeweils für den Akteur im Sinne des § 3c AsylG handelnden Person(en) an (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 a.a.O.). Hier gilt nichts anderes als für das nationale Asylrecht nach Art. 16a GG (vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 -, BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.>; vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <334 f.>; vom 10.12.1991 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 und vom 11.02.1992 - 2 BvR 1155/91 -, InfAuslR 1992, 152 <154>).
21 
Diese Verknüpfung geht grundsätzlich auch nicht verloren, wenn mit der Verfolgungshandlung weitere, flüchtlingsrechtlich neutrale Zwecke verfolgt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat zum nationalen Asylrecht schon entschieden, dass auch in Fällen, in denen der Staat das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt, eine staatliche Verfolgung vorliegen kann (BVerfG, Beschluss vom 10.07. 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315-353; Beschluss vom 12.07.1993 - 2 BvR 855/93 -, juris). Für das unionsrechtliche und das internationale Flüchtlingsrecht nach der Genfer Konvention gilt nichts anderes (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24/08 -, BVerwGE 135, 252 Rn. 16).
22 
Soweit in Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Intensität der flüchtlingsrelevanten Zielrichtung des Handelns besteht - die Maßstäbe reichen von einer „Relevanz“ bzw. „contributing factor(s)“ bis hin zu „essential and significant reason(s)“ (vgl. Göbel-Zimmermann/Hruschka, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 3a AsylG Rn. 19; Hathaway, International Refugee Law: The Michigan Guidelines on Nexus to a Convention Ground, 2002, 210 <217> Rn. 13; Guide to Refugee Law in Australia: Chapter 5 - AAT, September 2016, http://www.aat.gov.au) - ist dies nicht entscheidend, wenn der flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgrund nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass auch die Verfolgung entfiele (sog. „but for-test“, vgl. Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3a AsylG Rn. 53, m.w.N.), da in solchen Fällen die erforderliche Intensität nach allen Auffassungen vorliegt.
23 
Es kommt zuletzt nicht darauf an, ob der Verfolgte diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG und Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EZ des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. L 337 S. 9)– im Folgenden Anerkennungsrichtlinie). Hierher rechnet auch der Fall, dass der Betreffende seitens des Verfolgers nur verdächtigt wird, ein solches Merkmal zu erfüllen und die Verfolgungsmaßnahme hier ansetzt, um eine entsprechende Feststellung zu treffen (vgl. hierzu schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris, m.w.N.). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine (bestimmte) Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
24 
Von diesen Maßstäben ausgehend und unter Berücksichtigung des prognostischen Charakters der Frage nach einer begründeten Furcht des Schutzsuchenden bei dessen Rückkehr sowie dessen sachtypischen Beweisnotstandes - der gerade in Bezug auf die Frage nach der Motivationslage des (potentiellen) Verfolgers offen zu Tage liegt - kann die Zielrichtung des Verfolgers, die unbeschadet der dargestellten objektivierten Betrachtungsweise als Intention ein subjektives Merkmal darstellt, aus den objektiven Gegebenheiten, so wie sie sich aktuell darstellen und aller Voraussicht nach entwickeln werden, zu folgern sein.
25 
So hat das Bundesverfassungsgericht zur Gerichtetheit in Asylfällen schon ausgeführt, dass auch die Verfolgung von Straftaten, die sich - zunächst - nicht als politische Verfolgung darstellt, in politische Verfolgung umschlagen kann, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Es hat daraus die Vermutungsregel zu Gunsten einer (politischen) Verfolgung abgeleitet, wenn der Flüchtling eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher - nicht politischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche (Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O.).
26 
Nach Auffassung des Senats gilt für den unionsrechtlichen Flüchtlingsschutz nichts anderes. Weder Art. 9 noch Art. 10 der Anerkennungsrichtlinie lassen einen Ansatz für eine abweichende Sichtweise erkennen. Die Funktion des völkerrechtlichen wie auch unionsrechtlichen effektiven Flüchtlingsschutzes ist darauf gerichtet, politische und soziale Erscheinungsformen staatlichen wie nicht-staatlichen Handelns in der objektiven Lebenswirklichkeit gesamtheitlich zu bewältigen, was eine Fragmentierung in vielfältige und unüberschaubare individuelle Sichtweisen bzw. Handlungsmotive der verschiedenen Akteure verbietet; der Fokus der Betrachtung muss daher darauf gerichtet sein, wie sich der Eingriff in der politischen wie sozialen Realität darstellt und wie er diese beeinflusst bzw. auf diese einwirkt. Anders ausgedrückt: Entscheidend ist, wie der oder die Verfolgte die jeweilige auf sich bezogene Maßnahmen hinsichtlich ihrer Zielrichtung nach objektivierter Betrachtungsweise einschätzen kann oder konnte.
27 
Die Diskussion darüber, ob auf die Intention des potentiellen Verfolgers abzustellen sei oder nicht (vgl. dazu Dörig, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, S. 1182 f.) geht daher nach Auffassung des Senats ins Leere, soweit sie als Gegensatz von objektiver und subjektiver Gerichtetheit zu verstehen sein sollte.
28 
Und auch eine Beweisregel, die es zur Voraussetzung machte, dass die Intention stets für sich genommen festzustellen sei, mit der Folge, dass deren Ableitung aus den feststellbaren objektiven Gegebenheiten ausscheiden müsste, stünde nach all dem nicht im Einklang mit der Zweckrichtung des Flüchtlingsrechts. Da die Chancen des Schutzsuchenden, die reale Gefahr von Verfolgung direkt zu belegen eher die Ausnahme als die Regel ist, kann eine solche auch alleine auf verlässliche Herkunftslandinformationen zu stützen bzw. daraus abzuleiten sein (so treffend Hathaway/Foster, a.a.O., S. 122, m.w.N.). Für die Feststellung einer Verfolgungsintention kann nichts anderes gelten.
29 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vorn solcher Verfolgung bedroht ist, Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie. In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., S. 332 ff, 339 ff.). Erst in dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur. Für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3b Abs. 2 AsylG.
30 
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Ist der Schutzsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
31 
Eine so verstandene wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann aber gerade auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der - auch deutlich - unter 50 v.H. liegt (vgl. auch Berlit, ZAR 2017, 110 < 115 f.>). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen in ihrer Bedeutung überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Allerdings reicht die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung noch nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen.
32 
Ergeben alle Umstände des Einzelfalles jedoch die „tatsächliche Gefahr“ (sog. „real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände im Übrigen auch immer die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen entscheidungserheblichen und motivationsbildenden Unterschied machen, ob er etwa lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (schon BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 <169 f.> m.w.N. und erneut Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, AuAS 2008, 118). Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen, auf die bei der Bewertung der drohenden Gefahr abzustellen ist (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389).
33 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gewonnen haben muss.
34 
In diesem Zusammenhang sehen sich die Rechtsanwender nicht selten mit der Situation konfrontiert, dass keine relevante und größere Zahl von Referenzfällen zu bestimmten Verfolgungsszenarios bekannt geworden ist und auch individualisierbar belegt werden kann. Es handelt sich um eine für den Flüchtlingsschutz grundlegende und nicht untypische Problemstellung. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Regimen, die weitgehend außerhalb rechtstaatlicher und menschrechtlicher Grundsätze operieren und bei denen eine menschenverachtende Verfolgungspraxis ein allgegenwärtiges Phänomen darstellt, Folterungen und Misshandlungen nach außen hin nicht zuverlässig und umfassend dokumentiert werden können, sondern sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, wenn nicht gar im Verborgenen in einer Grauzone abspielen.
35 
Unter solchen Umständen kommt den in den einzelnen Erkenntnisquellen dargelegten Berichten zur allgemeinen Menschenrechts- und Verfolgungssituation in dem betreffenden Herkunftsland hervorgehobene Bedeutung zu. Aus ihnen sind Schlussfolgerungen auch auf die den Einzelnen treffende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ziehen. Demgemäß können auch allgemeine Erkenntnisse zur Verfolgungssituation eines Landes in Verbindung mit einer nur begrenzten Anzahl bekannt gewordener Verfolgungsfälle im Einzelfall die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass in Wahrheit die Zahl der tatsächlichen Verfolgungsfälle erheblich über der der dokumentierten Sachverhalte liegt bzw. für den Zeitpunkt der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland liegen wird. Dagegen kann eine Flüchtlingsanerkennung nicht ausschließlich von einer nach Person und Schicksal der Opfer genau spezifizierten Auflistung von konkreten Verfolgungsfällen abhängen. Denn dies würde bedeuten, dass eine Verfolgungswahrscheinlichkeit für solche Länder zu verneinen wäre, deren Repressionspraxis zwar allgemein bekannt ist, aber nicht in ihren Abläufen im Einzelnen offen zu Tage liegt, weil sie naturgemäß abgeschirmt im Geheimen stattfindet und - oftmals um der Aufrechterhaltung eines gewissen Scheines - das Licht der Öffentlichkeit scheut, weshalb auch konkreten Opfer nach Person und Zahl weitgehend unbekannt bleiben müssen.
36 
II. Gemessen hieran droht dem 1976 geborenen Kläger, der bereits Wehrdienst geleistet hat, aber als Reservist nach wie vor wehrpflichtig ist, Verfolgung, weil er bei einer Rückkehr konkret von Strafverfolgung oder Bestrafung bedroht ist, zumindest aber muss er mit menschenwidriger Behandlung oder Folter bei Verhören bzw. Befragungen durch den syrischen Staat rechnen, weil er sich durch eine unerlaubte Ausreise aus Syrien und einem Verbleib im Ausland dem Militärdienst entzogen hat.
37 
1. In Syrien besteht Militärdienstpflicht, die grundsätzlich für alle syrischen Männer unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund (vgl. zu alledem ausführlich SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2914; Finnish Immigration Service, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups supporting Syrian Regime and armed Opposition v. 23.08.2016) wie auch für Palästinenser, die in Syrien leben (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien - im Folgenden BFA - vom 05.01.2017, S. 37; Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017), gilt; auch Oppositionelle werden einberufen. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren. Die Wehrpflicht dauerte in der Vergangenheit bis zum Alter von 42 Jahren; mehrere Auskünfte verweisen allerdings auf Quellen, wonach die Wehrpflicht in der Praxis gegenwärtig bis zum 50. bzw. sogar bis zum 52. Lebensjahr ausgeweitet wird (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8).
38 
Ausnahmen von der Wehrpflicht werden - von Bestechungen abgesehen - in eng begrenzten Fällen gemacht, so etwa bei Personen jüdischen Glaubens oder bei Untauglichkeit. Gesetze und Regelungen über Ansprüche auf Aufschub vom Antritt des Grundwehrdienstes etwa für Einzelkinder oder Studenten - hier je nach Art des Studiums gestaffelt, regelmäßig höchstens bis 27 Jahre (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015). Die Regelungen gelten wohl teilweise zwar formal weiter, in der Praxis finden sie allerdings aufgrund des stark zunehmenden Personalbedarfs nur mehr sehr eingeschränkt und zunehmend willkürlich Anwendung (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 3; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 9).
39 
Ebenso geraten zunehmend auch noch nicht 18 Jahre alte Jugendliche vornehmlich an den zahlreichen im ganzen Land verstreuten Checkpoints in den Blick der Sicherheitskräfte und des Militärs und laufen Gefahr, Repressalien ausgesetzt zu werden. Allerdings sind, was die Rekrutierung minderjähriger Syrer für das syrische Militär und deren Ausmaß betrifft, nicht völlig deckungsgleich, was aber hier keiner Vertiefung bedarf (Danish Refugee Council, „Syria: Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty an Recruitment to the YPG“, September 2015, S. 11; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 4; BFA S. 23 f.; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
40 
Es besteht keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern bzw. zivilen Ersatzdienst zu leisten (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014). Entlassungen aus dem Militärdienst sind nach den verwerteten Erkenntnismitteln seit dem Jahre 2011, dem Beginn der militärischen Auseinandersetzung eher zur Ausnahme geworden; viele Wehrpflichtige sind über Jahre hinweg in der Armee tätig und oftmals wäre Desertion die einzige Möglichkeit, den Militärdienst zu beenden (BFA S. 24; Finnish Immigration Service, a.a.O, S. 12.).
41 
Gediente Wehrpflichtige müssen nach Beendigung des Wehrdienstes als Reservisten jederzeit abrufbar sein (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015). In der Vergangenheit wurden alle Männer bis zum Alter von 42 Jahren als Reservisten geführt; aufgrund der prekären Personalsituation gibt es gegenwärtig kein festgesetztes Höchstalter für die Aktivierung von Reservisten mehr, vielmehr werden nach den vorliegenden Auskünften im Einzelfall - je nach Ausbildung und bisheriger Tätigkeiten für die Armee - Männer im Alter von bis zu 50 oder sogar 60 Jahren erneut zum Dienst verpflichtet (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
42 
Seit dem Herbst 2014 werden Reservisten in großem Stile eingezogen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Die syrische Armee hat nach mehreren Quellen mit örtlichen Generalmobilmachungen begonnen, neue Checkpoints etabliert und Razzien im privaten und öffentlichen Bereich intensiviert, um Reservisten zu finden, die sich bislang dem Dienst entzogen haben. Die Vorgehensweise wird als zunehmend aggressiv beschrieben (vgl. UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 5). In wenigen Monaten wurden zehntausende Personen (zwangs-)rekrutiert und es existieren Berichte, wonach im Frühjahr 2015 Listen mit über 70.000 Namen von Personen, die als Reservisten eingezogen werden sollen, an den Checkpoints der syrischen Armee zirkulierten (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 6 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Bei der Einberufung von Reservisten, die auf Grundlage des Kriegsrechts innerhalb weniger Tage erfolgen kann, wird offenbar keine Unterscheidung zwischen Anhängern bzw. Unterstützern des Regimes und potentiellen Oppositionellen gemacht (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014).
43 
Männer im Alter zwischen 18 und 42 Jahren dürfen seit März 2012 nur mit einer offiziellen Beglaubigung des Militärs, mit der bescheinigt wird, dass sie vom Militärdienst freigestellt sind, das Land verlassen; seit Herbst 2014 besteht darüber hinaus für Männer, die zwischen 1985 und 1991 geboren sind, ein generelles Ausreiseverbot (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; Deutsches Orient Institut, Auskunft an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016; UNHCR, „Illegal Exit“ from Syria and Relates Issues for Determining the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Syria, February 2017; S. 6 - im Folgenden „Illegal Exit“ - S. 3 f.). Jungen Männern vor Erreichen des 18. Lebensjahres wird die Ausreise erschwert, indem Reisepässe nur für eine kurze Gültigkeitsdauer ausgestellt werden (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016 S. 4 f.; BFA S. 24).
44 
Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 8 f.). Nach dessen Artikel 98 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Artikel 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
45 
Nach der sich dem Senat bietenden Erkenntnislage lässt sich feststellen, dass nach der Ergreifung einer Person, die sich der Einberufung oder Mobilisierung entzogen hat, die Untersuchungsmaßnahmen und eine sich möglicherweise anschließende, auch längere Haft mit Folterungen einhergehen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Es gibt Quellen, wonach Rekruten, denen das Regime nicht traut, mitunter in den Kampfeinsatz an die Front geschickt werden, um ihre Motivation zu kämpfen zu erhöhen (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 10). Männer, die von Sicherheitsdiensten aufgegriffen werden, werden meistens vom militärischen Sicherheitsdienst oder dem Luftwaffensicherheitsdienst verhaftet. Das Office of United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) hat bei beiden Sicherheitsdiensten Fälle von Folter dokumentiert. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen werden, erhalten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und werden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt.“ (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee,28.03.2015, S. 3 f.).
46 
2. Die Überzeugung des Senats, dass Rückkehrern im wehrdienstfähigen Alter im Zusammenhang mit den drohenden Ermittlungen und Bestrafungen auch Folterungen drohen, gründet sich neben den zitierten Quellen auch auf die folgenden Erkenntnisse, die sich auf die allgemeine Situation bei Inhaftierungen beziehen.
47 
Es lässt sich feststellen, dass die syrischen Sicherheitsbehörden weit außerhalbrechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Grundsätze operieren und eine menschenverachtender Verfolgungspraxis an den Tag legen (von den durchgängig beschriebenen unfairen Verfahren, wenn einmal ein Gericht befasst sein sollte, vgl. UNHCR, Ergänzende aktuell Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 9).
48 
Aus mehreren Berichten von amnesty international lässt sich seit Beginn des Bürgerkriegs eine endemische Zunahme von Misshandlungen und Folter einschließlich Verschwindenlassen der Betroffenen entnommen werden (vgl. ai, „Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria“, August 2011, S. 9 ff. und nunmehr auch ai, „It breaks the human“, torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 12 ff. und passim bzw. ai „Human Slaughterhouse“ Februar 2017). Es handelt sich um Praktiken, die von Seiten des syrischen Regimes seit Jahrzehnten systematisch eingesetzt werden, um jede Opposition und jeden Widerstand zu unterdrücken bzw. zu zerschlagen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 05.01.2017 – im Folgenden BFA – S. 19 f.) Je mehr das syrische Regime in Bedrängnis geriet und destabilisiert wurde, desto stärker und rücksichtloser wurde gegenüber wirklichen und vermeintlichen Regimegegner vorgegangen, um über die ohnehin schon von den Geheimdiensten beobachtete und unterwanderte Exilszene (vgl. hierzu etwa Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern, S. 263 ff.). So wird übereinstimmend in den verwerteten Erkenntnismitteln davon berichtet, dass Folter, Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen seit Jahren und bis heute zu den gängigen Praktiken der syrischen Sicherheitsorgane gehören. Hiervon sind nicht nur unmittelbar Regimekritiker oder Regimegegner betroffen, sondern auch unbeteiligte, die als Geiseln genommen werden und von den Informationen erpresst werden sollen, namentlich sind in beträchtlichem Ausmaß auch Familienangehörige, selbst kleinere Kinder betroffen (vgl. etwa SFH, „Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 25.01.2017 zu Syrien: Reflexverfolgung“ mwN; BFA S. 27). Insbesondere nach der bereits angesprochenen Dokumentation von amnesty international („It breaks the human“ von 2016; vgl. auch den Report Syrien 2016/2017, S. 6 f.) sind mindestens 17.723 Personen zwischen den Jahren 2011 und 2015 in Haft auf abscheuliche Weise getötet worden, wobei allerseits nachvollziehbar davon ausgegangen wird, dass die Dunkelziffer beträchtlich ist, weshalb die Zahl erheblich höher sein muss.
49 
In - abstoßender Weise - beeindruckend ist die Dokumentation von Human Rights Watch „If the Dead Could Speak – Mass Deaths and Torture in Syria’s Facilities“ vom 16. Dezember 2015, in der eine Vielzahl der 53.275 sog. „Caesar“-Photos, die im August 2013 von einem Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt worden waren. Human Rights Watch erhielt alle Bilder von der Syrischen Nationalbewegung, einer regierungskritischen, politischen Gruppe, die die Fotos direkt von „Caesar“ bekommen hatte. Der Bericht konzentriert sich auf 28.707 dieser Fotos, die allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene zeigen, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben sind. Die restlichen Fotos zeigen Orte, an denen Angriffe verübt wurden, oder Leichen, die namentlich identifiziert sind, darunter überwiegend Regierungssoldaten, bewaffnete Kämpfer und bei Angriffen, Explosionen oder Attentaten getötete Zivilisten.
50 
Das U.S. State Department berichtet auch im neuesten „Country Report on Human Rights Practices Syria 2016“ (vgl. auch schon den entsprechenden Bericht für das Jahr 2015) ausführlich und umfassend über - weiter zunehmende - schwerste Menschenrechtsverstöße in Syrien. Willkürliche und extralegale Tötungen, Folterungen und Verschwindenlassen von Personen jeder Herkunft und ungeachtet des konkreten Hintergrundes (eingeschlossen von - nicht nur nächsten - Familienangehörigen) sind hiernach an der Tagesordnung. In besonderem Maße werden auch hervorgehoben die weit verbreiteten sexuellen Erniedrigungen bis zu Vergewaltigungen (von Frauen wie Männern), die zu gängigen Praktiken geworden sind, um die Opfer zu brechen und aussagebereit zu machen. Dieses findet nicht nur statt in eigentlichen Gefängnissen, sondern auch in gleichem Maße in sonstigen Gewahrsams- und Verhörzentren der Geheimdienste, aber auch von militärischen Verbänden, wie v.a. der Luftwaffe (vgl. auch SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 26.10.2015: Geheimdienst; BFA S. 17). Ein hervorzuhebender Anlass dieser Maßnahmen sind die Festnahmen an den landesweit eingerichteten Kontrollstellen, vor denen die Bevölkerung panische Ängste haben soll, weil grundsätzlich jeder ohne Ansehen der Person hiervon betroffen sein kann (vgl. etwa den Bericht der „Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 11.08.2016, Rz. 77 f.) und häufig die betroffenen Personen verschwinden und nie mehr wieder gesehen werden.
51 
Die im Jahr 2014 und wohl auch in den Jahren 2015 und 2016 verkündeten Amnestien, die erkennbar auch darauf abzielten, die Zahl der Rekrutierungen zu erhöhen, wurden immer davon abhängig gemacht, dass sich die Betreffenden innerhalb einer bestimmten Frist stellten, weshalb diese für die hier interessierende Fragestellungen nicht relevant sind (vgl. SFH, „Umsetzung der Amnestien“ 14.04.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 12 f.; Accord vom 22.07.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 19; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24).
52 
Bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel ist der Senat davon überzeugt, dass syrische Männer im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen haben.
53 
So drohen denjenigen, die sich Einberufung oder Mobilisierung entziehen, bei einer Ergreifung Untersuchungen und Festnahmen teilweise mit längerer Haft und Folter (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Einige Quellen sprechen im Zusammenhang mit Desertion von lebenslanger Haft und Exekutionen (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23.03.2017, S. 10 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Ferner gibt es Berichte von Personen, die als Rückkehrer im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst befragt und dauerhaft verschwunden sind (Dt. Botschaft Beirut an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 03.02.2016). Ferner gibt es Hinweise darauf, dass alle, die sich dem Regime entziehen - wie es Wehrdienstpflichtige tun, zumal wenn sie illegal ins Ausland reisen -, als Oppositionelle und je nach bisheriger Funktion als „Landesverräter“ betrachtet werden (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Andere Quellen halten Männer im wehrpflichtigen Alter für besonders gefährdet, bei der Einreise über den Flughafen oder auf dem Landweg Misshandlungen durch das Sicherheitspersonal zu erfahren, insbesondere wenn sie ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet haben; so spricht eine Quelle davon, „military-aged men [are] the most vulnerable group in terms of treatment by Syrian authorities at points of entry“ (Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Auch diejenigen, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird, werden als Gegner des Regimes betrachtet und haben gewaltsames Verschwinden, Haft und Folter zu gewärtigen (Amnesty International, „Between prison and the grave“, S. 44). Schließlich ergibt sich aus zahlreichen Quellen, dass für Desertion und Wehrdienstentzug mitunter auch Familienangehörige haftbar gemacht, zur Rechenschaft gezogen und unter Druck gesetzt werden (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 27; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 13).
54 
Die Wahrscheinlichkeit, den genannten Foltermaßnahmen unterworfen zu werden, ist deshalb beachtlich, weil die Identifizierung der Betroffenen als männliche Personen im wehrdienstfähigen Alter bei der Einreise oder bei Kontrollstellen innerhalb des Landes leicht, schon nach äußerlichen Kriterien vornehmbar ist, und zwar sowohl bei der Einreise an den Grenzübergangstellen wie aber auch an einer der angesprochenen Kontrollstellen (vgl. auch Auswärtiges Amt vom 02.01.2017 an VG Düsseldorf; SFH, Syrien: Mobilisierung in der syrischen Armee vom 28.03.2015; BFA S. 24). Zumindest droht eine vorübergehende Festnahme, auch wenn der Betroffene dann ohne Bestrafung direkt einer militärischen Einheit zugeführt werden sollte (vgl. hierzu Immigration and Refugee Board of Canada vom 19.01.2016; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 5).
55 
Schon bei der ersten Befragung ist nach den obigen Ausführungen mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, nämlich Misshandlung und Folter zu rechnen. Dass hier nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass alle Einreisenden ausnahmslos betroffen sein werden (vgl. Deutsches Orient Institut vom 01.02.2017 an Hess.VGH), ist für die Erfüllung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit unerheblich. Der Umstand, dass der hier infrage kommende Personenkreis infolge der konkret bestehenden Wehrpflicht in besonderer Weise in das Visier der Sicherheitsorgane gekommen ist, wird dazu führen, dass er auch hervorgehobenem Maße gefährdet ist, wovon insbesondere UNHCR ausgeht (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26 und UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24 ff.). Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Betroffenen in Fahndungslisten aufgenommen werden, die an die Grenzübergänge verteilt werden, so dass schon bei der Einreise eine Identifizierung und Verhaftung bzw. Zwangsrekrutierung wahrscheinlich ist (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 24; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Nach UNHCR („Illegal Exit“, S. 4) umfasst die Kontrolle bei den Einreisen regelmäßig eine Prüfung, ob die Betreffenden mit der entsprechenden Erlaubnis ausgereist waren. Ferner existieren mobile „Checkpoints“, die ebenfalls im Besitz der Listen sind und bei einem Datenbankabgleich feststellen können, ob der Betreffende seinen Wehrdienst abgeleistet hat bzw. als Reservist rekrutiert werden soll; auch hier kommt es zu Verhaftungen, Verschleppungen bzw. unmittelbarer Zwangsrekrutierung (BFA S. 22 ff.); Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 7; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 21). Das syrische Militär hat gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal, da es von circa 325.000 Soldaten bei Ausbruch des Krieges auf wohl etwa 150.000 Soldaten dezimiert worden ist (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 9; Finnisch Immigration Service, a.a.O., S. 6); um Wehrdienstverweigerer und Reservisten zu rekrutieren und so den Personalbedarf zu decken, finden immer wieder Durchsuchungen, Razzien und Massenverhaftungen statt (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst, 30.11.2016 S. 4 f.; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; BFH S. 23). Auch ist für viele bürokratische Akte, etwa für Heiratszertifikate, eine Bewilligung des Militärs erforderlich (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014). Daher ist es für Wehrdienstverweigerer fast unmöglich, nach Syrien einzureisen oder gar in den von der Regierung kontrollierten Gebieten zu leben und sich dort zu bewegen, ohne aufgegriffen zu werden (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
56 
3. Im Falle des Klägers liegt auch der für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche Verknüpfung der Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG vor.
57 
Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel lässt sich feststellen, dass die den syrischen Männern im wehrdienstfähigen Alter drohenden staatlichen Maßnahmen, die das übliche Maß einer strafrechtlichen Ahndung eines Wehrdienstentzugs auch in Kriegszeiten deutlich übersteigen, an eines der in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Merkmale anknüpfen.
58 
Eine realitätsnahe Bewertung des Charakters des gegenwärtigen syrischen Regimes und seiner bereits vorstehend eingehend beschriebenen Handlungen und Aktivitäten gegenüber seiner Bevölkerung lässt nach Überzeugung des Senats keine andere Deutung zu, als dass diese nach der allein maßgeblichen objektiven und nicht nach der auf die höchst subjektiven Motive der jeweiligen Akteure abstellenden Betrachtungsweise an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne von jedenfalls § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpfen und im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG die erforderliche Verbindung gegeben ist.
59 
Die gegenläufige Auffassung der Beklagten und insbesondere des OVG Nordrhein-Westfalen (vgl. Urteil vom 21.02.2017 - 2316/16.A -, juris), des OVG Rheinland-Pfalz (vgl. Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG -, juris) wie auch des OVG des Saarlandes (Urteil vom 11.03.2017 - 2 A 215/17 -, juris) würdigt den Charakter des Regimes nach Auffassung des Senats nicht zutreffend.
60 
Das Regime ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht nur in besonderes abstoßender Weise über das Lebensrecht und die Menschenwürde der Personen, die in die Hände seiner Exekutoren fallen, hinwegsetzt, sondern auch bereits seit längerem eine durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg vornehmlich auch gegen die Zivilbevölkerung führt, die in den von einer anderen Bürgerkriegspartei gehaltenen Gebieten, d.h. auf der „anderen Seite“ steht (vgl. nur beispielhaft die ins Einzelne gehende Darstellung und Auflistung der General Assembly in ihrem „Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 02.02.2017 und vom 11.08.2016; vgl. auch Human Rights Watch, „Syria: Coordinates Chemical Attacks on Aleppo - Security Council should impose Sanctions“ vom 13.02.2017; BFA S. 27).
61 
Hinzu kommt schließlich, dass das Regime mittlerweile - wenn nicht schon seit vielen Jahren - vollständig von einem „Freund-Feind-Schema“ als alles durchziehendes Handlungsmuster geprägt ist, das vereinfacht und etwas plakativ ausgedrückt damit beschrieben werden kann, dass „jeder, der nicht für mich ist, gegen mich ist“, jedenfalls solange als er nicht vom Gegenteil überzeugt hat (vgl. hierzu auch Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015: Arbeitsverweigerung).
62 
Auch weiterhin (vgl. bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 A 11 S 2046/13 -, juris) vermag der Senat kein realistisches anderes Erklärungsmuster für das Vorgehen der syrischen Grenz- und Sicherheitsbehörden erkennen als dass hier an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal angeknüpft wird.
63 
Schon die besondere Intensität der real drohenden Verfolgungshandlungen indizieren hier die bestehende Gerichtetheit auf ein flüchtlingsrelevantes Merkmal hin (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -, NVwZ 2009, 1035 <1036>). Eine abweichende Einordnung könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, fernliegt.
64 
Der Annahme der Gerichtetheit steht es nicht entgegen, dass die Maßnahmen bei der Einreise möglicherweise im Rahmen der Aufklärung des zunächst allein bestehenden Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung zur Anwendung gelangen. Eine solche Differenzierung nach „Vorfeldmaßnahmen“ und einer „endgültigen“ Verfolgung nach Erhärtung des Verdachts einer abweichenden Gesinnung ist weder in der Anerkennungsrichtlinie, noch in der GFK noch im Asylgesetz angelegt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. sowie zu Art. 16a Abs. 1 GG kennt diese ebenfalls nicht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 -, NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 -, InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6).
65 
Sie ist auch inhaltlich nicht zu rechtfertigen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses - gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils - von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht.
66 
Dieser Schluss drängt sich bei Personen, die sich dem Wehrdienst durch Ausreise entzogen haben, bereits deswegen auf, weil ihr Verhalten aus Sicht des syrischen Regimes - und vermutlich auch bei objektiver Betrachtungsweise tatsächlich - zur Schwächung des totalitären Machtapparats in seinem Existenzkampf beigetragen hat. Bestehen ausgehend von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach realistischer Lagebeurteilung keine naheliegenden Deutungsmöglichkeiten für eine fehlende Gerichtetheit, so ist - auch unter Berücksichtigung der Beweisnot der Betroffenen und der humanitären Zielsetzungen des Flüchtlingsrechts - von der naheliegenden und realistischen Alternative auszugehen. Aussagekräftige verwertbare Erkenntnismittel, die es nahe legen könnten, andere Schlussfolgerung auch nur in Betracht zu ziehen, existieren nicht; im Gegenteil: Das angesprochene „Freund-Feind-Schema“ ist seither nur noch viel deutlicher zutage getreten.
67 
Hinsichtlich der Verfolgungsgefahr für Reservisten der syrischen Armee unmittelbar bei einer Wiedereinreise nach einem längeren Auslandsaufenthalt, während dem um internationalen Schutz nachgesucht wurde, gilt überdies: Zwar rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund und wendet auch die strafrechtlichen Regelungen bezüglich Wehrdienstentziehung und Desertion vermutlich mehr oder weniger unterschiedslos auf alle syrischen Wehrpflichtigen an, so dass nicht bereits im Hinblick auf eine insoweit diskriminierende Praxis ein Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG vorliegt. Dies Feststellung schließt aber die Annahme einer gerichteten Verfolgung ebenso wenig aus wie der Umstand, dass allen Personen, die sich der Wehrpflicht entziehen, in Syrien von Rechts wegen Verfolgung deshalb droht, weil sie mit der Dienstverweigerung eine Straftat begangen haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 6.80 -, NVwZ 1982, 41; vom 28.02.1984 - 9 C 81.81 -, InfAuslR 1985, 22; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83 -, NVWZ 1986, 459), die der Senat zugrunde legt, begründet die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung für sich genommen zwar noch nicht ohne weiteres die Asylerheblichkeit; für das Unionsrecht gilt nichts anderes (vgl. Marx. a.a.O., S. 73 ff. und EuGH, Urteil vom 26.02.2015 - C-472/13 - NVwZ 2015, 575 Rn. 35).
68 
Auch wenn die politische Gerichtetheit einer generellen Maßnahme oder Regelung wie der Verpflichtung zum Waffendienst nicht immer offen zutage liegt, kann gleichwohl einer solchen Wehrpflicht neben ihrer allgemeinen - flüchtlingsrechtlich nicht einschlägigen - Zielrichtung auch eine Verfolgungstendenz innewohnen; eine solche kann etwa darin liegen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. Anhaltspunkte für derartige Intentionen können sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung sowie die menschrechtswidrige Art und Weise ihre Umsetzung sind wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts etwa daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden.
69 
Deswegen ist gerade im Falle des totalitären syrischen Regimes nach der gegenwärtigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass die drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentzugs oder Desertion nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts dient, vielmehr ist die Bestrafung des Wehrdienstentzugs auch auf eine vermutete regimefeindliche Gesinnung gerichtet, die - auch zum Zwecke der Abschreckung anderer - eliminiert werden soll. In besonderem Maße gilt dies vor dem Hintergrund der mit den Ermittlungen und Verhören einhergehenden Misshandlungen.
70 
Bei dem Regime von Baschar al-Assad handelt es sich nicht nur seit vielen Jahren um ein menschenverachtendes diktatorisches System, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft (vgl. schon den Senatsbeschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris). Die Mobilisierung und Rekrutierung der syrischen Land- und Luftstreitkräfte erfolgen hier gerade nicht zu dem Zweck, einen kriegerischen Konflikt mit einem auswärtigen dritten Staat auszutragen und zu ermöglichen, sie dienen vielmehr der Bekämpfung der oppositionellen Rebellengruppen im eigenen Land; wer sich an diesem existentiellen Kampf der Staatsmacht gegen Teile der eigenen Bevölkerung nicht beteiligt, sondern sich trotz des bekannt großen Personalbedarfs in der syrischen Armee seiner Wehrpflicht - zumal durch eine illegale Flucht ins Ausland - entzieht, manifestiert damit nach außen sichtbar seine Illoyalität gegenüber dem syrischen Staat in besonderer Weise, auch wenn eine solche in concreto gar nicht gegeben sein sollte.
71 
Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), es sei syrischen Machthabern bekannt, dass die Flucht aus Syrien oftmals nicht durch politische Gegnerschaft zum Staat, sondern durch Angst vor dem Krieg motiviert sei, steht angesichts des vorgenannten Befundes dem nicht entgegen. Vielmehr lassen die vorliegenden Erkenntnismittel nur den Schluss zu, dass die Verfolgung von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern dass es sich hierbei auch ganz maßgeblich um Verfolgung aufgrund der und Vergeltung der (bis zum Beweis des Gegenteils unterstellten) regimekritischen politischen Überzeugung der Betreffenden handelt (so auch BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 - 21 B 16.30372 -, juris; Österr. BVwG, Entscheidung vom 22.03.2017 - W221 2134862-1/E; vgl. auch, wenn auch auf zusätzliche Risikogesichtspunkte abstellend, Schweizer. BVerwG, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013). Der Ansatz des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz, wonach „die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt“, eine Verfolgung nicht zu begründen vermögen (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), steht der Auffassung des Senats zur kausalen Verknüpfung von Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung nicht entgegen. Denn bei den drohenden Menschenrechtsverletzungen geht es nicht um „allgemeine Lasten und Beschränkungen“, sondern um gezielte Eingriffe zur Ahndung einer - den Betroffenen jedenfalls zugeschriebenen - oppositionellen Überzeugung und zur Disziplinierung der übrigen, in Syrien verbliebenen Bevölkerung.
72 
Ebenso vermag der Senat den Schluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes nicht nachzuvollziehen, wonach gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee spreche (Urteil vom 02.02.2017 - 2 A 515/16 -, juris Rn. 31). Aus diesem Umstand könnte sich allenfalls ein Interesse des syrischen Staates, nicht alle Wehrpflichtigen einer langjährigen Haftstrafe zuzuführen, ableiten lassen. Abgesehen davon, dass auch dieser Ansatz spekulativ ist und ein nach rationalen Maßstäben handelndes Regime unterstellt, verhält er sich nicht zu der Gefahr der vorherigen schwerwiegenden Misshandlung oder Folter unmittelbar nach der Ergreifung.
73 
4. Dem Kläger steht schließlich keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG offen. Die Deutsche Botschaft Beirut (Auskunft vom 03.02.2016; vgl. auch Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017) geht davon aus, dass grundsätzlich alle Regionen in Syrien vom Bürgerkrieg betroffen sind, wenn nicht durch direkte Kampfhandlungen, dann indirekt (Kriegswirtschaft, Einzug ins Militär, marodierende Banden, beispielsweise in einigen Vororten von Damaskus etc.).
74 
Selbst wenn man unterstellen wollte, dass es dennoch Gebiete innerhalb Syriens gibt, die als zumutbare Fluchtalternative dienen könnten, lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass der Kläger ein solches Gebiet in zumutbarer Weise und sicher erreichen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. SFH, Rekrutierung durch die syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformation Syrien: Militärdienst, 30.11.2016) und sie sind derart verbreitet, dass mehr dafür als dagegen spricht, dass der Kläger, wenn er nicht schon beim Versuch der Einreise nach Syrien erfasst und ergriffen wird, an einem solchen Checkpoint aufgegriffen wird.
75 
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG; Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Der Ausländer ist persönlich verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch, wenn er sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lässt.

(2) Er ist insbesondere verpflichtet,

1.
den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden die erforderlichen Angaben mündlich und nach Aufforderung auch schriftlich zu machen;
2.
das Bundesamt unverzüglich zu unterrichten, wenn ihm ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist;
3.
den gesetzlichen und behördlichen Anordnungen, sich bei bestimmten Behörden oder Einrichtungen zu melden oder dort persönlich zu erscheinen, Folge zu leisten;
4.
seinen Pass oder Passersatz den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
5.
alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in seinem Besitz sind, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
6.
im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken und auf Verlangen alle Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
7.
die vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden.

(3) Erforderliche Urkunden und sonstige Unterlagen nach Absatz 2 Nr. 5 sind insbesondere

1.
alle Urkunden und Unterlagen, die neben dem Pass oder Passersatz für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können,
2.
von anderen Staaten erteilte Visa, Aufenthaltstitel und sonstige Grenzübertrittspapiere,
3.
Flugscheine und sonstige Fahrausweise,
4.
Unterlagen über den Reiseweg vom Herkunftsland in das Bundesgebiet, die benutzten Beförderungsmittel und über den Aufenthalt in anderen Staaten nach der Ausreise aus dem Herkunftsland und vor der Einreise in das Bundesgebiet sowie
5.
alle sonstigen Urkunden und Unterlagen, auf die der Ausländer sich beruft oder die für die zu treffenden asyl- und ausländerrechtlichen Entscheidungen und Maßnahmen einschließlich der Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sind.

(4) Die mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden können den Ausländer und Sachen, die von ihm mitgeführt werden, durchsuchen, wenn der Ausländer seinen Verpflichtungen nach Absatz 2 Nr. 4 und 5 nicht nachkommt sowie nicht gemäß Absatz 2 Nummer 6 auf Verlangen die Datenträger vorlegt, aushändigt oder überlässt und Anhaltspunkte bestehen, dass er im Besitz solcher Unterlagen oder Datenträger ist. Der Ausländer darf nur von einer Person gleichen Geschlechts durchsucht werden.

(5) Durch die Rücknahme des Asylantrags werden die Mitwirkungspflichten des Ausländers nicht beendet.

(1) Der Ausländer muss selbst die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über Wohnsitze, Reisewege, Aufenthalte in anderen Staaten und darüber, ob bereits in anderen Staaten oder im Bundesgebiet ein Verfahren mit dem Ziel der Anerkennung als ausländischer Flüchtling, auf Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 oder ein Asylverfahren eingeleitet oder durchgeführt ist.

(2) Der Ausländer hat alle sonstigen Tatsachen und Umstände anzugeben, die einer Abschiebung oder einer Abschiebung in einen bestimmten Staat entgegenstehen.

(3) Ein späteres Vorbringen des Ausländers kann unberücksichtigt bleiben, wenn andernfalls die Entscheidung des Bundesamtes verzögert würde. Der Ausländer ist hierauf und auf § 36 Absatz 4 Satz 3 hinzuweisen.

(4) Bei einem Ausländer, der verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, soll die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Asylantragstellung erfolgen. Einer besonderen Ladung des Ausländers und seines Bevollmächtigten bedarf es nicht. Entsprechendes gilt, wenn dem Ausländer bei oder innerhalb einer Woche nach der Antragstellung der Termin für die Anhörung mitgeteilt wird. Kann die Anhörung nicht an demselben Tag stattfinden, sind der Ausländer und sein Bevollmächtigter von dem Anhörungstermin unverzüglich zu verständigen.

(5) Bei einem Ausländer, der nicht verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, kann von der persönlichen Anhörung abgesehen werden, wenn der Ausländer einer Ladung zur Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht folgt. In diesem Falle ist dem Ausländer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme innerhalb eines Monats zu geben.

(6) Die Anhörung ist nicht öffentlich. An ihr können Personen, die sich als Vertreter des Bundes, eines Landes oder des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen ausweisen, teilnehmen. Der Ausländer kann sich bei der Anhörung von einem Bevollmächtigten oder Beistand im Sinne des § 14 des Verwaltungsverfahrensgesetzes begleiten lassen. Das Bundesamt kann die Anhörung auch dann durchführen, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand trotz einer mit angemessener Frist erfolgten Ladung nicht an ihr teilnimmt. Satz 4 gilt nicht, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand seine Nichtteilnahme vor Beginn der Anhörung genügend entschuldigt. Anderen Personen kann der Leiter des Bundesamtes oder die von ihm beauftragte Person die Anwesenheit gestatten.

(7) Die Anhörung kann in geeigneten Fällen ausnahmsweise im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen.

(8) Über die Anhörung ist eine Niederschrift aufzunehmen, die die wesentlichen Angaben des Ausländers enthält. Dem Ausländer ist eine Kopie der Niederschrift auszuhändigen oder mit der Entscheidung des Bundesamtes zuzustellen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzstatus.

Der am ... 2009 in ... bei Mossul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischem Glauben.

Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger am 29. September 2017 als unbegleiteter Minderjähriger auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er durch seinen Vormund am 11. Dezember 2017 Asylerstantrag stellte. Der Asylantrag wurde gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG beschränkt.

Eine persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) fand nicht statt. Stattdessen wurde von Seiten des Vormundes des Klägers eine Stellungnahme vorgelegt, die darauf verweist, dass das Dorf, in dem der Kläger mit seiner Familie gelebt habe, am 3. August 2016 überfallen worden sei. Daraufhin sei der Kläger mit seiner Familie in die Berge geflohen, um sich dort zu verstecken. Der Familie sei die Lebensgrundlage genommen worden. Das vormals bewohnte Haus sei zerstört worden. Seine Eltern und Geschwister würden sich derzeit in einem Flüchtlingscamp bei ... (...) aufhalten. Auf den weiteren Inhalt der Stellungnahme vom 18. Dezember 2017 wird ergänzend verwiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wurde für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festgestellt (Nr. 3. des Bescheids). In den Nrn. 1. und 2. des Bescheides wurde bestimmt, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt werden.

In den Gründen des Bescheids ist ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Ein Ausländer sei Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinde, dessen Staatsangehörigkeit er besitze (§ 3 AsylG). Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne dieser Definition. Soweit der Kläger angebe, sein Dorf sei im August 2016 von der Terrormiliz „islamischer Staat“ (IS) überfallen worden, so habe der IS zu diesem Zeitpunkt zwar gezielt Ortschaften überfallen und zerstört, jedoch habe sich die Situation im Distrikt ... in der Provinz Ninive dahingehend verändert, dass es derzeit keine derartige Bedrohung mehr in dieser Region gebe. Dem Bundesamt lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass dem Kläger eine Verfolgung aufgrund seiner yezidischen Religionszugehörigkeit drohen könne. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden finde nicht statt. Es gebe aktuell keine Hinweise auf Verfolgung durch den IS und auch keine bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Region. Das genannte Gebiet sei wieder unter der Kontrolle der Zentralregierung und nicht mehr unter kurdischer Kontrolle. Hieraus ergebe sich, dass es bei einer Rückkehr keine drohende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG für den Kläger gebe. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Insbesondere scheide eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG aus. Im Herkunftsland des Klägers bestehe kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Die Provinz Ninive sei unter der Kontrolle der Regierung, seit dem der IS aus dem Gebiet vertrieben worden sei und die Regierung die Region im Oktober 2017 von den Kurden zurückerobert habe. Für den Kläger bestehe jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

Auf den weiteren Inhalt des Bescheides des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wird ergänzend verwiesen.

Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Vormund des Klägers am 6. Februar 2018 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt.

Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 8. Februar 2018 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,

I.

Der Bescheid des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Az.: ...) vom 22. Januar 2018, zugestellt am 6. Februar 2018 wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylVfG zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Zur Begründung der Klage ist mit am 5. März 2018 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg eingegangen Schreiben ausgeführt, dass der Kläger der Religionsgemeinschaft der Yeziden angehöre. Der Kläger habe sein Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion verlassen. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr in den Irak mit großer Wahrscheinlichkeit erneut eine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Yeziden. Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung subsidiären Schutzes bleibe aufrechterhalten.

Die Beklagte hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.

Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 7. März 2018 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Mit Schriftsatz vom 16. April 2018 hat der Vormund des Klägers auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Die Beklagte hat sich mit Generalerklärung vom 27. Juni 2017 ebenfalls mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt habe (§ 101 Abs. 2 VerwaltungsgerichtsordnungVwGO).

Die ausgehend von der Beschwer des Klägers ausschließlich auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) gerichtete Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2018 ist, soweit er sinngemäß mit der Klage vom 8. Februar 2018 angegriffen worden ist, rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid ist unter Würdigung der Verhältnisse in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II Seite 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- und Schutzakteuren regeln die §§ 3a-d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU, L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9-26, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU).

Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 der RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung Handlungen, die – Nr. 1 – aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685,953) keine Abweichung zulässig ist, oder die – Nr. 2 – in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie in der Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Als Verfolgung können nach § 3a Abs. 2 AsylG u.a. folgende Handlungen gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt – Nr. 1 – sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind – Nr. 6 –.

Ferner muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von – Nr. 1 – dem Staat, – Nr. 2 – Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, oder – Nr. 3 – von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

In der Definition der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) und der RL 2011/95/EU ist angelegt, dass bei ihrer Prüfung als Prognosemaßstab derjenige der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen ist. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 – 8 A 4063/06.A – juris).

Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU – dieser hat keine nationale Entsprechung – ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird.

Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, (360 f.); dem folgend BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377-388 und vom 31. März 1981 – 9 C 237.80 – juris).

Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 –, BVerwGE 104, 97 (101 ff.), juris), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 27. April 1982 – 9 C 308.81 –, BVerwGE 65, 250 (252), juris).

Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 – BVerwGE 104, 97 (99), juris).

Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für Ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisiert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – Saadi, Rn. 128 m.w.N., juris).

Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die Beurteilung, ob stichhaltige Gründe die Vermutung widerlegen, obliegt dem Tatrichter im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Verwaltungsgericht Augsburg, Urteil vom 11. Juli 2016 – Au 5 K 16/30604 – juris).

Aus den in § 25 AsylG (und Art. 4 RL 2011/95/EU) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Drittstaatsangehörigen folgt, dass es auch unter Berücksichtigung dieser Vorgaben Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321.85 – juris).

Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.

Gemäß nach diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG hinsichtlich des Klägers nicht vor. Da im Verfahren keine zielgerichtete individuelle Bedrohung insbesondere seitens der Terrormiliz ‘Islamischer Staat‘ (IS) geltend gemacht hat, ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger ausschließlich über die Grundsätze der Gruppenverfolgung für yezidische Glaubensangehörige möglich.

Das Gericht ist der Auffassung, dass für Glaubenszugehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die wie der Kläger aus der Provinz Ninive im Zentralirak stammen, die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nicht mehr gegeben sind.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 – und Urteil vom 30. April 1996 – 9 C 171.95 – BVerwGE 101, 134 (140 f.), juris).

Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms –, vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris), ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 – Rn. 20 und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (203), juris).

Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3 d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 – juris Rn 20).

Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204)); zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vgl. zuletzt etwa BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 –; BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238 (234), juris, jeweils m.w.N).

Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteile 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243-254; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2011 – 9 A 567/11.A – juris).

Gruppengerichtete Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, erfassen nicht immer ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend. Die ihnen zugrundeliegenden ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gegensätze können in einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt sein; die darin wurzelnden Spannungen können sich in unterschiedlichem Grade auf das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsteile auswirken. Deshalb ist – jedenfalls bei gruppengerichteten Verfolgungen durch nicht-staatliche Kräfte – von der Möglichkeit auszugehen, dass solche Verfolgungen regional oder lokal begrenzt sind mit der Folge, dass sich die verfolgungsfreien Räume als inländische Fluchtalternative darstellen können und dass die dort ansässigen Gruppenangehörigen als unverfolgt zu gelten haben. Allerdings bedarf dabei näherer Ermittlung, ob eine bestehende Schutzunwilligkeit des Staates die Gefahr einer Ausweitung der Verfolgung in bisher verfolgungsfreie Räume begründet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238, juris).

Nach diesen Maßstäben ist der Kläger als Angehöriger der yezidischen Religionsgemeinschaft bezogen auf seinen letzten Aufenthaltsort ... bei Mossul in der Provinz Ninive keiner regionalen Gruppenverfolgung durch den IS als nichtstaatlichem Akteur ausgesetzt.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fehlt es jedenfalls an der erforderlichen „Verfolgungsdichte“, die für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen belief sich die Zahl der in der Provinz Ninive ansässigen Yeziden vor dem Überfall durch den IS auf ca. 291.000 Menschen in der Region, wobei diese Zahl anhand der ausgegebenen Lebensmittelkarten ermittelt werden konnte, und weiteren ca. 65.000 Menschen in der Region Sheikhan (vgl. Gutachten des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 16. September 2013 an das OVG NRW, S. 11 f., juris).

Zwar wurden seit 2014 Schätzungen zufolge 5000 Yeziden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit getötet, mehr als 6000 Yezidinnen versklavt, 300 000 Yeziden wurden vertrieben. 24 Massengräber wurden in der Region ... bereits gefunden. Befürchtet wird, dass fast doppelt so viele an verschiedenen Orten in der Region liegen, viele davon weiter südlich der aktuellen Frontlinie (vgl. Die Zeit online, Die Vergessenen von, 13. Juni 2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/jesiden-nordirak-islamischer-staat; Die Jesiden von, Le Monde diplomatique, Januar 2017, S. 11).

Diese Verfolgungssituation für yezidische Glaubenszugehörige besteht seit Mitte/Ende des Jahres 2017 jedoch nicht mehr unverändert fort und führt im vorbezeichneten Verfahren dazu, dass die Voraussetzungen für die Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive nicht mehr angenommen werden können. Im August 2017 erklärte der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi, dass mit der Stadt Tal Afar eine der letzten IS-Bastionen im Land befreit worden sei. Die US-geführte Anti-IS-Koalition teilte ebenfalls mit, dass der Irak 90% des ehemals von der Terrormiliz kontrollierten Gebietes zurückerobert habe. Der IS hat nach seinem Vormarsch vor mehr als drei Jahren (2014) auf dem Höhepunkt seiner Macht riesige Gebiete im Norden und Westen des Irak beherrscht, darunter große Städte. Hierzu gehörte auch die Millionenstadt Mossul östlich von Tal Afar. Auch die Provinz Ninive, die an der Grenze zu Syrien liegt, wurde im Sommer 2014 vom IS überrannt. In der Provinzhauptstadt Mossul haben die Dschihadisten damals ihr so genanntes Kalifat ausgerufen. Im Juli 2017 wurde Mosul nach Monate langer Belagerung von den irakischen Truppen mit internationaler Hilfe zurückerobert. Bereits zuvor hatten die Extremisten die größten Teile der ehemals kontrollierten Gebiete im Irak verloren. Die Rückeroberung von Tal Afar habe nur zehn Tage gedauert. Tal Afar war eine der letzten irakischen Städte in der Hand der IS-Miliz. Diese kontrolliert nach aktuellen, dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen, nur noch zwei Gebiete im Irak, von denen Großteile unbewohnt sind. Es handelt sich hierbei um Hawidscha im Zentralirak und die Städte Al-Kaim, Rawa und Anna in der Wüste an der Grenze zu Syrien. In den übrigen Gebieten ist die Terrormiliz IS auch in der Provinz Ninive vollständig besiegt.

Mit der geschilderten Zurückdrängung des IS aus der Provinz Ninive, der Tatsache, dass die Terrormiliz lediglich noch zwei Gebiete im Irak beherrscht, ist es nach Auffassung des Gerichtes ausgeschlossen, dass die Terrormiliz noch über Strukturen verfügt, die es ihr ermöglicht, yezidische Glaubenszugehörige in der Provinz Ninive systematisch im Rahmen eines eingeleiteten und durchgeführten Verfolgungsprogramms (vgl. noch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, Seite 12, 18) zu verfolgen, wie es Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung wäre. Es ist für das gesamte Gebiet eine gewisse Befriedung eingetreten und festzustellen. Dies schließt die Annahme einer Gruppenverfolgung für den Kläger bei fehlender anlassgeprägter Einzelverfolgung im vorliegenden Fall aus. Dies gilt jedenfalls für den der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Zeitpunkt im schriftlichen Verfahren.

Nichts anderes gilt für den derzeitigen Aufenthaltsort der Eltern des Klägers (... bzw. ...). Die Stadt ... bzw. ... wird derzeit von der irakischen Zentralregierung verwaltet. Lediglich bis zum Jahr 2015 war ... umkämpft. Im Herbst 2015 teilten Kreise der kurdischen Autonomieregierung am 13. November 2015 mit, es seien Peschmerga von allen Seiten nach ... (...) eingedrungen und es sei gelungen, zentrale Gebäude zu besetzen. Am 13. November 2015 wurde die Stadt bereits aus der Hand des IS befreit. Damit kann auch bezogen auf den Aufenthaltsort der Eltern des Klägers derzeit keine Verfolgungsgefahr für Angehörige der ethno-Religiösen Minderheit der Yeziden angenommen werden.

2. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) liegen im Fall des Klägers nicht vor.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die vorgenannten Gefahren müssen dabei gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Auch subsidiärer Schutz wird nicht zuerkannt, wenn der Ausländer internen Schutz in Anspruch nehmen kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Irak kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit. Dies gilt sowohl bezogen auf den früheren Heimatort des Klägers (... bei Mossul in der Provinz Ninive) als auch auf den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...).

Nach weitreichender Befreiung der Provinz Ninive von der Terrormiliz IS und weitreichender Befriedung des Gebiets besteht die für die Annahme eines subsidiären Schutzstatus erforderliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG vorliegend nicht mehr fort.

Für die Beurteilung der Frage des Bestehens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist, sofern der Konflikt nicht landesweit besteht, auf die Herkunftsregion des Klägers abzustellen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Vorliegend ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren weder für den vormaligen Heimatort des Klägers (... bei Mossul) noch für den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...) ein bewaffneter fortbestehender innerstaatlicher Konflikt festzustellen. Die Provinz Ninive ist befriedet und unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung. Die Truppen der Terrormiliz IS sind aus diesem vormals von ihnen besetzten Gebiet dauerhaft zurückgedrängt worden. Dies schließt die Annahme der Gewährung eines subsidiären Schutzstatus im derzeitigen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aus.

Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, sind bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive nicht ersichtlich bzw. zu befürchten.

3. Nach allem war die Klage daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung erfolgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wird abgelehnt, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht vorliegt bzw. schon nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt ist.

Der Kläger macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) geltend. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten (Klärungsfähigkeit) und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (Klärungsbedürftigkeit; vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Diese Voraussetzungen liegen bezüglich der von dem Kläger aufgeworfenen Fragen jedoch teilweise nicht vor. Im Übrigen fehlt es schon an einer ausreichenden Darlegung. Die nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erforderliche Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) verlangt nämlich, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, ausführt, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutert, weshalb die Frage klärungsbedürftig ist und schließlich darlegt, weshalb der Frage eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72). „Darlegen“ bedeutet schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis. „Etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, Beschluss v. 2.10.1961 – 8 B 78.61 – BVerfGE 13, 90/91; B.v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – NJW 1993, 2825). Der Orientierungspunkt dieser Erfordernisse ist die Begründung der angefochtenen Entscheidung, mit der sich die Begründung des Zulassungsantrags substantiiert auseinandersetzen muss (BVerfG, B.v. 2.3.2006 – 2 BvR 767/02 – NVwZ 2006, 683). Daran fehlt es im Vortrag des Klägers teilweise.

1. Der Kläger wirft als grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG folgende Fragen auf:

„ob in dem Distrikt Shekhan, Provinz Ninive/Irak von einem internen bewaffneten Konflikt i.S.d. Art. 15c der Qualifikationsrichtlinie auszugehen ist, der dergestalt ist, dass grundsätzlich für alle Personen jesidischer Religion dort eine individuelle Gefahr für Leib und Leben durch willkürliche Gewalt bestehen und ob die Rechtsgutsbeeinträchtigungen gegebenenfalls dem Staat bzw. den quasi-staatlichen Institutionen und Organisationen dergestalt zuzurechnen sind, dass diese nicht schutzwillig oder schutzfähig sind und ob Jesiden im gesamten Irak einschließlich der Autonomen Region Kurdistan derzeit einer mittelbaren staatlichen bzw. quasi-staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt sind, ohne dass ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.“

Bei verständiger Würdigung der aufgeworfenen Fragen (§ 88 VwGO) erstrebt der Kläger die grundsätzliche Klärung, ob erstens für Yeziden im Irak einschließlich der Kurdischen Autonomieregion die Gefahr einer Gruppenverfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG besteht, ob zweitens für diese in dem Distrikt Shekhan in der Provinz Ninive die individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG besteht und ob diesen drittens eine zumutbare inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG (ggf. in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) zur Verfügung steht.

a) Was die erste aufgeworfene Frage nach einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak angeht, hat der Kläger schon die Klärungsbedürftigkeit dieser Frage nicht dargelegt. Denn diese Darlegung verlangt, dass zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür aufgezeigt wird, dass die aufgeworfene Tatsachenfrage im Sinne des Klägers zu beantworten ist. Dies hätte einer Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des Verwaltungsgerichtes bedurft, das sich mit dieser Frage anhand der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten und von ihm zutreffend wiedergegebenen Voraussetzungen befasst und ihr Vorliegen im konkreten Fall des Klägers verneint hat (Urteilsabdruck S. 10/11). Der Vortrag des Klägers im Zulassungsantrag setzt sich mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts insoweit nicht auseinander, sondern zitiert über weite Strecken aus einer Kommentierung zu § 4 AsylG und verhält sich anschließend zum Grad der willkürlichen Gewalt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in der Kurdischen Autonomieregion. Der Kläger nennt aber keine Erkenntnisquellen, nach denen am Herkunftsort entgegen der Wertung des Verwaltungsgerichts eine Gruppenverfolgung von Yeziden vorliegen soll (vgl. auch – eine Gruppenverfolgung verneinend – BayVGH, B.v. 21.11.2017 – 5 ZB 17.31653 – juris). Im Übrigen wurde in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bisher auch eine für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes hinreichende Gefahrendichte im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für Yeziden im Nordirak, insbesondere in den Provinzen Ninive und Dohuk, verneint (BayVGH, U.v. 5.7.2012 – 20 B 12.30073 – juris; U.v. 2.2.2012 – 13a B 11.30335 – juris). Der Kläger legt nicht dar, auf der Grundlage welcher Erkenntnismittel eine andere Betrachtung geboten sein sollte.

b) Mit der zweiten aufgeworfenen Frage begehrt der Kläger offenbar die grundsätzliche Klärung, dass die Zugehörigkeit zur yezidischen Religion einen gefahrerhöhenden Umstand darstellt, der im Rahmen eines in der Kurdischen Autonomieregion herrschenden bewaffneten Konfliktes zu einer konkreten und individuellen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bei den Betroffenen führt. Diese Frage ist jedoch nicht mehr klärungsbedürftig. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) in der Herkunftsregion des Klägers, dem Dorf Baadre im Distrikt Shekhan in der Provinz Ninive, kein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrschte (UA S. 13). Dabei geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass Shekhan als unter kurdischer de-facto-Verwaltung stehendes Gebiet faktisch zur Kurdischen Autonomieregion zu zählen sei (UA S. 11). Es kann offen bleiben, ob die letztere Einschätzung anhand der jüngsten Ereignisse in der Provinz Ninive, die der Senat gemäß § 77 Abs. 1 AsylG bei seiner Entscheidung über die Zulassung der Berufung zu berücksichtigen hat, noch zutrifft. Denn jedenfalls bedarf es im Hinblick auf diese Ereignisse keiner Durchführung eines Berufungsverfahrens, um das Bestehen eines bewaffneten Konfliktes in dieser Region zu verneinen. Infolge der Schlacht um Mossul von Oktober 2016 bis Juli 2017 wurde der IS aus der Stadt und deren Umgebung (bis auf einige verbliebene terroristische Schläferzellen) vertrieben. Am 9. Juli 2017 wurde durch den irakischen Premierminister Al-Abadi der Sieg über den IS in Mossul erklärt (vgl. Wikipedia, „Schlacht um Mossul“ m.w.N.; Lifos, Thematic Report „The security situation in Iraq: July 2016 – November 2017“, 18.12.2017, Version 4.0, S. 5). Infolge dessen finden dort keine Kampfhandlungen mehr statt, die eine Intensität aufwiesen, dass sie in einer derart intensiven Gefahr resultieren würden, die für § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ausreichen würde. Mittlerweile haben sich in der gesamten Provinz Ninive, dem Herkunftsgebiet des Klägers, auch die kurdischen Peschmerga vor den heranrückenden irakischen Streitkräften (und Volksmobilisierungseinheiten) zurückgezogen. Bis auf Einzelfälle wurden keine Konfrontationen zwischen den jeweiligen Streitkräften gemeldet (vgl. hierzu Lifos a.a.O., S. 29; zum Ganzen BayVGH, B.v. 22.1.2018 – 20 ZB 18.30667).

c) Da es somit bereits an den Voraussetzungen einer Gefährdung des Klägers im Sinne der §§ 3 ff., 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG fehlt, bedarf auch die dritte von dem Kläger aufgeworfene Frage nach dem Bestehen einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG (ggf. in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) keiner Klärung in einem Berufungsverfahren mehr.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. April 2017 – A 2 K 4283/16 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung subsidiären Schutzes, hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots und wendet sich gegen eine Abschiebungsandrohung.
Er ist nach eigenen Angaben ein 20 Jahre alter afghanischer Staatsangehöriger vom Stamm der Sadat. Er gibt an, sein Heimatland am 18. August 2015 verlassen zu haben und Anfang Oktober 2015 in das Bundesgebiet eingereist zu sein. Am 22. August 2016 stellte er einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und wurde am gleichen Tag durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu seinem Begehren angehört. Hierbei gab er im Wesentlichen an, vor seiner Ausreise mit seinen Eltern in der Provinz Maydan Wardak gelebt zu haben. Er habe in Afghanistan noch zwei Schwestern und zwei Brüder sowie die normale Großfamilie. Er habe als Fahrer mit eigenem Fahrzeug, einem Dreitonner, gearbeitet. Einen Monat vor der Flucht habe er von zwei Männern einen Auftrag für den Transport von Obst nach Kabul bekommen. Ihm sei es vorgekommen, dass die Kisten sehr schwer gewesen seien. Als er sich auf der Strecke die Kisten näher ansah, habe er Waffen gefunden und einen Kommandanten, Sayd Noor Agha, gerufen. Er habe ihm die Kisten übergeben. Auf dem Weg nach Hause sei er von den Auftraggebern angerufen worden. Er habe Angst bekommen und sich zu Hause versteckt. Nach zwei Tagen sei er wieder raus gegangen, da hätten ihn die beiden Männer entführen wollen. Da sei er dann gegangen. Er wisse nicht, wer die Männer seien, aber vermutlich Regierungsgegner wie die Taliban.
Seine Eltern hätten gesagt, dass es schlimmer werden würde, wenn er den Agha eingeschaltet hätte. Er habe sich erst wieder für vier Tage versteckt. Als die Männer erneut gekommen seien, habe er wieder fliehen und sich für zwei Wochen verstecken können. Die Dorfältesten hätten dann aber einen Brief bekommen. Darin habe gestanden, dass sie ihn ausliefern sollten.
Auf Nachfrage, wie die Entführungsversuche ausgesehen hätten, gab der Kläger an, dass er in der Nähe des Obstmarktes mit dem Auto unterwegs gewesen sei. Er habe versucht, schnell zu fliehen. Es seien ungefähr fünf bis sechs Leute gewesen. Sie hätten versucht, den Eingang der Straße zu sperren. Das habe nicht geklappt. Er habe einfach nicht angehalten. Der Kläger zeigte in der Anhörung ein digitales Foto eines Schreibens. Der Brief ist auf den 5. August 2015 datiert und soll von den Mujaheddin stammen.
Mit Bescheid vom 24. August 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Anerkennung als Asylberechtigte sowie auch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung oder nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen den ihm mit Schreiben vom 24. August 2016 zugesandten Bescheid erhob der Kläger am 2. September 2016 Klage. Er wurde ergänzend im Termin zur mündlichen Verhandlung angehört. Hierbei gab er u.a. an, dass seine Tätigkeit in Afghanistan der eines Taxifahrers geähnelt habe. Er habe ein koreanisches Fahrzeug gefahren, das Kennzeichen sei 9292 gewesen. Zwei Personen hätten ihn beim Bazar von Jalrez beauftragt, rund 30 Kisten Obst nach Sai Wolat zu fahren. Das sei eine Strecke von 30 Minuten. Er habe gemerkt, dass die Kisten sehr schwer seien. Während der Fahrt habe er angehalten und festgestellt, dass sich in den Kisten Waffen befänden. In anderen Kisten seien Pfirsiche und Melonen gewesen. Die Waffen seien in ihre Einzelteile zerlegte Kalashnikov-Gewehre gewesen. Die Kisten habe er mit dem Werkzeug aufgemacht, mit dem normalerweise die Autoreifen von der Felge löse. Als er die Waffen gesehen habe, sei er in Panik geraten. Er habe einen ihm bekannten Kommandanten, Sayed Noor Agha, angerufen. Dessen Bezirk sei in Barzare Darserahi. Das sei ein kleines Dorf. Sie seien dann einander entgegengefahren. Der Kommandant sei mit vielen Leibwächtern gekommen. In der Polizeistation hätten sie die Kisten ausgeladen. Auf dem Heimweg hätten ihn die Auftraggeber angerufen. Er habe ihnen gesagt, dass er von der Polizei kontrolliert worden sei. Die Männer hätten ihm vorgeworfen, die Polizei gerufen zu haben. Er sei nach Hause und habe große Angst gehabt. Nach zwei Tagen habe er die Arbeit wieder aufgenommen. In Jalrez habe er die zwei Männer wiedergesehen, die hätten ihn aufhalten wollen. Er sei nach Hause geflüchtet. Vier Tage später sei er auf einem anderen Weg zum Markt gefahren. Dort seien ca. 6 Personen auf ihn zugelaufen. Er sei mit dem Wagen entkommen. Ihm sei zu Hause klar geworden, dass er nicht mehr weiter arbeiten könne. Sein Vater habe ihm davon abgeraten, den Kommandanten zu informieren, da ja denkbar sei, dass der mit den Männern unter einer Decke stecke. Sein Vater habe dann gemeint, dass wohl eine große Organisation hinter den Vorfällen stecke. Er habe seine SIM-Karte gewechselt, damit er für die Männer nicht mehr telefonisch erreichbar gewesen sei.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. April 2017 ab. Den individuellen Vortrag erachtete es für nicht glaubhaft. Auf den Antrag des Klägers vom 28. Juni 2017, hat der Senat mit Beschluss vom 27. Juli 2017 - zugestellt am 3. August 2017 - die Berufung gegen das am 31. Mai 2017 zugestellte Urteil zugelassen, soweit in dem angefochtenen Urteil die Klage auf Verpflichtung zur Zuerkennung subsidiären Schutzes und auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots sowie gegen die Abschiebungsandrohung abgewiesen worden ist. Die im Tenor des Zulassungsbeschlusses enthaltene Zulassung der Berufung in Bezug auf die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beruhte auf einem offensichtlichen Schreibversehen.
Mit der Berufungsbegründung vom 28. August 2017 macht der Kläger u.a geltend, dass sich aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes ergebe, dass es in Wardak konkrete Hinweise auf bevorstehende Angriffe gebe. Auch müsse der Kläger befürchten, in Afghanistan sein Existenzminimum nicht erwirtschaften zu können. Aus dem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Perspektiven des deutschen Afghanistan-Engagements ergebe sich ebenfalls die schlechte Allgemeinsituation.
Der Kläger beantragt,
10 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. April 2017 - A 2 K 4283/16 - teilweise zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 3 - 5 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. August 2016 zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ein nationales Abschiebungsverbot bezüglich Afghanistan festzustellen.
11 
Die Beklagte beantragt,
12 
die Berufung zurückzuweisen.
13 
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihren Bescheid sowie das angegriffene Urteil.
14 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung verweist der Senat auf das Protokoll.
15 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
16 
Dem Senat liegen die Akten der Beklagten sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vor.

Entscheidungsgründe

 
17 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
18 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
19 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
20 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
21 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
22 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
23 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
24 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
25 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
26 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
27 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
28 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
29 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einem unfreiwilligen Waffentransport tatsächlich erlebt hat.
30 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
31 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
32 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
33 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
34 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
35 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
36 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
37 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
38 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
39 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Bedrohung durch zwei Personen, die ihn als Werkzeug für einen Waffentransport benutzt haben sollen, sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und also die Einlassung keine hinreichen Substanz aufweist.
40 
Während der Kläger beim Verwaltungsgericht geschildert hatte, dass er nicht alle Kisten geöffnet habe und sich in manchen Kisten Pfirsiche und Melonen, in anderen Waffen, nämlich in ihre Einzelteile zerlegte Kalashnikov-Gewehre, befunden hätten, hat er gegenüber dem Senat angegeben, nur eine Kiste geöffnet zu haben, in der er Waffen und Munition gesehen habe. Die Männer hätten ihm gesagt, dass er Äpfel und Aprikosen transportieren solle. Die - auch auf Vorhalt nicht sinnvoll aufklärbaren - Unterschiede im Einlassungsverhalten hinsichtlich der Anzahl der geöffneten Kisten (eine oder mehrere) und des einmal tatsächlich gesehenen Obsts (Pfirsiche und Melonen) und das sodann nur als Ware benannten Obsts (Äpfel und Aprikosen) sind für den Senat nur dahingehend zu erklären, dass die zentralen Aspekte der Einlassung vom Kläger frei erfunden sind. Die Erklärung des Klägers, er habe beim Verwaltungsgericht nicht von Pfirsichen und Melonen gesprochen, ist erkennbar eine Schutzbehauptung. Insbesondere deswegen, weil die Verhandlung in beiden Instanzen vom gleichen Dolmetscher übertragen worden ist, schließt der Senat eine Verständigungsschwierigkeit mit dem Dolmetscher als Grund für die Abweichung aus. Überdies kann die Schutzbehauptung nicht erklären, weshalb er seinen Angaben beim Verwaltungsgericht zufolge auch Obst in den Kisten gefunden haben will, während er nach seinen letzten Erklärungen nur Waffen vorgefunden haben will.
41 
Die weitere Schilderung der Vorgänge bei der Übergabe der Kisten an den Kommandanten der Polizeistation ist sodann vollständig farblos und inhaltlich substanzlos geblieben, hier schilderte der Kläger allein den Umstand der Übergabe. Weder kamen in seiner Schilderungen Nachfragen zu den Auftraggebern vor, noch gab er sonstige Reaktionen des Kommandanten oder anderer Personen wider. Falls der Polizeikommandant mit den Auftraggebern des Klägers verbündet gewesen sein sollte, wäre zu erwarten gewesen, dass er das Verhalten des Klägers missbilligt hätte. Falls der Polizeikommandant an einer Aufklärung des Waffentransports Interesse gehabt hätte, wären Nachfragen zum Auftraggeber zu erwarten gewesen. In jedem Fall spricht es gegen die Glaubhaftigkeit der Einlassungen, dass insoweit gar keine Reaktion geschildert worden ist. Dies bestätigt ergänzend, dass die Schilderungen des Klägers nicht der Wahrheit entsprechen können.
42 
Davon ausgehend lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgehend von den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
43 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
44 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
45 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
46 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
47 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
48 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
49 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
50 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
51 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
52 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
53 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
54 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
55 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
56 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
57 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
58 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
59 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
60 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
61 
st. Rspr des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
62 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
63 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
64 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
65 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
66 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
67 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
68 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
69 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
70 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
71 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
72 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
73 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
74 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
75 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
76 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
77 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
78 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
79 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
80 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
81 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
82 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
83 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, Rn. 26, juris.
84 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
85 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
86 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt - jedenfalls auch - darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
87 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
88 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
89 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
90 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
91 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinen Eltern in deren Haus in der Provinz Maydan Wardak gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
92 
Zwischen dem 1. September 2016 und dem 31. Mai 2017 ließen sich 307 sicherheitsrelevante Zwischenfälle in der Provinz feststellen. Davon gingen 223 auf bewaffnete Auseinandersetzungen oder Luftangriffe, 33 auf Explosionen und 23 auf gegen Einzelpersonen gerichtete Gewalt zurück.
93 
EASO, Country of Origin Information Report - Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 255.
94 
UNAMA hat für das Jahr 2017 83 Opfer (davon 42 Todesopfer) festgestellt, wobei die meisten dieser Zivilpersonen Opfer von Bodenkämpfen gewesen sind. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent reduziert.
95 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
96 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 606.000 Personen
97 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 252.
98 
gesehen erkennbar nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
99 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
100 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,01 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Maydan Wardak zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
101 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung sehr niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
102 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
103 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
104 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
105 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei der das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Maydan Wardak getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
106 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
107 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
108 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9.
109 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltenen rechtlichen Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
110 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
111 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers nicht gegeben (d)).
112 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
113 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
114 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
115 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
116 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
117 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
118 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
119 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
120 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
121 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
122 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
123 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
124 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
125 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
126 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
127 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
128 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
129 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
130 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
131 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
132 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
133 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
134 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
135 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
136 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
137 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
138 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
139 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
140 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
141 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
142 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über alle Zweifel erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
143 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
144 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
145 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
146 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
147 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
148 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
149 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
150 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
151 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
152 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
153 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
154 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
155 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
156 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
157 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
158 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
159 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
160 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
161 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
162 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
163 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
164 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
165 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
166 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
167 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
168 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
169 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
170 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
171 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
172 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
173 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
174 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
175 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
176 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
177 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
178 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
179 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
180 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
181 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren – darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
182 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
183 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
184 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
185 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen hat, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden.Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
186 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
187 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
188 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
189 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
190 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
191 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
192 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
193 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege.Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
194 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
195 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
196 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
197 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
198 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
199 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
200 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
201 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
202 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
203 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
204 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
205 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück
206 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
207 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
208 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
209 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
210 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
211 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
212 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
213 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
214 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
215 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
216 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
217 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
218 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
219 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
220 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
221 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
222 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
223 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
224 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
225 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
226 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
227 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
228 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
229 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
230 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
231 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
232 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
233 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
234 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
235 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
236 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
237 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
238 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
239 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
240 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
241 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
242 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
243 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
244 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
245 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
246 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
247 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
248 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
249 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
250 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
251 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
252 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
253 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
254 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
255 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
256 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
257 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
258 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
259 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
260 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
261 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
262 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
263 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
264 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
265 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
266 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
267 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
268 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
269 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
270 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
271 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
272 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
273 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
274 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
275 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
276 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
277 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
278 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
279 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
280 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
281 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
282 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
283 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
284 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
285 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
286 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
287 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
288 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
289 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
290 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
291 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
292 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
293 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
294 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
295 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
296 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
297 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
298 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
299 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
300 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
301 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
302 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
303 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
304 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
305 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
306 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
307 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
308 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
309 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
310 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
311 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
312 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
313 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
314 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
315 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
316 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
317 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
318 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
319 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
320 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
321 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
322 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
323 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
324 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
325 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
326 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
327 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
328 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
329 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
330 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
331 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
332 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
333 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
334 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
335 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
336 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
337 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
338 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
339 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
340 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
341 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
342 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
343 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28: März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
344 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
345 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
346 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
347 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein.
348 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
349 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
350 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
351 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
352 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
353 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
354 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
355 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
356 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
357 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
358 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
359 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
360 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
361 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden - ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) - und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier - wie auch bei der Heimatregion des Klägers - kein anderes Ergebnis geboten.
362 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
363 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
364 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisierten, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
365 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
366 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
367 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
368 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
369 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
370 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
371 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
372 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
373 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
374 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
375 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
376 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
377 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
378 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
379 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
380 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
381 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
382 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
383 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
17 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
18 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
19 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
20 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
21 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
22 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
23 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
24 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
25 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
26 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
27 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
28 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
29 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einem unfreiwilligen Waffentransport tatsächlich erlebt hat.
30 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
31 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
32 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
33 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
34 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
35 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
36 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
37 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
38 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
39 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Bedrohung durch zwei Personen, die ihn als Werkzeug für einen Waffentransport benutzt haben sollen, sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und also die Einlassung keine hinreichen Substanz aufweist.
40 
Während der Kläger beim Verwaltungsgericht geschildert hatte, dass er nicht alle Kisten geöffnet habe und sich in manchen Kisten Pfirsiche und Melonen, in anderen Waffen, nämlich in ihre Einzelteile zerlegte Kalashnikov-Gewehre, befunden hätten, hat er gegenüber dem Senat angegeben, nur eine Kiste geöffnet zu haben, in der er Waffen und Munition gesehen habe. Die Männer hätten ihm gesagt, dass er Äpfel und Aprikosen transportieren solle. Die - auch auf Vorhalt nicht sinnvoll aufklärbaren - Unterschiede im Einlassungsverhalten hinsichtlich der Anzahl der geöffneten Kisten (eine oder mehrere) und des einmal tatsächlich gesehenen Obsts (Pfirsiche und Melonen) und das sodann nur als Ware benannten Obsts (Äpfel und Aprikosen) sind für den Senat nur dahingehend zu erklären, dass die zentralen Aspekte der Einlassung vom Kläger frei erfunden sind. Die Erklärung des Klägers, er habe beim Verwaltungsgericht nicht von Pfirsichen und Melonen gesprochen, ist erkennbar eine Schutzbehauptung. Insbesondere deswegen, weil die Verhandlung in beiden Instanzen vom gleichen Dolmetscher übertragen worden ist, schließt der Senat eine Verständigungsschwierigkeit mit dem Dolmetscher als Grund für die Abweichung aus. Überdies kann die Schutzbehauptung nicht erklären, weshalb er seinen Angaben beim Verwaltungsgericht zufolge auch Obst in den Kisten gefunden haben will, während er nach seinen letzten Erklärungen nur Waffen vorgefunden haben will.
41 
Die weitere Schilderung der Vorgänge bei der Übergabe der Kisten an den Kommandanten der Polizeistation ist sodann vollständig farblos und inhaltlich substanzlos geblieben, hier schilderte der Kläger allein den Umstand der Übergabe. Weder kamen in seiner Schilderungen Nachfragen zu den Auftraggebern vor, noch gab er sonstige Reaktionen des Kommandanten oder anderer Personen wider. Falls der Polizeikommandant mit den Auftraggebern des Klägers verbündet gewesen sein sollte, wäre zu erwarten gewesen, dass er das Verhalten des Klägers missbilligt hätte. Falls der Polizeikommandant an einer Aufklärung des Waffentransports Interesse gehabt hätte, wären Nachfragen zum Auftraggeber zu erwarten gewesen. In jedem Fall spricht es gegen die Glaubhaftigkeit der Einlassungen, dass insoweit gar keine Reaktion geschildert worden ist. Dies bestätigt ergänzend, dass die Schilderungen des Klägers nicht der Wahrheit entsprechen können.
42 
Davon ausgehend lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgehend von den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
43 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
44 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
45 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
46 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
47 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
48 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
49 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
50 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
51 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
52 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
53 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
54 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
55 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
56 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
57 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
58 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
59 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
60 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
61 
st. Rspr des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
62 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
63 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
64 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
65 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
66 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
67 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
68 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
69 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
70 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
71 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
72 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
73 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
74 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
75 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
76 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
77 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
78 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
79 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
80 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
81 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
82 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
83 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, Rn. 26, juris.
84 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
85 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
86 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt - jedenfalls auch - darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
87 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
88 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
89 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
90 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
91 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinen Eltern in deren Haus in der Provinz Maydan Wardak gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
92 
Zwischen dem 1. September 2016 und dem 31. Mai 2017 ließen sich 307 sicherheitsrelevante Zwischenfälle in der Provinz feststellen. Davon gingen 223 auf bewaffnete Auseinandersetzungen oder Luftangriffe, 33 auf Explosionen und 23 auf gegen Einzelpersonen gerichtete Gewalt zurück.
93 
EASO, Country of Origin Information Report - Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 255.
94 
UNAMA hat für das Jahr 2017 83 Opfer (davon 42 Todesopfer) festgestellt, wobei die meisten dieser Zivilpersonen Opfer von Bodenkämpfen gewesen sind. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent reduziert.
95 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
96 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 606.000 Personen
97 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 252.
98 
gesehen erkennbar nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
99 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
100 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,01 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Maydan Wardak zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
101 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung sehr niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
102 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
103 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
104 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
105 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei der das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Maydan Wardak getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
106 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
107 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
108 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9.
109 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltenen rechtlichen Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
110 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
111 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers nicht gegeben (d)).
112 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
113 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
114 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
115 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
116 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
117 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
118 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
119 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
120 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
121 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
122 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
123 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
124 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
125 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
126 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
127 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
128 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
129 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
130 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
131 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
132 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
133 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
134 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
135 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
136 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
137 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
138 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
139 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
140 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
141 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
142 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über alle Zweifel erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
143 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
144 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
145 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
146 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
147 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
148 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
149 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
150 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
151 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
152 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
153 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
154 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
155 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
156 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
157 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
158 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
159 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
160 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
161 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
162 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
163 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
164 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
165 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
166 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
167 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
168 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
169 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
170 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
171 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
172 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
173 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
174 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
175 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
176 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
177 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
178 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
179 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
180 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
181 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren – darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
182 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
183 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
184 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
185 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen hat, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden.Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
186 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
187 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
188 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
189 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
190 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
191 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
192 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
193 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege.Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
194 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
195 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
196 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
197 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
198 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
199 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
200 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
201 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
202 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
203 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
204 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
205 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück
206 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
207 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
208 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
209 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
210 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
211 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
212 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
213 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
214 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
215 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
216 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
217 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
218 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
219 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
220 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
221 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
222 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
223 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
224 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
225 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
226 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
227 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
228 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
229 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
230 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
231 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
232 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
233 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
234 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
235 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
236 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
237 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
238 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
239 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
240 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
241 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
242 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
243 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
244 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
245 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
246 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
247 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
248 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
249 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
250 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
251 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
252 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
253 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
254 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
255 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
256 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
257 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
258 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
259 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
260 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
261 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
262 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
263 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
264 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
265 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
266 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
267 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
268 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
269 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
270 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
271 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
272 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
273 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
274 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
275 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
276 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
277 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
278 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
279 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
280 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
281 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
282 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
283 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
284 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
285 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
286 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
287 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
288 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
289 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
290 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
291 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
292 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
293 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
294 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
295 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
296 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
297 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
298 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
299 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
300 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
301 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
302 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
303 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
304 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
305 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
306 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
307 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
308 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
309 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
310 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
311 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
312 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
313 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
314 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
315 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
316 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
317 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
318 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
319 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
320 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
321 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
322 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
323 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
324 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
325 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
326 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
327 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
328 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
329 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
330 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
331 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
332 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
333 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
334 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
335 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
336 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
337 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
338 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
339 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
340 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
341 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
342 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
343 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28: März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
344 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
345 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
346 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
347 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein.
348 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
349 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
350 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
351 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
352 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
353 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
354 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
355 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
356 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
357 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
358 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
359 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
360 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
361 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden - ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) - und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier - wie auch bei der Heimatregion des Klägers - kein anderes Ergebnis geboten.
362 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
363 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
364 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisierten, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
365 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
366 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
367 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
368 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
369 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
370 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
371 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
372 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
373 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
374 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
375 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
376 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
377 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
378 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
379 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
380 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
381 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
382 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
383 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzstatus.

Der am ... 2009 in ... bei Mossul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischem Glauben.

Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger am 29. September 2017 als unbegleiteter Minderjähriger auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er durch seinen Vormund am 11. Dezember 2017 Asylerstantrag stellte. Der Asylantrag wurde gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG beschränkt.

Eine persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) fand nicht statt. Stattdessen wurde von Seiten des Vormundes des Klägers eine Stellungnahme vorgelegt, die darauf verweist, dass das Dorf, in dem der Kläger mit seiner Familie gelebt habe, am 3. August 2016 überfallen worden sei. Daraufhin sei der Kläger mit seiner Familie in die Berge geflohen, um sich dort zu verstecken. Der Familie sei die Lebensgrundlage genommen worden. Das vormals bewohnte Haus sei zerstört worden. Seine Eltern und Geschwister würden sich derzeit in einem Flüchtlingscamp bei ... (...) aufhalten. Auf den weiteren Inhalt der Stellungnahme vom 18. Dezember 2017 wird ergänzend verwiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wurde für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festgestellt (Nr. 3. des Bescheids). In den Nrn. 1. und 2. des Bescheides wurde bestimmt, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt werden.

In den Gründen des Bescheids ist ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Ein Ausländer sei Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinde, dessen Staatsangehörigkeit er besitze (§ 3 AsylG). Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne dieser Definition. Soweit der Kläger angebe, sein Dorf sei im August 2016 von der Terrormiliz „islamischer Staat“ (IS) überfallen worden, so habe der IS zu diesem Zeitpunkt zwar gezielt Ortschaften überfallen und zerstört, jedoch habe sich die Situation im Distrikt ... in der Provinz Ninive dahingehend verändert, dass es derzeit keine derartige Bedrohung mehr in dieser Region gebe. Dem Bundesamt lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass dem Kläger eine Verfolgung aufgrund seiner yezidischen Religionszugehörigkeit drohen könne. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden finde nicht statt. Es gebe aktuell keine Hinweise auf Verfolgung durch den IS und auch keine bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Region. Das genannte Gebiet sei wieder unter der Kontrolle der Zentralregierung und nicht mehr unter kurdischer Kontrolle. Hieraus ergebe sich, dass es bei einer Rückkehr keine drohende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG für den Kläger gebe. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Insbesondere scheide eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG aus. Im Herkunftsland des Klägers bestehe kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Die Provinz Ninive sei unter der Kontrolle der Regierung, seit dem der IS aus dem Gebiet vertrieben worden sei und die Regierung die Region im Oktober 2017 von den Kurden zurückerobert habe. Für den Kläger bestehe jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

Auf den weiteren Inhalt des Bescheides des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wird ergänzend verwiesen.

Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Vormund des Klägers am 6. Februar 2018 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt.

Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 8. Februar 2018 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,

I.

Der Bescheid des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Az.: ...) vom 22. Januar 2018, zugestellt am 6. Februar 2018 wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylVfG zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Zur Begründung der Klage ist mit am 5. März 2018 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg eingegangen Schreiben ausgeführt, dass der Kläger der Religionsgemeinschaft der Yeziden angehöre. Der Kläger habe sein Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion verlassen. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr in den Irak mit großer Wahrscheinlichkeit erneut eine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Yeziden. Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung subsidiären Schutzes bleibe aufrechterhalten.

Die Beklagte hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.

Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 7. März 2018 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Mit Schriftsatz vom 16. April 2018 hat der Vormund des Klägers auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Die Beklagte hat sich mit Generalerklärung vom 27. Juni 2017 ebenfalls mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt habe (§ 101 Abs. 2 VerwaltungsgerichtsordnungVwGO).

Die ausgehend von der Beschwer des Klägers ausschließlich auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) gerichtete Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2018 ist, soweit er sinngemäß mit der Klage vom 8. Februar 2018 angegriffen worden ist, rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid ist unter Würdigung der Verhältnisse in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II Seite 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- und Schutzakteuren regeln die §§ 3a-d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU, L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9-26, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU).

Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 der RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung Handlungen, die – Nr. 1 – aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685,953) keine Abweichung zulässig ist, oder die – Nr. 2 – in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie in der Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Als Verfolgung können nach § 3a Abs. 2 AsylG u.a. folgende Handlungen gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt – Nr. 1 – sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind – Nr. 6 –.

Ferner muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von – Nr. 1 – dem Staat, – Nr. 2 – Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, oder – Nr. 3 – von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

In der Definition der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) und der RL 2011/95/EU ist angelegt, dass bei ihrer Prüfung als Prognosemaßstab derjenige der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen ist. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 – 8 A 4063/06.A – juris).

Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU – dieser hat keine nationale Entsprechung – ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird.

Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, (360 f.); dem folgend BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377-388 und vom 31. März 1981 – 9 C 237.80 – juris).

Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 –, BVerwGE 104, 97 (101 ff.), juris), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 27. April 1982 – 9 C 308.81 –, BVerwGE 65, 250 (252), juris).

Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 – BVerwGE 104, 97 (99), juris).

Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für Ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisiert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – Saadi, Rn. 128 m.w.N., juris).

Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die Beurteilung, ob stichhaltige Gründe die Vermutung widerlegen, obliegt dem Tatrichter im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Verwaltungsgericht Augsburg, Urteil vom 11. Juli 2016 – Au 5 K 16/30604 – juris).

Aus den in § 25 AsylG (und Art. 4 RL 2011/95/EU) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Drittstaatsangehörigen folgt, dass es auch unter Berücksichtigung dieser Vorgaben Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321.85 – juris).

Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.

Gemäß nach diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG hinsichtlich des Klägers nicht vor. Da im Verfahren keine zielgerichtete individuelle Bedrohung insbesondere seitens der Terrormiliz ‘Islamischer Staat‘ (IS) geltend gemacht hat, ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger ausschließlich über die Grundsätze der Gruppenverfolgung für yezidische Glaubensangehörige möglich.

Das Gericht ist der Auffassung, dass für Glaubenszugehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die wie der Kläger aus der Provinz Ninive im Zentralirak stammen, die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nicht mehr gegeben sind.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 – und Urteil vom 30. April 1996 – 9 C 171.95 – BVerwGE 101, 134 (140 f.), juris).

Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms –, vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris), ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 – Rn. 20 und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (203), juris).

Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3 d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 – juris Rn 20).

Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204)); zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vgl. zuletzt etwa BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 –; BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238 (234), juris, jeweils m.w.N).

Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteile 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243-254; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2011 – 9 A 567/11.A – juris).

Gruppengerichtete Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, erfassen nicht immer ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend. Die ihnen zugrundeliegenden ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gegensätze können in einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt sein; die darin wurzelnden Spannungen können sich in unterschiedlichem Grade auf das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsteile auswirken. Deshalb ist – jedenfalls bei gruppengerichteten Verfolgungen durch nicht-staatliche Kräfte – von der Möglichkeit auszugehen, dass solche Verfolgungen regional oder lokal begrenzt sind mit der Folge, dass sich die verfolgungsfreien Räume als inländische Fluchtalternative darstellen können und dass die dort ansässigen Gruppenangehörigen als unverfolgt zu gelten haben. Allerdings bedarf dabei näherer Ermittlung, ob eine bestehende Schutzunwilligkeit des Staates die Gefahr einer Ausweitung der Verfolgung in bisher verfolgungsfreie Räume begründet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238, juris).

Nach diesen Maßstäben ist der Kläger als Angehöriger der yezidischen Religionsgemeinschaft bezogen auf seinen letzten Aufenthaltsort ... bei Mossul in der Provinz Ninive keiner regionalen Gruppenverfolgung durch den IS als nichtstaatlichem Akteur ausgesetzt.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fehlt es jedenfalls an der erforderlichen „Verfolgungsdichte“, die für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen belief sich die Zahl der in der Provinz Ninive ansässigen Yeziden vor dem Überfall durch den IS auf ca. 291.000 Menschen in der Region, wobei diese Zahl anhand der ausgegebenen Lebensmittelkarten ermittelt werden konnte, und weiteren ca. 65.000 Menschen in der Region Sheikhan (vgl. Gutachten des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 16. September 2013 an das OVG NRW, S. 11 f., juris).

Zwar wurden seit 2014 Schätzungen zufolge 5000 Yeziden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit getötet, mehr als 6000 Yezidinnen versklavt, 300 000 Yeziden wurden vertrieben. 24 Massengräber wurden in der Region ... bereits gefunden. Befürchtet wird, dass fast doppelt so viele an verschiedenen Orten in der Region liegen, viele davon weiter südlich der aktuellen Frontlinie (vgl. Die Zeit online, Die Vergessenen von, 13. Juni 2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/jesiden-nordirak-islamischer-staat; Die Jesiden von, Le Monde diplomatique, Januar 2017, S. 11).

Diese Verfolgungssituation für yezidische Glaubenszugehörige besteht seit Mitte/Ende des Jahres 2017 jedoch nicht mehr unverändert fort und führt im vorbezeichneten Verfahren dazu, dass die Voraussetzungen für die Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive nicht mehr angenommen werden können. Im August 2017 erklärte der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi, dass mit der Stadt Tal Afar eine der letzten IS-Bastionen im Land befreit worden sei. Die US-geführte Anti-IS-Koalition teilte ebenfalls mit, dass der Irak 90% des ehemals von der Terrormiliz kontrollierten Gebietes zurückerobert habe. Der IS hat nach seinem Vormarsch vor mehr als drei Jahren (2014) auf dem Höhepunkt seiner Macht riesige Gebiete im Norden und Westen des Irak beherrscht, darunter große Städte. Hierzu gehörte auch die Millionenstadt Mossul östlich von Tal Afar. Auch die Provinz Ninive, die an der Grenze zu Syrien liegt, wurde im Sommer 2014 vom IS überrannt. In der Provinzhauptstadt Mossul haben die Dschihadisten damals ihr so genanntes Kalifat ausgerufen. Im Juli 2017 wurde Mosul nach Monate langer Belagerung von den irakischen Truppen mit internationaler Hilfe zurückerobert. Bereits zuvor hatten die Extremisten die größten Teile der ehemals kontrollierten Gebiete im Irak verloren. Die Rückeroberung von Tal Afar habe nur zehn Tage gedauert. Tal Afar war eine der letzten irakischen Städte in der Hand der IS-Miliz. Diese kontrolliert nach aktuellen, dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen, nur noch zwei Gebiete im Irak, von denen Großteile unbewohnt sind. Es handelt sich hierbei um Hawidscha im Zentralirak und die Städte Al-Kaim, Rawa und Anna in der Wüste an der Grenze zu Syrien. In den übrigen Gebieten ist die Terrormiliz IS auch in der Provinz Ninive vollständig besiegt.

Mit der geschilderten Zurückdrängung des IS aus der Provinz Ninive, der Tatsache, dass die Terrormiliz lediglich noch zwei Gebiete im Irak beherrscht, ist es nach Auffassung des Gerichtes ausgeschlossen, dass die Terrormiliz noch über Strukturen verfügt, die es ihr ermöglicht, yezidische Glaubenszugehörige in der Provinz Ninive systematisch im Rahmen eines eingeleiteten und durchgeführten Verfolgungsprogramms (vgl. noch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, Seite 12, 18) zu verfolgen, wie es Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung wäre. Es ist für das gesamte Gebiet eine gewisse Befriedung eingetreten und festzustellen. Dies schließt die Annahme einer Gruppenverfolgung für den Kläger bei fehlender anlassgeprägter Einzelverfolgung im vorliegenden Fall aus. Dies gilt jedenfalls für den der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Zeitpunkt im schriftlichen Verfahren.

Nichts anderes gilt für den derzeitigen Aufenthaltsort der Eltern des Klägers (... bzw. ...). Die Stadt ... bzw. ... wird derzeit von der irakischen Zentralregierung verwaltet. Lediglich bis zum Jahr 2015 war ... umkämpft. Im Herbst 2015 teilten Kreise der kurdischen Autonomieregierung am 13. November 2015 mit, es seien Peschmerga von allen Seiten nach ... (...) eingedrungen und es sei gelungen, zentrale Gebäude zu besetzen. Am 13. November 2015 wurde die Stadt bereits aus der Hand des IS befreit. Damit kann auch bezogen auf den Aufenthaltsort der Eltern des Klägers derzeit keine Verfolgungsgefahr für Angehörige der ethno-Religiösen Minderheit der Yeziden angenommen werden.

2. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) liegen im Fall des Klägers nicht vor.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die vorgenannten Gefahren müssen dabei gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Auch subsidiärer Schutz wird nicht zuerkannt, wenn der Ausländer internen Schutz in Anspruch nehmen kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Irak kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit. Dies gilt sowohl bezogen auf den früheren Heimatort des Klägers (... bei Mossul in der Provinz Ninive) als auch auf den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...).

Nach weitreichender Befreiung der Provinz Ninive von der Terrormiliz IS und weitreichender Befriedung des Gebiets besteht die für die Annahme eines subsidiären Schutzstatus erforderliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG vorliegend nicht mehr fort.

Für die Beurteilung der Frage des Bestehens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist, sofern der Konflikt nicht landesweit besteht, auf die Herkunftsregion des Klägers abzustellen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Vorliegend ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren weder für den vormaligen Heimatort des Klägers (... bei Mossul) noch für den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...) ein bewaffneter fortbestehender innerstaatlicher Konflikt festzustellen. Die Provinz Ninive ist befriedet und unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung. Die Truppen der Terrormiliz IS sind aus diesem vormals von ihnen besetzten Gebiet dauerhaft zurückgedrängt worden. Dies schließt die Annahme der Gewährung eines subsidiären Schutzstatus im derzeitigen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aus.

Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, sind bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive nicht ersichtlich bzw. zu befürchten.

3. Nach allem war die Klage daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung erfolgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren gegenüber der Beklagten nur noch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der nach seinem Vorbringen 1995 oder 1998 in Bamyan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit.
Er reiste nach seinem Vortrag am 18. Mai 2016 nach Deutschland ein und stellte am 24. Mai 2016 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes.
Bei der Anhörung durch das Bundesamt am 7. Juni 2016 gab der Kläger an, in der Heimat habe er bei einem Onkel gelebt, weil seine Eltern getötet worden seien, als er sieben Jahre alt gewesen sei. Der Onkel lebe in Kandahar in einem gemieteten Haus. Er handele mit Trockenfrüchten. Er, der Kläger, habe keine Schule besucht und auf dem Bau gearbeitet. Als Hazara und Schiit sei er durch die Taliban gefährdet. Vor der Flucht sei er vier bis fünf Tage von den Taliban in einem Granatapfelgarten festgehalten worden. Die Taliban hätten ihn als Kämpfer rekrutieren wollen. Sie hätten ihn geohrfeigt und mit einem Stock geschlagen. Er habe zunächst eingewilligt. Er sei jedoch geflohen, als er sich habe verstecken sollen, weil eine Attacke der afghanischen Streitkräfte vermutet worden sei. Er habe einen Bach als Versteck genutzt, und sei durch den Garten entkommen. Für eine Stunde sei er zu seinem Onkel gegangen. Danach habe er Afghanistan verlassen. Eine Alternative habe er nicht gesehen.
Mit Bescheid vom 15. Juli 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag ab. Gleichzeitig entschied es, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Weiterhin erging die Aufforderung, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall nicht fristgerechter Ausreise drohte das Bundesamt die Abschiebung nach Afghanistan an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. In der Begründung heißt es u.a.: Das Vorbringen des Klägers sei nicht glaubhaft. Es sei detailarm, vage und oberflächlich. Dies gelte insbesondere für die Schilderung der Situation des Aufenthalts bei den Taliban. Auch seien keine Umstände der vorgebrachten Rekrutierung durch die Taliban geschildert worden. Konkrete Fragen habe der Kläger nur knapp und wiederholend beantwortet. Wie die Tage im Granatapfelgarten abgelaufen seien, sei trotz Nachfragen offen geblieben. Zudem sei es nicht realistisch, dass innerhalb des nur einstündigen Aufenthalts beim Onkel eine beträchtliche Summe für die Flucht zur Verfügung gestellt habe werden können. Im Übrigen habe dem Kläger eine Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.
Der Kläger erhob am 12. August 2016 Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg und trug vor, er habe sich seiner Zwangsrekrutierung durch die Taliban widersetzt. Am 20. September 2015 sei er von Taliban verschleppt worden. An diesem Tag habe er frei gehabt. Zwei bewaffnete Personen hätten ihn in einem Auto entführt. Man habe ihn geschlagen und getreten. Zum Schein habe er eine Zusammenarbeit zugesagt. Er habe u.a. Schießübungen absolvieren müssen. Er habe sich fünf Nächte in der Gewalt der Taliban befunden. Am 5. Tag habe er bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp fliehen können. Zu Fuß habe er sich zu seinem Onkel begeben. Nach einer Stunde hätten sie sich in ein Restaurant begeben, wo sie einen Schlepper getroffen hätten. Die Reise habe 4.500 US-Dollar gekostet. Er habe u.a. beim Onkel hinterlegte Ersparnisse gehabt.
Die Beklagte trat der Klage aus den Gründen des angegriffenen Bescheids entgegen.
Das Verwaltungsgericht hörte den Kläger in der mündlichen Verhandlung an.
Mit Urteil vom 17. Januar 2017 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte u.a. aus: Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die Taliban hätten ihn festgesetzt, damit er als Kämpfer für sie tätig sei. Bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp habe er fliehen können. Mit diesem Vortrag könne der Kläger seiner Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Das Gericht nehme dem Kläger sein Vorbringen nicht ab. Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei wie schon beim Bundesamt sehr allgemein gehalten gewesen. Er sei blass und detailarm und wirke distanziert. Zudem habe es unerklärliche Ungereimtheiten gegeben. Dabei habe das Gericht wohlwollend berücksichtigt, dass der Kläger aus einem anderen Kulturkreis stamme und - wie er angegeben habe - nicht zur Schule gegangen sei. Die Kammer sei aber davon überzeugt, dass der Kläger allgemeine Erkenntnisse zur Situation in Afghanistan zur Konstruktion eines eigenen Verfolgungsschicksals verwendet habe. Das Vorbringen des Klägers sei sehr pauschal gehalten und farblos gewesen. Es habe sich auf allgemeine Angaben wie, er sei „erst einmal zusammengeschlagen worden", er habe zugestimmt, dass er „mit denen arbeiten werde", beschränkt. Auch die einschneidenden Fluchtmodalitäten habe der Kläger ganz allgemein und ohne Angabe von Einzelheiten wiedergegeben. So habe er lediglich angegeben, bei Beginn der Schießerei mit den Regierungstruppen habe er seine Waffe niedergelegt und sei geflüchtet. Anschauliche Einzelheiten seien trotz mehrerer Nachfragen des Gerichts nicht genannt geworden. Gleiches gelte für die Ausreisemodalitäten im Land Afghanistan selbst. Anschauliche Details seien dem Kläger auch insoweit nicht zu entlocken gewesen. Bereits im Hinblick darauf habe die Kammer zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass der Kläger von tatsächlich Erlebtem berichtet habe. An dieser Beurteilung könne auch der Vortrag des Klägers nichts ändern, es habe im Büro seines Rechtsanwalts möglicherweise Übersetzungsfehler des Dolmetschers gegeben. Die Beurteilung des Vorbringens des Klägers ergebe sich bereits aus dem Verlauf der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht unabhängig von der Vorbereitung der Klagebegründung. An der Beurteilung des Gerichts ändere auch die Tatsache nichts, dass der Kläger nach seinem Vertrag Analphabet sei. Nach den Erfahrungen des Gerichts seien Analphabeten sehr wohl in der Lage, einen Sachverhalt detailreich und anschaulich darzustellen, wenn er sich denn wirklich so ereignet habe. Im Übrigen habe der Kläger über sein angebliches Verfolgungsschicksal ungereimt widersprüchlich und gesteigert berichtet. Völlig neu sei das Vorbringen des Klägers, ein Bekannter habe ihm in der Schweiz (vor der Einreise nach Deutschland) gesagt, er, der Kläger, werde konkret von den Taliban gesucht. Davon sei beim Bundesamt nie die Rede gewesen. Es hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, diesen Sachverhalt anzusprechen, wenn er sich denn wirklich so ereignet gehabt hätte. Über die Dauer der Festsetzung durch die Taliban und die Art der Misshandlungen seien ebenfalls unterschiedliche Angaben gemacht worden. Dies überrasche deshalb, weil die maßgeblichen Ereignisse noch nicht lange zurücklägen. Nicht nachvollziehbar sei für das Gericht auch, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu den beiden Personen, die ihn angeblich in ein Auto verfrachtet hätten, überhaupt nichts habe sagen können, weil diese ihm die Augen verbunden hätten. Der Kläger müsse diese Personen aber zunächst gesehen haben. So sei dann auch noch in der Klagebegründung angegeben worden, die beiden Personen seien bewaffnet gewesen. Ungereimt sei dabei dann auch das Vorbringen des Klägers, er sei im Camp zunächst zusammengeschlagen worden, und erst später sei es um seine Mitarbeit bei den Taliban gegangen. Schließlich habe es auch bei den finanziellen Ausreisemodalitäten eine gravierende Ungereimtheit gegeben. So habe der Kläger beim Bundesamt noch angegeben, er habe sich nach der Flucht aus dem Ausbildungscamp ca. eine Stunde beim Onkel aufgehalten und sei dann sofort gegen einen hohen Geldbetrag ausgereist. Das Geld habe er mitgenommen. Nachdem dem Kläger im ablehnenden Bescheid des Bundesamts dann vorgehalten worden sei, es sie unrealistisch, innerhalb einer Stunde einen erheblichen Geldbetrag (in US-DoIIar) aufzubringen, habe der Kläger sein Vorbringen dahin modifiziert, dass das Geld erst einige Zeit später nach Griechenland übersandt worden sei. Davon sei beim Bundesamt nicht ansatzweise die Rede gewesen.
10 
Das Urteil wurde dem Kläger am 27. Januar 2017 zustellt.
11 
Am 27. Februar 2017 stellte der Kläger einen Zulassungsantrag, dem der Senat durch Beschluss vom 4. April 2017 - zugestellt am 12. April 2017 - teilweise in Bezug auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote entsprach.
12 
Am 11. Mai 2017 reichte der Kläger unter Stellung eines Berufungsantrags die Berufungsbegründung ein. Er trägt u.a. vor: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Er habe angesichts der in humanitärer Hinsicht katastrophalen Situation in Afghanistan und unter Berücksichtigung der sich ständig verschärfenden Sicherheitslage eine Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu befürchten. Es sei nicht wahrscheinlich, dass er das zum Überleben notwendige Existenzminimum werde erwirtschaften können. Aufgrund des vom Kläger in der Provinz Kandahar Erlebten könne ihm nicht zugemutet werden sich in dieses Gebiet zurückzubegeben. An anderen Orten in Afghanistan befänden sich indes keine Familienangehörigen. Frau Stahlmann führe jedoch in ihrem Aufsatz „Überleben in Afghanistan? - Zur humanitären Lage von Rückkehrern und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" aus, dass diese akut in ihrem Überleben gefährdet seien, wenn sie keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke hätten. Der Kläger könne sich ferner auch auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG berufen. Insoweit sei insbesondere auch darauf hinzuweisen, dass sich die Bundesregierung bis heute nicht in der Lage sehe, die angeblich sicheren Landesteile, die betroffenen Ausländern als interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG dienen sollen, konkret zu benennen.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - teilweise zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2016 zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich Afghanistan ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt.
15 
Die Beklagte tritt der Berufung aus den Gründen des angegriffenen Urteils entgegen und beantragt,
16 
die Berufung zurückzuweisen.
17 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen angehört; insoweit wird auf die Niederschrift vom 11. April 2018 verwiesen.
18 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten verweist der Senat auf die gewechselten Schriftsätze. Ihm lagen die Akten des Bundesamts als Ausdruck sowie die Akten des Verwaltungsgerichts vor.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren gegenüber der Beklagten nur noch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der nach seinem Vorbringen 1995 oder 1998 in Bamyan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit.
Er reiste nach seinem Vortrag am 18. Mai 2016 nach Deutschland ein und stellte am 24. Mai 2016 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes.
Bei der Anhörung durch das Bundesamt am 7. Juni 2016 gab der Kläger an, in der Heimat habe er bei einem Onkel gelebt, weil seine Eltern getötet worden seien, als er sieben Jahre alt gewesen sei. Der Onkel lebe in Kandahar in einem gemieteten Haus. Er handele mit Trockenfrüchten. Er, der Kläger, habe keine Schule besucht und auf dem Bau gearbeitet. Als Hazara und Schiit sei er durch die Taliban gefährdet. Vor der Flucht sei er vier bis fünf Tage von den Taliban in einem Granatapfelgarten festgehalten worden. Die Taliban hätten ihn als Kämpfer rekrutieren wollen. Sie hätten ihn geohrfeigt und mit einem Stock geschlagen. Er habe zunächst eingewilligt. Er sei jedoch geflohen, als er sich habe verstecken sollen, weil eine Attacke der afghanischen Streitkräfte vermutet worden sei. Er habe einen Bach als Versteck genutzt, und sei durch den Garten entkommen. Für eine Stunde sei er zu seinem Onkel gegangen. Danach habe er Afghanistan verlassen. Eine Alternative habe er nicht gesehen.
Mit Bescheid vom 15. Juli 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag ab. Gleichzeitig entschied es, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Weiterhin erging die Aufforderung, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall nicht fristgerechter Ausreise drohte das Bundesamt die Abschiebung nach Afghanistan an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. In der Begründung heißt es u.a.: Das Vorbringen des Klägers sei nicht glaubhaft. Es sei detailarm, vage und oberflächlich. Dies gelte insbesondere für die Schilderung der Situation des Aufenthalts bei den Taliban. Auch seien keine Umstände der vorgebrachten Rekrutierung durch die Taliban geschildert worden. Konkrete Fragen habe der Kläger nur knapp und wiederholend beantwortet. Wie die Tage im Granatapfelgarten abgelaufen seien, sei trotz Nachfragen offen geblieben. Zudem sei es nicht realistisch, dass innerhalb des nur einstündigen Aufenthalts beim Onkel eine beträchtliche Summe für die Flucht zur Verfügung gestellt habe werden können. Im Übrigen habe dem Kläger eine Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.
Der Kläger erhob am 12. August 2016 Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg und trug vor, er habe sich seiner Zwangsrekrutierung durch die Taliban widersetzt. Am 20. September 2015 sei er von Taliban verschleppt worden. An diesem Tag habe er frei gehabt. Zwei bewaffnete Personen hätten ihn in einem Auto entführt. Man habe ihn geschlagen und getreten. Zum Schein habe er eine Zusammenarbeit zugesagt. Er habe u.a. Schießübungen absolvieren müssen. Er habe sich fünf Nächte in der Gewalt der Taliban befunden. Am 5. Tag habe er bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp fliehen können. Zu Fuß habe er sich zu seinem Onkel begeben. Nach einer Stunde hätten sie sich in ein Restaurant begeben, wo sie einen Schlepper getroffen hätten. Die Reise habe 4.500 US-Dollar gekostet. Er habe u.a. beim Onkel hinterlegte Ersparnisse gehabt.
Die Beklagte trat der Klage aus den Gründen des angegriffenen Bescheids entgegen.
Das Verwaltungsgericht hörte den Kläger in der mündlichen Verhandlung an.
Mit Urteil vom 17. Januar 2017 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte u.a. aus: Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die Taliban hätten ihn festgesetzt, damit er als Kämpfer für sie tätig sei. Bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp habe er fliehen können. Mit diesem Vortrag könne der Kläger seiner Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Das Gericht nehme dem Kläger sein Vorbringen nicht ab. Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei wie schon beim Bundesamt sehr allgemein gehalten gewesen. Er sei blass und detailarm und wirke distanziert. Zudem habe es unerklärliche Ungereimtheiten gegeben. Dabei habe das Gericht wohlwollend berücksichtigt, dass der Kläger aus einem anderen Kulturkreis stamme und - wie er angegeben habe - nicht zur Schule gegangen sei. Die Kammer sei aber davon überzeugt, dass der Kläger allgemeine Erkenntnisse zur Situation in Afghanistan zur Konstruktion eines eigenen Verfolgungsschicksals verwendet habe. Das Vorbringen des Klägers sei sehr pauschal gehalten und farblos gewesen. Es habe sich auf allgemeine Angaben wie, er sei „erst einmal zusammengeschlagen worden", er habe zugestimmt, dass er „mit denen arbeiten werde", beschränkt. Auch die einschneidenden Fluchtmodalitäten habe der Kläger ganz allgemein und ohne Angabe von Einzelheiten wiedergegeben. So habe er lediglich angegeben, bei Beginn der Schießerei mit den Regierungstruppen habe er seine Waffe niedergelegt und sei geflüchtet. Anschauliche Einzelheiten seien trotz mehrerer Nachfragen des Gerichts nicht genannt geworden. Gleiches gelte für die Ausreisemodalitäten im Land Afghanistan selbst. Anschauliche Details seien dem Kläger auch insoweit nicht zu entlocken gewesen. Bereits im Hinblick darauf habe die Kammer zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass der Kläger von tatsächlich Erlebtem berichtet habe. An dieser Beurteilung könne auch der Vortrag des Klägers nichts ändern, es habe im Büro seines Rechtsanwalts möglicherweise Übersetzungsfehler des Dolmetschers gegeben. Die Beurteilung des Vorbringens des Klägers ergebe sich bereits aus dem Verlauf der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht unabhängig von der Vorbereitung der Klagebegründung. An der Beurteilung des Gerichts ändere auch die Tatsache nichts, dass der Kläger nach seinem Vertrag Analphabet sei. Nach den Erfahrungen des Gerichts seien Analphabeten sehr wohl in der Lage, einen Sachverhalt detailreich und anschaulich darzustellen, wenn er sich denn wirklich so ereignet habe. Im Übrigen habe der Kläger über sein angebliches Verfolgungsschicksal ungereimt widersprüchlich und gesteigert berichtet. Völlig neu sei das Vorbringen des Klägers, ein Bekannter habe ihm in der Schweiz (vor der Einreise nach Deutschland) gesagt, er, der Kläger, werde konkret von den Taliban gesucht. Davon sei beim Bundesamt nie die Rede gewesen. Es hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, diesen Sachverhalt anzusprechen, wenn er sich denn wirklich so ereignet gehabt hätte. Über die Dauer der Festsetzung durch die Taliban und die Art der Misshandlungen seien ebenfalls unterschiedliche Angaben gemacht worden. Dies überrasche deshalb, weil die maßgeblichen Ereignisse noch nicht lange zurücklägen. Nicht nachvollziehbar sei für das Gericht auch, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu den beiden Personen, die ihn angeblich in ein Auto verfrachtet hätten, überhaupt nichts habe sagen können, weil diese ihm die Augen verbunden hätten. Der Kläger müsse diese Personen aber zunächst gesehen haben. So sei dann auch noch in der Klagebegründung angegeben worden, die beiden Personen seien bewaffnet gewesen. Ungereimt sei dabei dann auch das Vorbringen des Klägers, er sei im Camp zunächst zusammengeschlagen worden, und erst später sei es um seine Mitarbeit bei den Taliban gegangen. Schließlich habe es auch bei den finanziellen Ausreisemodalitäten eine gravierende Ungereimtheit gegeben. So habe der Kläger beim Bundesamt noch angegeben, er habe sich nach der Flucht aus dem Ausbildungscamp ca. eine Stunde beim Onkel aufgehalten und sei dann sofort gegen einen hohen Geldbetrag ausgereist. Das Geld habe er mitgenommen. Nachdem dem Kläger im ablehnenden Bescheid des Bundesamts dann vorgehalten worden sei, es sie unrealistisch, innerhalb einer Stunde einen erheblichen Geldbetrag (in US-DoIIar) aufzubringen, habe der Kläger sein Vorbringen dahin modifiziert, dass das Geld erst einige Zeit später nach Griechenland übersandt worden sei. Davon sei beim Bundesamt nicht ansatzweise die Rede gewesen.
10 
Das Urteil wurde dem Kläger am 27. Januar 2017 zustellt.
11 
Am 27. Februar 2017 stellte der Kläger einen Zulassungsantrag, dem der Senat durch Beschluss vom 4. April 2017 - zugestellt am 12. April 2017 - teilweise in Bezug auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote entsprach.
12 
Am 11. Mai 2017 reichte der Kläger unter Stellung eines Berufungsantrags die Berufungsbegründung ein. Er trägt u.a. vor: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Er habe angesichts der in humanitärer Hinsicht katastrophalen Situation in Afghanistan und unter Berücksichtigung der sich ständig verschärfenden Sicherheitslage eine Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu befürchten. Es sei nicht wahrscheinlich, dass er das zum Überleben notwendige Existenzminimum werde erwirtschaften können. Aufgrund des vom Kläger in der Provinz Kandahar Erlebten könne ihm nicht zugemutet werden sich in dieses Gebiet zurückzubegeben. An anderen Orten in Afghanistan befänden sich indes keine Familienangehörigen. Frau Stahlmann führe jedoch in ihrem Aufsatz „Überleben in Afghanistan? - Zur humanitären Lage von Rückkehrern und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" aus, dass diese akut in ihrem Überleben gefährdet seien, wenn sie keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke hätten. Der Kläger könne sich ferner auch auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG berufen. Insoweit sei insbesondere auch darauf hinzuweisen, dass sich die Bundesregierung bis heute nicht in der Lage sehe, die angeblich sicheren Landesteile, die betroffenen Ausländern als interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG dienen sollen, konkret zu benennen.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - teilweise zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2016 zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich Afghanistan ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt.
15 
Die Beklagte tritt der Berufung aus den Gründen des angegriffenen Urteils entgegen und beantragt,
16 
die Berufung zurückzuweisen.
17 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen angehört; insoweit wird auf die Niederschrift vom 11. April 2018 verwiesen.
18 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten verweist der Senat auf die gewechselten Schriftsätze. Ihm lagen die Akten des Bundesamts als Ausdruck sowie die Akten des Verwaltungsgerichts vor.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn

1.
der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,
2.
dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,
2a.
dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,
3.
die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und
4.
der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.

(2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Wurde kein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind die Entscheidungsformel der Abschiebungsandrohung und die Rechtsbehelfsbelehrung dem Ausländer in eine Sprache zu übersetzen, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) In den sonstigen Fällen, in denen das Bundesamt den Ausländer nicht als Asylberechtigten anerkennt, beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist 30 Tage. Im Falle der Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens.

(2) Im Falle der Rücknahme des Asylantrags vor der Entscheidung des Bundesamtes oder der Einstellung des Verfahrens beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist eine Woche.

(3) Im Falle der Rücknahme des Asylantrags oder der Klage oder des Verzichts auf die Durchführung des Asylverfahrens nach § 14a Absatz 3 kann dem Ausländer eine Ausreisefrist bis zu drei Monaten eingeräumt werden, wenn er sich zur freiwilligen Ausreise bereit erklärt.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat unbeschadet der Aufgaben nach anderen Gesetzen folgende Aufgaben:

1.
Koordinierung der Informationen über den Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit zwischen den Ausländerbehörden, der Bundesagentur für Arbeit und der für Pass- und Visaangelegenheiten vom Auswärtigen Amt ermächtigten deutschen Auslandsvertretungen;
2.
a)
Entwicklung von Grundstruktur und Lerninhalten des Integrationskurses nach § 43 Abs. 3 und der berufsbezogenen Deutschsprachförderung nach § 45a,
b)
deren Durchführung und
c)
Maßnahmen nach § 9 Abs. 5 des Bundesvertriebenengesetzes;
3.
fachliche Zuarbeit für die Bundesregierung auf dem Gebiet der Integrationsförderung und der Erstellung von Informationsmaterial über Integrationsangebote von Bund, Ländern und Kommunen für Ausländer und Spätaussiedler;
4.
Betreiben wissenschaftlicher Forschungen über Migrationsfragen (Begleitforschung) zur Gewinnung analytischer Aussagen für die Steuerung der Zuwanderung;
4a.
Betreiben wissenschaftlicher Forschungen über Integrationsfragen;
5.
Zusammenarbeit mit den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Nationale Kontaktstelle und zuständige Behörde nach Artikel 27 der Richtlinie 2001/55/EG, Artikel 25 der Richtlinie 2003/109/EG, Artikel 22 Absatz 1 der Richtlinie 2009/50/EG, Artikel 26 der Richtlinie 2014/66/EU und Artikel 37 der Richtlinie (EU) 2016/801 sowie für Mitteilungen nach § 51 Absatz 8a;
5a.
Prüfung der Mitteilungen nach § 16c Absatz 1, § 18e Absatz 1 und § 19a Absatz 1 sowie Ausstellung der Bescheinigungen nach § 16c Absatz 4, § 18e Absatz 5 und § 19a Absatz 4 oder Ablehnung der Einreise und des Aufenthalts;
6.
Führung des Registers nach § 91a;
7.
Koordinierung der Programme und Mitwirkung an Projekten zur Förderung der freiwilligen Rückkehr sowie Auszahlung hierfür bewilligter Mittel;
8.
die Durchführung des Aufnahmeverfahrens nach § 23 Abs. 2 und 4 und die Verteilung der nach § 23 sowie der nach § 22 Satz 2 aufgenommenen Ausländer auf die Länder;
9.
Durchführung einer migrationsspezifischen Beratung nach § 45 Satz 1, soweit sie nicht durch andere Stellen wahrgenommen wird; hierzu kann es sich privater oder öffentlicher Träger bedienen;
10.
Anerkennung von Forschungseinrichtungen zum Abschluss von Aufnahmevereinbarungen nach § 18d; hierbei wird das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch einen Beirat für Forschungsmigration unterstützt;
11.
Koordinierung der Informationsübermittlung und Auswertung von Erkenntnissen der Bundesbehörden, insbesondere des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz, zu Ausländern, bei denen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausländer-, asyl- oder staatsangehörigkeitsrechtliche Maßnahmen in Betracht kommen;
12.
Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Absatz 1 im Fall einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34, 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes sowie die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Absatz 7;
13.
unbeschadet des § 71 Absatz 3 Nummer 7 die Beschaffung von Heimreisedokumenten für Ausländer im Wege der Amtshilfe.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18. April 2018 - 11 K 4330/18 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Antrag ist nicht unzulässig geworden, weil der Antragsteller während des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes abgeschoben wurde. Insbesondere ist nicht das Rechtsschutzbedürfnis entfallen. Nach allgemeinen prozessrechtlichen Regeln kann in aller Regel die Vollziehung einer Verfügung nicht die Unzulässigkeit nach sich ziehen, weil der in § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO ausdrücklich gesetzlich eingeräumte Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch (vgl. zu dessen umstrittenem Charakter Funke-Kaiser, in: Bader, VwGO, 6. Aufl., § 80 Rn. 115) den Fortbestand der Zulässigkeit voraussetzt. Aber auch aus spezifisch aufenthaltsrechtlichen Überlegungen folgt nichts Anderes. Zunächst kann gegen die Zulässigkeit nicht § 11 Abs. 1 AufenthG eingewandt werden (so aber etwa HessVGH, Beschluss vom 11.12.2003 - TG 546/03 - InfAuslR 2004, 152). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531), der sich der Senat angeschlossen hat (Beschluss vom 22.03.2018 - 11 S 2776/17 -, juris), ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot wegen einen Verstoßes gegen Unionsrecht nicht anzuwenden; nach Auffassung des Senats kann auch eine behördliche Befristungsentscheidung nicht als behördliches Verbot verstanden werden (vgl. Senatsbeschluss vom 22.03.2018); jedenfalls kann, solange diese Frage nicht abschließend geklärt ist, das Rechtsschutzbedürfnis nicht unter diesem Aspekt verneint werden. Abgesehen davon kann eine Abschiebung, der nachträglich durch eine die aufschiebende Wirkung anordnende Gerichtsentscheidung (vorläufig) die Grundlage entzogen werden soll, schwerlich die Wirkungen des § 11 Abs. 1 AufenthG auslösen. Wollte man insoweit mit dem Argument des entstandenen Einreise- und Aufenthaltsverbots ein weiter bestehendes Rechtsschutzbedürfnis verneinen, so wäre dies ein Zirkelschluss, da dann die Voraussetzungen für das Entfallen des Verbots nicht herbeigeführt werden könnten. Ob für eine erneute Einreise eventuell ein Visum erforderlich ist, führt aber nicht für sich allein zum Wegfall des Rechtschutzbedürfnisses (vgl. ausführlich zu alldem Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG § 81 Rn. 140 ff. auch zum Aspekt der effektiven Rechtsschutzgewährung, insbesondere Rn 146 f.).
Aus den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Beschwerdegericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich jedoch nicht, dass abweichend vom Beschluss des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ablehnende Entscheidung des Antragsgegners vom 16. März 2018 anzuordnen ist. Die Beschwerdebegründung lässt keinen Ansatzpunkt dafür erkennen, dass die Ausweisungsverfügung und darauf aufbauend die hier zu beurteilende ablehnende Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis rechtlich zu beanstanden sein könnte.
Die wesentlichen Einwände des Antragstellers gehen dahin, dass zum einen die für eine Wiederholungsgefahr streitenden Gesichtspunkte durch den Verlauf der Therapie entkräftet seien. Dieser Einwand trifft nicht zu. Denn nach der vom Antragsgegner vor Erlass der angegriffenen Verfügung eingeholten aktuellen Stellungnahme der Therapieeinrichtung vom 19. Februar 2018 sind zwar durchaus gewisse positive Tendenzen zutage getreten, von einem grundlegenden Wandel kann jedoch keine Rede sein. Hierzu hätte es in Anbetracht der erheblichen kriminellen Vorgeschichte des Antragstellers wesentlich tiefgreifender Änderungen bedurft, die in der Stellungnahme nicht zum Ausdruck kommen. In diesem Zusammenhang und bei der Bewertung der Stellungnahme darf insbesondere die beispiellose fortgesetzte Brutalität und Rohheit des Antragstellers gegenüber anderen Menschen bei der Begehung der abgeurteilten Straftaten nicht aus den Augen verloren werden.
Zum anderen wendet der Antragsteller ein, dass er der serbischen Sprache nicht mächtig sei, insbesondere diese nicht spreche. Dieser Einwand ist völlig pauschal und nach Aktenlage nicht nachvollziehbar und daher nicht glaubhaft. Immerhin ist der Antragsteller im Jahre 1999 mit seinen Eltern und vier Geschwistern, die knapp acht, sechs, fünf und vier Jahre alt waren und daher älter als er selbst in das Bundesgebiet eingereist, Vor diesem Hintergrund ist nichts dafür ersichtlich, dass in der Familie nicht über viele Jahre nach der Einreise - neben Romanes - noch Serbisch gesprochen wurde. Zudem hat der Antragsgegner in der angegriffenen Verfügung ausgeführt, dass der immerhin jüngere, 2001 im Bundesgebiet geborene Bruder noch in jüngster Zeit sich der serbischen Sprache bedient hatte, ohne dass dies im Schriftsatz vom 30. April 2018 substantiiert infrage gestellt worden wäre. Jedenfalls kann nach alledem davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller sich, wenn auch möglicherweise nicht in einer differenzierten Art und Weise, mündlich verständigen kann, weshalb eine Aufenthaltsbeendigung unter dem Sprachaspekt nicht unverhältnismäßig ist.
Zum Aspekt der vom Antragsteller angesprochenen Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Vollstreckungsleiters hat der Antragsgegner im Schriftsatz vom 9. Mai 2018 Stellung genommen; hierauf kann verwiesen werden.
Der Einwand, die Ausreisefrist sei ermessensfehlerhaft zu kurz gesetzt, greift nicht durch. Denn der Antragsgegner hat in nicht zu beanstandender Weise darauf abgehoben, dass der Antragsteller vor der Ausreise kein Miet- bzw. Beschäftigungsverhältnis kündigen muss.
Die Streitwertfestsetzung und -änderung finden ihre Grundlage in § 63 Abs. 2 und 3, § 47 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Festsetzungspraxis des Senats in den Fällen, in denen - wie hier - dem Betroffenen bereits eine längerfristige Aufenthaltsperspektive eröffnet worden war, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine Reduzierung des Hauptsachestreitwerts vorzunehmen (vgl. Senatsbeschluss vom 24.04.2017 - 11 S 1967/17 -, AuAS 2017, 174). Die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts war entsprechend zu ändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 GKG).
Der Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. November 2017 - 4 K 5304/17 - teilweise geändert. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt und Rechtsanwalt ..., ..., beigeordnet, soweit sich seine Klage gegen Nr. 1 und Nr. 4 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 17. März 2017 richtet.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Gebühr nach Nr. 5502 der Anlage I zu § 3 Abs. 2 GKG ist nicht zu erheben.

Gründe

 
Die zulässige Beschwerde des Klägers hat teilweise Erfolg. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat die erhobene Klage, soweit sie sich gegen die in Nr. 1 und Nr. 4 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 17. März 2017 richtet, eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO (II. und III.). Im Übrigen ist die Versagung von Prozesskostenhilfe durch das Verwaltungsgericht nicht zu beanstanden (IV).
I.
Gemäß § 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren. Erforderlich ist zudem, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Unter den gleichen Voraussetzungen erfolgt nach Maßgabe des § 121 Abs. 2 ZPO die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Dabei ist es zur Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht erforderlich, dass der Prozesserfolg (annähernd) gewiss ist. Vielmehr besteht eine hinreichende Erfolgsaussicht schon dann, wenn ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich erscheint wie ein Unterliegen, der Prozessausgang also offen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990 - 2 BvR 94/88 -, BVerfGE 81, 347; Kammerbeschluss vom 22.05.2012 - 2 BvR 820/11 -, InfAuslR 2012, 317). Weder dürfen Beweiswürdigungen vorweggenommen noch sollen schwierige Rechtsfragen geklärt werden, die in vertretbarer Weise auch anders beantwortet werden können. Denn die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschluss vom 05.02.2003 - 1 BvR 1526/02 -, NJW 2003, 1857 und vom 14.04.2003 - 1 BvR 1998/02 -, NJW 2003, 2976).II.
Gemessen hieran kommt dem Kläger für die Anfechtung von Nr. 1 der angegriffenen Verfügung, mit der ihm die Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina aus der Haft ohne Setzung einer Frist angedroht worden ist, der geltend gemachte Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu.
Zwar hat der Senat entschieden, dass das Unterlassen einer Fristsetzung für die Ausreise im Falle der Abschiebung aus der Haft mit § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Einklang steht und bei Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98) - Rückführungsrichtlinie / RFRL -, die sich aus den Umständen des Einzelfalls ergeben kann, dies auch unionsrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken begegnet (vgl. insoweit VGH Bad.-Württ, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, VBlBW 2018, 15). Die kontinuierliche und erhebliche Straffälligkeit des Klägers könnte hier die Gefahr für die öffentliche Ordnung indizieren. Der Klage kommt indes dennoch eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 Abs. 1 ZPO zu. Denn das Bundesverwaltungsgericht betrachtet die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Abschiebung aus der Haft heraus ohne Setzen einer Frist zur freiwilligen Ausreise auf der Grundlage des § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG mit der Rückführungsrichtlinie in Einklang steht, als offene, nicht geklärte Frage (BVerwG, Beschluss vom 14.02.2018 - 1 C 20.17 - Rn. 2).
III.
Auch für die Anfechtung von Nr. 4 der angegriffenen Verfügung, in der es heißt
„Das mit dem Vollzug einer Abschiebung eintretende Einreise- und Aufenthaltsverbot wird auf 2 Jahre ab Ausreise befristet.“
ist dem Kläger entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Prozesskostenhilfe zu gewähren. Denn die Erfolgsaussichten seiner Klage sind auch insoweit offen.
1. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Verfügung insoweit von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. Das in § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnete gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot ist im Fall des Klägers aus unionsrechtlichen Gründen unanwendbar (a)). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die angegriffene Entscheidung als einzelfallbezogene Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verstehen (b)). Diese Rechtsprechung hat aber die Frage, ob es für eine solche einzelfallbezogene Anordnung eine hinreichend Ermächtigungsgrundlage gibt, nicht geklärt. Es sind hier komplexe Frage (auch des Unionsrechts) zu beantworten (c)).
a) aa) Die gesetzliche Regelung über das als Folge der Abschiebung eintretende Einreise- und Aufenthaltsverbot aus § 11 Abs. 1 AufenthG ist wegen eines Verstoßes gegen Art. 11 RFRL unionsrechtswidrig und daher unanwendbar mit der Folge, dass eine Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots zunächst ins Leere geht.
10 
Die Rückführungsrichtlinie definiert das Einreiseverbot als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht“ (Art. 3 Nr. 6 RFRL). Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsbehelf zu ermöglichen, über den auch belehrt werden muss (Art. 12 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 RFRL). Zwingend ist ein solches Einreiseverbot nach den Vorgaben des Unionsrechts in zwei Fällen zu verfügen: Einmal gilt dies, wenn keine Frist für eine freiwillige Ausreise gesetzt worden ist (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a) RFRL) und weiter auch dann, wenn der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) RFRL).
11 
Davon ausgehend kann allein aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach der Rückführungsrichtlinie jedenfalls, soweit es an eine Abschiebung anknüpft, schon nicht wirksam eintreten; vielmehr bedarf es dafür einer behördlichen oder richterlichen Entscheidung (BVerwG, Beschlüsse vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531 Rn. 71 und vom 22.08.2017 - 1 A 10.17 -, NVwZ 2018, 345 Rn. 5). Soweit der erkennende Senat insoweit bisher vertreten hat, dass es zur Sicherung der Unionsrechtskonformität von § 11 AufenthG ausreiche, dass die Befristungsentscheidung (heute) nach § 11 Abs. 2 AufenthG jedenfalls im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung erfolge (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 -, NVwZ-RR 2012, 412 (414); Beschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 -, InfAuslR 2013, 98 (99): dort allerdings schon zweifelnd „Nur bei einer derartigen Betrachtungsweise kann noch annähernd dem unionsrechtlichen Erfordernis einer einzelfallbezogenen behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung über das Einreiseverbot und dessen Befristung Rechnung getragen werden.“; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 31.10.2014 - 11 S 2025/14 -, InfAuslR 2015, 13: „Mindestmaß an Konformität mit Unionsrecht“), hält er an dieser Rechtsauffassung nicht weiter fest.
12 
bb) Die Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers erfolgt auch im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie, so dass sich der unionsrechtliche Anwendungsvorrang der Rückführungsrichtlinie und die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung und Anwendung der nationalen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes auf die Entscheidung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot auswirken.
13 
Der Antragsteller ist nämlich ein illegal im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhältiger Drittstaatsangehöriger (vgl. Art. 2 Abs. 1 RFRL), ohne dass die Ausnahmen aus Art. 2 Abs. 2 und 3 RFRL eingriffen. Unbeschadet der Frage, in welcher Weise der Gesetzgeber von der Möglichkeit des opting-out aus dem Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie in Anwendung von Art. 2 Abs. 2 RFRL Gebrauch machen kann bzw. muss (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, VBlBW 2018, 15; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Dezember 2016, § 59 AufenthG Rn. 299 ff.), ist der Antragsteller bezogen auf die angegriffene Verfügung vom 17. März 2017 nicht aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig. Denn seine vollziehbare Ausreisepflicht beruht schlicht auf einem fehlenden Aufenthaltstitel und seiner unerlaubten Einreise (§§ 50 Abs. 1, 58 Ans. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Darüber hinaus ist die von dem Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 RFRL (BGH, Beschluss vom 14.07.2016 - V ZB 32/15 -, InfAuslR 2016, 432 Rn. 13; VGH Bad.-Württ, Beschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 -, InfAuslR 2013, 98).
14 
Es liegt beim Kläger auch ein Fall eines unionsrechtlich zwingenden Einreiseverbots vor, da ihm - für die Abschiebung aus der Haft - keine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt worden ist (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a) RFRL).
15 
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts soll die von Art. 11 Abs. 1 RFRL geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer in unionsrechtskonformer Auslegung des Aufenthaltsgesetzes regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG zu sehen sein (BVerwG, Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531 Rn. 72). Es handelt sich hiernach also um den konstitutiven Erlass eines befristeten Einreiseverbots (BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, DVBl 2017, 1430 Rn. 42), in das die verfügte Befristung grundsätzlich umzudeuten ist. Nicht entschieden hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings, ob für den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage besteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531 Rn. 72).
16 
c) aa) Der Wortlaut von § 11 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG spricht zunächst gegen die Möglichkeit, hier die Ermächtigung der Behörde zur Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verorten, nachdem in Absatz 1 eindeutig ein kraft Gesetzes entstehendes Verbot bestimmt wird und in Absatz 2 Satz 1 allein die Ermächtigung und Verpflichtung zur Befristung des Verbots verankert ist.
17 
bb) Es gilt jedoch zu beachten, dass die Gerichte nicht allein darauf verwiesen sind, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, in einem Akt bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, Wertvorstellungen, die der Rechtsordnung immanent sind, ans Licht und in Entscheidungen in willkürfreier Weise zur Geltung zu bringen (BVerfG, Beschluss vom 14.02.1973 -1 BvR 112/65 -, BVerfGE 34, 269 (287)). Im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung durch teleologische Korrektur des Normtextes liegt es auf der Hand, dass der Wortlaut der Norm als solcher gerade nicht begrenzend wirken kann (so auch Bauer, NVwZ 2018, 471 (473) - im Erscheinen; a.A. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.02.2018 - A 4 S 169/18 -, juris Rn. 6). Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind weiter, soweit die vom Gericht im Wege der Rechtsfortbildung gewählte Lösung dazu dient, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird. Umgekehrt sind die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung demgemäß bei einer Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen enger gesteckt. Die Rechtsfindung muss sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiegt (BVerfG, Beschluss vom 24.02.2015 - 1 BvR 472/14 -, BVerfGE 138, 177 Rn. 41 mwN.).
18 
cc) Weiter verlangt Art. 288 AEUV iVm Art. 4 Abs. 3 EUV von den nationalen Gerichten im Anwendungsbereich des Unionsrechts, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (EuGH, Urteil vom 13.07.2016 - C-187/15 - , NVwZ 2016, 1485 Rn. 43). Dabei ist zu beachten, dass das Unionsrecht auch in diesen Fällen die Beachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze verlangt und nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf (EuGH, Urteil vom 15.01.2014 - C-176/12 - , NZA 2014, 193 Rn. 39). Die unionsrechtskonforme Auslegung findet ihre Grenzen in dem nach der innerstaatlichen Rechtsordnung methodisch Erlaubten (BVerfG, Beschluss vom 17.11.2017 - 2 BvR 1131/16 -, NVwZ-RR 2018, 169 Rn. 37).
19 
dd) Eine Rechtsanwendung dahingehend, § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG könnten als Ermächtigungsgrundlage für die Ausländerbehörde zur Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots dienen, würde damit in methodischer Hinsicht eine unionsrechtlich gebotene Rechtsfortbildung bedeuten, die in einer Kombination von teleologischer Extension und Substitution (vgl. dazu Reimer, Juristische Methodenlehre Rn. 623 ff.) sowohl einen Austausch von Tatbestands- als auch Rechtsfolgenelementen vornähme (siehe hierzu Dörig/Hoppe, in: Dörig, Handbuch Migrationsrecht, 2018 im Erscheinen Kapitel 5). Jedenfalls offen ist die Frage, ob sich damit der Rechtsanwender über eine ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung hinwegsetzte, was verfassungsrechtlich unzulässig wäre (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.10.2016 - 1 BvR 871/13 -, NVwZ 2017, 617 Rn. 23). Dies könnte man annehmen, weil die Beibehaltung des Systems eines gesetzlichen Einreiseverbots mit sich anschließender behördlicher Befristung in der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss diskutiert worden ist (siehe Habbe, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17(4)282 E S. 8 ; Kluth, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17/4)282 A S. 2; Sommer, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17(4)282 B S. 3; Thym, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17(4)282 F S. 3) und sich der Bundesgesetzgeber sodann für die - unionsrechtswidrige - Umsetzung entschieden hat. Indes lässt sich auch mit guten Gründen vertreten, dass eine solche Rechtsfortbildung die verfassungsrechtlichen Grenzen deswegen nicht überschreitet, weil bei einer Gesamtbetrachtung der Einzelne beim Vergleich zwischen der nationalen Konzeption von § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG einerseits und der unionsrechtskonformen Regelung andererseits in gleichem Maße in seinen Rechtspositionen beeinträchtigt würde (so Dörig/Hoppe, in: Dörig, Handbuch Migrationsrecht, 2018 im Erscheinen, Kapitel 5).
20 
ee) Aus der Darstellung der Probleme, die mit dem Unionsrechtsverstoß durch § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG verbunden sind, ergibt sich, dass derzeit in der Regel hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne von § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO einer jeden zulässigen Klage gegen den Ausspruch einer Befristung eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie bestehen.
21 
Bei diesem Befund kann der Senat offen lassen, ob es methodisch überhaupt möglich und zulässig ist, in einer Entscheidung einer Behörde über die Befristung eines gesetzlichen Verbots die Einzelfallanordnung eines befristeten Verbots zu erblicken (siehe hierzu Bauer, NVwZ 2018, 471 (473) - im Erscheinen)
22 
2. Es lässt sich derzeit nicht feststellen, dass die Regelung in Nr. 4 der Verfügung vom 17. März 2017 sich durch eine nachfolgende Regelung erledigt hätte.
23 
Das Regierungspräsidium Stuttgart hat zwar mit - nach dessen Auskunft vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegriffener - Verfügung vom 14. November 2017 „die Wirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf vier Jahre ab erneuter Ausreise (ggf. Abschiebung) befristet.“ Nach einem so genannten „Hinweis“ soll sich diese Entscheidung auf die (vom Regierungspräsidium Stuttgart) verfügte Ausweisung vom 9. August 2011 sowie auf die Abschiebungen des Antragstellers am 8. Dezember und vom 22. August 2014 beziehen. Dabei geht das Regierungspräsidium Stuttgart davon aus, dass Ausweisung und Abschiebung zu einem einheitlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot führen, das einheitlich zu befristen sei. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 RFRL darstellt (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 -, NVwZ-RR 2012, 492) und insoweit § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG nicht aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen unanwendbar sind, lässt sich die These einer einheitlichen Handhabung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aufgrund Ausweisung einerseits und Abschiebung andererseits nicht halten. Da schon deshalb auch die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Entscheidung vom 14. November 2017 offen erscheinen, hat diese Entscheidung derzeit keine Auswirkungen auf die Feststellung, dass der Klage gegen Nr. 4 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 17. März 2017 hinreichende Erfolgsaussicht zukommt.
IV.
24 
Soweit sich die Klage gegen die Abschiebungsandrohung nach Haftentlassung mit Fristsetzung für die freiwillige Ausreise richtet, kommen der Klage die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten im Sinne des § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hingegen nicht zu.
25 
Die vom Antragsteller geltend gemachten Umstände könnten allein auf Duldungsgründe führen. Diese stünden der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung indes nicht entgegen § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Gründe, die auf eine Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung führen könnten, wie etwa das Entfallen der Ausreisepflicht, werden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.
V.
26 
Die Entscheidung zu bestimmen, dass keine Gebühr nach Nr. 5502 der Anlage I zu § 3 Abs. 2 GKG zu erheben ist, nimmt der Senat in Ausübung seines ihm eingeräumten Ermessens aufgrund des teilweisen Obsiegens des Antragstellers mit seiner Beschwerde vor.
27 
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Außergerichtliche Kosten sind nicht erstattungsfähig, § 166 Abs. 1 VwGO iVm. § 127 Abs. 4 ZPO. Gerichtsgebühren fallen nach der Entscheidung des Senats nicht an.
28 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Tenor

Die Anträge auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes werden abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens als Gesamtschuldner.

Gründe

 
I.
Die Antragsteller sind kosovarische Staatsangehörige, die Antragstellerin Ziff. 1 die Mutter des minderjährigen Antragstellers Ziff. 2. Sie reisten am 27.04.2015 in die Bundesrepublik ein und stellten einen Tag später Asylanträge. Zur Begründung trug die Antragstellerin Ziff. 1 unter Vorlage einer Eheurkunde vor, seit August 2014 mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet zu sein. Sie sei nach Deutschland gekommen, um bei diesem zu sein, er wisse aber noch nichts von ihrem Besuch. Probleme mit staatlichen Behörden oder sonstige Konflikte habe es in ihrer Heimat nicht gegeben. Der Antragsteller Ziff. 2 gab an, ausgereist zu sein, da er nicht allein im Kosovo habe zurückbleiben wollen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte die Anträge auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 25.10.2016 als offensichtlich unbegründet ab (Ziff. 1 u. 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziff. 3) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Ziff. 4). Die Antragsteller wurden aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung des Bundesamtes zu verlassen. Sollten sie die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach Kosovo oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürften oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben (Ziff. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 10 Monate ab dem Tag der Ausreise befristet (Ziff. 6), das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 7). Zur Begründung verwies das Bundesamt auf die Einstufung des Kosovos als sicherer Herkunftsstaat. Die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 mit einem deutschen Staatsangehörigen habe auf die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots keinen Einfluss, da sie bei der Prüfung eines möglichen inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses durch die Ausländerbehörde Berücksichtigung finde.
Die Antragsteller haben daraufhin Klage erhoben und - mit separatem Schriftsatz - einen Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Die Abschiebungsandrohung und das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot verstießen gegen den Schutz der Ehe und der Familie durch die staatliche Ordnung. Wörtlich beantragen die Antragsteller,
die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.10.2015 anzuordnen.
II.
1. Gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG entscheidet der Berichterstatter über die Eilanträge als Einzelrichter.
2. Nachdem sich die Antragsteller in ihrer Antragsschrift ausdrücklich auf das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot beziehen, legt der Einzelrichter die Eilanträge dahingehend aus, dass sich die Antragsteller in der Sache erstens gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes wenden, zweitens vorläufigen Rechtsschutz gegen das gesetzliche und drittens gegen das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot begehren. Unter Zugrundelegung des genannten Interesses geht der Einzelrichter gemäß § 122 Abs. 1, § 88 VwGO von folgenden Anträgen aus:
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage A 10 K 5998/16 gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.10.2016 anzuordnen,
2. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, das im Bescheid vom 25.10.2016 festgesetzte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG vorläufig bis zum Eintritt der Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung auf 0 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen,
hilfsweise die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass die Abschiebung der Antragsteller bis zu einer erneuten Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nicht vollzogen werden darf.
10 
3. die aufschiebende Wirkung der Klage A 10 K 5998/16 gegen das im Bescheid vom 25.10.2016 festgesetzte behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 7 AufenthG anzuordnen.
11 
3. Bei dieser Auslegung sind die Anträge Ziff. 1 und Ziff. 2 zulässig (a und b), der Antrag Ziff. 3 hingegen bereits unzulässig (c).
12 
a) Der Antrag Ziff. 1 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG statthaft. Die einwöchige Antragsfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG wurde gewahrt.
13 
b) Statthafter Rechtsbehelf im Eilverfahren gegen das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot ist allein ein Antrag nach § 123 VwGO. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung würde den Antragstellern insoweit nicht helfen, da diese die von der Antragsgegnerin getroffene Befristungsentscheidung suspendieren und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG infolgedessen unbefristet gelten würde (OVG Nds., Beschluss vom 14.12.2015 - 8 PA 199/15 -, juris Rn. 5 m.w.N.). Die einwöchige Antragsfrist des § 36 Abs. 3 Satz 10 AsylG wurde gewahrt.
14 
c) Die Eilanträge gegen das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziff. 3) sind gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG statthaft. Die ehemals strittige Frage, ob es sich bei Rechtsbehelfen gegen die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt um asylrechtliche Streitigkeiten handelt (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 02.10.2015 - 5 B 3636/15 - juris Rn. 21; VG Regensburg, Beschluss vom 10.09.2015 - RO 9 K 15.1357 -, juris Rn. 6), bei denen Klagen gemäß § 75 Abs. 1 AsylG im Regelfall keine aufschiebende Wirkung haben, wurde mit der Einfügung des § 83c AsylG durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz 2015 (Gesetz vom 20.10.2015, BGBl. 2015 I S. 1722) ausdrücklich beantwortet und bejaht (ebenso VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 14; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 11 AufenthG Rn. 86; vgl. BT-Drs. 18/6185, S. 36).
15 
Eilanträgen gegen das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot fehlt jedoch regelmäßig das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Denn das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wird gemäß § 11 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erst mit der Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Abgelehnte Asylbewerber werden durch das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot vor der Bestandskraft des Ablehnungsbescheids mithin noch nicht beschwert (VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 16; VG Ansbach, Beschluss vom 01.03.2016 - AN 4 S 16.30141 -, juris Rn. 11; VG Münster, Beschluss vom 20.01.2016 - 4 L 39/16.A -, juris Rn. 13).
16 
Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz 2015 in das Gesetz eingefügten § 36 Abs. 3 Satz 10 AsylG, wonach Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Anordnung und Befristung nach § 11 Abs. 7 Satz 1 AufenthG innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen sind. Denn aus den Gesetzesmaterialien geht hervor, dass diese Vorschrift ausschließlich der Harmonisierung der Antragsfristen dienen sollte (BT-Drs. 18/6185, S. 33). Es ist insofern nicht davon auszugehen, dass Eilanträge auch ohne Rechtsschutzbedürfnis zulässig sein sollen (VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 17; a.A. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 11 AufenthG Rn. 75).
17 
4. Erfolg in der Sache haben die Anträge aber auch insoweit nicht, wie sie zulässig sind.
18 
a) Der Antrag Ziff. 1 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes ist unbegründet.
19 
Prüfungsmaßstab für die Frage der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die auf § 34 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG. Hiernach darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (vgl. auch Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG). Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94, 166, Leitsatz 2.b.).
20 
Ein Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen. Ein Asylantrag ist insbesondere offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder, um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält (§ 30 Abs. 2 AsylG). Die Abweisung der Asylklage als offensichtlich unbegründet setzt voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre) die Abweisung der Klage sich dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschluss vom 20.09.2001 - 2 BvR 1392/00 -, juris Rn. 17 m.w.N.). In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kommt es darauf an, ob die Offensichtlichkeitsentscheidung in Bezug auf die geltend gemachten Asylgründe bei der hier gebotenen summarischen Prüfung mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr bestätigt werden kann (vgl. VG Würzburg, Beschluss vom 03.04.2014 - W 1 S 14.30293 -, juris Rn. 15).
21 
Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamtes nicht zu beanstanden. Die Antragsteller haben aller Voraussicht keinen Anspruch auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (aa). Abschiebungsverbote dürften ebenfalls nicht vorliegen (bb). Die Abschiebungsandrohung schließlich erweist sich bei summarischer Prüfung gleichfalls als rechtmäßig (cc).
22 
aa) Der Anerkennung der Antragsteller als Asylberechtigte steht bereits Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG entgegen, da sie nach eigenen Angaben auf dem Landweg nach Deutschland eingereist sind.
23 
Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist gemäß § 3 Abs. 1 AsylG unter anderem, dass sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Hieran dürfte es im Fall der Antragsteller fehlen. Die Antragstellerin Ziff. 1 hat in ihrer Anhörung beim Bundesamt offen eingeräumt, dass ihnen im Kosovo keine Verfolgung droht. Sie seien allein wegen ihres hier lebenden Mannes nach Deutschland gekommen. Der Antragsteller Ziff. 2 hat diese Angaben bestätigt.
24 
Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG dürften ebenfalls nicht vorliegen. Die Antragsteller behaupten selbst nicht, dass ihnen im Kosovo die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
25 
bb) Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 AufenthG dürften gleichfalls nicht vorliegen. Die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 mit einem deutschen Staatsangehörigen begründet kein solches Verbot. Denn Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 AufenthG können sich nur aus solchen Umständen ergeben, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (sog. zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse). Bestehen Hindernisse, die einer Vollstreckung der Ausreisepflicht entgegenstehen, weil anderenfalls ein Schutz des Rechtsguts im Bundesgebiet verletzt würde (sog. inlandsbezogene Vollstreckungs-/ Abschiebungshindernisse), muss sich der Ausländer auf einen Antrag auf Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG bei der örtlich zuständigen Ausländerbehörde verweisen lassen (OVG Nds., Urteil vom 18.05.2010 - 11 LB 186/08 -, juris Rn. 47; VG München, Urteil vom 24.10.2016 - M 17 K 16.32996 -, juris Rn. 41).
26 
cc) Schließlich erweist sich bei summarische Prüfung auch die Abschiebungsandrohung als rechtmäßig. Die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 ist als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis insoweit erneut nicht zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.11.1999 - 19 B 1599/98 -, juris Rn. 36 f.). Die formellen Anforderungen des § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG sind eingehalten; die Dauer der Ausreisefrist von einer Woche ergibt sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
27 
b) Die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz betreffend das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Antrag Ziff. 2) sind ebenfalls unbegründet.
28 
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines Rechts des Antragstellers treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung dieses Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) sind hierbei gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 und § 294 ZPO glaubhaft zu machen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
29 
Die primär begehrte Reduzierung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 0 Monate kommt schon deshalb nicht in Betracht, da über die Länge der Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden wird (Bayer. VGH, Urteil vom 12.07.2016 - 10 BV 14.1818 -, Ls., juris; a.A. - jedoch wohl nur bei Ausweisungen - VGH Bad.-Württ., Urteil vom 09.12.2015 - 11 S 1857/15 - juris Rn. 25 ff., Beschluss vom 11.04.2016 - 11 S 393/16 -, juris Rn. 42). Die von den Antragstellern begehrte Reduzierung käme daher in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 5 VwGO allenfalls bei einer Ermessensreduzierung auf Null in Betracht. An einer solchen fehlt es jedoch. Vertretbar sind verschiedene Befristungen.
30 
Aber auch insoweit die Antragsteller hilfsweise die Verpflichtung der Antragsgegnerin begehren, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass ihre Abschiebung bis zu einer erneuten Entscheidung des Bundesamtes über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nicht vollzogen werden darf, haben die Eilanträge keinen Erfolg. Zwar spricht manches dafür, dass die Antragsteller insoweit einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht haben. Denn die Befristungsentscheidung des Bundesamtes leidet nach summarischer Prüfung an einem Ermessensfehler, weil das Bundesamt die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 mit einem deutschen Staatsangehörigen nicht berücksichtigt hat. Auch lässt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nicht bereits damit verneinen, dass keine konkreten Abschiebemaßnahmen gegen die Antragsteller geplant sind. Denn Flüchtlinge, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, müssen, wenn die Frist zur freiwilligen Ausreise - wie hier - abgelaufen ist, jederzeit mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen rechnen, sofern das Gericht ihrem Eilantrag gegen die Abschiebungsandrohung nicht stattgibt. Ob und wann ihre Abschiebung konkret geplant ist, können sie nicht wissen, da der Termin der Abschiebung dem Ausländer gemäß § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise nicht angekündigt werden darf (VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 14; a.A. VG Sigmaringen, Beschluss vom 18.02.2016 - A 8 K 113/16 -, juris Rn. 14; Beschluss vom 21.10.2016 - A 3 K 3105/16 -, juris Rn. 22). Im Falle eines Eilantrages gegen das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG fehlt es aber regelmäßig deshalb - und so auch hier - an dem erforderlichen Anordnungsgrund, da es Ausländern grundsätzlich zumutbar ist, freiwillig auszureisen, um die Sperrwirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu vermeiden (VG Aachen, Beschluss vom 28.07.2016 - 2 L 572/16.A -, juris Rn. 7; im Ergebnis so wohl auch VG Sigmaringen, Beschluss vom 21.10.2016 - A 3 K 3105/16 -, juris Rn. 22). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot entfaltet, wie aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 AufenthG und im Umkehrschluss aus § 11 Abs. 6 Satz 1 AufenthG folgt, keine Sperrwirkung, wenn ein Ausländer, dem die Abschiebung angedroht wurde, freiwillig ausreist (vgl. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 11 AufenthG Rn. 7; Maor, in: BeckOK AuslR, Stand: 01.11.2016, § 11 AufenthG Rn. 39). Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall eine abweichende Betrachtung als geboten erscheinen lassen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 09.11.2012 - 11 S 2200/12 -, juris Rn. 11; VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 35), wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Der Antragstellerin Ziff. 1 und ihrem Ehemann erscheint eine (vorübergehende) Trennung zumutbar. Sie leben, kurze Besuche ausgenommen, seit ihrer Eheschließung freiwillig in verschiedenen Staaten.
31 
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
32 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 18. Januar 2017 - A 5 K 4182/16 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, dem bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der 1976 geborene Kläger ist ausweislich von im Verwaltungsverfahren vorgelegten Kopien von Identitätsdokumenten ein aus Syrien stammender palästinensischer Volkszugehöriger. Er reiste im Sommer 2015 mit zwei Söhnen, seiner Schwester und einem Neffen über den Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 5. August 2015 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 15. Juni 2016 brachte der Kläger im Wesentlichen vor, er habe sich bis zu seiner Ausreise in Damaskus aufgehalten. Seinen Wehrdienst habe er von 1995 bis 1998 abgeleistet. Er habe als Krankenwagen-Fahrer gearbeitet und sei deswegen oft in Gefahr gewesen, weshalb er seinen Job habe wechseln wollen. Er habe dann einen Transporter gehabt, mit dem er die Angestellten des Krankenhauses nach Hause gefahren habe. Zwei seiner Kollegen seien entführt worden. Daraufhin habe er Angst bekommen und gekündigt. Nach zwischenzeitlichem viermonatigem Aufenthalt im Libanon im Jahre 2013 habe er nach seiner Rückkehr in Syrien keine Arbeit mehr gehabt. Wegen der schlimmen Lage und des Krieges habe er sich zur Ausreise entschlossen. Für den Fall einer Rückkehr fürchte er, zum Militär einberufen zu werden.
Mit Bescheid vom 28. September 2016, zugestellt am 30. September 2016, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger (und seinen beiden Söhnen) subsidiären Schutz zu, lehnte den Asylantrag im Übrigen aber ab. Aufgrund des „fehlenden Vortrags zu möglichen individuellen konkreten Verfolgungsgründen" lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vor.
Der Kläger erhob am 12. Oktober 2016 Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen. Zu deren Begründung nahm er im Wesentlichen auf die bisherige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden-Württemberg Bezug. Die Lage und Entwicklung in Syrien hätten sich nicht in einer Weise geändert, dass die zugrunde liegenden Einschätzungen in Frage zu stellen seien. Mehr denn je sei davon auszugeben, dass syrischen Staatsangehörigen, namentlich Männern im wehrfähigen Alter und damit auch ihm, aufgrund ihrer Flucht aus Syrien bereits eine Regimegegnerschaft unterstellt werde, derentwegen sie mit Verfolgung rechnen müssten.
Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Durch Gerichtsbescheid vom 18. Januar 2017 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 28. September 2016, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Zur Begründung führte es aus: Unabhängig von einer etwa bestehenden Vorverfolgung müssten grundsätzlich alle aus Deutschland zurückkehrende Syrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, Verfolgungshandlungen zu erleiden, die an eine ihnen vom Regime zugeschriebene regimefeindlichen Einstellung anknüpften. Im Falle des Klägers komme gefahrerhöhend hinzu, dass er im wehrdienstpflichtigen Alter sei und daher Gefahr laufe, bei der Wiedereinreise wegen seines Auslandsaufenthalts auch wegen einer Wehrdienstentziehung verhört und menschenrechtswidrig behandelt zu werden. Auch müsse er damit rechnen, im Falle der Einziehung sich an Handlungen beteiligen zu müssen, die sich gegen den Frieden richteten oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden. Wiederum gefahrerhöhend komme hinzu, dass der Kläger palästinensischer Volkszugehöriger sei.
Am 7. Februar 2017 stellte die Beklagten einen Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Senat durch Beschluss vom 2. März 2017 entsprach.
Am 13. März 2017 begründete die Beklagte die Berufung unter Stellung eines Antrags. Es gebe keine hinreichend verlässlichen Auskunftsquellen und Erkenntnisse, wonach Rückkehrern bei der Wiedereinreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit überhaupt eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung drohe. Abgesehen davon gebe es auch keine hinreichend verlässlichen Informationen, wonach das syrische Regime in jedem Rückkehrer aus Europa einen potentiellen Regimegegner sehe. Was eine mögliche Gefährdung wegen einer Wehrdienstentziehung betreffe, so sei nicht davon auszugehen, dass der syrische Staat insoweit an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal anknüpfe.
10 
Die Beklagte beantragt,
11 
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 18. Januar 2017 - A 5 K 4182/16 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
12 
Der Kläger beantragt,
13 
die Berufung zurückzuweisen.
14 
Er macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu Eigen.
15 
Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung angehört. Insoweit wird auf die Niederschrift vom 2. Mai 2017 verwiesen.
16 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
17 
Dem Senat lagen die Akten des Bundesamts sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vor.

Entscheidungsgründe

 
18 
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat sie zu Recht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
19 
I. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht (vgl. § 3e AsylG).
20 
Ob die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3b AsylG) einerseits und den erlittenen oder bevorstehenden Rechtsgutsverletzungen bzw. dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen andererseits besteht, ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit festzustellen (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 Rn. 24). Die Verknüpfung ist also anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13). Es kommt demzufolge nicht auf die ohnehin kaum feststellbaren (künftigen) subjektiven Vorstellungen der jeweils für den Akteur im Sinne des § 3c AsylG handelnden Person(en) an (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 a.a.O.). Hier gilt nichts anderes als für das nationale Asylrecht nach Art. 16a GG (vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 -, BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.>; vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <334 f.>; vom 10.12.1991 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 und vom 11.02.1992 - 2 BvR 1155/91 -, InfAuslR 1992, 152 <154>).
21 
Diese Verknüpfung geht grundsätzlich auch nicht verloren, wenn mit der Verfolgungshandlung weitere, flüchtlingsrechtlich neutrale Zwecke verfolgt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat zum nationalen Asylrecht schon entschieden, dass auch in Fällen, in denen der Staat das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt, eine staatliche Verfolgung vorliegen kann (BVerfG, Beschluss vom 10.07. 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315-353; Beschluss vom 12.07.1993 - 2 BvR 855/93 -, juris). Für das unionsrechtliche und das internationale Flüchtlingsrecht nach der Genfer Konvention gilt nichts anderes (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24/08 -, BVerwGE 135, 252 Rn. 16).
22 
Soweit in Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Intensität der flüchtlingsrelevanten Zielrichtung des Handelns besteht - die Maßstäbe reichen von einer „Relevanz“ bzw. „contributing factor(s)“ bis hin zu „essential and significant reason(s)“ (vgl. Göbel-Zimmermann/Hruschka, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 3a AsylG Rn. 19; Hathaway, International Refugee Law: The Michigan Guidelines on Nexus to a Convention Ground, 2002, 210 <217> Rn. 13; Guide to Refugee Law in Australia: Chapter 5 - AAT, September 2016, http://www.aat.gov.au) - ist dies nicht entscheidend, wenn der flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgrund nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass auch die Verfolgung entfiele (sog. „but for-test“, vgl. Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3a AsylG Rn. 53, m.w.N.), da in solchen Fällen die erforderliche Intensität nach allen Auffassungen vorliegt.
23 
Es kommt zuletzt nicht darauf an, ob der Verfolgte diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG und Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EZ des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. L 337 S. 9)– im Folgenden Anerkennungsrichtlinie). Hierher rechnet auch der Fall, dass der Betreffende seitens des Verfolgers nur verdächtigt wird, ein solches Merkmal zu erfüllen und die Verfolgungsmaßnahme hier ansetzt, um eine entsprechende Feststellung zu treffen (vgl. hierzu schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris, m.w.N.). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine (bestimmte) Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
24 
Von diesen Maßstäben ausgehend und unter Berücksichtigung des prognostischen Charakters der Frage nach einer begründeten Furcht des Schutzsuchenden bei dessen Rückkehr sowie dessen sachtypischen Beweisnotstandes - der gerade in Bezug auf die Frage nach der Motivationslage des (potentiellen) Verfolgers offen zu Tage liegt - kann die Zielrichtung des Verfolgers, die unbeschadet der dargestellten objektivierten Betrachtungsweise als Intention ein subjektives Merkmal darstellt, aus den objektiven Gegebenheiten, so wie sie sich aktuell darstellen und aller Voraussicht nach entwickeln werden, zu folgern sein.
25 
So hat das Bundesverfassungsgericht zur Gerichtetheit in Asylfällen schon ausgeführt, dass auch die Verfolgung von Straftaten, die sich - zunächst - nicht als politische Verfolgung darstellt, in politische Verfolgung umschlagen kann, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Es hat daraus die Vermutungsregel zu Gunsten einer (politischen) Verfolgung abgeleitet, wenn der Flüchtling eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher - nicht politischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche (Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O.).
26 
Nach Auffassung des Senats gilt für den unionsrechtlichen Flüchtlingsschutz nichts anderes. Weder Art. 9 noch Art. 10 der Anerkennungsrichtlinie lassen einen Ansatz für eine abweichende Sichtweise erkennen. Die Funktion des völkerrechtlichen wie auch unionsrechtlichen effektiven Flüchtlingsschutzes ist darauf gerichtet, politische und soziale Erscheinungsformen staatlichen wie nicht-staatlichen Handelns in der objektiven Lebenswirklichkeit gesamtheitlich zu bewältigen, was eine Fragmentierung in vielfältige und unüberschaubare individuelle Sichtweisen bzw. Handlungsmotive der verschiedenen Akteure verbietet; der Fokus der Betrachtung muss daher darauf gerichtet sein, wie sich der Eingriff in der politischen wie sozialen Realität darstellt und wie er diese beeinflusst bzw. auf diese einwirkt. Anders ausgedrückt: Entscheidend ist, wie der oder die Verfolgte die jeweilige auf sich bezogene Maßnahmen hinsichtlich ihrer Zielrichtung nach objektivierter Betrachtungsweise einschätzen kann oder konnte.
27 
Die Diskussion darüber, ob auf die Intention des potentiellen Verfolgers abzustellen sei oder nicht (vgl. dazu Dörig, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, S. 1182 f.) geht daher nach Auffassung des Senats ins Leere, soweit sie als Gegensatz von objektiver und subjektiver Gerichtetheit zu verstehen sein sollte.
28 
Und auch eine Beweisregel, die es zur Voraussetzung machte, dass die Intention stets für sich genommen festzustellen sei, mit der Folge, dass deren Ableitung aus den feststellbaren objektiven Gegebenheiten ausscheiden müsste, stünde nach all dem nicht im Einklang mit der Zweckrichtung des Flüchtlingsrechts. Da die Chancen des Schutzsuchenden, die reale Gefahr von Verfolgung direkt zu belegen eher die Ausnahme als die Regel ist, kann eine solche auch alleine auf verlässliche Herkunftslandinformationen zu stützen bzw. daraus abzuleiten sein (so treffend Hathaway/Foster, a.a.O., S. 122, m.w.N.). Für die Feststellung einer Verfolgungsintention kann nichts anderes gelten.
29 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vorn solcher Verfolgung bedroht ist, Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie. In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., S. 332 ff, 339 ff.). Erst in dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur. Für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3b Abs. 2 AsylG.
30 
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Ist der Schutzsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
31 
Eine so verstandene wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann aber gerade auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der - auch deutlich - unter 50 v.H. liegt (vgl. auch Berlit, ZAR 2017, 110 < 115 f.>). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen in ihrer Bedeutung überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Allerdings reicht die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung noch nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen.
32 
Ergeben alle Umstände des Einzelfalles jedoch die „tatsächliche Gefahr“ (sog. „real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände im Übrigen auch immer die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen entscheidungserheblichen und motivationsbildenden Unterschied machen, ob er etwa lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (schon BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 <169 f.> m.w.N. und erneut Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, AuAS 2008, 118). Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen, auf die bei der Bewertung der drohenden Gefahr abzustellen ist (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389).
33 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gewonnen haben muss.
34 
In diesem Zusammenhang sehen sich die Rechtsanwender nicht selten mit der Situation konfrontiert, dass keine relevante und größere Zahl von Referenzfällen zu bestimmten Verfolgungsszenarios bekannt geworden ist und auch individualisierbar belegt werden kann. Es handelt sich um eine für den Flüchtlingsschutz grundlegende und nicht untypische Problemstellung. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Regimen, die weitgehend außerhalb rechtstaatlicher und menschrechtlicher Grundsätze operieren und bei denen eine menschenverachtende Verfolgungspraxis ein allgegenwärtiges Phänomen darstellt, Folterungen und Misshandlungen nach außen hin nicht zuverlässig und umfassend dokumentiert werden können, sondern sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, wenn nicht gar im Verborgenen in einer Grauzone abspielen.
35 
Unter solchen Umständen kommt den in den einzelnen Erkenntnisquellen dargelegten Berichten zur allgemeinen Menschenrechts- und Verfolgungssituation in dem betreffenden Herkunftsland hervorgehobene Bedeutung zu. Aus ihnen sind Schlussfolgerungen auch auf die den Einzelnen treffende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ziehen. Demgemäß können auch allgemeine Erkenntnisse zur Verfolgungssituation eines Landes in Verbindung mit einer nur begrenzten Anzahl bekannt gewordener Verfolgungsfälle im Einzelfall die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass in Wahrheit die Zahl der tatsächlichen Verfolgungsfälle erheblich über der der dokumentierten Sachverhalte liegt bzw. für den Zeitpunkt der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland liegen wird. Dagegen kann eine Flüchtlingsanerkennung nicht ausschließlich von einer nach Person und Schicksal der Opfer genau spezifizierten Auflistung von konkreten Verfolgungsfällen abhängen. Denn dies würde bedeuten, dass eine Verfolgungswahrscheinlichkeit für solche Länder zu verneinen wäre, deren Repressionspraxis zwar allgemein bekannt ist, aber nicht in ihren Abläufen im Einzelnen offen zu Tage liegt, weil sie naturgemäß abgeschirmt im Geheimen stattfindet und - oftmals um der Aufrechterhaltung eines gewissen Scheines - das Licht der Öffentlichkeit scheut, weshalb auch konkreten Opfer nach Person und Zahl weitgehend unbekannt bleiben müssen.
36 
II. Gemessen hieran droht dem 1976 geborenen Kläger, der bereits Wehrdienst geleistet hat, aber als Reservist nach wie vor wehrpflichtig ist, Verfolgung, weil er bei einer Rückkehr konkret von Strafverfolgung oder Bestrafung bedroht ist, zumindest aber muss er mit menschenwidriger Behandlung oder Folter bei Verhören bzw. Befragungen durch den syrischen Staat rechnen, weil er sich durch eine unerlaubte Ausreise aus Syrien und einem Verbleib im Ausland dem Militärdienst entzogen hat.
37 
1. In Syrien besteht Militärdienstpflicht, die grundsätzlich für alle syrischen Männer unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund (vgl. zu alledem ausführlich SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2914; Finnish Immigration Service, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups supporting Syrian Regime and armed Opposition v. 23.08.2016) wie auch für Palästinenser, die in Syrien leben (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien - im Folgenden BFA - vom 05.01.2017, S. 37; Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017), gilt; auch Oppositionelle werden einberufen. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren. Die Wehrpflicht dauerte in der Vergangenheit bis zum Alter von 42 Jahren; mehrere Auskünfte verweisen allerdings auf Quellen, wonach die Wehrpflicht in der Praxis gegenwärtig bis zum 50. bzw. sogar bis zum 52. Lebensjahr ausgeweitet wird (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8).
38 
Ausnahmen von der Wehrpflicht werden - von Bestechungen abgesehen - in eng begrenzten Fällen gemacht, so etwa bei Personen jüdischen Glaubens oder bei Untauglichkeit. Gesetze und Regelungen über Ansprüche auf Aufschub vom Antritt des Grundwehrdienstes etwa für Einzelkinder oder Studenten - hier je nach Art des Studiums gestaffelt, regelmäßig höchstens bis 27 Jahre (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015). Die Regelungen gelten wohl teilweise zwar formal weiter, in der Praxis finden sie allerdings aufgrund des stark zunehmenden Personalbedarfs nur mehr sehr eingeschränkt und zunehmend willkürlich Anwendung (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 3; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 9).
39 
Ebenso geraten zunehmend auch noch nicht 18 Jahre alte Jugendliche vornehmlich an den zahlreichen im ganzen Land verstreuten Checkpoints in den Blick der Sicherheitskräfte und des Militärs und laufen Gefahr, Repressalien ausgesetzt zu werden. Allerdings sind, was die Rekrutierung minderjähriger Syrer für das syrische Militär und deren Ausmaß betrifft, nicht völlig deckungsgleich, was aber hier keiner Vertiefung bedarf (Danish Refugee Council, „Syria: Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty an Recruitment to the YPG“, September 2015, S. 11; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 4; BFA S. 23 f.; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
40 
Es besteht keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern bzw. zivilen Ersatzdienst zu leisten (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014). Entlassungen aus dem Militärdienst sind nach den verwerteten Erkenntnismitteln seit dem Jahre 2011, dem Beginn der militärischen Auseinandersetzung eher zur Ausnahme geworden; viele Wehrpflichtige sind über Jahre hinweg in der Armee tätig und oftmals wäre Desertion die einzige Möglichkeit, den Militärdienst zu beenden (BFA S. 24; Finnish Immigration Service, a.a.O, S. 12.).
41 
Gediente Wehrpflichtige müssen nach Beendigung des Wehrdienstes als Reservisten jederzeit abrufbar sein (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015). In der Vergangenheit wurden alle Männer bis zum Alter von 42 Jahren als Reservisten geführt; aufgrund der prekären Personalsituation gibt es gegenwärtig kein festgesetztes Höchstalter für die Aktivierung von Reservisten mehr, vielmehr werden nach den vorliegenden Auskünften im Einzelfall - je nach Ausbildung und bisheriger Tätigkeiten für die Armee - Männer im Alter von bis zu 50 oder sogar 60 Jahren erneut zum Dienst verpflichtet (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
42 
Seit dem Herbst 2014 werden Reservisten in großem Stile eingezogen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Die syrische Armee hat nach mehreren Quellen mit örtlichen Generalmobilmachungen begonnen, neue Checkpoints etabliert und Razzien im privaten und öffentlichen Bereich intensiviert, um Reservisten zu finden, die sich bislang dem Dienst entzogen haben. Die Vorgehensweise wird als zunehmend aggressiv beschrieben (vgl. UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 5). In wenigen Monaten wurden zehntausende Personen (zwangs-)rekrutiert und es existieren Berichte, wonach im Frühjahr 2015 Listen mit über 70.000 Namen von Personen, die als Reservisten eingezogen werden sollen, an den Checkpoints der syrischen Armee zirkulierten (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 6 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Bei der Einberufung von Reservisten, die auf Grundlage des Kriegsrechts innerhalb weniger Tage erfolgen kann, wird offenbar keine Unterscheidung zwischen Anhängern bzw. Unterstützern des Regimes und potentiellen Oppositionellen gemacht (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014).
43 
Männer im Alter zwischen 18 und 42 Jahren dürfen seit März 2012 nur mit einer offiziellen Beglaubigung des Militärs, mit der bescheinigt wird, dass sie vom Militärdienst freigestellt sind, das Land verlassen; seit Herbst 2014 besteht darüber hinaus für Männer, die zwischen 1985 und 1991 geboren sind, ein generelles Ausreiseverbot (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; Deutsches Orient Institut, Auskunft an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016; UNHCR, „Illegal Exit“ from Syria and Relates Issues for Determining the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Syria, February 2017; S. 6 - im Folgenden „Illegal Exit“ - S. 3 f.). Jungen Männern vor Erreichen des 18. Lebensjahres wird die Ausreise erschwert, indem Reisepässe nur für eine kurze Gültigkeitsdauer ausgestellt werden (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016 S. 4 f.; BFA S. 24).
44 
Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 8 f.). Nach dessen Artikel 98 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Artikel 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
45 
Nach der sich dem Senat bietenden Erkenntnislage lässt sich feststellen, dass nach der Ergreifung einer Person, die sich der Einberufung oder Mobilisierung entzogen hat, die Untersuchungsmaßnahmen und eine sich möglicherweise anschließende, auch längere Haft mit Folterungen einhergehen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Es gibt Quellen, wonach Rekruten, denen das Regime nicht traut, mitunter in den Kampfeinsatz an die Front geschickt werden, um ihre Motivation zu kämpfen zu erhöhen (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 10). Männer, die von Sicherheitsdiensten aufgegriffen werden, werden meistens vom militärischen Sicherheitsdienst oder dem Luftwaffensicherheitsdienst verhaftet. Das Office of United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) hat bei beiden Sicherheitsdiensten Fälle von Folter dokumentiert. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen werden, erhalten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und werden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt.“ (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee,28.03.2015, S. 3 f.).
46 
2. Die Überzeugung des Senats, dass Rückkehrern im wehrdienstfähigen Alter im Zusammenhang mit den drohenden Ermittlungen und Bestrafungen auch Folterungen drohen, gründet sich neben den zitierten Quellen auch auf die folgenden Erkenntnisse, die sich auf die allgemeine Situation bei Inhaftierungen beziehen.
47 
Es lässt sich feststellen, dass die syrischen Sicherheitsbehörden weit außerhalbrechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Grundsätze operieren und eine menschenverachtender Verfolgungspraxis an den Tag legen (von den durchgängig beschriebenen unfairen Verfahren, wenn einmal ein Gericht befasst sein sollte, vgl. UNHCR, Ergänzende aktuell Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 9).
48 
Aus mehreren Berichten von amnesty international lässt sich seit Beginn des Bürgerkriegs eine endemische Zunahme von Misshandlungen und Folter einschließlich Verschwindenlassen der Betroffenen entnommen werden (vgl. ai, „Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria“, August 2011, S. 9 ff. und nunmehr auch ai, „It breaks the human“, torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 12 ff. und passim bzw. ai „Human Slaughterhouse“ Februar 2017). Es handelt sich um Praktiken, die von Seiten des syrischen Regimes seit Jahrzehnten systematisch eingesetzt werden, um jede Opposition und jeden Widerstand zu unterdrücken bzw. zu zerschlagen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 05.01.2017 – im Folgenden BFA – S. 19 f.) Je mehr das syrische Regime in Bedrängnis geriet und destabilisiert wurde, desto stärker und rücksichtloser wurde gegenüber wirklichen und vermeintlichen Regimegegner vorgegangen, um über die ohnehin schon von den Geheimdiensten beobachtete und unterwanderte Exilszene (vgl. hierzu etwa Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern, S. 263 ff.). So wird übereinstimmend in den verwerteten Erkenntnismitteln davon berichtet, dass Folter, Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen seit Jahren und bis heute zu den gängigen Praktiken der syrischen Sicherheitsorgane gehören. Hiervon sind nicht nur unmittelbar Regimekritiker oder Regimegegner betroffen, sondern auch unbeteiligte, die als Geiseln genommen werden und von den Informationen erpresst werden sollen, namentlich sind in beträchtlichem Ausmaß auch Familienangehörige, selbst kleinere Kinder betroffen (vgl. etwa SFH, „Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 25.01.2017 zu Syrien: Reflexverfolgung“ mwN; BFA S. 27). Insbesondere nach der bereits angesprochenen Dokumentation von amnesty international („It breaks the human“ von 2016; vgl. auch den Report Syrien 2016/2017, S. 6 f.) sind mindestens 17.723 Personen zwischen den Jahren 2011 und 2015 in Haft auf abscheuliche Weise getötet worden, wobei allerseits nachvollziehbar davon ausgegangen wird, dass die Dunkelziffer beträchtlich ist, weshalb die Zahl erheblich höher sein muss.
49 
In - abstoßender Weise - beeindruckend ist die Dokumentation von Human Rights Watch „If the Dead Could Speak – Mass Deaths and Torture in Syria’s Facilities“ vom 16. Dezember 2015, in der eine Vielzahl der 53.275 sog. „Caesar“-Photos, die im August 2013 von einem Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt worden waren. Human Rights Watch erhielt alle Bilder von der Syrischen Nationalbewegung, einer regierungskritischen, politischen Gruppe, die die Fotos direkt von „Caesar“ bekommen hatte. Der Bericht konzentriert sich auf 28.707 dieser Fotos, die allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene zeigen, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben sind. Die restlichen Fotos zeigen Orte, an denen Angriffe verübt wurden, oder Leichen, die namentlich identifiziert sind, darunter überwiegend Regierungssoldaten, bewaffnete Kämpfer und bei Angriffen, Explosionen oder Attentaten getötete Zivilisten.
50 
Das U.S. State Department berichtet auch im neuesten „Country Report on Human Rights Practices Syria 2016“ (vgl. auch schon den entsprechenden Bericht für das Jahr 2015) ausführlich und umfassend über - weiter zunehmende - schwerste Menschenrechtsverstöße in Syrien. Willkürliche und extralegale Tötungen, Folterungen und Verschwindenlassen von Personen jeder Herkunft und ungeachtet des konkreten Hintergrundes (eingeschlossen von - nicht nur nächsten - Familienangehörigen) sind hiernach an der Tagesordnung. In besonderem Maße werden auch hervorgehoben die weit verbreiteten sexuellen Erniedrigungen bis zu Vergewaltigungen (von Frauen wie Männern), die zu gängigen Praktiken geworden sind, um die Opfer zu brechen und aussagebereit zu machen. Dieses findet nicht nur statt in eigentlichen Gefängnissen, sondern auch in gleichem Maße in sonstigen Gewahrsams- und Verhörzentren der Geheimdienste, aber auch von militärischen Verbänden, wie v.a. der Luftwaffe (vgl. auch SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 26.10.2015: Geheimdienst; BFA S. 17). Ein hervorzuhebender Anlass dieser Maßnahmen sind die Festnahmen an den landesweit eingerichteten Kontrollstellen, vor denen die Bevölkerung panische Ängste haben soll, weil grundsätzlich jeder ohne Ansehen der Person hiervon betroffen sein kann (vgl. etwa den Bericht der „Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 11.08.2016, Rz. 77 f.) und häufig die betroffenen Personen verschwinden und nie mehr wieder gesehen werden.
51 
Die im Jahr 2014 und wohl auch in den Jahren 2015 und 2016 verkündeten Amnestien, die erkennbar auch darauf abzielten, die Zahl der Rekrutierungen zu erhöhen, wurden immer davon abhängig gemacht, dass sich die Betreffenden innerhalb einer bestimmten Frist stellten, weshalb diese für die hier interessierende Fragestellungen nicht relevant sind (vgl. SFH, „Umsetzung der Amnestien“ 14.04.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 12 f.; Accord vom 22.07.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 19; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24).
52 
Bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel ist der Senat davon überzeugt, dass syrische Männer im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen haben.
53 
So drohen denjenigen, die sich Einberufung oder Mobilisierung entziehen, bei einer Ergreifung Untersuchungen und Festnahmen teilweise mit längerer Haft und Folter (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Einige Quellen sprechen im Zusammenhang mit Desertion von lebenslanger Haft und Exekutionen (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23.03.2017, S. 10 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Ferner gibt es Berichte von Personen, die als Rückkehrer im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst befragt und dauerhaft verschwunden sind (Dt. Botschaft Beirut an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 03.02.2016). Ferner gibt es Hinweise darauf, dass alle, die sich dem Regime entziehen - wie es Wehrdienstpflichtige tun, zumal wenn sie illegal ins Ausland reisen -, als Oppositionelle und je nach bisheriger Funktion als „Landesverräter“ betrachtet werden (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Andere Quellen halten Männer im wehrpflichtigen Alter für besonders gefährdet, bei der Einreise über den Flughafen oder auf dem Landweg Misshandlungen durch das Sicherheitspersonal zu erfahren, insbesondere wenn sie ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet haben; so spricht eine Quelle davon, „military-aged men [are] the most vulnerable group in terms of treatment by Syrian authorities at points of entry“ (Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Auch diejenigen, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird, werden als Gegner des Regimes betrachtet und haben gewaltsames Verschwinden, Haft und Folter zu gewärtigen (Amnesty International, „Between prison and the grave“, S. 44). Schließlich ergibt sich aus zahlreichen Quellen, dass für Desertion und Wehrdienstentzug mitunter auch Familienangehörige haftbar gemacht, zur Rechenschaft gezogen und unter Druck gesetzt werden (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 27; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 13).
54 
Die Wahrscheinlichkeit, den genannten Foltermaßnahmen unterworfen zu werden, ist deshalb beachtlich, weil die Identifizierung der Betroffenen als männliche Personen im wehrdienstfähigen Alter bei der Einreise oder bei Kontrollstellen innerhalb des Landes leicht, schon nach äußerlichen Kriterien vornehmbar ist, und zwar sowohl bei der Einreise an den Grenzübergangstellen wie aber auch an einer der angesprochenen Kontrollstellen (vgl. auch Auswärtiges Amt vom 02.01.2017 an VG Düsseldorf; SFH, Syrien: Mobilisierung in der syrischen Armee vom 28.03.2015; BFA S. 24). Zumindest droht eine vorübergehende Festnahme, auch wenn der Betroffene dann ohne Bestrafung direkt einer militärischen Einheit zugeführt werden sollte (vgl. hierzu Immigration and Refugee Board of Canada vom 19.01.2016; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 5).
55 
Schon bei der ersten Befragung ist nach den obigen Ausführungen mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, nämlich Misshandlung und Folter zu rechnen. Dass hier nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass alle Einreisenden ausnahmslos betroffen sein werden (vgl. Deutsches Orient Institut vom 01.02.2017 an Hess.VGH), ist für die Erfüllung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit unerheblich. Der Umstand, dass der hier infrage kommende Personenkreis infolge der konkret bestehenden Wehrpflicht in besonderer Weise in das Visier der Sicherheitsorgane gekommen ist, wird dazu führen, dass er auch hervorgehobenem Maße gefährdet ist, wovon insbesondere UNHCR ausgeht (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26 und UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24 ff.). Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Betroffenen in Fahndungslisten aufgenommen werden, die an die Grenzübergänge verteilt werden, so dass schon bei der Einreise eine Identifizierung und Verhaftung bzw. Zwangsrekrutierung wahrscheinlich ist (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 24; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Nach UNHCR („Illegal Exit“, S. 4) umfasst die Kontrolle bei den Einreisen regelmäßig eine Prüfung, ob die Betreffenden mit der entsprechenden Erlaubnis ausgereist waren. Ferner existieren mobile „Checkpoints“, die ebenfalls im Besitz der Listen sind und bei einem Datenbankabgleich feststellen können, ob der Betreffende seinen Wehrdienst abgeleistet hat bzw. als Reservist rekrutiert werden soll; auch hier kommt es zu Verhaftungen, Verschleppungen bzw. unmittelbarer Zwangsrekrutierung (BFA S. 22 ff.); Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 7; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 21). Das syrische Militär hat gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal, da es von circa 325.000 Soldaten bei Ausbruch des Krieges auf wohl etwa 150.000 Soldaten dezimiert worden ist (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 9; Finnisch Immigration Service, a.a.O., S. 6); um Wehrdienstverweigerer und Reservisten zu rekrutieren und so den Personalbedarf zu decken, finden immer wieder Durchsuchungen, Razzien und Massenverhaftungen statt (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst, 30.11.2016 S. 4 f.; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; BFH S. 23). Auch ist für viele bürokratische Akte, etwa für Heiratszertifikate, eine Bewilligung des Militärs erforderlich (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014). Daher ist es für Wehrdienstverweigerer fast unmöglich, nach Syrien einzureisen oder gar in den von der Regierung kontrollierten Gebieten zu leben und sich dort zu bewegen, ohne aufgegriffen zu werden (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
56 
3. Im Falle des Klägers liegt auch der für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche Verknüpfung der Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG vor.
57 
Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel lässt sich feststellen, dass die den syrischen Männern im wehrdienstfähigen Alter drohenden staatlichen Maßnahmen, die das übliche Maß einer strafrechtlichen Ahndung eines Wehrdienstentzugs auch in Kriegszeiten deutlich übersteigen, an eines der in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Merkmale anknüpfen.
58 
Eine realitätsnahe Bewertung des Charakters des gegenwärtigen syrischen Regimes und seiner bereits vorstehend eingehend beschriebenen Handlungen und Aktivitäten gegenüber seiner Bevölkerung lässt nach Überzeugung des Senats keine andere Deutung zu, als dass diese nach der allein maßgeblichen objektiven und nicht nach der auf die höchst subjektiven Motive der jeweiligen Akteure abstellenden Betrachtungsweise an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne von jedenfalls § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpfen und im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG die erforderliche Verbindung gegeben ist.
59 
Die gegenläufige Auffassung der Beklagten und insbesondere des OVG Nordrhein-Westfalen (vgl. Urteil vom 21.02.2017 - 2316/16.A -, juris), des OVG Rheinland-Pfalz (vgl. Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG -, juris) wie auch des OVG des Saarlandes (Urteil vom 11.03.2017 - 2 A 215/17 -, juris) würdigt den Charakter des Regimes nach Auffassung des Senats nicht zutreffend.
60 
Das Regime ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht nur in besonderes abstoßender Weise über das Lebensrecht und die Menschenwürde der Personen, die in die Hände seiner Exekutoren fallen, hinwegsetzt, sondern auch bereits seit längerem eine durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg vornehmlich auch gegen die Zivilbevölkerung führt, die in den von einer anderen Bürgerkriegspartei gehaltenen Gebieten, d.h. auf der „anderen Seite“ steht (vgl. nur beispielhaft die ins Einzelne gehende Darstellung und Auflistung der General Assembly in ihrem „Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 02.02.2017 und vom 11.08.2016; vgl. auch Human Rights Watch, „Syria: Coordinates Chemical Attacks on Aleppo - Security Council should impose Sanctions“ vom 13.02.2017; BFA S. 27).
61 
Hinzu kommt schließlich, dass das Regime mittlerweile - wenn nicht schon seit vielen Jahren - vollständig von einem „Freund-Feind-Schema“ als alles durchziehendes Handlungsmuster geprägt ist, das vereinfacht und etwas plakativ ausgedrückt damit beschrieben werden kann, dass „jeder, der nicht für mich ist, gegen mich ist“, jedenfalls solange als er nicht vom Gegenteil überzeugt hat (vgl. hierzu auch Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015: Arbeitsverweigerung).
62 
Auch weiterhin (vgl. bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 A 11 S 2046/13 -, juris) vermag der Senat kein realistisches anderes Erklärungsmuster für das Vorgehen der syrischen Grenz- und Sicherheitsbehörden erkennen als dass hier an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal angeknüpft wird.
63 
Schon die besondere Intensität der real drohenden Verfolgungshandlungen indizieren hier die bestehende Gerichtetheit auf ein flüchtlingsrelevantes Merkmal hin (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -, NVwZ 2009, 1035 <1036>). Eine abweichende Einordnung könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, fernliegt.
64 
Der Annahme der Gerichtetheit steht es nicht entgegen, dass die Maßnahmen bei der Einreise möglicherweise im Rahmen der Aufklärung des zunächst allein bestehenden Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung zur Anwendung gelangen. Eine solche Differenzierung nach „Vorfeldmaßnahmen“ und einer „endgültigen“ Verfolgung nach Erhärtung des Verdachts einer abweichenden Gesinnung ist weder in der Anerkennungsrichtlinie, noch in der GFK noch im Asylgesetz angelegt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. sowie zu Art. 16a Abs. 1 GG kennt diese ebenfalls nicht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 -, NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 -, InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6).
65 
Sie ist auch inhaltlich nicht zu rechtfertigen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses - gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils - von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht.
66 
Dieser Schluss drängt sich bei Personen, die sich dem Wehrdienst durch Ausreise entzogen haben, bereits deswegen auf, weil ihr Verhalten aus Sicht des syrischen Regimes - und vermutlich auch bei objektiver Betrachtungsweise tatsächlich - zur Schwächung des totalitären Machtapparats in seinem Existenzkampf beigetragen hat. Bestehen ausgehend von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach realistischer Lagebeurteilung keine naheliegenden Deutungsmöglichkeiten für eine fehlende Gerichtetheit, so ist - auch unter Berücksichtigung der Beweisnot der Betroffenen und der humanitären Zielsetzungen des Flüchtlingsrechts - von der naheliegenden und realistischen Alternative auszugehen. Aussagekräftige verwertbare Erkenntnismittel, die es nahe legen könnten, andere Schlussfolgerung auch nur in Betracht zu ziehen, existieren nicht; im Gegenteil: Das angesprochene „Freund-Feind-Schema“ ist seither nur noch viel deutlicher zutage getreten.
67 
Hinsichtlich der Verfolgungsgefahr für Reservisten der syrischen Armee unmittelbar bei einer Wiedereinreise nach einem längeren Auslandsaufenthalt, während dem um internationalen Schutz nachgesucht wurde, gilt überdies: Zwar rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund und wendet auch die strafrechtlichen Regelungen bezüglich Wehrdienstentziehung und Desertion vermutlich mehr oder weniger unterschiedslos auf alle syrischen Wehrpflichtigen an, so dass nicht bereits im Hinblick auf eine insoweit diskriminierende Praxis ein Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG vorliegt. Dies Feststellung schließt aber die Annahme einer gerichteten Verfolgung ebenso wenig aus wie der Umstand, dass allen Personen, die sich der Wehrpflicht entziehen, in Syrien von Rechts wegen Verfolgung deshalb droht, weil sie mit der Dienstverweigerung eine Straftat begangen haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 6.80 -, NVwZ 1982, 41; vom 28.02.1984 - 9 C 81.81 -, InfAuslR 1985, 22; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83 -, NVWZ 1986, 459), die der Senat zugrunde legt, begründet die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung für sich genommen zwar noch nicht ohne weiteres die Asylerheblichkeit; für das Unionsrecht gilt nichts anderes (vgl. Marx. a.a.O., S. 73 ff. und EuGH, Urteil vom 26.02.2015 - C-472/13 - NVwZ 2015, 575 Rn. 35).
68 
Auch wenn die politische Gerichtetheit einer generellen Maßnahme oder Regelung wie der Verpflichtung zum Waffendienst nicht immer offen zutage liegt, kann gleichwohl einer solchen Wehrpflicht neben ihrer allgemeinen - flüchtlingsrechtlich nicht einschlägigen - Zielrichtung auch eine Verfolgungstendenz innewohnen; eine solche kann etwa darin liegen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. Anhaltspunkte für derartige Intentionen können sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung sowie die menschrechtswidrige Art und Weise ihre Umsetzung sind wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts etwa daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden.
69 
Deswegen ist gerade im Falle des totalitären syrischen Regimes nach der gegenwärtigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass die drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentzugs oder Desertion nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts dient, vielmehr ist die Bestrafung des Wehrdienstentzugs auch auf eine vermutete regimefeindliche Gesinnung gerichtet, die - auch zum Zwecke der Abschreckung anderer - eliminiert werden soll. In besonderem Maße gilt dies vor dem Hintergrund der mit den Ermittlungen und Verhören einhergehenden Misshandlungen.
70 
Bei dem Regime von Baschar al-Assad handelt es sich nicht nur seit vielen Jahren um ein menschenverachtendes diktatorisches System, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft (vgl. schon den Senatsbeschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris). Die Mobilisierung und Rekrutierung der syrischen Land- und Luftstreitkräfte erfolgen hier gerade nicht zu dem Zweck, einen kriegerischen Konflikt mit einem auswärtigen dritten Staat auszutragen und zu ermöglichen, sie dienen vielmehr der Bekämpfung der oppositionellen Rebellengruppen im eigenen Land; wer sich an diesem existentiellen Kampf der Staatsmacht gegen Teile der eigenen Bevölkerung nicht beteiligt, sondern sich trotz des bekannt großen Personalbedarfs in der syrischen Armee seiner Wehrpflicht - zumal durch eine illegale Flucht ins Ausland - entzieht, manifestiert damit nach außen sichtbar seine Illoyalität gegenüber dem syrischen Staat in besonderer Weise, auch wenn eine solche in concreto gar nicht gegeben sein sollte.
71 
Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), es sei syrischen Machthabern bekannt, dass die Flucht aus Syrien oftmals nicht durch politische Gegnerschaft zum Staat, sondern durch Angst vor dem Krieg motiviert sei, steht angesichts des vorgenannten Befundes dem nicht entgegen. Vielmehr lassen die vorliegenden Erkenntnismittel nur den Schluss zu, dass die Verfolgung von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern dass es sich hierbei auch ganz maßgeblich um Verfolgung aufgrund der und Vergeltung der (bis zum Beweis des Gegenteils unterstellten) regimekritischen politischen Überzeugung der Betreffenden handelt (so auch BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 - 21 B 16.30372 -, juris; Österr. BVwG, Entscheidung vom 22.03.2017 - W221 2134862-1/E; vgl. auch, wenn auch auf zusätzliche Risikogesichtspunkte abstellend, Schweizer. BVerwG, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013). Der Ansatz des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz, wonach „die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt“, eine Verfolgung nicht zu begründen vermögen (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), steht der Auffassung des Senats zur kausalen Verknüpfung von Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung nicht entgegen. Denn bei den drohenden Menschenrechtsverletzungen geht es nicht um „allgemeine Lasten und Beschränkungen“, sondern um gezielte Eingriffe zur Ahndung einer - den Betroffenen jedenfalls zugeschriebenen - oppositionellen Überzeugung und zur Disziplinierung der übrigen, in Syrien verbliebenen Bevölkerung.
72 
Ebenso vermag der Senat den Schluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes nicht nachzuvollziehen, wonach gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee spreche (Urteil vom 02.02.2017 - 2 A 515/16 -, juris Rn. 31). Aus diesem Umstand könnte sich allenfalls ein Interesse des syrischen Staates, nicht alle Wehrpflichtigen einer langjährigen Haftstrafe zuzuführen, ableiten lassen. Abgesehen davon, dass auch dieser Ansatz spekulativ ist und ein nach rationalen Maßstäben handelndes Regime unterstellt, verhält er sich nicht zu der Gefahr der vorherigen schwerwiegenden Misshandlung oder Folter unmittelbar nach der Ergreifung.
73 
4. Dem Kläger steht schließlich keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG offen. Die Deutsche Botschaft Beirut (Auskunft vom 03.02.2016; vgl. auch Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017) geht davon aus, dass grundsätzlich alle Regionen in Syrien vom Bürgerkrieg betroffen sind, wenn nicht durch direkte Kampfhandlungen, dann indirekt (Kriegswirtschaft, Einzug ins Militär, marodierende Banden, beispielsweise in einigen Vororten von Damaskus etc.).
74 
Selbst wenn man unterstellen wollte, dass es dennoch Gebiete innerhalb Syriens gibt, die als zumutbare Fluchtalternative dienen könnten, lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass der Kläger ein solches Gebiet in zumutbarer Weise und sicher erreichen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. SFH, Rekrutierung durch die syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformation Syrien: Militärdienst, 30.11.2016) und sie sind derart verbreitet, dass mehr dafür als dagegen spricht, dass der Kläger, wenn er nicht schon beim Versuch der Einreise nach Syrien erfasst und ergriffen wird, an einem solchen Checkpoint aufgegriffen wird.
75 
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG; Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
18 
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat sie zu Recht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
19 
I. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht (vgl. § 3e AsylG).
20 
Ob die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3b AsylG) einerseits und den erlittenen oder bevorstehenden Rechtsgutsverletzungen bzw. dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen andererseits besteht, ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit festzustellen (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55 Rn. 24). Die Verknüpfung ist also anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13). Es kommt demzufolge nicht auf die ohnehin kaum feststellbaren (künftigen) subjektiven Vorstellungen der jeweils für den Akteur im Sinne des § 3c AsylG handelnden Person(en) an (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 a.a.O.). Hier gilt nichts anderes als für das nationale Asylrecht nach Art. 16a GG (vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 -, BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.>; vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <334 f.>; vom 10.12.1991 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 und vom 11.02.1992 - 2 BvR 1155/91 -, InfAuslR 1992, 152 <154>).
21 
Diese Verknüpfung geht grundsätzlich auch nicht verloren, wenn mit der Verfolgungshandlung weitere, flüchtlingsrechtlich neutrale Zwecke verfolgt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat zum nationalen Asylrecht schon entschieden, dass auch in Fällen, in denen der Staat das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt, eine staatliche Verfolgung vorliegen kann (BVerfG, Beschluss vom 10.07. 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315-353; Beschluss vom 12.07.1993 - 2 BvR 855/93 -, juris). Für das unionsrechtliche und das internationale Flüchtlingsrecht nach der Genfer Konvention gilt nichts anderes (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24/08 -, BVerwGE 135, 252 Rn. 16).
22 
Soweit in Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Intensität der flüchtlingsrelevanten Zielrichtung des Handelns besteht - die Maßstäbe reichen von einer „Relevanz“ bzw. „contributing factor(s)“ bis hin zu „essential and significant reason(s)“ (vgl. Göbel-Zimmermann/Hruschka, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 3a AsylG Rn. 19; Hathaway, International Refugee Law: The Michigan Guidelines on Nexus to a Convention Ground, 2002, 210 <217> Rn. 13; Guide to Refugee Law in Australia: Chapter 5 - AAT, September 2016, http://www.aat.gov.au) - ist dies nicht entscheidend, wenn der flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgrund nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass auch die Verfolgung entfiele (sog. „but for-test“, vgl. Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3a AsylG Rn. 53, m.w.N.), da in solchen Fällen die erforderliche Intensität nach allen Auffassungen vorliegt.
23 
Es kommt zuletzt nicht darauf an, ob der Verfolgte diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG und Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EZ des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. L 337 S. 9)– im Folgenden Anerkennungsrichtlinie). Hierher rechnet auch der Fall, dass der Betreffende seitens des Verfolgers nur verdächtigt wird, ein solches Merkmal zu erfüllen und die Verfolgungsmaßnahme hier ansetzt, um eine entsprechende Feststellung zu treffen (vgl. hierzu schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris, m.w.N.). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine (bestimmte) Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
24 
Von diesen Maßstäben ausgehend und unter Berücksichtigung des prognostischen Charakters der Frage nach einer begründeten Furcht des Schutzsuchenden bei dessen Rückkehr sowie dessen sachtypischen Beweisnotstandes - der gerade in Bezug auf die Frage nach der Motivationslage des (potentiellen) Verfolgers offen zu Tage liegt - kann die Zielrichtung des Verfolgers, die unbeschadet der dargestellten objektivierten Betrachtungsweise als Intention ein subjektives Merkmal darstellt, aus den objektiven Gegebenheiten, so wie sie sich aktuell darstellen und aller Voraussicht nach entwickeln werden, zu folgern sein.
25 
So hat das Bundesverfassungsgericht zur Gerichtetheit in Asylfällen schon ausgeführt, dass auch die Verfolgung von Straftaten, die sich - zunächst - nicht als politische Verfolgung darstellt, in politische Verfolgung umschlagen kann, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Es hat daraus die Vermutungsregel zu Gunsten einer (politischen) Verfolgung abgeleitet, wenn der Flüchtling eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher - nicht politischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche (Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O.).
26 
Nach Auffassung des Senats gilt für den unionsrechtlichen Flüchtlingsschutz nichts anderes. Weder Art. 9 noch Art. 10 der Anerkennungsrichtlinie lassen einen Ansatz für eine abweichende Sichtweise erkennen. Die Funktion des völkerrechtlichen wie auch unionsrechtlichen effektiven Flüchtlingsschutzes ist darauf gerichtet, politische und soziale Erscheinungsformen staatlichen wie nicht-staatlichen Handelns in der objektiven Lebenswirklichkeit gesamtheitlich zu bewältigen, was eine Fragmentierung in vielfältige und unüberschaubare individuelle Sichtweisen bzw. Handlungsmotive der verschiedenen Akteure verbietet; der Fokus der Betrachtung muss daher darauf gerichtet sein, wie sich der Eingriff in der politischen wie sozialen Realität darstellt und wie er diese beeinflusst bzw. auf diese einwirkt. Anders ausgedrückt: Entscheidend ist, wie der oder die Verfolgte die jeweilige auf sich bezogene Maßnahmen hinsichtlich ihrer Zielrichtung nach objektivierter Betrachtungsweise einschätzen kann oder konnte.
27 
Die Diskussion darüber, ob auf die Intention des potentiellen Verfolgers abzustellen sei oder nicht (vgl. dazu Dörig, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, S. 1182 f.) geht daher nach Auffassung des Senats ins Leere, soweit sie als Gegensatz von objektiver und subjektiver Gerichtetheit zu verstehen sein sollte.
28 
Und auch eine Beweisregel, die es zur Voraussetzung machte, dass die Intention stets für sich genommen festzustellen sei, mit der Folge, dass deren Ableitung aus den feststellbaren objektiven Gegebenheiten ausscheiden müsste, stünde nach all dem nicht im Einklang mit der Zweckrichtung des Flüchtlingsrechts. Da die Chancen des Schutzsuchenden, die reale Gefahr von Verfolgung direkt zu belegen eher die Ausnahme als die Regel ist, kann eine solche auch alleine auf verlässliche Herkunftslandinformationen zu stützen bzw. daraus abzuleiten sein (so treffend Hathaway/Foster, a.a.O., S. 122, m.w.N.). Für die Feststellung einer Verfolgungsintention kann nichts anderes gelten.
29 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, InfAuslR 2011, 408). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vorn solcher Verfolgung bedroht ist, Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie. In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., S. 332 ff, 339 ff.). Erst in dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur. Für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchtgründen beruht, reicht es bei der Prüfung der Verfolgungsgründe aus, wenn diese Merkmale dem Asylantragsteller von seinem Verfolger zugeschrieben werden, vgl. § 3b Abs. 2 AsylG.
30 
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG kann nur derjenige beanspruchen, der Verfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Ist der Schutzsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine qualifizierte und bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
31 
Eine so verstandene wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann aber gerade auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der - auch deutlich - unter 50 v.H. liegt (vgl. auch Berlit, ZAR 2017, 110 < 115 f.>). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen in ihrer Bedeutung überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Allerdings reicht die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung noch nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen.
32 
Ergeben alle Umstände des Einzelfalles jedoch die „tatsächliche Gefahr“ (sog. „real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände im Übrigen auch immer die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen entscheidungserheblichen und motivationsbildenden Unterschied machen, ob er etwa lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (schon BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 <169 f.> m.w.N. und erneut Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, AuAS 2008, 118). Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen, auf die bei der Bewertung der drohenden Gefahr abzustellen ist (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389).
33 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gewonnen haben muss.
34 
In diesem Zusammenhang sehen sich die Rechtsanwender nicht selten mit der Situation konfrontiert, dass keine relevante und größere Zahl von Referenzfällen zu bestimmten Verfolgungsszenarios bekannt geworden ist und auch individualisierbar belegt werden kann. Es handelt sich um eine für den Flüchtlingsschutz grundlegende und nicht untypische Problemstellung. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Regimen, die weitgehend außerhalb rechtstaatlicher und menschrechtlicher Grundsätze operieren und bei denen eine menschenverachtende Verfolgungspraxis ein allgegenwärtiges Phänomen darstellt, Folterungen und Misshandlungen nach außen hin nicht zuverlässig und umfassend dokumentiert werden können, sondern sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, wenn nicht gar im Verborgenen in einer Grauzone abspielen.
35 
Unter solchen Umständen kommt den in den einzelnen Erkenntnisquellen dargelegten Berichten zur allgemeinen Menschenrechts- und Verfolgungssituation in dem betreffenden Herkunftsland hervorgehobene Bedeutung zu. Aus ihnen sind Schlussfolgerungen auch auf die den Einzelnen treffende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ziehen. Demgemäß können auch allgemeine Erkenntnisse zur Verfolgungssituation eines Landes in Verbindung mit einer nur begrenzten Anzahl bekannt gewordener Verfolgungsfälle im Einzelfall die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass in Wahrheit die Zahl der tatsächlichen Verfolgungsfälle erheblich über der der dokumentierten Sachverhalte liegt bzw. für den Zeitpunkt der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland liegen wird. Dagegen kann eine Flüchtlingsanerkennung nicht ausschließlich von einer nach Person und Schicksal der Opfer genau spezifizierten Auflistung von konkreten Verfolgungsfällen abhängen. Denn dies würde bedeuten, dass eine Verfolgungswahrscheinlichkeit für solche Länder zu verneinen wäre, deren Repressionspraxis zwar allgemein bekannt ist, aber nicht in ihren Abläufen im Einzelnen offen zu Tage liegt, weil sie naturgemäß abgeschirmt im Geheimen stattfindet und - oftmals um der Aufrechterhaltung eines gewissen Scheines - das Licht der Öffentlichkeit scheut, weshalb auch konkreten Opfer nach Person und Zahl weitgehend unbekannt bleiben müssen.
36 
II. Gemessen hieran droht dem 1976 geborenen Kläger, der bereits Wehrdienst geleistet hat, aber als Reservist nach wie vor wehrpflichtig ist, Verfolgung, weil er bei einer Rückkehr konkret von Strafverfolgung oder Bestrafung bedroht ist, zumindest aber muss er mit menschenwidriger Behandlung oder Folter bei Verhören bzw. Befragungen durch den syrischen Staat rechnen, weil er sich durch eine unerlaubte Ausreise aus Syrien und einem Verbleib im Ausland dem Militärdienst entzogen hat.
37 
1. In Syrien besteht Militärdienstpflicht, die grundsätzlich für alle syrischen Männer unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund (vgl. zu alledem ausführlich SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2914; Finnish Immigration Service, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups supporting Syrian Regime and armed Opposition v. 23.08.2016) wie auch für Palästinenser, die in Syrien leben (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien - im Folgenden BFA - vom 05.01.2017, S. 37; Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017), gilt; auch Oppositionelle werden einberufen. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren. Die Wehrpflicht dauerte in der Vergangenheit bis zum Alter von 42 Jahren; mehrere Auskünfte verweisen allerdings auf Quellen, wonach die Wehrpflicht in der Praxis gegenwärtig bis zum 50. bzw. sogar bis zum 52. Lebensjahr ausgeweitet wird (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8).
38 
Ausnahmen von der Wehrpflicht werden - von Bestechungen abgesehen - in eng begrenzten Fällen gemacht, so etwa bei Personen jüdischen Glaubens oder bei Untauglichkeit. Gesetze und Regelungen über Ansprüche auf Aufschub vom Antritt des Grundwehrdienstes etwa für Einzelkinder oder Studenten - hier je nach Art des Studiums gestaffelt, regelmäßig höchstens bis 27 Jahre (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015). Die Regelungen gelten wohl teilweise zwar formal weiter, in der Praxis finden sie allerdings aufgrund des stark zunehmenden Personalbedarfs nur mehr sehr eingeschränkt und zunehmend willkürlich Anwendung (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 3; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 9).
39 
Ebenso geraten zunehmend auch noch nicht 18 Jahre alte Jugendliche vornehmlich an den zahlreichen im ganzen Land verstreuten Checkpoints in den Blick der Sicherheitskräfte und des Militärs und laufen Gefahr, Repressalien ausgesetzt zu werden. Allerdings sind, was die Rekrutierung minderjähriger Syrer für das syrische Militär und deren Ausmaß betrifft, nicht völlig deckungsgleich, was aber hier keiner Vertiefung bedarf (Danish Refugee Council, „Syria: Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty an Recruitment to the YPG“, September 2015, S. 11; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 4; BFA S. 23 f.; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
40 
Es besteht keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern bzw. zivilen Ersatzdienst zu leisten (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014). Entlassungen aus dem Militärdienst sind nach den verwerteten Erkenntnismitteln seit dem Jahre 2011, dem Beginn der militärischen Auseinandersetzung eher zur Ausnahme geworden; viele Wehrpflichtige sind über Jahre hinweg in der Armee tätig und oftmals wäre Desertion die einzige Möglichkeit, den Militärdienst zu beenden (BFA S. 24; Finnish Immigration Service, a.a.O, S. 12.).
41 
Gediente Wehrpflichtige müssen nach Beendigung des Wehrdienstes als Reservisten jederzeit abrufbar sein (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015). In der Vergangenheit wurden alle Männer bis zum Alter von 42 Jahren als Reservisten geführt; aufgrund der prekären Personalsituation gibt es gegenwärtig kein festgesetztes Höchstalter für die Aktivierung von Reservisten mehr, vielmehr werden nach den vorliegenden Auskünften im Einzelfall - je nach Ausbildung und bisheriger Tätigkeiten für die Armee - Männer im Alter von bis zu 50 oder sogar 60 Jahren erneut zum Dienst verpflichtet (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 8; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 5).
42 
Seit dem Herbst 2014 werden Reservisten in großem Stile eingezogen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Die syrische Armee hat nach mehreren Quellen mit örtlichen Generalmobilmachungen begonnen, neue Checkpoints etabliert und Razzien im privaten und öffentlichen Bereich intensiviert, um Reservisten zu finden, die sich bislang dem Dienst entzogen haben. Die Vorgehensweise wird als zunehmend aggressiv beschrieben (vgl. UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 5). In wenigen Monaten wurden zehntausende Personen (zwangs-)rekrutiert und es existieren Berichte, wonach im Frühjahr 2015 Listen mit über 70.000 Namen von Personen, die als Reservisten eingezogen werden sollen, an den Checkpoints der syrischen Armee zirkulierten (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 6 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Bei der Einberufung von Reservisten, die auf Grundlage des Kriegsrechts innerhalb weniger Tage erfolgen kann, wird offenbar keine Unterscheidung zwischen Anhängern bzw. Unterstützern des Regimes und potentiellen Oppositionellen gemacht (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014).
43 
Männer im Alter zwischen 18 und 42 Jahren dürfen seit März 2012 nur mit einer offiziellen Beglaubigung des Militärs, mit der bescheinigt wird, dass sie vom Militärdienst freigestellt sind, das Land verlassen; seit Herbst 2014 besteht darüber hinaus für Männer, die zwischen 1985 und 1991 geboren sind, ein generelles Ausreiseverbot (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; Deutsches Orient Institut, Auskunft an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016; UNHCR, „Illegal Exit“ from Syria and Relates Issues for Determining the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Syria, February 2017; S. 6 - im Folgenden „Illegal Exit“ - S. 3 f.). Jungen Männern vor Erreichen des 18. Lebensjahres wird die Ausreise erschwert, indem Reisepässe nur für eine kurze Gültigkeitsdauer ausgestellt werden (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016 S. 4 f.; BFA S. 24).
44 
Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 02.03.2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 8 f.). Nach dessen Artikel 98 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Artikel 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
45 
Nach der sich dem Senat bietenden Erkenntnislage lässt sich feststellen, dass nach der Ergreifung einer Person, die sich der Einberufung oder Mobilisierung entzogen hat, die Untersuchungsmaßnahmen und eine sich möglicherweise anschließende, auch längere Haft mit Folterungen einhergehen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Es gibt Quellen, wonach Rekruten, denen das Regime nicht traut, mitunter in den Kampfeinsatz an die Front geschickt werden, um ihre Motivation zu kämpfen zu erhöhen (Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 10). Männer, die von Sicherheitsdiensten aufgegriffen werden, werden meistens vom militärischen Sicherheitsdienst oder dem Luftwaffensicherheitsdienst verhaftet. Das Office of United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) hat bei beiden Sicherheitsdiensten Fälle von Folter dokumentiert. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen werden, erhalten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und werden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt.“ (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee,28.03.2015, S. 3 f.).
46 
2. Die Überzeugung des Senats, dass Rückkehrern im wehrdienstfähigen Alter im Zusammenhang mit den drohenden Ermittlungen und Bestrafungen auch Folterungen drohen, gründet sich neben den zitierten Quellen auch auf die folgenden Erkenntnisse, die sich auf die allgemeine Situation bei Inhaftierungen beziehen.
47 
Es lässt sich feststellen, dass die syrischen Sicherheitsbehörden weit außerhalbrechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Grundsätze operieren und eine menschenverachtender Verfolgungspraxis an den Tag legen (von den durchgängig beschriebenen unfairen Verfahren, wenn einmal ein Gericht befasst sein sollte, vgl. UNHCR, Ergänzende aktuell Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 9).
48 
Aus mehreren Berichten von amnesty international lässt sich seit Beginn des Bürgerkriegs eine endemische Zunahme von Misshandlungen und Folter einschließlich Verschwindenlassen der Betroffenen entnommen werden (vgl. ai, „Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria“, August 2011, S. 9 ff. und nunmehr auch ai, „It breaks the human“, torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 12 ff. und passim bzw. ai „Human Slaughterhouse“ Februar 2017). Es handelt sich um Praktiken, die von Seiten des syrischen Regimes seit Jahrzehnten systematisch eingesetzt werden, um jede Opposition und jeden Widerstand zu unterdrücken bzw. zu zerschlagen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 05.01.2017 – im Folgenden BFA – S. 19 f.) Je mehr das syrische Regime in Bedrängnis geriet und destabilisiert wurde, desto stärker und rücksichtloser wurde gegenüber wirklichen und vermeintlichen Regimegegner vorgegangen, um über die ohnehin schon von den Geheimdiensten beobachtete und unterwanderte Exilszene (vgl. hierzu etwa Verfassungsschutzbericht 2015 des Bundesministeriums des Innern, S. 263 ff.). So wird übereinstimmend in den verwerteten Erkenntnismitteln davon berichtet, dass Folter, Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen seit Jahren und bis heute zu den gängigen Praktiken der syrischen Sicherheitsorgane gehören. Hiervon sind nicht nur unmittelbar Regimekritiker oder Regimegegner betroffen, sondern auch unbeteiligte, die als Geiseln genommen werden und von den Informationen erpresst werden sollen, namentlich sind in beträchtlichem Ausmaß auch Familienangehörige, selbst kleinere Kinder betroffen (vgl. etwa SFH, „Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 25.01.2017 zu Syrien: Reflexverfolgung“ mwN; BFA S. 27). Insbesondere nach der bereits angesprochenen Dokumentation von amnesty international („It breaks the human“ von 2016; vgl. auch den Report Syrien 2016/2017, S. 6 f.) sind mindestens 17.723 Personen zwischen den Jahren 2011 und 2015 in Haft auf abscheuliche Weise getötet worden, wobei allerseits nachvollziehbar davon ausgegangen wird, dass die Dunkelziffer beträchtlich ist, weshalb die Zahl erheblich höher sein muss.
49 
In - abstoßender Weise - beeindruckend ist die Dokumentation von Human Rights Watch „If the Dead Could Speak – Mass Deaths and Torture in Syria’s Facilities“ vom 16. Dezember 2015, in der eine Vielzahl der 53.275 sog. „Caesar“-Photos, die im August 2013 von einem Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien herausgeschmuggelt worden waren. Human Rights Watch erhielt alle Bilder von der Syrischen Nationalbewegung, einer regierungskritischen, politischen Gruppe, die die Fotos direkt von „Caesar“ bekommen hatte. Der Bericht konzentriert sich auf 28.707 dieser Fotos, die allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene zeigen, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben sind. Die restlichen Fotos zeigen Orte, an denen Angriffe verübt wurden, oder Leichen, die namentlich identifiziert sind, darunter überwiegend Regierungssoldaten, bewaffnete Kämpfer und bei Angriffen, Explosionen oder Attentaten getötete Zivilisten.
50 
Das U.S. State Department berichtet auch im neuesten „Country Report on Human Rights Practices Syria 2016“ (vgl. auch schon den entsprechenden Bericht für das Jahr 2015) ausführlich und umfassend über - weiter zunehmende - schwerste Menschenrechtsverstöße in Syrien. Willkürliche und extralegale Tötungen, Folterungen und Verschwindenlassen von Personen jeder Herkunft und ungeachtet des konkreten Hintergrundes (eingeschlossen von - nicht nur nächsten - Familienangehörigen) sind hiernach an der Tagesordnung. In besonderem Maße werden auch hervorgehoben die weit verbreiteten sexuellen Erniedrigungen bis zu Vergewaltigungen (von Frauen wie Männern), die zu gängigen Praktiken geworden sind, um die Opfer zu brechen und aussagebereit zu machen. Dieses findet nicht nur statt in eigentlichen Gefängnissen, sondern auch in gleichem Maße in sonstigen Gewahrsams- und Verhörzentren der Geheimdienste, aber auch von militärischen Verbänden, wie v.a. der Luftwaffe (vgl. auch SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 26.10.2015: Geheimdienst; BFA S. 17). Ein hervorzuhebender Anlass dieser Maßnahmen sind die Festnahmen an den landesweit eingerichteten Kontrollstellen, vor denen die Bevölkerung panische Ängste haben soll, weil grundsätzlich jeder ohne Ansehen der Person hiervon betroffen sein kann (vgl. etwa den Bericht der „Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 11.08.2016, Rz. 77 f.) und häufig die betroffenen Personen verschwinden und nie mehr wieder gesehen werden.
51 
Die im Jahr 2014 und wohl auch in den Jahren 2015 und 2016 verkündeten Amnestien, die erkennbar auch darauf abzielten, die Zahl der Rekrutierungen zu erhöhen, wurden immer davon abhängig gemacht, dass sich die Betreffenden innerhalb einer bestimmten Frist stellten, weshalb diese für die hier interessierende Fragestellungen nicht relevant sind (vgl. SFH, „Umsetzung der Amnestien“ 14.04.2015; SFH, „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23.03.2017, S. 12 f.; Accord vom 22.07.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 19; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24).
52 
Bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel ist der Senat davon überzeugt, dass syrische Männer im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen haben.
53 
So drohen denjenigen, die sich Einberufung oder Mobilisierung entziehen, bei einer Ergreifung Untersuchungen und Festnahmen teilweise mit längerer Haft und Folter (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Deutsches Orient Institut an schl.-holst. OVG vom 07.11.2016). Einige Quellen sprechen im Zusammenhang mit Desertion von lebenslanger Haft und Exekutionen (Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23.03.2017, S. 10 f.; Danish Refugee Council, a.a.O.). Ferner gibt es Berichte von Personen, die als Rückkehrer im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst befragt und dauerhaft verschwunden sind (Dt. Botschaft Beirut an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 03.02.2016). Ferner gibt es Hinweise darauf, dass alle, die sich dem Regime entziehen - wie es Wehrdienstpflichtige tun, zumal wenn sie illegal ins Ausland reisen -, als Oppositionelle und je nach bisheriger Funktion als „Landesverräter“ betrachtet werden (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Andere Quellen halten Männer im wehrpflichtigen Alter für besonders gefährdet, bei der Einreise über den Flughafen oder auf dem Landweg Misshandlungen durch das Sicherheitspersonal zu erfahren, insbesondere wenn sie ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet haben; so spricht eine Quelle davon, „military-aged men [are] the most vulnerable group in terms of treatment by Syrian authorities at points of entry“ (Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Auch diejenigen, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird, werden als Gegner des Regimes betrachtet und haben gewaltsames Verschwinden, Haft und Folter zu gewärtigen (Amnesty International, „Between prison and the grave“, S. 44). Schließlich ergibt sich aus zahlreichen Quellen, dass für Desertion und Wehrdienstentzug mitunter auch Familienangehörige haftbar gemacht, zur Rechenschaft gezogen und unter Druck gesetzt werden (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 27; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 13).
54 
Die Wahrscheinlichkeit, den genannten Foltermaßnahmen unterworfen zu werden, ist deshalb beachtlich, weil die Identifizierung der Betroffenen als männliche Personen im wehrdienstfähigen Alter bei der Einreise oder bei Kontrollstellen innerhalb des Landes leicht, schon nach äußerlichen Kriterien vornehmbar ist, und zwar sowohl bei der Einreise an den Grenzübergangstellen wie aber auch an einer der angesprochenen Kontrollstellen (vgl. auch Auswärtiges Amt vom 02.01.2017 an VG Düsseldorf; SFH, Syrien: Mobilisierung in der syrischen Armee vom 28.03.2015; BFA S. 24). Zumindest droht eine vorübergehende Festnahme, auch wenn der Betroffene dann ohne Bestrafung direkt einer militärischen Einheit zugeführt werden sollte (vgl. hierzu Immigration and Refugee Board of Canada vom 19.01.2016; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 5).
55 
Schon bei der ersten Befragung ist nach den obigen Ausführungen mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, nämlich Misshandlung und Folter zu rechnen. Dass hier nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass alle Einreisenden ausnahmslos betroffen sein werden (vgl. Deutsches Orient Institut vom 01.02.2017 an Hess.VGH), ist für die Erfüllung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit unerheblich. Der Umstand, dass der hier infrage kommende Personenkreis infolge der konkret bestehenden Wehrpflicht in besonderer Weise in das Visier der Sicherheitsorgane gekommen ist, wird dazu führen, dass er auch hervorgehobenem Maße gefährdet ist, wovon insbesondere UNHCR ausgeht (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26 und UNHCR, „Illegal Exit“, S. 24 ff.). Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Betroffenen in Fahndungslisten aufgenommen werden, die an die Grenzübergänge verteilt werden, so dass schon bei der Einreise eine Identifizierung und Verhaftung bzw. Zwangsrekrutierung wahrscheinlich ist (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014; BFA S. 24; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 16 f.; Immigration and Refugee Board of Canada, a.a.O.). Nach UNHCR („Illegal Exit“, S. 4) umfasst die Kontrolle bei den Einreisen regelmäßig eine Prüfung, ob die Betreffenden mit der entsprechenden Erlaubnis ausgereist waren. Ferner existieren mobile „Checkpoints“, die ebenfalls im Besitz der Listen sind und bei einem Datenbankabgleich feststellen können, ob der Betreffende seinen Wehrdienst abgeleistet hat bzw. als Reservist rekrutiert werden soll; auch hier kommt es zu Verhaftungen, Verschleppungen bzw. unmittelbarer Zwangsrekrutierung (BFA S. 22 ff.); Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 7; UNHCR, „Illegal Exit“, S. 21). Das syrische Militär hat gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen enormen Bedarf an Personal, da es von circa 325.000 Soldaten bei Ausbruch des Krieges auf wohl etwa 150.000 Soldaten dezimiert worden ist (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; Danish Refugee Council, a.a.O., S. 9; Finnisch Immigration Service, a.a.O., S. 6); um Wehrdienstverweigerer und Reservisten zu rekrutieren und so den Personalbedarf zu decken, finden immer wieder Durchsuchungen, Razzien und Massenverhaftungen statt (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 03.02.2016; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst, 30.11.2016 S. 4 f.; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; BFH S. 23). Auch ist für viele bürokratische Akte, etwa für Heiratszertifikate, eine Bewilligung des Militärs erforderlich (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014). Daher ist es für Wehrdienstverweigerer fast unmöglich, nach Syrien einzureisen oder gar in den von der Regierung kontrollierten Gebieten zu leben und sich dort zu bewegen, ohne aufgegriffen zu werden (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
56 
3. Im Falle des Klägers liegt auch der für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche Verknüpfung der Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG vor.
57 
Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel lässt sich feststellen, dass die den syrischen Männern im wehrdienstfähigen Alter drohenden staatlichen Maßnahmen, die das übliche Maß einer strafrechtlichen Ahndung eines Wehrdienstentzugs auch in Kriegszeiten deutlich übersteigen, an eines der in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Merkmale anknüpfen.
58 
Eine realitätsnahe Bewertung des Charakters des gegenwärtigen syrischen Regimes und seiner bereits vorstehend eingehend beschriebenen Handlungen und Aktivitäten gegenüber seiner Bevölkerung lässt nach Überzeugung des Senats keine andere Deutung zu, als dass diese nach der allein maßgeblichen objektiven und nicht nach der auf die höchst subjektiven Motive der jeweiligen Akteure abstellenden Betrachtungsweise an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne von jedenfalls § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpfen und im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG die erforderliche Verbindung gegeben ist.
59 
Die gegenläufige Auffassung der Beklagten und insbesondere des OVG Nordrhein-Westfalen (vgl. Urteil vom 21.02.2017 - 2316/16.A -, juris), des OVG Rheinland-Pfalz (vgl. Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG -, juris) wie auch des OVG des Saarlandes (Urteil vom 11.03.2017 - 2 A 215/17 -, juris) würdigt den Charakter des Regimes nach Auffassung des Senats nicht zutreffend.
60 
Das Regime ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht nur in besonderes abstoßender Weise über das Lebensrecht und die Menschenwürde der Personen, die in die Hände seiner Exekutoren fallen, hinwegsetzt, sondern auch bereits seit längerem eine durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg vornehmlich auch gegen die Zivilbevölkerung führt, die in den von einer anderen Bürgerkriegspartei gehaltenen Gebieten, d.h. auf der „anderen Seite“ steht (vgl. nur beispielhaft die ins Einzelne gehende Darstellung und Auflistung der General Assembly in ihrem „Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik“ vom 02.02.2017 und vom 11.08.2016; vgl. auch Human Rights Watch, „Syria: Coordinates Chemical Attacks on Aleppo - Security Council should impose Sanctions“ vom 13.02.2017; BFA S. 27).
61 
Hinzu kommt schließlich, dass das Regime mittlerweile - wenn nicht schon seit vielen Jahren - vollständig von einem „Freund-Feind-Schema“ als alles durchziehendes Handlungsmuster geprägt ist, das vereinfacht und etwas plakativ ausgedrückt damit beschrieben werden kann, dass „jeder, der nicht für mich ist, gegen mich ist“, jedenfalls solange als er nicht vom Gegenteil überzeugt hat (vgl. hierzu auch Deutsches Orient-Institut an HessVGH vom 01.02.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015: Arbeitsverweigerung).
62 
Auch weiterhin (vgl. bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 A 11 S 2046/13 -, juris) vermag der Senat kein realistisches anderes Erklärungsmuster für das Vorgehen der syrischen Grenz- und Sicherheitsbehörden erkennen als dass hier an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal angeknüpft wird.
63 
Schon die besondere Intensität der real drohenden Verfolgungshandlungen indizieren hier die bestehende Gerichtetheit auf ein flüchtlingsrelevantes Merkmal hin (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -, NVwZ 2009, 1035 <1036>). Eine abweichende Einordnung könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, fernliegt.
64 
Der Annahme der Gerichtetheit steht es nicht entgegen, dass die Maßnahmen bei der Einreise möglicherweise im Rahmen der Aufklärung des zunächst allein bestehenden Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung zur Anwendung gelangen. Eine solche Differenzierung nach „Vorfeldmaßnahmen“ und einer „endgültigen“ Verfolgung nach Erhärtung des Verdachts einer abweichenden Gesinnung ist weder in der Anerkennungsrichtlinie, noch in der GFK noch im Asylgesetz angelegt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. sowie zu Art. 16a Abs. 1 GG kennt diese ebenfalls nicht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 -, NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2 BvR 1608/90 -, InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, InfAuslR 1993, 142 <144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6).
65 
Sie ist auch inhaltlich nicht zu rechtfertigen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses - gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils - von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht.
66 
Dieser Schluss drängt sich bei Personen, die sich dem Wehrdienst durch Ausreise entzogen haben, bereits deswegen auf, weil ihr Verhalten aus Sicht des syrischen Regimes - und vermutlich auch bei objektiver Betrachtungsweise tatsächlich - zur Schwächung des totalitären Machtapparats in seinem Existenzkampf beigetragen hat. Bestehen ausgehend von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach realistischer Lagebeurteilung keine naheliegenden Deutungsmöglichkeiten für eine fehlende Gerichtetheit, so ist - auch unter Berücksichtigung der Beweisnot der Betroffenen und der humanitären Zielsetzungen des Flüchtlingsrechts - von der naheliegenden und realistischen Alternative auszugehen. Aussagekräftige verwertbare Erkenntnismittel, die es nahe legen könnten, andere Schlussfolgerung auch nur in Betracht zu ziehen, existieren nicht; im Gegenteil: Das angesprochene „Freund-Feind-Schema“ ist seither nur noch viel deutlicher zutage getreten.
67 
Hinsichtlich der Verfolgungsgefahr für Reservisten der syrischen Armee unmittelbar bei einer Wiedereinreise nach einem längeren Auslandsaufenthalt, während dem um internationalen Schutz nachgesucht wurde, gilt überdies: Zwar rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund und wendet auch die strafrechtlichen Regelungen bezüglich Wehrdienstentziehung und Desertion vermutlich mehr oder weniger unterschiedslos auf alle syrischen Wehrpflichtigen an, so dass nicht bereits im Hinblick auf eine insoweit diskriminierende Praxis ein Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG vorliegt. Dies Feststellung schließt aber die Annahme einer gerichteten Verfolgung ebenso wenig aus wie der Umstand, dass allen Personen, die sich der Wehrpflicht entziehen, in Syrien von Rechts wegen Verfolgung deshalb droht, weil sie mit der Dienstverweigerung eine Straftat begangen haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 6.80 -, NVwZ 1982, 41; vom 28.02.1984 - 9 C 81.81 -, InfAuslR 1985, 22; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83 -, NVWZ 1986, 459), die der Senat zugrunde legt, begründet die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung für sich genommen zwar noch nicht ohne weiteres die Asylerheblichkeit; für das Unionsrecht gilt nichts anderes (vgl. Marx. a.a.O., S. 73 ff. und EuGH, Urteil vom 26.02.2015 - C-472/13 - NVwZ 2015, 575 Rn. 35).
68 
Auch wenn die politische Gerichtetheit einer generellen Maßnahme oder Regelung wie der Verpflichtung zum Waffendienst nicht immer offen zutage liegt, kann gleichwohl einer solchen Wehrpflicht neben ihrer allgemeinen - flüchtlingsrechtlich nicht einschlägigen - Zielrichtung auch eine Verfolgungstendenz innewohnen; eine solche kann etwa darin liegen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. Anhaltspunkte für derartige Intentionen können sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung sowie die menschrechtswidrige Art und Weise ihre Umsetzung sind wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts etwa daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden.
69 
Deswegen ist gerade im Falle des totalitären syrischen Regimes nach der gegenwärtigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass die drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentzugs oder Desertion nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts dient, vielmehr ist die Bestrafung des Wehrdienstentzugs auch auf eine vermutete regimefeindliche Gesinnung gerichtet, die - auch zum Zwecke der Abschreckung anderer - eliminiert werden soll. In besonderem Maße gilt dies vor dem Hintergrund der mit den Ermittlungen und Verhören einhergehenden Misshandlungen.
70 
Bei dem Regime von Baschar al-Assad handelt es sich nicht nur seit vielen Jahren um ein menschenverachtendes diktatorisches System, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft (vgl. schon den Senatsbeschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris). Die Mobilisierung und Rekrutierung der syrischen Land- und Luftstreitkräfte erfolgen hier gerade nicht zu dem Zweck, einen kriegerischen Konflikt mit einem auswärtigen dritten Staat auszutragen und zu ermöglichen, sie dienen vielmehr der Bekämpfung der oppositionellen Rebellengruppen im eigenen Land; wer sich an diesem existentiellen Kampf der Staatsmacht gegen Teile der eigenen Bevölkerung nicht beteiligt, sondern sich trotz des bekannt großen Personalbedarfs in der syrischen Armee seiner Wehrpflicht - zumal durch eine illegale Flucht ins Ausland - entzieht, manifestiert damit nach außen sichtbar seine Illoyalität gegenüber dem syrischen Staat in besonderer Weise, auch wenn eine solche in concreto gar nicht gegeben sein sollte.
71 
Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), es sei syrischen Machthabern bekannt, dass die Flucht aus Syrien oftmals nicht durch politische Gegnerschaft zum Staat, sondern durch Angst vor dem Krieg motiviert sei, steht angesichts des vorgenannten Befundes dem nicht entgegen. Vielmehr lassen die vorliegenden Erkenntnismittel nur den Schluss zu, dass die Verfolgung von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern dass es sich hierbei auch ganz maßgeblich um Verfolgung aufgrund der und Vergeltung der (bis zum Beweis des Gegenteils unterstellten) regimekritischen politischen Überzeugung der Betreffenden handelt (so auch BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 - 21 B 16.30372 -, juris; Österr. BVwG, Entscheidung vom 22.03.2017 - W221 2134862-1/E; vgl. auch, wenn auch auf zusätzliche Risikogesichtspunkte abstellend, Schweizer. BVerwG, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013). Der Ansatz des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz, wonach „die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt“, eine Verfolgung nicht zu begründen vermögen (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), steht der Auffassung des Senats zur kausalen Verknüpfung von Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung nicht entgegen. Denn bei den drohenden Menschenrechtsverletzungen geht es nicht um „allgemeine Lasten und Beschränkungen“, sondern um gezielte Eingriffe zur Ahndung einer - den Betroffenen jedenfalls zugeschriebenen - oppositionellen Überzeugung und zur Disziplinierung der übrigen, in Syrien verbliebenen Bevölkerung.
72 
Ebenso vermag der Senat den Schluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes nicht nachzuvollziehen, wonach gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee spreche (Urteil vom 02.02.2017 - 2 A 515/16 -, juris Rn. 31). Aus diesem Umstand könnte sich allenfalls ein Interesse des syrischen Staates, nicht alle Wehrpflichtigen einer langjährigen Haftstrafe zuzuführen, ableiten lassen. Abgesehen davon, dass auch dieser Ansatz spekulativ ist und ein nach rationalen Maßstäben handelndes Regime unterstellt, verhält er sich nicht zu der Gefahr der vorherigen schwerwiegenden Misshandlung oder Folter unmittelbar nach der Ergreifung.
73 
4. Dem Kläger steht schließlich keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG offen. Die Deutsche Botschaft Beirut (Auskunft vom 03.02.2016; vgl. auch Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017) geht davon aus, dass grundsätzlich alle Regionen in Syrien vom Bürgerkrieg betroffen sind, wenn nicht durch direkte Kampfhandlungen, dann indirekt (Kriegswirtschaft, Einzug ins Militär, marodierende Banden, beispielsweise in einigen Vororten von Damaskus etc.).
74 
Selbst wenn man unterstellen wollte, dass es dennoch Gebiete innerhalb Syriens gibt, die als zumutbare Fluchtalternative dienen könnten, lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass der Kläger ein solches Gebiet in zumutbarer Weise und sicher erreichen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. SFH, Rekrutierung durch die syrische Armee, 30.07.2014; SFH, Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformation Syrien: Militärdienst, 30.11.2016) und sie sind derart verbreitet, dass mehr dafür als dagegen spricht, dass der Kläger, wenn er nicht schon beim Versuch der Einreise nach Syrien erfasst und ergriffen wird, an einem solchen Checkpoint aufgegriffen wird.
75 
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG; Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Der Ausländer ist persönlich verpflichtet, bei der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch, wenn er sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lässt.

(2) Er ist insbesondere verpflichtet,

1.
den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden die erforderlichen Angaben mündlich und nach Aufforderung auch schriftlich zu machen;
2.
das Bundesamt unverzüglich zu unterrichten, wenn ihm ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist;
3.
den gesetzlichen und behördlichen Anordnungen, sich bei bestimmten Behörden oder Einrichtungen zu melden oder dort persönlich zu erscheinen, Folge zu leisten;
4.
seinen Pass oder Passersatz den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
5.
alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in seinem Besitz sind, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
6.
im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken und auf Verlangen alle Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen;
7.
die vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden.

(3) Erforderliche Urkunden und sonstige Unterlagen nach Absatz 2 Nr. 5 sind insbesondere

1.
alle Urkunden und Unterlagen, die neben dem Pass oder Passersatz für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können,
2.
von anderen Staaten erteilte Visa, Aufenthaltstitel und sonstige Grenzübertrittspapiere,
3.
Flugscheine und sonstige Fahrausweise,
4.
Unterlagen über den Reiseweg vom Herkunftsland in das Bundesgebiet, die benutzten Beförderungsmittel und über den Aufenthalt in anderen Staaten nach der Ausreise aus dem Herkunftsland und vor der Einreise in das Bundesgebiet sowie
5.
alle sonstigen Urkunden und Unterlagen, auf die der Ausländer sich beruft oder die für die zu treffenden asyl- und ausländerrechtlichen Entscheidungen und Maßnahmen einschließlich der Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sind.

(4) Die mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden können den Ausländer und Sachen, die von ihm mitgeführt werden, durchsuchen, wenn der Ausländer seinen Verpflichtungen nach Absatz 2 Nr. 4 und 5 nicht nachkommt sowie nicht gemäß Absatz 2 Nummer 6 auf Verlangen die Datenträger vorlegt, aushändigt oder überlässt und Anhaltspunkte bestehen, dass er im Besitz solcher Unterlagen oder Datenträger ist. Der Ausländer darf nur von einer Person gleichen Geschlechts durchsucht werden.

(5) Durch die Rücknahme des Asylantrags werden die Mitwirkungspflichten des Ausländers nicht beendet.

(1) Der Ausländer muss selbst die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über Wohnsitze, Reisewege, Aufenthalte in anderen Staaten und darüber, ob bereits in anderen Staaten oder im Bundesgebiet ein Verfahren mit dem Ziel der Anerkennung als ausländischer Flüchtling, auf Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 oder ein Asylverfahren eingeleitet oder durchgeführt ist.

(2) Der Ausländer hat alle sonstigen Tatsachen und Umstände anzugeben, die einer Abschiebung oder einer Abschiebung in einen bestimmten Staat entgegenstehen.

(3) Ein späteres Vorbringen des Ausländers kann unberücksichtigt bleiben, wenn andernfalls die Entscheidung des Bundesamtes verzögert würde. Der Ausländer ist hierauf und auf § 36 Absatz 4 Satz 3 hinzuweisen.

(4) Bei einem Ausländer, der verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, soll die Anhörung in zeitlichem Zusammenhang mit der Asylantragstellung erfolgen. Einer besonderen Ladung des Ausländers und seines Bevollmächtigten bedarf es nicht. Entsprechendes gilt, wenn dem Ausländer bei oder innerhalb einer Woche nach der Antragstellung der Termin für die Anhörung mitgeteilt wird. Kann die Anhörung nicht an demselben Tag stattfinden, sind der Ausländer und sein Bevollmächtigter von dem Anhörungstermin unverzüglich zu verständigen.

(5) Bei einem Ausländer, der nicht verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, kann von der persönlichen Anhörung abgesehen werden, wenn der Ausländer einer Ladung zur Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht folgt. In diesem Falle ist dem Ausländer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme innerhalb eines Monats zu geben.

(6) Die Anhörung ist nicht öffentlich. An ihr können Personen, die sich als Vertreter des Bundes, eines Landes oder des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen ausweisen, teilnehmen. Der Ausländer kann sich bei der Anhörung von einem Bevollmächtigten oder Beistand im Sinne des § 14 des Verwaltungsverfahrensgesetzes begleiten lassen. Das Bundesamt kann die Anhörung auch dann durchführen, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand trotz einer mit angemessener Frist erfolgten Ladung nicht an ihr teilnimmt. Satz 4 gilt nicht, wenn der Bevollmächtigte oder Beistand seine Nichtteilnahme vor Beginn der Anhörung genügend entschuldigt. Anderen Personen kann der Leiter des Bundesamtes oder die von ihm beauftragte Person die Anwesenheit gestatten.

(7) Die Anhörung kann in geeigneten Fällen ausnahmsweise im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen.

(8) Über die Anhörung ist eine Niederschrift aufzunehmen, die die wesentlichen Angaben des Ausländers enthält. Dem Ausländer ist eine Kopie der Niederschrift auszuhändigen oder mit der Entscheidung des Bundesamtes zuzustellen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzstatus.

Der am ... 2009 in ... bei Mossul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischem Glauben.

Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger am 29. September 2017 als unbegleiteter Minderjähriger auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er durch seinen Vormund am 11. Dezember 2017 Asylerstantrag stellte. Der Asylantrag wurde gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG beschränkt.

Eine persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) fand nicht statt. Stattdessen wurde von Seiten des Vormundes des Klägers eine Stellungnahme vorgelegt, die darauf verweist, dass das Dorf, in dem der Kläger mit seiner Familie gelebt habe, am 3. August 2016 überfallen worden sei. Daraufhin sei der Kläger mit seiner Familie in die Berge geflohen, um sich dort zu verstecken. Der Familie sei die Lebensgrundlage genommen worden. Das vormals bewohnte Haus sei zerstört worden. Seine Eltern und Geschwister würden sich derzeit in einem Flüchtlingscamp bei ... (...) aufhalten. Auf den weiteren Inhalt der Stellungnahme vom 18. Dezember 2017 wird ergänzend verwiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wurde für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festgestellt (Nr. 3. des Bescheids). In den Nrn. 1. und 2. des Bescheides wurde bestimmt, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt werden.

In den Gründen des Bescheids ist ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Ein Ausländer sei Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinde, dessen Staatsangehörigkeit er besitze (§ 3 AsylG). Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne dieser Definition. Soweit der Kläger angebe, sein Dorf sei im August 2016 von der Terrormiliz „islamischer Staat“ (IS) überfallen worden, so habe der IS zu diesem Zeitpunkt zwar gezielt Ortschaften überfallen und zerstört, jedoch habe sich die Situation im Distrikt ... in der Provinz Ninive dahingehend verändert, dass es derzeit keine derartige Bedrohung mehr in dieser Region gebe. Dem Bundesamt lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass dem Kläger eine Verfolgung aufgrund seiner yezidischen Religionszugehörigkeit drohen könne. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden finde nicht statt. Es gebe aktuell keine Hinweise auf Verfolgung durch den IS und auch keine bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Region. Das genannte Gebiet sei wieder unter der Kontrolle der Zentralregierung und nicht mehr unter kurdischer Kontrolle. Hieraus ergebe sich, dass es bei einer Rückkehr keine drohende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG für den Kläger gebe. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Insbesondere scheide eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG aus. Im Herkunftsland des Klägers bestehe kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Die Provinz Ninive sei unter der Kontrolle der Regierung, seit dem der IS aus dem Gebiet vertrieben worden sei und die Regierung die Region im Oktober 2017 von den Kurden zurückerobert habe. Für den Kläger bestehe jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

Auf den weiteren Inhalt des Bescheides des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wird ergänzend verwiesen.

Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Vormund des Klägers am 6. Februar 2018 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt.

Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 8. Februar 2018 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,

I.

Der Bescheid des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Az.: ...) vom 22. Januar 2018, zugestellt am 6. Februar 2018 wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylVfG zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Zur Begründung der Klage ist mit am 5. März 2018 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg eingegangen Schreiben ausgeführt, dass der Kläger der Religionsgemeinschaft der Yeziden angehöre. Der Kläger habe sein Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion verlassen. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr in den Irak mit großer Wahrscheinlichkeit erneut eine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Yeziden. Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung subsidiären Schutzes bleibe aufrechterhalten.

Die Beklagte hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.

Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 7. März 2018 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Mit Schriftsatz vom 16. April 2018 hat der Vormund des Klägers auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Die Beklagte hat sich mit Generalerklärung vom 27. Juni 2017 ebenfalls mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt habe (§ 101 Abs. 2 VerwaltungsgerichtsordnungVwGO).

Die ausgehend von der Beschwer des Klägers ausschließlich auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) gerichtete Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2018 ist, soweit er sinngemäß mit der Klage vom 8. Februar 2018 angegriffen worden ist, rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid ist unter Würdigung der Verhältnisse in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II Seite 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- und Schutzakteuren regeln die §§ 3a-d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU, L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9-26, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU).

Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 der RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung Handlungen, die – Nr. 1 – aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685,953) keine Abweichung zulässig ist, oder die – Nr. 2 – in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie in der Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Als Verfolgung können nach § 3a Abs. 2 AsylG u.a. folgende Handlungen gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt – Nr. 1 – sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind – Nr. 6 –.

Ferner muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von – Nr. 1 – dem Staat, – Nr. 2 – Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, oder – Nr. 3 – von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

In der Definition der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) und der RL 2011/95/EU ist angelegt, dass bei ihrer Prüfung als Prognosemaßstab derjenige der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen ist. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 – 8 A 4063/06.A – juris).

Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU – dieser hat keine nationale Entsprechung – ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird.

Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, (360 f.); dem folgend BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377-388 und vom 31. März 1981 – 9 C 237.80 – juris).

Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 –, BVerwGE 104, 97 (101 ff.), juris), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 27. April 1982 – 9 C 308.81 –, BVerwGE 65, 250 (252), juris).

Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 – BVerwGE 104, 97 (99), juris).

Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für Ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisiert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – Saadi, Rn. 128 m.w.N., juris).

Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die Beurteilung, ob stichhaltige Gründe die Vermutung widerlegen, obliegt dem Tatrichter im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Verwaltungsgericht Augsburg, Urteil vom 11. Juli 2016 – Au 5 K 16/30604 – juris).

Aus den in § 25 AsylG (und Art. 4 RL 2011/95/EU) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Drittstaatsangehörigen folgt, dass es auch unter Berücksichtigung dieser Vorgaben Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321.85 – juris).

Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.

Gemäß nach diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG hinsichtlich des Klägers nicht vor. Da im Verfahren keine zielgerichtete individuelle Bedrohung insbesondere seitens der Terrormiliz ‘Islamischer Staat‘ (IS) geltend gemacht hat, ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger ausschließlich über die Grundsätze der Gruppenverfolgung für yezidische Glaubensangehörige möglich.

Das Gericht ist der Auffassung, dass für Glaubenszugehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die wie der Kläger aus der Provinz Ninive im Zentralirak stammen, die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nicht mehr gegeben sind.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 – und Urteil vom 30. April 1996 – 9 C 171.95 – BVerwGE 101, 134 (140 f.), juris).

Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms –, vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris), ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 – Rn. 20 und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (203), juris).

Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3 d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 – juris Rn 20).

Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204)); zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vgl. zuletzt etwa BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 –; BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238 (234), juris, jeweils m.w.N).

Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteile 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243-254; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2011 – 9 A 567/11.A – juris).

Gruppengerichtete Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, erfassen nicht immer ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend. Die ihnen zugrundeliegenden ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gegensätze können in einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt sein; die darin wurzelnden Spannungen können sich in unterschiedlichem Grade auf das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsteile auswirken. Deshalb ist – jedenfalls bei gruppengerichteten Verfolgungen durch nicht-staatliche Kräfte – von der Möglichkeit auszugehen, dass solche Verfolgungen regional oder lokal begrenzt sind mit der Folge, dass sich die verfolgungsfreien Räume als inländische Fluchtalternative darstellen können und dass die dort ansässigen Gruppenangehörigen als unverfolgt zu gelten haben. Allerdings bedarf dabei näherer Ermittlung, ob eine bestehende Schutzunwilligkeit des Staates die Gefahr einer Ausweitung der Verfolgung in bisher verfolgungsfreie Räume begründet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238, juris).

Nach diesen Maßstäben ist der Kläger als Angehöriger der yezidischen Religionsgemeinschaft bezogen auf seinen letzten Aufenthaltsort ... bei Mossul in der Provinz Ninive keiner regionalen Gruppenverfolgung durch den IS als nichtstaatlichem Akteur ausgesetzt.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fehlt es jedenfalls an der erforderlichen „Verfolgungsdichte“, die für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen belief sich die Zahl der in der Provinz Ninive ansässigen Yeziden vor dem Überfall durch den IS auf ca. 291.000 Menschen in der Region, wobei diese Zahl anhand der ausgegebenen Lebensmittelkarten ermittelt werden konnte, und weiteren ca. 65.000 Menschen in der Region Sheikhan (vgl. Gutachten des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 16. September 2013 an das OVG NRW, S. 11 f., juris).

Zwar wurden seit 2014 Schätzungen zufolge 5000 Yeziden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit getötet, mehr als 6000 Yezidinnen versklavt, 300 000 Yeziden wurden vertrieben. 24 Massengräber wurden in der Region ... bereits gefunden. Befürchtet wird, dass fast doppelt so viele an verschiedenen Orten in der Region liegen, viele davon weiter südlich der aktuellen Frontlinie (vgl. Die Zeit online, Die Vergessenen von, 13. Juni 2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/jesiden-nordirak-islamischer-staat; Die Jesiden von, Le Monde diplomatique, Januar 2017, S. 11).

Diese Verfolgungssituation für yezidische Glaubenszugehörige besteht seit Mitte/Ende des Jahres 2017 jedoch nicht mehr unverändert fort und führt im vorbezeichneten Verfahren dazu, dass die Voraussetzungen für die Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive nicht mehr angenommen werden können. Im August 2017 erklärte der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi, dass mit der Stadt Tal Afar eine der letzten IS-Bastionen im Land befreit worden sei. Die US-geführte Anti-IS-Koalition teilte ebenfalls mit, dass der Irak 90% des ehemals von der Terrormiliz kontrollierten Gebietes zurückerobert habe. Der IS hat nach seinem Vormarsch vor mehr als drei Jahren (2014) auf dem Höhepunkt seiner Macht riesige Gebiete im Norden und Westen des Irak beherrscht, darunter große Städte. Hierzu gehörte auch die Millionenstadt Mossul östlich von Tal Afar. Auch die Provinz Ninive, die an der Grenze zu Syrien liegt, wurde im Sommer 2014 vom IS überrannt. In der Provinzhauptstadt Mossul haben die Dschihadisten damals ihr so genanntes Kalifat ausgerufen. Im Juli 2017 wurde Mosul nach Monate langer Belagerung von den irakischen Truppen mit internationaler Hilfe zurückerobert. Bereits zuvor hatten die Extremisten die größten Teile der ehemals kontrollierten Gebiete im Irak verloren. Die Rückeroberung von Tal Afar habe nur zehn Tage gedauert. Tal Afar war eine der letzten irakischen Städte in der Hand der IS-Miliz. Diese kontrolliert nach aktuellen, dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen, nur noch zwei Gebiete im Irak, von denen Großteile unbewohnt sind. Es handelt sich hierbei um Hawidscha im Zentralirak und die Städte Al-Kaim, Rawa und Anna in der Wüste an der Grenze zu Syrien. In den übrigen Gebieten ist die Terrormiliz IS auch in der Provinz Ninive vollständig besiegt.

Mit der geschilderten Zurückdrängung des IS aus der Provinz Ninive, der Tatsache, dass die Terrormiliz lediglich noch zwei Gebiete im Irak beherrscht, ist es nach Auffassung des Gerichtes ausgeschlossen, dass die Terrormiliz noch über Strukturen verfügt, die es ihr ermöglicht, yezidische Glaubenszugehörige in der Provinz Ninive systematisch im Rahmen eines eingeleiteten und durchgeführten Verfolgungsprogramms (vgl. noch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, Seite 12, 18) zu verfolgen, wie es Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung wäre. Es ist für das gesamte Gebiet eine gewisse Befriedung eingetreten und festzustellen. Dies schließt die Annahme einer Gruppenverfolgung für den Kläger bei fehlender anlassgeprägter Einzelverfolgung im vorliegenden Fall aus. Dies gilt jedenfalls für den der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Zeitpunkt im schriftlichen Verfahren.

Nichts anderes gilt für den derzeitigen Aufenthaltsort der Eltern des Klägers (... bzw. ...). Die Stadt ... bzw. ... wird derzeit von der irakischen Zentralregierung verwaltet. Lediglich bis zum Jahr 2015 war ... umkämpft. Im Herbst 2015 teilten Kreise der kurdischen Autonomieregierung am 13. November 2015 mit, es seien Peschmerga von allen Seiten nach ... (...) eingedrungen und es sei gelungen, zentrale Gebäude zu besetzen. Am 13. November 2015 wurde die Stadt bereits aus der Hand des IS befreit. Damit kann auch bezogen auf den Aufenthaltsort der Eltern des Klägers derzeit keine Verfolgungsgefahr für Angehörige der ethno-Religiösen Minderheit der Yeziden angenommen werden.

2. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) liegen im Fall des Klägers nicht vor.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die vorgenannten Gefahren müssen dabei gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Auch subsidiärer Schutz wird nicht zuerkannt, wenn der Ausländer internen Schutz in Anspruch nehmen kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Irak kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit. Dies gilt sowohl bezogen auf den früheren Heimatort des Klägers (... bei Mossul in der Provinz Ninive) als auch auf den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...).

Nach weitreichender Befreiung der Provinz Ninive von der Terrormiliz IS und weitreichender Befriedung des Gebiets besteht die für die Annahme eines subsidiären Schutzstatus erforderliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG vorliegend nicht mehr fort.

Für die Beurteilung der Frage des Bestehens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist, sofern der Konflikt nicht landesweit besteht, auf die Herkunftsregion des Klägers abzustellen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Vorliegend ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren weder für den vormaligen Heimatort des Klägers (... bei Mossul) noch für den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...) ein bewaffneter fortbestehender innerstaatlicher Konflikt festzustellen. Die Provinz Ninive ist befriedet und unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung. Die Truppen der Terrormiliz IS sind aus diesem vormals von ihnen besetzten Gebiet dauerhaft zurückgedrängt worden. Dies schließt die Annahme der Gewährung eines subsidiären Schutzstatus im derzeitigen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aus.

Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, sind bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive nicht ersichtlich bzw. zu befürchten.

3. Nach allem war die Klage daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung erfolgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wird abgelehnt, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht vorliegt bzw. schon nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt ist.

Der Kläger macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) geltend. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten (Klärungsfähigkeit) und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (Klärungsbedürftigkeit; vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Diese Voraussetzungen liegen bezüglich der von dem Kläger aufgeworfenen Fragen jedoch teilweise nicht vor. Im Übrigen fehlt es schon an einer ausreichenden Darlegung. Die nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erforderliche Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) verlangt nämlich, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, ausführt, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutert, weshalb die Frage klärungsbedürftig ist und schließlich darlegt, weshalb der Frage eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72). „Darlegen“ bedeutet schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis. „Etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, Beschluss v. 2.10.1961 – 8 B 78.61 – BVerfGE 13, 90/91; B.v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – NJW 1993, 2825). Der Orientierungspunkt dieser Erfordernisse ist die Begründung der angefochtenen Entscheidung, mit der sich die Begründung des Zulassungsantrags substantiiert auseinandersetzen muss (BVerfG, B.v. 2.3.2006 – 2 BvR 767/02 – NVwZ 2006, 683). Daran fehlt es im Vortrag des Klägers teilweise.

1. Der Kläger wirft als grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG folgende Fragen auf:

„ob in dem Distrikt Shekhan, Provinz Ninive/Irak von einem internen bewaffneten Konflikt i.S.d. Art. 15c der Qualifikationsrichtlinie auszugehen ist, der dergestalt ist, dass grundsätzlich für alle Personen jesidischer Religion dort eine individuelle Gefahr für Leib und Leben durch willkürliche Gewalt bestehen und ob die Rechtsgutsbeeinträchtigungen gegebenenfalls dem Staat bzw. den quasi-staatlichen Institutionen und Organisationen dergestalt zuzurechnen sind, dass diese nicht schutzwillig oder schutzfähig sind und ob Jesiden im gesamten Irak einschließlich der Autonomen Region Kurdistan derzeit einer mittelbaren staatlichen bzw. quasi-staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt sind, ohne dass ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.“

Bei verständiger Würdigung der aufgeworfenen Fragen (§ 88 VwGO) erstrebt der Kläger die grundsätzliche Klärung, ob erstens für Yeziden im Irak einschließlich der Kurdischen Autonomieregion die Gefahr einer Gruppenverfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG besteht, ob zweitens für diese in dem Distrikt Shekhan in der Provinz Ninive die individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG besteht und ob diesen drittens eine zumutbare inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG (ggf. in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) zur Verfügung steht.

a) Was die erste aufgeworfene Frage nach einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak angeht, hat der Kläger schon die Klärungsbedürftigkeit dieser Frage nicht dargelegt. Denn diese Darlegung verlangt, dass zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür aufgezeigt wird, dass die aufgeworfene Tatsachenfrage im Sinne des Klägers zu beantworten ist. Dies hätte einer Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des Verwaltungsgerichtes bedurft, das sich mit dieser Frage anhand der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten und von ihm zutreffend wiedergegebenen Voraussetzungen befasst und ihr Vorliegen im konkreten Fall des Klägers verneint hat (Urteilsabdruck S. 10/11). Der Vortrag des Klägers im Zulassungsantrag setzt sich mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts insoweit nicht auseinander, sondern zitiert über weite Strecken aus einer Kommentierung zu § 4 AsylG und verhält sich anschließend zum Grad der willkürlichen Gewalt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in der Kurdischen Autonomieregion. Der Kläger nennt aber keine Erkenntnisquellen, nach denen am Herkunftsort entgegen der Wertung des Verwaltungsgerichts eine Gruppenverfolgung von Yeziden vorliegen soll (vgl. auch – eine Gruppenverfolgung verneinend – BayVGH, B.v. 21.11.2017 – 5 ZB 17.31653 – juris). Im Übrigen wurde in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bisher auch eine für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes hinreichende Gefahrendichte im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für Yeziden im Nordirak, insbesondere in den Provinzen Ninive und Dohuk, verneint (BayVGH, U.v. 5.7.2012 – 20 B 12.30073 – juris; U.v. 2.2.2012 – 13a B 11.30335 – juris). Der Kläger legt nicht dar, auf der Grundlage welcher Erkenntnismittel eine andere Betrachtung geboten sein sollte.

b) Mit der zweiten aufgeworfenen Frage begehrt der Kläger offenbar die grundsätzliche Klärung, dass die Zugehörigkeit zur yezidischen Religion einen gefahrerhöhenden Umstand darstellt, der im Rahmen eines in der Kurdischen Autonomieregion herrschenden bewaffneten Konfliktes zu einer konkreten und individuellen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bei den Betroffenen führt. Diese Frage ist jedoch nicht mehr klärungsbedürftig. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) in der Herkunftsregion des Klägers, dem Dorf Baadre im Distrikt Shekhan in der Provinz Ninive, kein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrschte (UA S. 13). Dabei geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass Shekhan als unter kurdischer de-facto-Verwaltung stehendes Gebiet faktisch zur Kurdischen Autonomieregion zu zählen sei (UA S. 11). Es kann offen bleiben, ob die letztere Einschätzung anhand der jüngsten Ereignisse in der Provinz Ninive, die der Senat gemäß § 77 Abs. 1 AsylG bei seiner Entscheidung über die Zulassung der Berufung zu berücksichtigen hat, noch zutrifft. Denn jedenfalls bedarf es im Hinblick auf diese Ereignisse keiner Durchführung eines Berufungsverfahrens, um das Bestehen eines bewaffneten Konfliktes in dieser Region zu verneinen. Infolge der Schlacht um Mossul von Oktober 2016 bis Juli 2017 wurde der IS aus der Stadt und deren Umgebung (bis auf einige verbliebene terroristische Schläferzellen) vertrieben. Am 9. Juli 2017 wurde durch den irakischen Premierminister Al-Abadi der Sieg über den IS in Mossul erklärt (vgl. Wikipedia, „Schlacht um Mossul“ m.w.N.; Lifos, Thematic Report „The security situation in Iraq: July 2016 – November 2017“, 18.12.2017, Version 4.0, S. 5). Infolge dessen finden dort keine Kampfhandlungen mehr statt, die eine Intensität aufwiesen, dass sie in einer derart intensiven Gefahr resultieren würden, die für § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ausreichen würde. Mittlerweile haben sich in der gesamten Provinz Ninive, dem Herkunftsgebiet des Klägers, auch die kurdischen Peschmerga vor den heranrückenden irakischen Streitkräften (und Volksmobilisierungseinheiten) zurückgezogen. Bis auf Einzelfälle wurden keine Konfrontationen zwischen den jeweiligen Streitkräften gemeldet (vgl. hierzu Lifos a.a.O., S. 29; zum Ganzen BayVGH, B.v. 22.1.2018 – 20 ZB 18.30667).

c) Da es somit bereits an den Voraussetzungen einer Gefährdung des Klägers im Sinne der §§ 3 ff., 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG fehlt, bedarf auch die dritte von dem Kläger aufgeworfene Frage nach dem Bestehen einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG (ggf. in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) keiner Klärung in einem Berufungsverfahren mehr.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. April 2017 – A 2 K 4283/16 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung subsidiären Schutzes, hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots und wendet sich gegen eine Abschiebungsandrohung.
Er ist nach eigenen Angaben ein 20 Jahre alter afghanischer Staatsangehöriger vom Stamm der Sadat. Er gibt an, sein Heimatland am 18. August 2015 verlassen zu haben und Anfang Oktober 2015 in das Bundesgebiet eingereist zu sein. Am 22. August 2016 stellte er einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und wurde am gleichen Tag durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu seinem Begehren angehört. Hierbei gab er im Wesentlichen an, vor seiner Ausreise mit seinen Eltern in der Provinz Maydan Wardak gelebt zu haben. Er habe in Afghanistan noch zwei Schwestern und zwei Brüder sowie die normale Großfamilie. Er habe als Fahrer mit eigenem Fahrzeug, einem Dreitonner, gearbeitet. Einen Monat vor der Flucht habe er von zwei Männern einen Auftrag für den Transport von Obst nach Kabul bekommen. Ihm sei es vorgekommen, dass die Kisten sehr schwer gewesen seien. Als er sich auf der Strecke die Kisten näher ansah, habe er Waffen gefunden und einen Kommandanten, Sayd Noor Agha, gerufen. Er habe ihm die Kisten übergeben. Auf dem Weg nach Hause sei er von den Auftraggebern angerufen worden. Er habe Angst bekommen und sich zu Hause versteckt. Nach zwei Tagen sei er wieder raus gegangen, da hätten ihn die beiden Männer entführen wollen. Da sei er dann gegangen. Er wisse nicht, wer die Männer seien, aber vermutlich Regierungsgegner wie die Taliban.
Seine Eltern hätten gesagt, dass es schlimmer werden würde, wenn er den Agha eingeschaltet hätte. Er habe sich erst wieder für vier Tage versteckt. Als die Männer erneut gekommen seien, habe er wieder fliehen und sich für zwei Wochen verstecken können. Die Dorfältesten hätten dann aber einen Brief bekommen. Darin habe gestanden, dass sie ihn ausliefern sollten.
Auf Nachfrage, wie die Entführungsversuche ausgesehen hätten, gab der Kläger an, dass er in der Nähe des Obstmarktes mit dem Auto unterwegs gewesen sei. Er habe versucht, schnell zu fliehen. Es seien ungefähr fünf bis sechs Leute gewesen. Sie hätten versucht, den Eingang der Straße zu sperren. Das habe nicht geklappt. Er habe einfach nicht angehalten. Der Kläger zeigte in der Anhörung ein digitales Foto eines Schreibens. Der Brief ist auf den 5. August 2015 datiert und soll von den Mujaheddin stammen.
Mit Bescheid vom 24. August 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Anerkennung als Asylberechtigte sowie auch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung oder nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen den ihm mit Schreiben vom 24. August 2016 zugesandten Bescheid erhob der Kläger am 2. September 2016 Klage. Er wurde ergänzend im Termin zur mündlichen Verhandlung angehört. Hierbei gab er u.a. an, dass seine Tätigkeit in Afghanistan der eines Taxifahrers geähnelt habe. Er habe ein koreanisches Fahrzeug gefahren, das Kennzeichen sei 9292 gewesen. Zwei Personen hätten ihn beim Bazar von Jalrez beauftragt, rund 30 Kisten Obst nach Sai Wolat zu fahren. Das sei eine Strecke von 30 Minuten. Er habe gemerkt, dass die Kisten sehr schwer seien. Während der Fahrt habe er angehalten und festgestellt, dass sich in den Kisten Waffen befänden. In anderen Kisten seien Pfirsiche und Melonen gewesen. Die Waffen seien in ihre Einzelteile zerlegte Kalashnikov-Gewehre gewesen. Die Kisten habe er mit dem Werkzeug aufgemacht, mit dem normalerweise die Autoreifen von der Felge löse. Als er die Waffen gesehen habe, sei er in Panik geraten. Er habe einen ihm bekannten Kommandanten, Sayed Noor Agha, angerufen. Dessen Bezirk sei in Barzare Darserahi. Das sei ein kleines Dorf. Sie seien dann einander entgegengefahren. Der Kommandant sei mit vielen Leibwächtern gekommen. In der Polizeistation hätten sie die Kisten ausgeladen. Auf dem Heimweg hätten ihn die Auftraggeber angerufen. Er habe ihnen gesagt, dass er von der Polizei kontrolliert worden sei. Die Männer hätten ihm vorgeworfen, die Polizei gerufen zu haben. Er sei nach Hause und habe große Angst gehabt. Nach zwei Tagen habe er die Arbeit wieder aufgenommen. In Jalrez habe er die zwei Männer wiedergesehen, die hätten ihn aufhalten wollen. Er sei nach Hause geflüchtet. Vier Tage später sei er auf einem anderen Weg zum Markt gefahren. Dort seien ca. 6 Personen auf ihn zugelaufen. Er sei mit dem Wagen entkommen. Ihm sei zu Hause klar geworden, dass er nicht mehr weiter arbeiten könne. Sein Vater habe ihm davon abgeraten, den Kommandanten zu informieren, da ja denkbar sei, dass der mit den Männern unter einer Decke stecke. Sein Vater habe dann gemeint, dass wohl eine große Organisation hinter den Vorfällen stecke. Er habe seine SIM-Karte gewechselt, damit er für die Männer nicht mehr telefonisch erreichbar gewesen sei.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. April 2017 ab. Den individuellen Vortrag erachtete es für nicht glaubhaft. Auf den Antrag des Klägers vom 28. Juni 2017, hat der Senat mit Beschluss vom 27. Juli 2017 - zugestellt am 3. August 2017 - die Berufung gegen das am 31. Mai 2017 zugestellte Urteil zugelassen, soweit in dem angefochtenen Urteil die Klage auf Verpflichtung zur Zuerkennung subsidiären Schutzes und auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots sowie gegen die Abschiebungsandrohung abgewiesen worden ist. Die im Tenor des Zulassungsbeschlusses enthaltene Zulassung der Berufung in Bezug auf die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beruhte auf einem offensichtlichen Schreibversehen.
Mit der Berufungsbegründung vom 28. August 2017 macht der Kläger u.a geltend, dass sich aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes ergebe, dass es in Wardak konkrete Hinweise auf bevorstehende Angriffe gebe. Auch müsse der Kläger befürchten, in Afghanistan sein Existenzminimum nicht erwirtschaften zu können. Aus dem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Perspektiven des deutschen Afghanistan-Engagements ergebe sich ebenfalls die schlechte Allgemeinsituation.
Der Kläger beantragt,
10 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. April 2017 - A 2 K 4283/16 - teilweise zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 3 - 5 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. August 2016 zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ein nationales Abschiebungsverbot bezüglich Afghanistan festzustellen.
11 
Die Beklagte beantragt,
12 
die Berufung zurückzuweisen.
13 
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihren Bescheid sowie das angegriffene Urteil.
14 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung verweist der Senat auf das Protokoll.
15 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
16 
Dem Senat liegen die Akten der Beklagten sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vor.

Entscheidungsgründe

 
17 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
18 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
19 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
20 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
21 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
22 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
23 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
24 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
25 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
26 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
27 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
28 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
29 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einem unfreiwilligen Waffentransport tatsächlich erlebt hat.
30 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
31 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
32 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
33 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
34 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
35 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
36 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
37 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
38 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
39 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Bedrohung durch zwei Personen, die ihn als Werkzeug für einen Waffentransport benutzt haben sollen, sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und also die Einlassung keine hinreichen Substanz aufweist.
40 
Während der Kläger beim Verwaltungsgericht geschildert hatte, dass er nicht alle Kisten geöffnet habe und sich in manchen Kisten Pfirsiche und Melonen, in anderen Waffen, nämlich in ihre Einzelteile zerlegte Kalashnikov-Gewehre, befunden hätten, hat er gegenüber dem Senat angegeben, nur eine Kiste geöffnet zu haben, in der er Waffen und Munition gesehen habe. Die Männer hätten ihm gesagt, dass er Äpfel und Aprikosen transportieren solle. Die - auch auf Vorhalt nicht sinnvoll aufklärbaren - Unterschiede im Einlassungsverhalten hinsichtlich der Anzahl der geöffneten Kisten (eine oder mehrere) und des einmal tatsächlich gesehenen Obsts (Pfirsiche und Melonen) und das sodann nur als Ware benannten Obsts (Äpfel und Aprikosen) sind für den Senat nur dahingehend zu erklären, dass die zentralen Aspekte der Einlassung vom Kläger frei erfunden sind. Die Erklärung des Klägers, er habe beim Verwaltungsgericht nicht von Pfirsichen und Melonen gesprochen, ist erkennbar eine Schutzbehauptung. Insbesondere deswegen, weil die Verhandlung in beiden Instanzen vom gleichen Dolmetscher übertragen worden ist, schließt der Senat eine Verständigungsschwierigkeit mit dem Dolmetscher als Grund für die Abweichung aus. Überdies kann die Schutzbehauptung nicht erklären, weshalb er seinen Angaben beim Verwaltungsgericht zufolge auch Obst in den Kisten gefunden haben will, während er nach seinen letzten Erklärungen nur Waffen vorgefunden haben will.
41 
Die weitere Schilderung der Vorgänge bei der Übergabe der Kisten an den Kommandanten der Polizeistation ist sodann vollständig farblos und inhaltlich substanzlos geblieben, hier schilderte der Kläger allein den Umstand der Übergabe. Weder kamen in seiner Schilderungen Nachfragen zu den Auftraggebern vor, noch gab er sonstige Reaktionen des Kommandanten oder anderer Personen wider. Falls der Polizeikommandant mit den Auftraggebern des Klägers verbündet gewesen sein sollte, wäre zu erwarten gewesen, dass er das Verhalten des Klägers missbilligt hätte. Falls der Polizeikommandant an einer Aufklärung des Waffentransports Interesse gehabt hätte, wären Nachfragen zum Auftraggeber zu erwarten gewesen. In jedem Fall spricht es gegen die Glaubhaftigkeit der Einlassungen, dass insoweit gar keine Reaktion geschildert worden ist. Dies bestätigt ergänzend, dass die Schilderungen des Klägers nicht der Wahrheit entsprechen können.
42 
Davon ausgehend lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgehend von den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
43 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
44 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
45 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
46 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
47 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
48 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
49 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
50 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
51 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
52 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
53 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
54 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
55 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
56 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
57 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
58 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
59 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
60 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
61 
st. Rspr des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
62 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
63 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
64 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
65 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
66 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
67 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
68 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
69 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
70 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
71 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
72 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
73 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
74 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
75 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
76 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
77 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
78 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
79 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
80 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
81 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
82 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
83 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, Rn. 26, juris.
84 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
85 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
86 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt - jedenfalls auch - darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
87 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
88 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
89 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
90 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
91 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinen Eltern in deren Haus in der Provinz Maydan Wardak gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
92 
Zwischen dem 1. September 2016 und dem 31. Mai 2017 ließen sich 307 sicherheitsrelevante Zwischenfälle in der Provinz feststellen. Davon gingen 223 auf bewaffnete Auseinandersetzungen oder Luftangriffe, 33 auf Explosionen und 23 auf gegen Einzelpersonen gerichtete Gewalt zurück.
93 
EASO, Country of Origin Information Report - Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 255.
94 
UNAMA hat für das Jahr 2017 83 Opfer (davon 42 Todesopfer) festgestellt, wobei die meisten dieser Zivilpersonen Opfer von Bodenkämpfen gewesen sind. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent reduziert.
95 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
96 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 606.000 Personen
97 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 252.
98 
gesehen erkennbar nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
99 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
100 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,01 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Maydan Wardak zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
101 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung sehr niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
102 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
103 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
104 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
105 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei der das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Maydan Wardak getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
106 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
107 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
108 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9.
109 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltenen rechtlichen Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
110 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
111 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers nicht gegeben (d)).
112 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
113 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
114 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
115 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
116 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
117 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
118 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
119 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
120 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
121 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
122 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
123 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
124 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
125 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
126 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
127 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
128 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
129 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
130 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
131 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
132 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
133 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
134 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
135 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
136 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
137 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
138 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
139 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
140 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
141 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
142 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über alle Zweifel erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
143 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
144 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
145 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
146 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
147 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
148 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
149 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
150 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
151 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
152 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
153 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
154 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
155 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
156 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
157 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
158 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
159 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
160 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
161 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
162 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
163 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
164 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
165 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
166 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
167 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
168 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
169 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
170 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
171 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
172 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
173 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
174 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
175 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
176 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
177 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
178 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
179 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
180 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
181 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren – darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
182 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
183 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
184 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
185 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen hat, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden.Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
186 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
187 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
188 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
189 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
190 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
191 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
192 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
193 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege.Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
194 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
195 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
196 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
197 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
198 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
199 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
200 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
201 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
202 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
203 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
204 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
205 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück
206 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
207 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
208 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
209 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
210 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
211 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
212 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
213 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
214 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
215 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
216 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
217 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
218 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
219 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
220 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
221 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
222 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
223 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
224 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
225 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
226 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
227 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
228 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
229 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
230 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
231 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
232 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
233 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
234 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
235 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
236 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
237 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
238 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
239 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
240 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
241 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
242 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
243 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
244 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
245 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
246 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
247 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
248 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
249 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
250 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
251 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
252 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
253 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
254 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
255 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
256 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
257 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
258 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
259 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
260 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
261 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
262 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
263 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
264 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
265 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
266 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
267 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
268 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
269 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
270 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
271 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
272 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
273 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
274 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
275 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
276 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
277 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
278 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
279 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
280 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
281 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
282 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
283 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
284 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
285 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
286 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
287 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
288 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
289 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
290 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
291 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
292 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
293 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
294 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
295 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
296 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
297 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
298 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
299 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
300 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
301 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
302 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
303 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
304 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
305 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
306 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
307 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
308 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
309 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
310 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
311 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
312 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
313 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
314 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
315 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
316 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
317 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
318 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
319 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
320 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
321 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
322 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
323 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
324 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
325 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
326 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
327 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
328 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
329 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
330 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
331 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
332 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
333 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
334 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
335 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
336 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
337 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
338 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
339 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
340 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
341 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
342 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
343 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28: März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
344 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
345 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
346 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
347 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein.
348 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
349 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
350 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
351 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
352 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
353 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
354 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
355 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
356 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
357 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
358 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
359 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
360 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
361 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden - ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) - und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier - wie auch bei der Heimatregion des Klägers - kein anderes Ergebnis geboten.
362 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
363 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
364 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisierten, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
365 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
366 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
367 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
368 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
369 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
370 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
371 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
372 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
373 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
374 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
375 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
376 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
377 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
378 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
379 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
380 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
381 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
382 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
383 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
17 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
18 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
19 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
20 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
21 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
22 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
23 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
24 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
25 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
26 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
27 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
28 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
29 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einem unfreiwilligen Waffentransport tatsächlich erlebt hat.
30 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
31 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
32 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
33 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
34 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
35 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
36 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
37 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
38 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
39 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Bedrohung durch zwei Personen, die ihn als Werkzeug für einen Waffentransport benutzt haben sollen, sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und also die Einlassung keine hinreichen Substanz aufweist.
40 
Während der Kläger beim Verwaltungsgericht geschildert hatte, dass er nicht alle Kisten geöffnet habe und sich in manchen Kisten Pfirsiche und Melonen, in anderen Waffen, nämlich in ihre Einzelteile zerlegte Kalashnikov-Gewehre, befunden hätten, hat er gegenüber dem Senat angegeben, nur eine Kiste geöffnet zu haben, in der er Waffen und Munition gesehen habe. Die Männer hätten ihm gesagt, dass er Äpfel und Aprikosen transportieren solle. Die - auch auf Vorhalt nicht sinnvoll aufklärbaren - Unterschiede im Einlassungsverhalten hinsichtlich der Anzahl der geöffneten Kisten (eine oder mehrere) und des einmal tatsächlich gesehenen Obsts (Pfirsiche und Melonen) und das sodann nur als Ware benannten Obsts (Äpfel und Aprikosen) sind für den Senat nur dahingehend zu erklären, dass die zentralen Aspekte der Einlassung vom Kläger frei erfunden sind. Die Erklärung des Klägers, er habe beim Verwaltungsgericht nicht von Pfirsichen und Melonen gesprochen, ist erkennbar eine Schutzbehauptung. Insbesondere deswegen, weil die Verhandlung in beiden Instanzen vom gleichen Dolmetscher übertragen worden ist, schließt der Senat eine Verständigungsschwierigkeit mit dem Dolmetscher als Grund für die Abweichung aus. Überdies kann die Schutzbehauptung nicht erklären, weshalb er seinen Angaben beim Verwaltungsgericht zufolge auch Obst in den Kisten gefunden haben will, während er nach seinen letzten Erklärungen nur Waffen vorgefunden haben will.
41 
Die weitere Schilderung der Vorgänge bei der Übergabe der Kisten an den Kommandanten der Polizeistation ist sodann vollständig farblos und inhaltlich substanzlos geblieben, hier schilderte der Kläger allein den Umstand der Übergabe. Weder kamen in seiner Schilderungen Nachfragen zu den Auftraggebern vor, noch gab er sonstige Reaktionen des Kommandanten oder anderer Personen wider. Falls der Polizeikommandant mit den Auftraggebern des Klägers verbündet gewesen sein sollte, wäre zu erwarten gewesen, dass er das Verhalten des Klägers missbilligt hätte. Falls der Polizeikommandant an einer Aufklärung des Waffentransports Interesse gehabt hätte, wären Nachfragen zum Auftraggeber zu erwarten gewesen. In jedem Fall spricht es gegen die Glaubhaftigkeit der Einlassungen, dass insoweit gar keine Reaktion geschildert worden ist. Dies bestätigt ergänzend, dass die Schilderungen des Klägers nicht der Wahrheit entsprechen können.
42 
Davon ausgehend lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgehend von den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
43 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
44 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
45 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
46 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
47 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
48 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
49 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
50 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
51 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
52 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
53 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
54 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
55 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
56 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
57 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
58 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
59 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
60 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
61 
st. Rspr des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
62 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
63 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
64 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
65 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
66 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
67 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
68 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
69 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
70 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
71 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
72 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
73 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
74 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
75 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
76 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
77 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
78 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
79 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
80 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
81 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
82 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
83 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, Rn. 26, juris.
84 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
85 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
86 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt - jedenfalls auch - darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
87 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
88 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
89 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
90 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
91 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinen Eltern in deren Haus in der Provinz Maydan Wardak gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
92 
Zwischen dem 1. September 2016 und dem 31. Mai 2017 ließen sich 307 sicherheitsrelevante Zwischenfälle in der Provinz feststellen. Davon gingen 223 auf bewaffnete Auseinandersetzungen oder Luftangriffe, 33 auf Explosionen und 23 auf gegen Einzelpersonen gerichtete Gewalt zurück.
93 
EASO, Country of Origin Information Report - Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 255.
94 
UNAMA hat für das Jahr 2017 83 Opfer (davon 42 Todesopfer) festgestellt, wobei die meisten dieser Zivilpersonen Opfer von Bodenkämpfen gewesen sind. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent reduziert.
95 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
96 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 606.000 Personen
97 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 252.
98 
gesehen erkennbar nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
99 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
100 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,01 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Maydan Wardak zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
101 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung sehr niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
102 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
103 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
104 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
105 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei der das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Maydan Wardak getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
106 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
107 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
108 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9.
109 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltenen rechtlichen Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
110 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
111 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers nicht gegeben (d)).
112 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
113 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
114 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
115 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
116 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
117 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
118 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
119 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
120 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
121 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
122 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
123 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
124 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
125 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
126 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
127 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
128 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
129 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
130 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
131 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
132 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
133 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
134 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
135 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
136 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
137 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
138 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
139 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
140 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
141 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
142 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über alle Zweifel erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
143 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
144 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
145 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
146 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
147 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
148 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
149 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
150 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
151 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
152 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
153 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
154 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
155 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
156 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
157 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
158 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
159 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
160 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
161 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
162 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
163 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
164 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
165 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
166 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
167 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
168 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
169 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
170 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
171 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
172 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
173 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
174 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
175 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
176 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
177 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
178 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
179 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
180 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
181 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren – darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
182 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
183 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
184 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
185 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen hat, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden.Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
186 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
187 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
188 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
189 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
190 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
191 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
192 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
193 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege.Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
194 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
195 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
196 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
197 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
198 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
199 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
200 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
201 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
202 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
203 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
204 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
205 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück
206 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
207 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
208 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
209 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
210 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
211 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
212 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
213 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
214 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
215 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
216 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
217 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
218 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
219 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
220 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
221 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
222 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
223 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
224 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
225 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
226 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
227 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
228 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
229 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
230 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
231 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
232 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
233 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
234 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
235 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
236 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
237 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
238 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
239 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
240 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
241 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
242 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
243 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
244 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
245 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
246 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
247 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
248 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
249 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
250 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
251 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
252 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
253 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
254 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
255 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
256 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
257 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
258 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
259 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
260 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
261 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
262 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
263 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
264 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
265 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
266 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
267 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
268 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
269 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
270 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
271 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
272 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
273 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
274 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
275 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
276 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
277 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
278 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
279 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
280 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
281 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
282 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
283 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
284 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
285 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
286 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
287 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
288 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
289 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
290 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
291 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
292 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
293 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
294 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
295 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
296 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
297 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
298 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
299 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
300 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
301 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
302 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
303 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
304 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
305 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
306 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
307 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
308 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
309 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
310 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
311 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
312 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
313 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
314 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
315 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
316 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
317 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
318 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
319 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
320 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
321 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
322 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
323 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
324 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
325 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
326 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
327 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
328 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
329 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
330 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
331 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
332 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
333 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
334 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
335 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
336 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
337 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
338 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
339 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
340 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
341 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
342 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
343 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28: März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
344 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
345 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
346 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
347 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein.
348 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
349 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
350 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
351 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
352 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
353 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
354 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
355 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
356 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
357 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
358 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
359 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
360 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
361 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden - ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) - und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier - wie auch bei der Heimatregion des Klägers - kein anderes Ergebnis geboten.
362 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
363 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
364 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisierten, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
365 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
366 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
367 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
368 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
369 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
370 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
371 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
372 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
373 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
374 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
375 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
376 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
377 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
378 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
379 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
380 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
381 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
382 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
383 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzstatus.

Der am ... 2009 in ... bei Mossul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischem Glauben.

Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger am 29. September 2017 als unbegleiteter Minderjähriger auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er durch seinen Vormund am 11. Dezember 2017 Asylerstantrag stellte. Der Asylantrag wurde gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG beschränkt.

Eine persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) fand nicht statt. Stattdessen wurde von Seiten des Vormundes des Klägers eine Stellungnahme vorgelegt, die darauf verweist, dass das Dorf, in dem der Kläger mit seiner Familie gelebt habe, am 3. August 2016 überfallen worden sei. Daraufhin sei der Kläger mit seiner Familie in die Berge geflohen, um sich dort zu verstecken. Der Familie sei die Lebensgrundlage genommen worden. Das vormals bewohnte Haus sei zerstört worden. Seine Eltern und Geschwister würden sich derzeit in einem Flüchtlingscamp bei ... (...) aufhalten. Auf den weiteren Inhalt der Stellungnahme vom 18. Dezember 2017 wird ergänzend verwiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wurde für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festgestellt (Nr. 3. des Bescheids). In den Nrn. 1. und 2. des Bescheides wurde bestimmt, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt werden.

In den Gründen des Bescheids ist ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Ein Ausländer sei Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinde, dessen Staatsangehörigkeit er besitze (§ 3 AsylG). Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne dieser Definition. Soweit der Kläger angebe, sein Dorf sei im August 2016 von der Terrormiliz „islamischer Staat“ (IS) überfallen worden, so habe der IS zu diesem Zeitpunkt zwar gezielt Ortschaften überfallen und zerstört, jedoch habe sich die Situation im Distrikt ... in der Provinz Ninive dahingehend verändert, dass es derzeit keine derartige Bedrohung mehr in dieser Region gebe. Dem Bundesamt lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass dem Kläger eine Verfolgung aufgrund seiner yezidischen Religionszugehörigkeit drohen könne. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden finde nicht statt. Es gebe aktuell keine Hinweise auf Verfolgung durch den IS und auch keine bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Region. Das genannte Gebiet sei wieder unter der Kontrolle der Zentralregierung und nicht mehr unter kurdischer Kontrolle. Hieraus ergebe sich, dass es bei einer Rückkehr keine drohende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG für den Kläger gebe. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Insbesondere scheide eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG aus. Im Herkunftsland des Klägers bestehe kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Die Provinz Ninive sei unter der Kontrolle der Regierung, seit dem der IS aus dem Gebiet vertrieben worden sei und die Regierung die Region im Oktober 2017 von den Kurden zurückerobert habe. Für den Kläger bestehe jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

Auf den weiteren Inhalt des Bescheides des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 wird ergänzend verwiesen.

Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Vormund des Klägers am 6. Februar 2018 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt.

Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 8. Februar 2018 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,

I.

Der Bescheid des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Az.: ...) vom 22. Januar 2018, zugestellt am 6. Februar 2018 wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylVfG zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Zur Begründung der Klage ist mit am 5. März 2018 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg eingegangen Schreiben ausgeführt, dass der Kläger der Religionsgemeinschaft der Yeziden angehöre. Der Kläger habe sein Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion verlassen. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr in den Irak mit großer Wahrscheinlichkeit erneut eine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Yeziden. Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung subsidiären Schutzes bleibe aufrechterhalten.

Die Beklagte hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.

Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 7. März 2018 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Mit Schriftsatz vom 16. April 2018 hat der Vormund des Klägers auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Die Beklagte hat sich mit Generalerklärung vom 27. Juni 2017 ebenfalls mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt habe (§ 101 Abs. 2 VerwaltungsgerichtsordnungVwGO).

Die ausgehend von der Beschwer des Klägers ausschließlich auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) gerichtete Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2018 ist, soweit er sinngemäß mit der Klage vom 8. Februar 2018 angegriffen worden ist, rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid ist unter Würdigung der Verhältnisse in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II Seite 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- und Schutzakteuren regeln die §§ 3a-d AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU, L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9-26, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU).

Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 der RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung Handlungen, die – Nr. 1 – aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685,953) keine Abweichung zulässig ist, oder die – Nr. 2 – in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie in der Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Als Verfolgung können nach § 3a Abs. 2 AsylG u.a. folgende Handlungen gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt – Nr. 1 – sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind – Nr. 6 –.

Ferner muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von – Nr. 1 – dem Staat, – Nr. 2 – Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, oder – Nr. 3 – von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

In der Definition der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) und der RL 2011/95/EU ist angelegt, dass bei ihrer Prüfung als Prognosemaßstab derjenige der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen ist. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 – 8 A 4063/06.A – juris).

Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU – dieser hat keine nationale Entsprechung – ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird.

Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, (360 f.); dem folgend BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377-388 und vom 31. März 1981 – 9 C 237.80 – juris).

Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 –, BVerwGE 104, 97 (101 ff.), juris), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 27. April 1982 – 9 C 308.81 –, BVerwGE 65, 250 (252), juris).

Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 – und vom 18. Februar 1997 – 9 C 9.96 – BVerwGE 104, 97 (99), juris).

Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für Ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisiert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – Saadi, Rn. 128 m.w.N., juris).

Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Die Beurteilung, ob stichhaltige Gründe die Vermutung widerlegen, obliegt dem Tatrichter im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –; Verwaltungsgericht Augsburg, Urteil vom 11. Juli 2016 – Au 5 K 16/30604 – juris).

Aus den in § 25 AsylG (und Art. 4 RL 2011/95/EU) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Drittstaatsangehörigen folgt, dass es auch unter Berücksichtigung dieser Vorgaben Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321.85 – juris).

Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.

Gemäß nach diesen Kriterien liegen die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG hinsichtlich des Klägers nicht vor. Da im Verfahren keine zielgerichtete individuelle Bedrohung insbesondere seitens der Terrormiliz ‘Islamischer Staat‘ (IS) geltend gemacht hat, ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger ausschließlich über die Grundsätze der Gruppenverfolgung für yezidische Glaubensangehörige möglich.

Das Gericht ist der Auffassung, dass für Glaubenszugehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die wie der Kläger aus der Provinz Ninive im Zentralirak stammen, die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nicht mehr gegeben sind.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urteile vom 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – juris).

Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 – und Urteil vom 30. April 1996 – 9 C 171.95 – BVerwGE 101, 134 (140 f.), juris).

Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms –, vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris), ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2006 – 1 C 15.05 – Rn. 20 und vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (203), juris).

Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204), juris).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3 d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 – juris Rn 20).

Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 – 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 (204)); zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vgl. zuletzt etwa BVerwG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 1 B 234.02 –; BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238 (234), juris, jeweils m.w.N).

Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteile 21. April 2009 – 10 C 11/08 – und vom 18. Juli 2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243-254; OVG NRW, Beschluss vom 30. März 2011 – 9 A 567/11.A – juris).

Gruppengerichtete Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, erfassen nicht immer ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend. Die ihnen zugrundeliegenden ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gegensätze können in einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt sein; die darin wurzelnden Spannungen können sich in unterschiedlichem Grade auf das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsteile auswirken. Deshalb ist – jedenfalls bei gruppengerichteten Verfolgungen durch nicht-staatliche Kräfte – von der Möglichkeit auszugehen, dass solche Verfolgungen regional oder lokal begrenzt sind mit der Folge, dass sich die verfolgungsfreien Räume als inländische Fluchtalternative darstellen können und dass die dort ansässigen Gruppenangehörigen als unverfolgt zu gelten haben. Allerdings bedarf dabei näherer Ermittlung, ob eine bestehende Schutzunwilligkeit des Staates die Gefahr einer Ausweitung der Verfolgung in bisher verfolgungsfreie Räume begründet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 – 2 BvR 902/85 – BVerfGE 83, 216-238, juris).

Nach diesen Maßstäben ist der Kläger als Angehöriger der yezidischen Religionsgemeinschaft bezogen auf seinen letzten Aufenthaltsort ... bei Mossul in der Provinz Ninive keiner regionalen Gruppenverfolgung durch den IS als nichtstaatlichem Akteur ausgesetzt.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fehlt es jedenfalls an der erforderlichen „Verfolgungsdichte“, die für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen belief sich die Zahl der in der Provinz Ninive ansässigen Yeziden vor dem Überfall durch den IS auf ca. 291.000 Menschen in der Region, wobei diese Zahl anhand der ausgegebenen Lebensmittelkarten ermittelt werden konnte, und weiteren ca. 65.000 Menschen in der Region Sheikhan (vgl. Gutachten des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 16. September 2013 an das OVG NRW, S. 11 f., juris).

Zwar wurden seit 2014 Schätzungen zufolge 5000 Yeziden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit getötet, mehr als 6000 Yezidinnen versklavt, 300 000 Yeziden wurden vertrieben. 24 Massengräber wurden in der Region ... bereits gefunden. Befürchtet wird, dass fast doppelt so viele an verschiedenen Orten in der Region liegen, viele davon weiter südlich der aktuellen Frontlinie (vgl. Die Zeit online, Die Vergessenen von, 13. Juni 2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/jesiden-nordirak-islamischer-staat; Die Jesiden von, Le Monde diplomatique, Januar 2017, S. 11).

Diese Verfolgungssituation für yezidische Glaubenszugehörige besteht seit Mitte/Ende des Jahres 2017 jedoch nicht mehr unverändert fort und führt im vorbezeichneten Verfahren dazu, dass die Voraussetzungen für die Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive nicht mehr angenommen werden können. Im August 2017 erklärte der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi, dass mit der Stadt Tal Afar eine der letzten IS-Bastionen im Land befreit worden sei. Die US-geführte Anti-IS-Koalition teilte ebenfalls mit, dass der Irak 90% des ehemals von der Terrormiliz kontrollierten Gebietes zurückerobert habe. Der IS hat nach seinem Vormarsch vor mehr als drei Jahren (2014) auf dem Höhepunkt seiner Macht riesige Gebiete im Norden und Westen des Irak beherrscht, darunter große Städte. Hierzu gehörte auch die Millionenstadt Mossul östlich von Tal Afar. Auch die Provinz Ninive, die an der Grenze zu Syrien liegt, wurde im Sommer 2014 vom IS überrannt. In der Provinzhauptstadt Mossul haben die Dschihadisten damals ihr so genanntes Kalifat ausgerufen. Im Juli 2017 wurde Mosul nach Monate langer Belagerung von den irakischen Truppen mit internationaler Hilfe zurückerobert. Bereits zuvor hatten die Extremisten die größten Teile der ehemals kontrollierten Gebiete im Irak verloren. Die Rückeroberung von Tal Afar habe nur zehn Tage gedauert. Tal Afar war eine der letzten irakischen Städte in der Hand der IS-Miliz. Diese kontrolliert nach aktuellen, dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen, nur noch zwei Gebiete im Irak, von denen Großteile unbewohnt sind. Es handelt sich hierbei um Hawidscha im Zentralirak und die Städte Al-Kaim, Rawa und Anna in der Wüste an der Grenze zu Syrien. In den übrigen Gebieten ist die Terrormiliz IS auch in der Provinz Ninive vollständig besiegt.

Mit der geschilderten Zurückdrängung des IS aus der Provinz Ninive, der Tatsache, dass die Terrormiliz lediglich noch zwei Gebiete im Irak beherrscht, ist es nach Auffassung des Gerichtes ausgeschlossen, dass die Terrormiliz noch über Strukturen verfügt, die es ihr ermöglicht, yezidische Glaubenszugehörige in der Provinz Ninive systematisch im Rahmen eines eingeleiteten und durchgeführten Verfolgungsprogramms (vgl. noch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, Seite 12, 18) zu verfolgen, wie es Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung wäre. Es ist für das gesamte Gebiet eine gewisse Befriedung eingetreten und festzustellen. Dies schließt die Annahme einer Gruppenverfolgung für den Kläger bei fehlender anlassgeprägter Einzelverfolgung im vorliegenden Fall aus. Dies gilt jedenfalls für den der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Zeitpunkt im schriftlichen Verfahren.

Nichts anderes gilt für den derzeitigen Aufenthaltsort der Eltern des Klägers (... bzw. ...). Die Stadt ... bzw. ... wird derzeit von der irakischen Zentralregierung verwaltet. Lediglich bis zum Jahr 2015 war ... umkämpft. Im Herbst 2015 teilten Kreise der kurdischen Autonomieregierung am 13. November 2015 mit, es seien Peschmerga von allen Seiten nach ... (...) eingedrungen und es sei gelungen, zentrale Gebäude zu besetzen. Am 13. November 2015 wurde die Stadt bereits aus der Hand des IS befreit. Damit kann auch bezogen auf den Aufenthaltsort der Eltern des Klägers derzeit keine Verfolgungsgefahr für Angehörige der ethno-Religiösen Minderheit der Yeziden angenommen werden.

2. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) liegen im Fall des Klägers nicht vor.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die vorgenannten Gefahren müssen dabei gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Auch subsidiärer Schutz wird nicht zuerkannt, wenn der Ausländer internen Schutz in Anspruch nehmen kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG).

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Irak kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit. Dies gilt sowohl bezogen auf den früheren Heimatort des Klägers (... bei Mossul in der Provinz Ninive) als auch auf den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...).

Nach weitreichender Befreiung der Provinz Ninive von der Terrormiliz IS und weitreichender Befriedung des Gebiets besteht die für die Annahme eines subsidiären Schutzstatus erforderliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG vorliegend nicht mehr fort.

Für die Beurteilung der Frage des Bestehens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist, sofern der Konflikt nicht landesweit besteht, auf die Herkunftsregion des Klägers abzustellen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Vorliegend ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren weder für den vormaligen Heimatort des Klägers (... bei Mossul) noch für den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern (... bzw. ...) ein bewaffneter fortbestehender innerstaatlicher Konflikt festzustellen. Die Provinz Ninive ist befriedet und unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung. Die Truppen der Terrormiliz IS sind aus diesem vormals von ihnen besetzten Gebiet dauerhaft zurückgedrängt worden. Dies schließt die Annahme der Gewährung eines subsidiären Schutzstatus im derzeitigen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aus.

Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, sind bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive nicht ersichtlich bzw. zu befürchten.

3. Nach allem war die Klage daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung erfolgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren gegenüber der Beklagten nur noch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der nach seinem Vorbringen 1995 oder 1998 in Bamyan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit.
Er reiste nach seinem Vortrag am 18. Mai 2016 nach Deutschland ein und stellte am 24. Mai 2016 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes.
Bei der Anhörung durch das Bundesamt am 7. Juni 2016 gab der Kläger an, in der Heimat habe er bei einem Onkel gelebt, weil seine Eltern getötet worden seien, als er sieben Jahre alt gewesen sei. Der Onkel lebe in Kandahar in einem gemieteten Haus. Er handele mit Trockenfrüchten. Er, der Kläger, habe keine Schule besucht und auf dem Bau gearbeitet. Als Hazara und Schiit sei er durch die Taliban gefährdet. Vor der Flucht sei er vier bis fünf Tage von den Taliban in einem Granatapfelgarten festgehalten worden. Die Taliban hätten ihn als Kämpfer rekrutieren wollen. Sie hätten ihn geohrfeigt und mit einem Stock geschlagen. Er habe zunächst eingewilligt. Er sei jedoch geflohen, als er sich habe verstecken sollen, weil eine Attacke der afghanischen Streitkräfte vermutet worden sei. Er habe einen Bach als Versteck genutzt, und sei durch den Garten entkommen. Für eine Stunde sei er zu seinem Onkel gegangen. Danach habe er Afghanistan verlassen. Eine Alternative habe er nicht gesehen.
Mit Bescheid vom 15. Juli 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag ab. Gleichzeitig entschied es, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Weiterhin erging die Aufforderung, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall nicht fristgerechter Ausreise drohte das Bundesamt die Abschiebung nach Afghanistan an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. In der Begründung heißt es u.a.: Das Vorbringen des Klägers sei nicht glaubhaft. Es sei detailarm, vage und oberflächlich. Dies gelte insbesondere für die Schilderung der Situation des Aufenthalts bei den Taliban. Auch seien keine Umstände der vorgebrachten Rekrutierung durch die Taliban geschildert worden. Konkrete Fragen habe der Kläger nur knapp und wiederholend beantwortet. Wie die Tage im Granatapfelgarten abgelaufen seien, sei trotz Nachfragen offen geblieben. Zudem sei es nicht realistisch, dass innerhalb des nur einstündigen Aufenthalts beim Onkel eine beträchtliche Summe für die Flucht zur Verfügung gestellt habe werden können. Im Übrigen habe dem Kläger eine Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.
Der Kläger erhob am 12. August 2016 Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg und trug vor, er habe sich seiner Zwangsrekrutierung durch die Taliban widersetzt. Am 20. September 2015 sei er von Taliban verschleppt worden. An diesem Tag habe er frei gehabt. Zwei bewaffnete Personen hätten ihn in einem Auto entführt. Man habe ihn geschlagen und getreten. Zum Schein habe er eine Zusammenarbeit zugesagt. Er habe u.a. Schießübungen absolvieren müssen. Er habe sich fünf Nächte in der Gewalt der Taliban befunden. Am 5. Tag habe er bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp fliehen können. Zu Fuß habe er sich zu seinem Onkel begeben. Nach einer Stunde hätten sie sich in ein Restaurant begeben, wo sie einen Schlepper getroffen hätten. Die Reise habe 4.500 US-Dollar gekostet. Er habe u.a. beim Onkel hinterlegte Ersparnisse gehabt.
Die Beklagte trat der Klage aus den Gründen des angegriffenen Bescheids entgegen.
Das Verwaltungsgericht hörte den Kläger in der mündlichen Verhandlung an.
Mit Urteil vom 17. Januar 2017 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte u.a. aus: Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die Taliban hätten ihn festgesetzt, damit er als Kämpfer für sie tätig sei. Bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp habe er fliehen können. Mit diesem Vortrag könne der Kläger seiner Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Das Gericht nehme dem Kläger sein Vorbringen nicht ab. Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei wie schon beim Bundesamt sehr allgemein gehalten gewesen. Er sei blass und detailarm und wirke distanziert. Zudem habe es unerklärliche Ungereimtheiten gegeben. Dabei habe das Gericht wohlwollend berücksichtigt, dass der Kläger aus einem anderen Kulturkreis stamme und - wie er angegeben habe - nicht zur Schule gegangen sei. Die Kammer sei aber davon überzeugt, dass der Kläger allgemeine Erkenntnisse zur Situation in Afghanistan zur Konstruktion eines eigenen Verfolgungsschicksals verwendet habe. Das Vorbringen des Klägers sei sehr pauschal gehalten und farblos gewesen. Es habe sich auf allgemeine Angaben wie, er sei „erst einmal zusammengeschlagen worden", er habe zugestimmt, dass er „mit denen arbeiten werde", beschränkt. Auch die einschneidenden Fluchtmodalitäten habe der Kläger ganz allgemein und ohne Angabe von Einzelheiten wiedergegeben. So habe er lediglich angegeben, bei Beginn der Schießerei mit den Regierungstruppen habe er seine Waffe niedergelegt und sei geflüchtet. Anschauliche Einzelheiten seien trotz mehrerer Nachfragen des Gerichts nicht genannt geworden. Gleiches gelte für die Ausreisemodalitäten im Land Afghanistan selbst. Anschauliche Details seien dem Kläger auch insoweit nicht zu entlocken gewesen. Bereits im Hinblick darauf habe die Kammer zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass der Kläger von tatsächlich Erlebtem berichtet habe. An dieser Beurteilung könne auch der Vortrag des Klägers nichts ändern, es habe im Büro seines Rechtsanwalts möglicherweise Übersetzungsfehler des Dolmetschers gegeben. Die Beurteilung des Vorbringens des Klägers ergebe sich bereits aus dem Verlauf der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht unabhängig von der Vorbereitung der Klagebegründung. An der Beurteilung des Gerichts ändere auch die Tatsache nichts, dass der Kläger nach seinem Vertrag Analphabet sei. Nach den Erfahrungen des Gerichts seien Analphabeten sehr wohl in der Lage, einen Sachverhalt detailreich und anschaulich darzustellen, wenn er sich denn wirklich so ereignet habe. Im Übrigen habe der Kläger über sein angebliches Verfolgungsschicksal ungereimt widersprüchlich und gesteigert berichtet. Völlig neu sei das Vorbringen des Klägers, ein Bekannter habe ihm in der Schweiz (vor der Einreise nach Deutschland) gesagt, er, der Kläger, werde konkret von den Taliban gesucht. Davon sei beim Bundesamt nie die Rede gewesen. Es hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, diesen Sachverhalt anzusprechen, wenn er sich denn wirklich so ereignet gehabt hätte. Über die Dauer der Festsetzung durch die Taliban und die Art der Misshandlungen seien ebenfalls unterschiedliche Angaben gemacht worden. Dies überrasche deshalb, weil die maßgeblichen Ereignisse noch nicht lange zurücklägen. Nicht nachvollziehbar sei für das Gericht auch, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu den beiden Personen, die ihn angeblich in ein Auto verfrachtet hätten, überhaupt nichts habe sagen können, weil diese ihm die Augen verbunden hätten. Der Kläger müsse diese Personen aber zunächst gesehen haben. So sei dann auch noch in der Klagebegründung angegeben worden, die beiden Personen seien bewaffnet gewesen. Ungereimt sei dabei dann auch das Vorbringen des Klägers, er sei im Camp zunächst zusammengeschlagen worden, und erst später sei es um seine Mitarbeit bei den Taliban gegangen. Schließlich habe es auch bei den finanziellen Ausreisemodalitäten eine gravierende Ungereimtheit gegeben. So habe der Kläger beim Bundesamt noch angegeben, er habe sich nach der Flucht aus dem Ausbildungscamp ca. eine Stunde beim Onkel aufgehalten und sei dann sofort gegen einen hohen Geldbetrag ausgereist. Das Geld habe er mitgenommen. Nachdem dem Kläger im ablehnenden Bescheid des Bundesamts dann vorgehalten worden sei, es sie unrealistisch, innerhalb einer Stunde einen erheblichen Geldbetrag (in US-DoIIar) aufzubringen, habe der Kläger sein Vorbringen dahin modifiziert, dass das Geld erst einige Zeit später nach Griechenland übersandt worden sei. Davon sei beim Bundesamt nicht ansatzweise die Rede gewesen.
10 
Das Urteil wurde dem Kläger am 27. Januar 2017 zustellt.
11 
Am 27. Februar 2017 stellte der Kläger einen Zulassungsantrag, dem der Senat durch Beschluss vom 4. April 2017 - zugestellt am 12. April 2017 - teilweise in Bezug auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote entsprach.
12 
Am 11. Mai 2017 reichte der Kläger unter Stellung eines Berufungsantrags die Berufungsbegründung ein. Er trägt u.a. vor: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Er habe angesichts der in humanitärer Hinsicht katastrophalen Situation in Afghanistan und unter Berücksichtigung der sich ständig verschärfenden Sicherheitslage eine Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu befürchten. Es sei nicht wahrscheinlich, dass er das zum Überleben notwendige Existenzminimum werde erwirtschaften können. Aufgrund des vom Kläger in der Provinz Kandahar Erlebten könne ihm nicht zugemutet werden sich in dieses Gebiet zurückzubegeben. An anderen Orten in Afghanistan befänden sich indes keine Familienangehörigen. Frau Stahlmann führe jedoch in ihrem Aufsatz „Überleben in Afghanistan? - Zur humanitären Lage von Rückkehrern und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" aus, dass diese akut in ihrem Überleben gefährdet seien, wenn sie keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke hätten. Der Kläger könne sich ferner auch auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG berufen. Insoweit sei insbesondere auch darauf hinzuweisen, dass sich die Bundesregierung bis heute nicht in der Lage sehe, die angeblich sicheren Landesteile, die betroffenen Ausländern als interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG dienen sollen, konkret zu benennen.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - teilweise zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2016 zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich Afghanistan ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt.
15 
Die Beklagte tritt der Berufung aus den Gründen des angegriffenen Urteils entgegen und beantragt,
16 
die Berufung zurückzuweisen.
17 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen angehört; insoweit wird auf die Niederschrift vom 11. April 2018 verwiesen.
18 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten verweist der Senat auf die gewechselten Schriftsätze. Ihm lagen die Akten des Bundesamts als Ausdruck sowie die Akten des Verwaltungsgerichts vor.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. März 2016 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. September 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Irak am 21. November 2015 verlassen habe und er aus dem Dorf Tel Benat stamme, das sich in der Nähe der Stadt Sindschar befinde. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und Abitur gemacht. Anschließend habe er circa zwei Jahre als Maler gearbeitet. Im Irak lebten neben seiner Mutter, die erkrankt sei und in einem Flüchtlingslager in Zaxo lebe, ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester sowie die gesamte Großfamilie. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Kläger im Wesentlichen an, dass die Terrormiliz des Islamischen Staates (im Folgenden: IS) sein Dorf erobert habe und er seitdem nichts mehr besitze. Für die geflüchteten Jesiden sei die Situation in dem Flüchtlingslager unbefriedigend, da es im Sommer heiß und im Winter kalt sei. Die Menschen würden unter den schlechten Bedingungen leiden. Er selbst sei im Irak weder bedroht, verletzt noch vertrieben worden. Trotzdem könne er als Jeside nicht mehr im Irak leben, da die Bevölkerung die Jesiden grundlos hasse. Er wisse nicht, warum dies so sei. Es seien jedenfalls fremde Leute, die er nicht kenne und die er auch nicht gesehen habe. Er selbst sei nicht sehr religiös und lebe seinen Glauben auch nicht offen aus. Für diejenigen, die Jesiden hassten, sei es nicht erkennbar, dass er Jeside sei und sie würden dies auch nicht erfahren. Allerdings bedrohten diese Menschen bestimmte Dörfer in bestimmten Regionen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Er habe ebenso wie die übrigen Jesiden kein Zuhause mehr und sei gezwungen, in einem Flüchtlingslager zu leben. Das Elternhaus, in dem er vor seiner Flucht gelebt habe, sei zwar nicht zerstört worden, allerdings wisse er nicht, wer dort jetzt wohne. Auf die weiteren Ausführungen des Klägers (Bl. 72 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

4

Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2 des Bescheids), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Des Weiteren forderte sie den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung in den Irak angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Überdies befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6 des Bescheids). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und für die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Vortrag des Klägers, wonach er als Jeside verfolgt werde, sei zu allgemein. Auch auf Nachfrage habe er nicht angegeben, persönlich bedroht, verletzt oder vertrieben worden zu sein. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er ausgeführt habe, dass für seine Leute schwere Lebensbedingungen im Irak und in den Flüchtlingslagern herrschten und dass seine Mutter krank sei. Denn auch aus diesen sehr allgemein geschilderten Lebensbedingungen ergebe sich weder eine Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsakteur. Eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund seiner Religion oder Volkszugehörigkeit folge auch nicht aus seinem übrigen Vortrag. Denn er habe angegeben, nicht sehr religiös zu sein und seine Religion nicht auszuleben, so dass auch niemand mitbekomme, dass er Jeside sei, was man ihm auch nicht äußerlich ansehe. Dem stehe nicht entgegen, dass der IS das Heimatdorf des Klägers eingenommen habe, da der Kläger bereits nach seinen eigenen Angaben landesintern Schutz im Irak gefunden habe und er seit dem Verlassen seines Elternhauses nicht bedroht, verletzt oder vertrieben worden sei. Im Übrigen scheide die Gewährung von Flüchtlingsschutz bereits deshalb aus, weil es dem Kläger zugemutet werden könne, Schutz in den nichtumkämpften Landesteilen des Irak zu suchen. Die Gesamtbetrachtung seiner Lebensumstände und individuellen Voraussetzungen lasse zudem erwarten, dass er als gesunder arbeitsfähiger junger Mann in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums sicherstellen zu können. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Des Weiteren seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht gegeben, denn der Vortrag des Klägers sei auch insofern nicht glaubhaft. Auch drohe ihm keine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dem stehe in seinem Fall darüber hinaus entgegen, dass er neben seiner Mutter noch eine Großfamilie im Irak habe und daher weiterhin dort familiär verwurzelt sei. Auch drohe ihm keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Umstände, die geeignet wären, eine hier zu berücksichtigende Gefährdung begründen zu können, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht erkennbar. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weiteren Gründe des Bescheids (Bl. 83 ff. der Asylakte) wird Bezug genommen.

5

Am 27. Januar 2017 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm als Jeside aus dem Sindschar-Gebirge die Flüchtlingseigenschaft als Gruppenverfolgter zugesprochen werden müsse. Dies folge daraus, dass die Islamisten hunderttausende Jesiden vertrieben und tausende von ihnen entführt und ermordet hätten. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei er – wie alle Jesiden – im Irak nicht sicher vor Verfolgung. Es sei den Jesiden nicht möglich, im Irak ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sie seien schweren Diskriminierungen durch die moslemische Bevölkerung ausgesetzt. Ihre Produkte würden von Muslimen nicht gekauft werden, da sie nach deren Auffassung unrein seien. Die Jesiden seien – ebenso wie die Christen – wegen dieser Alternativlosigkeit gezwungen, in der Gastronomiebranche zu arbeiten und Alkohol zu verkaufen. Allerdings führe dies regelmäßig dazu, dass sie von Islamisten getötet würden, da Alkoholkonsum und -verkauf nach dem Islam verboten seien. Der Kläger könne im Irak sein wirtschaftliches Existenzminimum jedenfalls nicht sichern.

6

Der Kläger beantragt,

7
1. die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Januar 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9

Aus dem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 geht der Antrag der Beklagten hervor,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2018 persönlich angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die Asylakte des Bundesamts Bezug genommen, welche ebenso zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde wie die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnisquellen.

Entscheidungsgründe

I.

14

Der Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Hierauf ist sie gemäß § 102 Abs. 2 VwGO mit der Ladung hingewiesen worden.

II.

15

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

16

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG (hierzu unter 1.) oder des Status als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu unter 2.). Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (hierzu unter 3.). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind ebenfalls nicht zu beanstanden (hierzu unter 4. und 5.). Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

18

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen (vgl. § 3 Abs. 4 AsylG). Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560; im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention [GFK]), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 1) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2).

19

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung unterschiedlicher Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

20

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

21

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

22

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 19). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 m.w.N.).

23

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris; dem folgend u. a. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris). Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden, und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in ihr Heimatland erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.).

24

Gemessen an diesen Vorgaben ist der Kläger kein Flüchtling. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

25

a. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU greift im Fall des Klägers nicht ein.

26

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit ist und aus dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive stammt. Daran hat auch die Beklagte keine Zweifel. Im Übrigen ergibt sich dies sowohl aus den in der Asylakte befindlichen Ausweisdokumenten als auch aus den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Wenngleich er nicht in der Lage war, seine Heimatregion auf einer Karte zu zeigen, da diese nicht in arabischer Schrift war, konnte er diese zumindest geographisch hinreichend bestimmen. Denn er hat dargelegt, dass sich sein Heimatdorf Tel Benat circa zwölf Kilometer südlich der Stadt Sindschar befinde und zwischen den Dörfern Gasr (östlich), Khilo (westlich) sowie Sibaa (südlich) liege. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, dass sich sein Heimatdorf in dem Distrikt Qairawan befinde, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen, da es sich dabei nach den Erkenntnismitteln des Gerichts lediglich um eine weitere regionale Untergliederung innerhalb des Distrikts Sindschar handeln dürfte. Daneben hat der Kläger detaillierte Angaben zu seinem Leben in Tel Benat gemacht (Wohnsituation, Ausbildung, Familie, Beruf). Weiter geht das Gericht davon aus, dass er sein Heimatdorf am Morgen des 3. August 2014 fluchtartig verlassen hat, um sich vor dem herannahenden IS in Sicherheit zu bringen. Der Kläger hat den Geschehensablauf zu seiner Flucht anschaulich und detailliert dargelegt. Im Übrigen entspricht das von ihm geschilderte Fluchtschicksal in zeitlicher und in tatsächlicher Hinsicht den Erkenntnissen des Gerichts zum Einmarsch des IS in die Provinz Ninive.

27

Zwar dürfte der Kläger auf dieser Grundlage insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017).

28

Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris Rn. 11).

29

Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich zwischenzeitlich jedenfalls insoweit grundlegend verändert, als dass der IS zumindest in der Provinz Ninive und insbesondere in dem Distrikt Sindschar – der Herkunftsregion des Klägers – keine quasi-staatliche Macht im Sinne von § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt (vgl. hierzu auch VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., UA S. 14). Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt sogar im gesamten Irak fast vollständig verloren. So wurden im November 2017 die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 8 m.w.N.). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 befreit (vgl. ebenda, S. 56). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden sogar bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr – wie auch die anderen Distrikte der Provinz Ninive – unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung beziehungsweise der ihr unterstehenden Popular Mobilization Forces (PMF) (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 18 m.w.N.; https://isis.liveuamap.com/). Allein das Wüstengebiet nördlich der Städte Al-Qaim, Ana und Rawa – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat dieser auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist insoweit nicht zu verkennen, dass die territoriale Zurückdrängung des IS nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle Kämpfer des IS getötet oder inhaftiert worden sind. Viele Kämpfer, von denen es allein in der Provinzhauptstadt Mossul 40.000 gegeben hat, sind entweder in die Wüste geflohen oder haben sich unter die Zivilbevölkerung gemischt (ebenda, S. 8 m.w.N.). Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (ebenda, S. 57 f.). Auch ist die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten prekär, da diese durch sog. „IEDs“ (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt ist (ebenda, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es von Seiten untergetauchter IS-Anhänger zu keinerlei Verfolgungshandlungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Wie in anderen von den irakischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten oder in nie vom IS kontrollierten Gebieten dürfte sich der IS im Zuge seiner territorialen Zurückdrängung künftig aber vor allem auf die Verübung terroristischer Anschläge bzw. auf eine asymmetrische Kriegsführung mit verstärkten terroristischen Aktivitäten konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12.2.2018, – im Folgenden: Lagebericht 2018 –, S. 15). Derartige terroristische Anschläge stellen grundsätzlich keine gezielten Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer dar. Denn dabei handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung, die nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG steht, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris Rn. 32). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist daher nicht davon auszugehen, dass der IS in der Lage ist beziehungsweise in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden – insbesondere in der Region Ninive – systematisch zu verfolgen (im Ergebnis so auch VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., UA S. 10 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33).

30

Dafür dass von dem IS insofern keine ernstzunehmende Gefahr mehr ausgeht, sprechen auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive sowie in die anderen Provinzen des Iraks. Bereits im Oktober 2017 hat sich die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen von ca. 5,5 Millionen Menschen um 2,3 Millionen Menschen verringert. Dabei waren die Provinzen Anbar, Ninive und Salah Al-Din besonders stark von Vertreibungen betroffen. Etwa 1,2 Millionen Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 5). Neueren Erkenntnissen zufolge hält diese Rückkehrbewegung auch im Jahre 2018 weiter an. Diese betrafen sowohl die Regionen, die Schwerpunkte der militärischen Auseinandersetzung mit dem IS waren – wie etwa Ninive –, als auch die Provinz Bagdad, wo der IS die meisten Terroranschläge verübt hat. Nach Ninive kehrten dabei insgesamt 1.172.448 Millionen Menschen aus den umliegenden Provinzen sowie 89.364 weitere Menschen, die innerhalb Ninives geflohen sind, in ihre Herkunftsregionen zurück (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018).

31

b. Auch unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, droht ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe. Insbesondere unterliegt der Kläger keiner Gruppenverfolgung in Anknüpfung an seinen jesidischen Glauben.

32

Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris Rn. 21).

33

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris Rn. 24).

34

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 18.7.2006, a.a.O.).

35

Nach diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den IS in der Herkunftsregion des Klägers nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso u. a. VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris Rn. 40 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris Rn. 45 ff.; VG Ansbach, Urt. v. 18.9.2017, AN 2 K 16.31390, juris Rn. 11; für die Provinz Ninive noch offen gelassen: VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 34; a. A. VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris Rn. 33; noch zur Lage vor der Rückeroberung der Städte Mossul und Tel Afar: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a 5929/16.A, juris Rn. 92 ff.; a. A. noch nach der Befreiung Mossuls mit Blick auf die Verfolgung schabakischer Gläubiger: VG Aachen, Urt. v. 28.8.2017, 4 K 2015/16.A, juris Rn. 72 ff.).

36

Eine Gruppenverfolgung von Jesiden geht in der Herkunftsregion des Klägers auch nicht von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung als nichtstaatlichem Akteur aus, wenngleich das Verhältnis von Jesiden und Muslimen mitunter durch Spannungen geprägt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 21.11.2017, 5 ZB 17.31653 und 5 ZB5 ZB 17.31667, juris, jeweils Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris Rn. 28; VG Augsburg, Urt. v. 7.9.2017, Au 5 K 17.33860, juris Rn. 32; VG Düsseldorf, Urt. v. 26.7.2017, 20 K 3549/17.A, juris Rn. 32 ff.; VG Köln, Urt. v. 5.7.2017, 3 K 9944/16.A, juris Rn. 39 ff.; VG Oldenburg, Urt. v. 7.6.2017, 3 A 3731/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 16.5.2017, M 4 K 16.35324, juris Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 17.2.2017, W 4 K 16.31618, juris Rn. 16). Den Erkenntnismitteln lässt sich insbesondere für die Region Kurdistan-Irak zwar entnehmen, dass strenggläubige Muslime die Jesiden als Ungläubige schmähen sowie belästigen und die Jesiden darüber hinaus auch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt und diskriminiert werden (vgl. UK Home Office, Country Information and Guidance, Iraq: Religious minorities, August 2016, 24 f.;Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 20.05.2016 zum Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 3). Daraus ergibt sich aber nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität beziehungsweise die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Denn als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gelten nur solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder die nach Nr. 2 in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Daran fehlt es hier. Denn die Berichte über die Belästigungen und Diskriminierungen, denen die Jesiden teilweise ausgesetzt sind, bleiben vereinzelt und lassen insbesondere keine flächendeckenden und menschenrechtswidrigen Handlungen erkennen, was für die Annahme einer Gruppenverfolgung aber erforderlich wäre. Gegen eine Verfolgungsgefahr sprechen darüber hinaus wie unter II. 1. a. bereits dargelegt auch die Rückkehrbewegungen der Binnenflüchtlinge in die Provinz Ninive.

37

2. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter.

38

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).

39

Nach der Gesetzesbegründung soll § 4 AsylG die Art. 15 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzen (vgl. BT-Drs. 17/13052, S. 20), wobei § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch die Definition aus Art. 2 lit. f) der Richtlinie 2011/95/EU aufgreift, wonach einem Drittstaatsangehörigen der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden. Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe…“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk"; vgl. nur EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330, Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris Rn. 22). Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 – zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

40

Gemessen an diesen Vorgaben erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht.

41

a. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht dem Kläger weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Soweit sich der Kläger auf eine Bedrohung aufgrund seiner jesidischen Religionszugehörigkeit berufen hat, gelten insoweit die obigen Ausführungen entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

42

b. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist im Fall des Klägers nicht beachtlich wahrscheinlich.

43

Dabei ist der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung der in Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008, 10 C 43/07, juris). Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u. a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z. B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 13). Auch der Europäische Gerichtshof spricht in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2009 vom "tatsächlichen Zielort" des Ausländers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat (C-465/07, juris Rn. 40). Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2009, 10 C 9/08, juris Rn. 17). Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt begründet ein Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.2009, a.a.O.). Eine solche Bedrohung kann vielmehr auch dann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betroffene Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch die Anwesenheit im Gebiet des Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dabei hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht, umso geringer ist, je mehr der Betroffene belegen kann, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Hieraus folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z. B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund deren der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung. Dabei können für die Bemessung der Gefahrendichte die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass jedenfalls ein Risiko von 1:800 bzw. 0,125%, in dem betreffenden Gebiet im Laufe eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass selbst eine wertende Gesamtbetrachtung eine individuelle Bedrohung nicht mehr zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, juris Rn. 22 f.).

44

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gemachten Erkenntnismittel besteht nach Auffassung der Kammer in der Region Ninive kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass Anhänger des IS weiterhin Selbstmordattentate und andere Anschläge verüben. Denn bei diesen sicherheitsrelevanten Vorfällen – toten und verletzten Zivilpersonen – handelt es sich um Einzelfälle; jedenfalls haben sie aber kein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten mitunter prekär ist, da auch insofern die Voraussetzungen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht vorliegen. Ein solcher kann auch nicht deshalb angenommen werden, weil die türkische Luftwaffe im April 2017 im Sindschar-Gebirge gezielt Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bombardiert hat, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf eine Meldung von Euronews vom 27. April 2017). Denn dabei handelt es sich um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht. Auch wenn es bei diesen Luftangriffen zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebenda), ist auch insofern die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen innerstaatlichen Konflikt annehmen zu können.

45

Aber selbst wenn – wovon die Kammer nicht überzeugt ist – ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneten Konflikt im Irak landesweit oder in der Provinz Ninive bestehen sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn der Grad willkürlicher Gewalt hat zumindest kein so hohes Niveau erreicht bzw. hat kein so hohes Niveau mehr, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak oder in die betroffene Region – vorliegend Ninive – allein durch seine Anwesenheit in diesem Gebiet bzw. dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die Zahlen in Bezug auf getötete oder verletzte Zivilisten sind nämlich sowohl landesweit als auch in Ninive nach der Zurückdrängung des IS stark rückläufig. Gab es nach den Aufzeichnungen der UN im Februar 2017 landesweit noch 392 getötete (Oktober 2014: 1.089) und 613 verletzte (Oktober 2014: 2.074) Zivilisten, wurden im Februar 2018 von der UN landesweit „nur“ noch 91 getötete und 208 verletzte Zivilisten verzeichnet, nachdem diese auch in den Vormonaten bereits deutlich gesunken waren. Die insgesamt 299 sicherheitsrelevanten Vorfälle ereigneten sich überdies hauptsächlich in den Provinzen Bagdad (49 getötete und 146 verletzte Zivilisten), Anbar (14 getötete und 37 verletzte Zivilisten) und Diyala (12 getötete und 11 verletzte Zivilisten) (vgl. http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en). Nach den für jede Provinz gesondert ausgewiesenen Zahlen von Joel Wing, einem Blogger, der regelmäßig über die Zahl der Konfliktbetroffenen im Irak berichtet, gab es in der Provinz Ninive demgegenüber im Februar 2018 zwar insgesamt 427 getötete und neun verletzte Zivilisten und damit deutlich mehr als von der UN ermittelt. Allerdings resultiert diese vergleichsweise hohe Anzahl aus der Einberechnung von in Massengräbern gefundenen Leichen; so wurden im Februar 2018 in fünf Massengräbern insgesamt 347 getötete Personen in der Provinz Ninive gefunden, so dass letztlich von nicht mehr als 80 Getöteten ausgegangen werden kann (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/643-deaths-256-wounded-feb-2018-in-iraq.html). Ein ähnliches Bild vermitteln die Zahlen der von einer britischen Nichtregierungsorganisation betriebenen Datenbank Iraq Body Count. Danach sind im Februar 2018 im Irak insgesamt 410 Zivilisten getötet worden, wobei auch die in Massengräbern gefundenen Leichen berücksichtigt wurden. Auf die Provinz Ninive entfielen dabei insgesamt 173 getötete Zivilisten, davon 145 Leichen aus Massengräbern, so dass danach insgesamt von 28 Getöteten im Februar 2018 auszugehen ist (vgl. https://www.iraqbodycount.org/database/recent/0/).

46

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die Provinz Ninive allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, derzeit nicht erreicht ist. Denn unter Zugrundelegung der Zahlen der UN und insbesondere der von Joel Wing sowie der von Iraq Body Count aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle getöteten und verletzten Zivilpersonen gezählt werden, ist schätzungsweise davon auszugehen, dass derzeit in Ninive pro Monat wahrscheinlich nicht mehr als 100 Zivilpersonen getötet oder verletzt werden. Pro Jahr ist daher von nicht mehr als 1.200 solcher Vorfälle auszugehen. Stellt man diese der Einwohneranzahl Ninives gegenüber, die nach den Erkenntnissen des Gerichts bei ungefähr 3,2 Millionen liegt (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/Ninawa mit Stand 2010), beträgt das Risiko, als Zivilperson in Ninive entsprechend betroffen zu sein, etwa 0,0375% (1.200 / 3.200.000 Einwohner x 100). Dies ist auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.

47

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks.

48

a) Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor.

49

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 11.11.1997, 9 C 13.96, juris) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich weitgehend identisch mit dem des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG knüpft – wie dargelegt – an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. In Fällen, in denen – wie hier – gleichzeitig über die Gewährung subsidiären Schutzes und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet daher bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 36).

50

Dies zugrunde gelegt, begründen die Verbürgungen der EMRK im Fall des Klägers kein Abschiebungsverbot. Insbesondere verstieße eine Abschiebung des Klägers in Herkunftsland nicht gegen Art. 3 EMRK. Insoweit wird zunächst auf die obigen Ausführungen unter II. 2. a. Bezug genommen. Auch die humanitären Verhältnisse im Irak führen nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers in sein Heimatland gegen Art. 3 EMRK verstieße.

51

Ein Ausländer kann kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Lage einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung des EGMR allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Nur in besonderen Ausnahmefällen können humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42). Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/06, NVwZ 2011, 413, Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die – in einem ihnen völlig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259). Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (vgl. Urt. v. 21.11.2011, a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f. – zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, juris Rn. 23 ff.).

52

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel kann im vorliegenden Fall nicht angenommen werden, dass für den Kläger im Fall seiner Abschiebung in den Irak aufgrund der dortigen humanitären Verhältnisse das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestehen würde. Die Kammer lässt dabei ausdrücklich offen, ob dem Kläger derzeit eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, dem Dorf Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive wegen der gegenwärtigen Situation in der Provinz Ninive zumutbar ist. Denn er kann jedenfalls darauf verwiesen werden, in der Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen.

53

Nach den Erkenntnismitteln besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Millionen der 36 Millionen Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2,-- US-Dollar/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 22).

54

Die Provinz Ninive stellte eines der Hauptkampfgebiete im Krieg gegen den IS dar (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Weite Teile der Städte und Gemeinden sind zerstört worden, wobei die Städte Mossul und Sindschar besonders stark betroffen gewesen sind, die Distrikte Akre und Al-Shikan demgegenüber keine kriegsbedingten Zerstörungen aufweisen (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Indes variieren die Angaben zum Umfang und zum Ausmaß der Zerstörungen insbesondere für den Distrikt Sindschar aufgrund der unzureichenden Erkenntnismöglichkeiten und unvollständigen Informationslage. Einem Bericht der jesidischen Organisation Yazda von September 2017 zufolge, der auf die Einschätzung des Bürgermeisters von Sindschar Bezug nimmt, sei die Stadt Sindschar zu 80-85% zerstört (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Demgegenüber beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zerstörung Sindschars bezogen auf Wohnhäuser auf ca. 70%, wobei der Zerstörungsgrad weit überwiegend nur 1-25% betrage (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Daneben seien aber auch weite Teile der Infrastruktur infolge des Krieges zerstört worden. Die Wasserversorgung sei zu 12%, die Stromversorgung sei zu 11%, die Straßen seien zu 6%, das Mobilfunknetz sei zu 3% und die Kanalisation sei zu 3% zerstört worden (vgl. ebenda, S. 22; wobei einschränkend klargestellt wird, dass nur 71% der Flächen in Augenschein genommen werden konnten und tatsächlich deutlich mehr Infrastruktur zerstört sein dürfte).

55

Neben diesen Zerstörungen stellt die Bedrohung durch Sprengfallen und Landminen ein weiteres Problem dar, das Hilfslieferungen und Wiederaufbau erschwert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017, unter Verweis auf einen Bericht von Yazda aus dem September 2017; IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass ungefähr 27% der Flächen Ninives mit Landminen und Sprengfallen versehen worden sind, was den zweithöchsten Wert im Irak darstellt (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 22). Trotz dieser angespannten Lage, bestehe in der Provinz Ninive kein offensichtliches Konfliktrisiko (vgl. ebenda, S. 23). Das danach einzig in dem Distrikt Sindschar bestehende niedrige Konfliktrisiko (low risk, 2.25), das auf die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Peschmerga zurückzuführen ist (vgl. ebenda, S. 23), dürfte aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten – weitgehend kampflosen – Machtübernahme der durch die Peschmerga besetzten Gebiete durch die irakische Zentralregierung beziehungsweise die für diese agierenden PMF nicht mehr gegeben sein.

56

Gleichwohl liegen trotz dieser schwierigen Situation keine Erkenntnisse über Hunger leidende Menschen in der Provinz Ninive vor. Den neueren Erkenntnismitteln kann – wie bereits dargelegt – trotz der angespannten Lage eine zunehmende Rückkehrbewegung nach Ninive entnommen werden. Die Organisation Yazda berichtete hierzu im September 2017 für den Zeitraum Juli/August 2017 von täglich 60 bis 120 Rückkehrer-Familien in die Region Sindschar, wobei diese aufgrund des Mangels an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur weiterhin mit gravierenden Hindernissen konfrontiert gewesen seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa, 2.10.2017). Die Internationale Organisation für Migration berichtet mit Stand Oktober 2017 davon, dass die Anzahl der Rückkehrer (267.690 Menschen) die der Flüchtlinge (192.366 Menschen) in Ninive übersteigt, wobei sich die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr 2016 fast halbiert hat (minus 48%) (vgl. IOM Iraq, Integrated Location Assessment II, Governorate Profiles, S. 21). Aus dem Distrikt Sindschar sind zwar weiterhin 1.846 Menschen flüchtig, allerdings steht denen eine Anzahl von 4.468 Rückkehrern gegenüber (vgl. ebenda, S. 21). Einem aktuellen Bericht von Joel Wing zufolge sind im Zeitraum von Januar bis Februar 2018 in die Provinz Ninive bereits 1.172.448 Menschen zurückgekehrt (vgl. http://musingsoniraq.blogspot.de/2018/03/number-of-displaced-returning-home.html, veröffentlicht am 8.3.2018). Diese kontinuierlich wachsende Anzahl an Rückkehrern lässt nicht den Schluss zu, dass die humanitären Bedingungen nach der Befreiung von dem IS unzumutbar sind.

57

Über die östlich an die Provinz Ninive angrenzende Region Kurdistan-Irak lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass diese in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrische Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 117 f.).

58

Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Region lebt unter der Armutsgrenze. Bis zu 680.000 Personen der geschätzten 5,5 Millionen Einwohner der Region leben von weniger als 87,-- US-Dollar pro Monat, die nach Weltbank-Standard als Armutsgrenze für den Irak und die Region Kurdistan festgelegt worden ist. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2010 beinahe verdreifacht. Sie ist von zunächst 4,8% angestiegen und wird mit zuletzt 14% im September 2016 berichtet. Wahrscheinlich ist sie aber wesentlich größer (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017). Bei Frauen liegt sie bei 29,4% gegenüber 9,7% bei Männern (ebenda). Fast 2% der Bevölkerung der Region Kurdistan-Irak verfügen über nicht ausreichend Geld, um sich regelmäßig drei Mahlzeiten am Tag zu leisten. Allerdings gibt es ein staatlich subventioniertes Lebensmittelverteilungssystem, wonach jeder im Irak ansässige Einwohner ein Anrecht auf monatliche Rationen hat. Das Lebensmittelverteilungssystem ist seit einigen Jahren in Schwierigkeiten, da es sehr teuer und von schlechter Organisation und mangelnder Transparenz entlang der Versorgungswege gekennzeichnet ist. In der Provinz Dohuk gibt es aber beispielsweise 1.400 Lebensmittelausgabestellen. Das World Food Programme unterstützt das Lebensmittelverteilungssystem in der Region Kurdistan seit 1996. Hilfsorganisationen arbeiten daran, die Versorgungslücken zu füllen, um die Bevölkerung zu versorgen. Trotz Verzögerungen einiger Lebensmittelkörbe funktioniert das System relativ gut in Duhok und Sacho (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für RückkehrerInnen, 17.5.2017).

59

Ungeachtet der seit einigen Jahren andauernden ökonomischen Herausforderungen wird ausdrücklich berichtet, dass es in der Region Kurdistan-Irak keinen Hunger und keine Mangelernährung gibt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge v. 21.7.2017, S. 3; Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 113). Die medizinische Versorgung ist in den großen Städten der Region Kurdistan-Irak gut und auf dem Land ist eine medizinische Grundversorgung vorhanden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach v. 12.6.2017, S. 2).

60

Legt man diese Erkenntnismittellage zugrunde und geht zugunsten des Klägers davon aus, dass die dargestellten humanitären Bedingungen im Irak überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen mit der Folge, dass die Frage maßgeblich ist, ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse – wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft – zu befriedigen, steht eine mangelnde Fähigkeit des Klägers im vorgenannten Sinne nicht zur Überzeugung der Kammer fest. Zwar spricht vieles dafür, dass der Kläger in der Provinz des zuletzt von ihm bewohnten Dorfes Tel Benat, Distrikt Sindschar, Provinz Ninive aufgrund der vielfach zerstörten Häuser und Infrastruktur sowie den Versorgungsengpässen wahrscheinlich mit beträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert sein würde, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Allerdings bedarf dies vorliegend keiner Entscheidung, sondern kann dahinstehen. Denn der Kläger ist jedenfalls darauf zu verweisen, sich in der nahe gelegenen Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle seiner Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak nicht möglich sein würde, seinen Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger nicht in der Lage sein würde, sein Existenzminimum dort zu sichern bzw. dass es ihm dort nicht gewährleistet wird.

61

Der Großteil der Familie des Klägers befindet sich derzeit in der Region Kurdistan-Irak, da diese – entsprechend seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – mit ihm vor dem herannahenden IS geflohen sei und mit ihm in dem Flüchtlingslager in Qadiya gewohnt habe. Es kann daher erwartet werden, dass er die von ihm benannten Verwandten im Falle einer Rückkehr kontaktiert. Aber selbst für den Fall, dass ihm in der Region Kurdistan-Irak durch seine Familie keine Unterstützung zuteilwird, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Arbeitseinkommen erzielen wird und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums wird finanzieren können. Denn der Kläger ist 25 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter. Körperliche Einschränkungen hat er nicht geltend gemacht, insoweit bestehen auch keine Anhaltspunkte. Zudem ist er kurdischer Volkszugehörigkeit und spricht Kurmanci. Er hat darüber hinaus nach eigenen Angaben zwölf Jahre in Tel Benat die Schule besucht und das Abitur erlangt. Daneben hat er angegeben, bis zu seiner Flucht vor dem IS das Studienfach Geographie an der Fakultät in Al Hamdami begonnen zu haben. Darüber hinaus verfügt er nach eigenen Angaben auch über handwerkliche Berufserfahrung, da er ausgeführt hat, auf Baustellen gearbeitet und neben allgemeinen Hilfs- auch Malerarbeiten durchgeführt zu haben. Diese Erfahrungen können dem Kläger auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak weiterhelfen. Wenngleich derzeit noch keine vertiefte Sozialisierung in der Region Kurdistan-Irak gegeben sein dürfte, so kann der Kläger jedenfalls auf sein dort befindliches familiäres Netzwerk zurückgreifen. Schließlich wird der Kläger als kurdischer Volkszugehöriger auch sicher und legal in die Region Kurdistan-Irak einreisen und seinen Aufenthalt dort nehmen können, jedenfalls in der Region Dohuk (vgl. UNHCR, Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA), 12. April 2017, S. 8; ferner VG Berlin, Urt. v. 4.5.2017, 22 K 91/17 A, juris Rn. 38 ff.). Denn anders als Araber und Turkmenen benötigt der Kläger als kurdischer Jeside keine Aufenthaltsgenehmigung, sondern kann ohne Beschränkungen und Auflagen – wie etwa der Stellung eines Bürgen („sponsor“) – dort einreisen und seinen Aufenthalt nehmen (vgl. ebenda, S. 8).

62

Sollte der Kläger mangels verfügbaren Wohnraums – erneut – gezwungen sein, sich (vorübergehend) in einem Flüchtlingslager niederzulassen, ist dies unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Bundesverwaltungsgerichts nicht unzumutbar i.S.d. Art. 3 EMRK (so unter anderem auch VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.). Dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist, macht sie nicht menschenunwürdig. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass es dort an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichen mangelt. Es liegen insbesondere keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.). Im Übrigen hat der Kläger zu dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager in Quadiya in der Region Kurdistan-Irak in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er dort – beengt – in Wohncontainern mit seiner Familie gelebt habe. Eine Versorgung mit Lebensmitteln wie Reis, Mehl und weißen Bohnen sei durch Hilfsorganisationen ebenfalls erfolgt. Dabei hat er nicht dargelegt, dass seine Familie oder er unter Hunger gelitten hätten. Ergänzend hat der Kläger zu der medizinischen Versorgung in dem von ihm bewohnten Flüchtlingslager zwar ausgeführt, dass es dort eine Art Arztassistent gegeben hätte, der den Bewohnern aber nur „Kopfschmerztabletten“ gegeben hätten. Daneben habe es in der nahe gelegenen Stadt Dohuk aber auch zwei Ärzte gegeben, deren Inanspruchnahme er sich allerdings nicht habe leisten können. Indes folgt auch hieraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers. Dieser hat keine gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht und solche sind auch nicht ersichtlich.

63

b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

64

Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird.

65

Der bei der Bestimmung einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, eine theoretische Möglichkeit reicht hierzu nicht aus (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.1.2005, 8 A 1242/03.A, juris Rn. 37 ff. m.w.N.).

66

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen droht dem Kläger in seinem Heimatland nicht. Diesbezüglich ist nichts vorgetragen worden. Auch anderweitige Anhaltspunkte bestehen nicht.

67

Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich letztlich auch nicht aus der humanitären Lage oder aus der allgemeinen Sicherheitslage im Irak. Insoweit handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, welche grundsätzlich nur bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Zwar kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 38).

68

Nach diesen Maßstäben wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.

69

4. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

70

5. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Ermessensfehler i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

III.

71

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren gegenüber der Beklagten nur noch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der nach seinem Vorbringen 1995 oder 1998 in Bamyan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit.
Er reiste nach seinem Vortrag am 18. Mai 2016 nach Deutschland ein und stellte am 24. Mai 2016 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes.
Bei der Anhörung durch das Bundesamt am 7. Juni 2016 gab der Kläger an, in der Heimat habe er bei einem Onkel gelebt, weil seine Eltern getötet worden seien, als er sieben Jahre alt gewesen sei. Der Onkel lebe in Kandahar in einem gemieteten Haus. Er handele mit Trockenfrüchten. Er, der Kläger, habe keine Schule besucht und auf dem Bau gearbeitet. Als Hazara und Schiit sei er durch die Taliban gefährdet. Vor der Flucht sei er vier bis fünf Tage von den Taliban in einem Granatapfelgarten festgehalten worden. Die Taliban hätten ihn als Kämpfer rekrutieren wollen. Sie hätten ihn geohrfeigt und mit einem Stock geschlagen. Er habe zunächst eingewilligt. Er sei jedoch geflohen, als er sich habe verstecken sollen, weil eine Attacke der afghanischen Streitkräfte vermutet worden sei. Er habe einen Bach als Versteck genutzt, und sei durch den Garten entkommen. Für eine Stunde sei er zu seinem Onkel gegangen. Danach habe er Afghanistan verlassen. Eine Alternative habe er nicht gesehen.
Mit Bescheid vom 15. Juli 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag ab. Gleichzeitig entschied es, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Weiterhin erging die Aufforderung, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall nicht fristgerechter Ausreise drohte das Bundesamt die Abschiebung nach Afghanistan an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. In der Begründung heißt es u.a.: Das Vorbringen des Klägers sei nicht glaubhaft. Es sei detailarm, vage und oberflächlich. Dies gelte insbesondere für die Schilderung der Situation des Aufenthalts bei den Taliban. Auch seien keine Umstände der vorgebrachten Rekrutierung durch die Taliban geschildert worden. Konkrete Fragen habe der Kläger nur knapp und wiederholend beantwortet. Wie die Tage im Granatapfelgarten abgelaufen seien, sei trotz Nachfragen offen geblieben. Zudem sei es nicht realistisch, dass innerhalb des nur einstündigen Aufenthalts beim Onkel eine beträchtliche Summe für die Flucht zur Verfügung gestellt habe werden können. Im Übrigen habe dem Kläger eine Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.
Der Kläger erhob am 12. August 2016 Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg und trug vor, er habe sich seiner Zwangsrekrutierung durch die Taliban widersetzt. Am 20. September 2015 sei er von Taliban verschleppt worden. An diesem Tag habe er frei gehabt. Zwei bewaffnete Personen hätten ihn in einem Auto entführt. Man habe ihn geschlagen und getreten. Zum Schein habe er eine Zusammenarbeit zugesagt. Er habe u.a. Schießübungen absolvieren müssen. Er habe sich fünf Nächte in der Gewalt der Taliban befunden. Am 5. Tag habe er bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp fliehen können. Zu Fuß habe er sich zu seinem Onkel begeben. Nach einer Stunde hätten sie sich in ein Restaurant begeben, wo sie einen Schlepper getroffen hätten. Die Reise habe 4.500 US-Dollar gekostet. Er habe u.a. beim Onkel hinterlegte Ersparnisse gehabt.
Die Beklagte trat der Klage aus den Gründen des angegriffenen Bescheids entgegen.
Das Verwaltungsgericht hörte den Kläger in der mündlichen Verhandlung an.
Mit Urteil vom 17. Januar 2017 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte u.a. aus: Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die Taliban hätten ihn festgesetzt, damit er als Kämpfer für sie tätig sei. Bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp habe er fliehen können. Mit diesem Vortrag könne der Kläger seiner Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Das Gericht nehme dem Kläger sein Vorbringen nicht ab. Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei wie schon beim Bundesamt sehr allgemein gehalten gewesen. Er sei blass und detailarm und wirke distanziert. Zudem habe es unerklärliche Ungereimtheiten gegeben. Dabei habe das Gericht wohlwollend berücksichtigt, dass der Kläger aus einem anderen Kulturkreis stamme und - wie er angegeben habe - nicht zur Schule gegangen sei. Die Kammer sei aber davon überzeugt, dass der Kläger allgemeine Erkenntnisse zur Situation in Afghanistan zur Konstruktion eines eigenen Verfolgungsschicksals verwendet habe. Das Vorbringen des Klägers sei sehr pauschal gehalten und farblos gewesen. Es habe sich auf allgemeine Angaben wie, er sei „erst einmal zusammengeschlagen worden", er habe zugestimmt, dass er „mit denen arbeiten werde", beschränkt. Auch die einschneidenden Fluchtmodalitäten habe der Kläger ganz allgemein und ohne Angabe von Einzelheiten wiedergegeben. So habe er lediglich angegeben, bei Beginn der Schießerei mit den Regierungstruppen habe er seine Waffe niedergelegt und sei geflüchtet. Anschauliche Einzelheiten seien trotz mehrerer Nachfragen des Gerichts nicht genannt geworden. Gleiches gelte für die Ausreisemodalitäten im Land Afghanistan selbst. Anschauliche Details seien dem Kläger auch insoweit nicht zu entlocken gewesen. Bereits im Hinblick darauf habe die Kammer zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass der Kläger von tatsächlich Erlebtem berichtet habe. An dieser Beurteilung könne auch der Vortrag des Klägers nichts ändern, es habe im Büro seines Rechtsanwalts möglicherweise Übersetzungsfehler des Dolmetschers gegeben. Die Beurteilung des Vorbringens des Klägers ergebe sich bereits aus dem Verlauf der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht unabhängig von der Vorbereitung der Klagebegründung. An der Beurteilung des Gerichts ändere auch die Tatsache nichts, dass der Kläger nach seinem Vertrag Analphabet sei. Nach den Erfahrungen des Gerichts seien Analphabeten sehr wohl in der Lage, einen Sachverhalt detailreich und anschaulich darzustellen, wenn er sich denn wirklich so ereignet habe. Im Übrigen habe der Kläger über sein angebliches Verfolgungsschicksal ungereimt widersprüchlich und gesteigert berichtet. Völlig neu sei das Vorbringen des Klägers, ein Bekannter habe ihm in der Schweiz (vor der Einreise nach Deutschland) gesagt, er, der Kläger, werde konkret von den Taliban gesucht. Davon sei beim Bundesamt nie die Rede gewesen. Es hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, diesen Sachverhalt anzusprechen, wenn er sich denn wirklich so ereignet gehabt hätte. Über die Dauer der Festsetzung durch die Taliban und die Art der Misshandlungen seien ebenfalls unterschiedliche Angaben gemacht worden. Dies überrasche deshalb, weil die maßgeblichen Ereignisse noch nicht lange zurücklägen. Nicht nachvollziehbar sei für das Gericht auch, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu den beiden Personen, die ihn angeblich in ein Auto verfrachtet hätten, überhaupt nichts habe sagen können, weil diese ihm die Augen verbunden hätten. Der Kläger müsse diese Personen aber zunächst gesehen haben. So sei dann auch noch in der Klagebegründung angegeben worden, die beiden Personen seien bewaffnet gewesen. Ungereimt sei dabei dann auch das Vorbringen des Klägers, er sei im Camp zunächst zusammengeschlagen worden, und erst später sei es um seine Mitarbeit bei den Taliban gegangen. Schließlich habe es auch bei den finanziellen Ausreisemodalitäten eine gravierende Ungereimtheit gegeben. So habe der Kläger beim Bundesamt noch angegeben, er habe sich nach der Flucht aus dem Ausbildungscamp ca. eine Stunde beim Onkel aufgehalten und sei dann sofort gegen einen hohen Geldbetrag ausgereist. Das Geld habe er mitgenommen. Nachdem dem Kläger im ablehnenden Bescheid des Bundesamts dann vorgehalten worden sei, es sie unrealistisch, innerhalb einer Stunde einen erheblichen Geldbetrag (in US-DoIIar) aufzubringen, habe der Kläger sein Vorbringen dahin modifiziert, dass das Geld erst einige Zeit später nach Griechenland übersandt worden sei. Davon sei beim Bundesamt nicht ansatzweise die Rede gewesen.
10 
Das Urteil wurde dem Kläger am 27. Januar 2017 zustellt.
11 
Am 27. Februar 2017 stellte der Kläger einen Zulassungsantrag, dem der Senat durch Beschluss vom 4. April 2017 - zugestellt am 12. April 2017 - teilweise in Bezug auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote entsprach.
12 
Am 11. Mai 2017 reichte der Kläger unter Stellung eines Berufungsantrags die Berufungsbegründung ein. Er trägt u.a. vor: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Er habe angesichts der in humanitärer Hinsicht katastrophalen Situation in Afghanistan und unter Berücksichtigung der sich ständig verschärfenden Sicherheitslage eine Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu befürchten. Es sei nicht wahrscheinlich, dass er das zum Überleben notwendige Existenzminimum werde erwirtschaften können. Aufgrund des vom Kläger in der Provinz Kandahar Erlebten könne ihm nicht zugemutet werden sich in dieses Gebiet zurückzubegeben. An anderen Orten in Afghanistan befänden sich indes keine Familienangehörigen. Frau Stahlmann führe jedoch in ihrem Aufsatz „Überleben in Afghanistan? - Zur humanitären Lage von Rückkehrern und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" aus, dass diese akut in ihrem Überleben gefährdet seien, wenn sie keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke hätten. Der Kläger könne sich ferner auch auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG berufen. Insoweit sei insbesondere auch darauf hinzuweisen, dass sich die Bundesregierung bis heute nicht in der Lage sehe, die angeblich sicheren Landesteile, die betroffenen Ausländern als interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG dienen sollen, konkret zu benennen.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - teilweise zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2016 zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich Afghanistan ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt.
15 
Die Beklagte tritt der Berufung aus den Gründen des angegriffenen Urteils entgegen und beantragt,
16 
die Berufung zurückzuweisen.
17 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen angehört; insoweit wird auf die Niederschrift vom 11. April 2018 verwiesen.
18 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten verweist der Senat auf die gewechselten Schriftsätze. Ihm lagen die Akten des Bundesamts als Ausdruck sowie die Akten des Verwaltungsgerichts vor.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn

1.
der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,
2.
dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,
2a.
dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,
3.
die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und
4.
der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.

(2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Wurde kein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind die Entscheidungsformel der Abschiebungsandrohung und die Rechtsbehelfsbelehrung dem Ausländer in eine Sprache zu übersetzen, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) In den sonstigen Fällen, in denen das Bundesamt den Ausländer nicht als Asylberechtigten anerkennt, beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist 30 Tage. Im Falle der Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens.

(2) Im Falle der Rücknahme des Asylantrags vor der Entscheidung des Bundesamtes oder der Einstellung des Verfahrens beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist eine Woche.

(3) Im Falle der Rücknahme des Asylantrags oder der Klage oder des Verzichts auf die Durchführung des Asylverfahrens nach § 14a Absatz 3 kann dem Ausländer eine Ausreisefrist bis zu drei Monaten eingeräumt werden, wenn er sich zur freiwilligen Ausreise bereit erklärt.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat unbeschadet der Aufgaben nach anderen Gesetzen folgende Aufgaben:

1.
Koordinierung der Informationen über den Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit zwischen den Ausländerbehörden, der Bundesagentur für Arbeit und der für Pass- und Visaangelegenheiten vom Auswärtigen Amt ermächtigten deutschen Auslandsvertretungen;
2.
a)
Entwicklung von Grundstruktur und Lerninhalten des Integrationskurses nach § 43 Abs. 3 und der berufsbezogenen Deutschsprachförderung nach § 45a,
b)
deren Durchführung und
c)
Maßnahmen nach § 9 Abs. 5 des Bundesvertriebenengesetzes;
3.
fachliche Zuarbeit für die Bundesregierung auf dem Gebiet der Integrationsförderung und der Erstellung von Informationsmaterial über Integrationsangebote von Bund, Ländern und Kommunen für Ausländer und Spätaussiedler;
4.
Betreiben wissenschaftlicher Forschungen über Migrationsfragen (Begleitforschung) zur Gewinnung analytischer Aussagen für die Steuerung der Zuwanderung;
4a.
Betreiben wissenschaftlicher Forschungen über Integrationsfragen;
5.
Zusammenarbeit mit den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Nationale Kontaktstelle und zuständige Behörde nach Artikel 27 der Richtlinie 2001/55/EG, Artikel 25 der Richtlinie 2003/109/EG, Artikel 22 Absatz 1 der Richtlinie 2009/50/EG, Artikel 26 der Richtlinie 2014/66/EU und Artikel 37 der Richtlinie (EU) 2016/801 sowie für Mitteilungen nach § 51 Absatz 8a;
5a.
Prüfung der Mitteilungen nach § 16c Absatz 1, § 18e Absatz 1 und § 19a Absatz 1 sowie Ausstellung der Bescheinigungen nach § 16c Absatz 4, § 18e Absatz 5 und § 19a Absatz 4 oder Ablehnung der Einreise und des Aufenthalts;
6.
Führung des Registers nach § 91a;
7.
Koordinierung der Programme und Mitwirkung an Projekten zur Förderung der freiwilligen Rückkehr sowie Auszahlung hierfür bewilligter Mittel;
8.
die Durchführung des Aufnahmeverfahrens nach § 23 Abs. 2 und 4 und die Verteilung der nach § 23 sowie der nach § 22 Satz 2 aufgenommenen Ausländer auf die Länder;
9.
Durchführung einer migrationsspezifischen Beratung nach § 45 Satz 1, soweit sie nicht durch andere Stellen wahrgenommen wird; hierzu kann es sich privater oder öffentlicher Träger bedienen;
10.
Anerkennung von Forschungseinrichtungen zum Abschluss von Aufnahmevereinbarungen nach § 18d; hierbei wird das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch einen Beirat für Forschungsmigration unterstützt;
11.
Koordinierung der Informationsübermittlung und Auswertung von Erkenntnissen der Bundesbehörden, insbesondere des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz, zu Ausländern, bei denen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausländer-, asyl- oder staatsangehörigkeitsrechtliche Maßnahmen in Betracht kommen;
12.
Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Absatz 1 im Fall einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34, 35 des Asylgesetzes oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a des Asylgesetzes sowie die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Absatz 7;
13.
unbeschadet des § 71 Absatz 3 Nummer 7 die Beschaffung von Heimreisedokumenten für Ausländer im Wege der Amtshilfe.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18. April 2018 - 11 K 4330/18 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird unter Abänderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Antrag ist nicht unzulässig geworden, weil der Antragsteller während des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes abgeschoben wurde. Insbesondere ist nicht das Rechtsschutzbedürfnis entfallen. Nach allgemeinen prozessrechtlichen Regeln kann in aller Regel die Vollziehung einer Verfügung nicht die Unzulässigkeit nach sich ziehen, weil der in § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO ausdrücklich gesetzlich eingeräumte Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch (vgl. zu dessen umstrittenem Charakter Funke-Kaiser, in: Bader, VwGO, 6. Aufl., § 80 Rn. 115) den Fortbestand der Zulässigkeit voraussetzt. Aber auch aus spezifisch aufenthaltsrechtlichen Überlegungen folgt nichts Anderes. Zunächst kann gegen die Zulässigkeit nicht § 11 Abs. 1 AufenthG eingewandt werden (so aber etwa HessVGH, Beschluss vom 11.12.2003 - TG 546/03 - InfAuslR 2004, 152). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531), der sich der Senat angeschlossen hat (Beschluss vom 22.03.2018 - 11 S 2776/17 -, juris), ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot wegen einen Verstoßes gegen Unionsrecht nicht anzuwenden; nach Auffassung des Senats kann auch eine behördliche Befristungsentscheidung nicht als behördliches Verbot verstanden werden (vgl. Senatsbeschluss vom 22.03.2018); jedenfalls kann, solange diese Frage nicht abschließend geklärt ist, das Rechtsschutzbedürfnis nicht unter diesem Aspekt verneint werden. Abgesehen davon kann eine Abschiebung, der nachträglich durch eine die aufschiebende Wirkung anordnende Gerichtsentscheidung (vorläufig) die Grundlage entzogen werden soll, schwerlich die Wirkungen des § 11 Abs. 1 AufenthG auslösen. Wollte man insoweit mit dem Argument des entstandenen Einreise- und Aufenthaltsverbots ein weiter bestehendes Rechtsschutzbedürfnis verneinen, so wäre dies ein Zirkelschluss, da dann die Voraussetzungen für das Entfallen des Verbots nicht herbeigeführt werden könnten. Ob für eine erneute Einreise eventuell ein Visum erforderlich ist, führt aber nicht für sich allein zum Wegfall des Rechtschutzbedürfnisses (vgl. ausführlich zu alldem Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG § 81 Rn. 140 ff. auch zum Aspekt der effektiven Rechtsschutzgewährung, insbesondere Rn 146 f.).
Aus den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Beschwerdegericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich jedoch nicht, dass abweichend vom Beschluss des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ablehnende Entscheidung des Antragsgegners vom 16. März 2018 anzuordnen ist. Die Beschwerdebegründung lässt keinen Ansatzpunkt dafür erkennen, dass die Ausweisungsverfügung und darauf aufbauend die hier zu beurteilende ablehnende Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis rechtlich zu beanstanden sein könnte.
Die wesentlichen Einwände des Antragstellers gehen dahin, dass zum einen die für eine Wiederholungsgefahr streitenden Gesichtspunkte durch den Verlauf der Therapie entkräftet seien. Dieser Einwand trifft nicht zu. Denn nach der vom Antragsgegner vor Erlass der angegriffenen Verfügung eingeholten aktuellen Stellungnahme der Therapieeinrichtung vom 19. Februar 2018 sind zwar durchaus gewisse positive Tendenzen zutage getreten, von einem grundlegenden Wandel kann jedoch keine Rede sein. Hierzu hätte es in Anbetracht der erheblichen kriminellen Vorgeschichte des Antragstellers wesentlich tiefgreifender Änderungen bedurft, die in der Stellungnahme nicht zum Ausdruck kommen. In diesem Zusammenhang und bei der Bewertung der Stellungnahme darf insbesondere die beispiellose fortgesetzte Brutalität und Rohheit des Antragstellers gegenüber anderen Menschen bei der Begehung der abgeurteilten Straftaten nicht aus den Augen verloren werden.
Zum anderen wendet der Antragsteller ein, dass er der serbischen Sprache nicht mächtig sei, insbesondere diese nicht spreche. Dieser Einwand ist völlig pauschal und nach Aktenlage nicht nachvollziehbar und daher nicht glaubhaft. Immerhin ist der Antragsteller im Jahre 1999 mit seinen Eltern und vier Geschwistern, die knapp acht, sechs, fünf und vier Jahre alt waren und daher älter als er selbst in das Bundesgebiet eingereist, Vor diesem Hintergrund ist nichts dafür ersichtlich, dass in der Familie nicht über viele Jahre nach der Einreise - neben Romanes - noch Serbisch gesprochen wurde. Zudem hat der Antragsgegner in der angegriffenen Verfügung ausgeführt, dass der immerhin jüngere, 2001 im Bundesgebiet geborene Bruder noch in jüngster Zeit sich der serbischen Sprache bedient hatte, ohne dass dies im Schriftsatz vom 30. April 2018 substantiiert infrage gestellt worden wäre. Jedenfalls kann nach alledem davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller sich, wenn auch möglicherweise nicht in einer differenzierten Art und Weise, mündlich verständigen kann, weshalb eine Aufenthaltsbeendigung unter dem Sprachaspekt nicht unverhältnismäßig ist.
Zum Aspekt der vom Antragsteller angesprochenen Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Vollstreckungsleiters hat der Antragsgegner im Schriftsatz vom 9. Mai 2018 Stellung genommen; hierauf kann verwiesen werden.
Der Einwand, die Ausreisefrist sei ermessensfehlerhaft zu kurz gesetzt, greift nicht durch. Denn der Antragsgegner hat in nicht zu beanstandender Weise darauf abgehoben, dass der Antragsteller vor der Ausreise kein Miet- bzw. Beschäftigungsverhältnis kündigen muss.
Die Streitwertfestsetzung und -änderung finden ihre Grundlage in § 63 Abs. 2 und 3, § 47 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Festsetzungspraxis des Senats in den Fällen, in denen - wie hier - dem Betroffenen bereits eine längerfristige Aufenthaltsperspektive eröffnet worden war, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine Reduzierung des Hauptsachestreitwerts vorzunehmen (vgl. Senatsbeschluss vom 24.04.2017 - 11 S 1967/17 -, AuAS 2017, 174). Die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts war entsprechend zu ändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 GKG).
Der Beschluss ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. November 2017 - 4 K 5304/17 - teilweise geändert. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt und Rechtsanwalt ..., ..., beigeordnet, soweit sich seine Klage gegen Nr. 1 und Nr. 4 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 17. März 2017 richtet.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Gebühr nach Nr. 5502 der Anlage I zu § 3 Abs. 2 GKG ist nicht zu erheben.

Gründe

 
Die zulässige Beschwerde des Klägers hat teilweise Erfolg. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat die erhobene Klage, soweit sie sich gegen die in Nr. 1 und Nr. 4 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 17. März 2017 richtet, eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO (II. und III.). Im Übrigen ist die Versagung von Prozesskostenhilfe durch das Verwaltungsgericht nicht zu beanstanden (IV).
I.
Gemäß § 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren. Erforderlich ist zudem, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Unter den gleichen Voraussetzungen erfolgt nach Maßgabe des § 121 Abs. 2 ZPO die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Dabei ist es zur Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht erforderlich, dass der Prozesserfolg (annähernd) gewiss ist. Vielmehr besteht eine hinreichende Erfolgsaussicht schon dann, wenn ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich erscheint wie ein Unterliegen, der Prozessausgang also offen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990 - 2 BvR 94/88 -, BVerfGE 81, 347; Kammerbeschluss vom 22.05.2012 - 2 BvR 820/11 -, InfAuslR 2012, 317). Weder dürfen Beweiswürdigungen vorweggenommen noch sollen schwierige Rechtsfragen geklärt werden, die in vertretbarer Weise auch anders beantwortet werden können. Denn die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschluss vom 05.02.2003 - 1 BvR 1526/02 -, NJW 2003, 1857 und vom 14.04.2003 - 1 BvR 1998/02 -, NJW 2003, 2976).II.
Gemessen hieran kommt dem Kläger für die Anfechtung von Nr. 1 der angegriffenen Verfügung, mit der ihm die Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina aus der Haft ohne Setzung einer Frist angedroht worden ist, der geltend gemachte Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu.
Zwar hat der Senat entschieden, dass das Unterlassen einer Fristsetzung für die Ausreise im Falle der Abschiebung aus der Haft mit § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG im Einklang steht und bei Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98) - Rückführungsrichtlinie / RFRL -, die sich aus den Umständen des Einzelfalls ergeben kann, dies auch unionsrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken begegnet (vgl. insoweit VGH Bad.-Württ, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, VBlBW 2018, 15). Die kontinuierliche und erhebliche Straffälligkeit des Klägers könnte hier die Gefahr für die öffentliche Ordnung indizieren. Der Klage kommt indes dennoch eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 Abs. 1 ZPO zu. Denn das Bundesverwaltungsgericht betrachtet die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Abschiebung aus der Haft heraus ohne Setzen einer Frist zur freiwilligen Ausreise auf der Grundlage des § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG mit der Rückführungsrichtlinie in Einklang steht, als offene, nicht geklärte Frage (BVerwG, Beschluss vom 14.02.2018 - 1 C 20.17 - Rn. 2).
III.
Auch für die Anfechtung von Nr. 4 der angegriffenen Verfügung, in der es heißt
„Das mit dem Vollzug einer Abschiebung eintretende Einreise- und Aufenthaltsverbot wird auf 2 Jahre ab Ausreise befristet.“
ist dem Kläger entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Prozesskostenhilfe zu gewähren. Denn die Erfolgsaussichten seiner Klage sind auch insoweit offen.
1. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Verfügung insoweit von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. Das in § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnete gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot ist im Fall des Klägers aus unionsrechtlichen Gründen unanwendbar (a)). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die angegriffene Entscheidung als einzelfallbezogene Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verstehen (b)). Diese Rechtsprechung hat aber die Frage, ob es für eine solche einzelfallbezogene Anordnung eine hinreichend Ermächtigungsgrundlage gibt, nicht geklärt. Es sind hier komplexe Frage (auch des Unionsrechts) zu beantworten (c)).
a) aa) Die gesetzliche Regelung über das als Folge der Abschiebung eintretende Einreise- und Aufenthaltsverbot aus § 11 Abs. 1 AufenthG ist wegen eines Verstoßes gegen Art. 11 RFRL unionsrechtswidrig und daher unanwendbar mit der Folge, dass eine Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots zunächst ins Leere geht.
10 
Die Rückführungsrichtlinie definiert das Einreiseverbot als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht“ (Art. 3 Nr. 6 RFRL). Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsbehelf zu ermöglichen, über den auch belehrt werden muss (Art. 12 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 RFRL). Zwingend ist ein solches Einreiseverbot nach den Vorgaben des Unionsrechts in zwei Fällen zu verfügen: Einmal gilt dies, wenn keine Frist für eine freiwillige Ausreise gesetzt worden ist (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a) RFRL) und weiter auch dann, wenn der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) RFRL).
11 
Davon ausgehend kann allein aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach der Rückführungsrichtlinie jedenfalls, soweit es an eine Abschiebung anknüpft, schon nicht wirksam eintreten; vielmehr bedarf es dafür einer behördlichen oder richterlichen Entscheidung (BVerwG, Beschlüsse vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531 Rn. 71 und vom 22.08.2017 - 1 A 10.17 -, NVwZ 2018, 345 Rn. 5). Soweit der erkennende Senat insoweit bisher vertreten hat, dass es zur Sicherung der Unionsrechtskonformität von § 11 AufenthG ausreiche, dass die Befristungsentscheidung (heute) nach § 11 Abs. 2 AufenthG jedenfalls im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung erfolge (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 07.12.2011 - 11 S 897/11 -, NVwZ-RR 2012, 412 (414); Beschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 -, InfAuslR 2013, 98 (99): dort allerdings schon zweifelnd „Nur bei einer derartigen Betrachtungsweise kann noch annähernd dem unionsrechtlichen Erfordernis einer einzelfallbezogenen behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung über das Einreiseverbot und dessen Befristung Rechnung getragen werden.“; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 31.10.2014 - 11 S 2025/14 -, InfAuslR 2015, 13: „Mindestmaß an Konformität mit Unionsrecht“), hält er an dieser Rechtsauffassung nicht weiter fest.
12 
bb) Die Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers erfolgt auch im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie, so dass sich der unionsrechtliche Anwendungsvorrang der Rückführungsrichtlinie und die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung und Anwendung der nationalen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes auf die Entscheidung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot auswirken.
13 
Der Antragsteller ist nämlich ein illegal im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhältiger Drittstaatsangehöriger (vgl. Art. 2 Abs. 1 RFRL), ohne dass die Ausnahmen aus Art. 2 Abs. 2 und 3 RFRL eingriffen. Unbeschadet der Frage, in welcher Weise der Gesetzgeber von der Möglichkeit des opting-out aus dem Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie in Anwendung von Art. 2 Abs. 2 RFRL Gebrauch machen kann bzw. muss (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, VBlBW 2018, 15; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: Dezember 2016, § 59 AufenthG Rn. 299 ff.), ist der Antragsteller bezogen auf die angegriffene Verfügung vom 17. März 2017 nicht aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig. Denn seine vollziehbare Ausreisepflicht beruht schlicht auf einem fehlenden Aufenthaltstitel und seiner unerlaubten Einreise (§§ 50 Abs. 1, 58 Ans. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Darüber hinaus ist die von dem Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 RFRL (BGH, Beschluss vom 14.07.2016 - V ZB 32/15 -, InfAuslR 2016, 432 Rn. 13; VGH Bad.-Württ, Beschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 -, InfAuslR 2013, 98).
14 
Es liegt beim Kläger auch ein Fall eines unionsrechtlich zwingenden Einreiseverbots vor, da ihm - für die Abschiebung aus der Haft - keine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt worden ist (Art. 11 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a) RFRL).
15 
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts soll die von Art. 11 Abs. 1 RFRL geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer in unionsrechtskonformer Auslegung des Aufenthaltsgesetzes regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG zu sehen sein (BVerwG, Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531 Rn. 72). Es handelt sich hiernach also um den konstitutiven Erlass eines befristeten Einreiseverbots (BVerwG, Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, DVBl 2017, 1430 Rn. 42), in das die verfügte Befristung grundsätzlich umzudeuten ist. Nicht entschieden hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings, ob für den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage besteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, NVwZ 2017, 1531 Rn. 72).
16 
c) aa) Der Wortlaut von § 11 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG spricht zunächst gegen die Möglichkeit, hier die Ermächtigung der Behörde zur Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verorten, nachdem in Absatz 1 eindeutig ein kraft Gesetzes entstehendes Verbot bestimmt wird und in Absatz 2 Satz 1 allein die Ermächtigung und Verpflichtung zur Befristung des Verbots verankert ist.
17 
bb) Es gilt jedoch zu beachten, dass die Gerichte nicht allein darauf verwiesen sind, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, in einem Akt bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, Wertvorstellungen, die der Rechtsordnung immanent sind, ans Licht und in Entscheidungen in willkürfreier Weise zur Geltung zu bringen (BVerfG, Beschluss vom 14.02.1973 -1 BvR 112/65 -, BVerfGE 34, 269 (287)). Im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung durch teleologische Korrektur des Normtextes liegt es auf der Hand, dass der Wortlaut der Norm als solcher gerade nicht begrenzend wirken kann (so auch Bauer, NVwZ 2018, 471 (473) - im Erscheinen; a.A. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.02.2018 - A 4 S 169/18 -, juris Rn. 6). Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind weiter, soweit die vom Gericht im Wege der Rechtsfortbildung gewählte Lösung dazu dient, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird. Umgekehrt sind die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung demgemäß bei einer Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen enger gesteckt. Die Rechtsfindung muss sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiegt (BVerfG, Beschluss vom 24.02.2015 - 1 BvR 472/14 -, BVerfGE 138, 177 Rn. 41 mwN.).
18 
cc) Weiter verlangt Art. 288 AEUV iVm Art. 4 Abs. 3 EUV von den nationalen Gerichten im Anwendungsbereich des Unionsrechts, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (EuGH, Urteil vom 13.07.2016 - C-187/15 - , NVwZ 2016, 1485 Rn. 43). Dabei ist zu beachten, dass das Unionsrecht auch in diesen Fällen die Beachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze verlangt und nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf (EuGH, Urteil vom 15.01.2014 - C-176/12 - , NZA 2014, 193 Rn. 39). Die unionsrechtskonforme Auslegung findet ihre Grenzen in dem nach der innerstaatlichen Rechtsordnung methodisch Erlaubten (BVerfG, Beschluss vom 17.11.2017 - 2 BvR 1131/16 -, NVwZ-RR 2018, 169 Rn. 37).
19 
dd) Eine Rechtsanwendung dahingehend, § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG könnten als Ermächtigungsgrundlage für die Ausländerbehörde zur Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots dienen, würde damit in methodischer Hinsicht eine unionsrechtlich gebotene Rechtsfortbildung bedeuten, die in einer Kombination von teleologischer Extension und Substitution (vgl. dazu Reimer, Juristische Methodenlehre Rn. 623 ff.) sowohl einen Austausch von Tatbestands- als auch Rechtsfolgenelementen vornähme (siehe hierzu Dörig/Hoppe, in: Dörig, Handbuch Migrationsrecht, 2018 im Erscheinen Kapitel 5). Jedenfalls offen ist die Frage, ob sich damit der Rechtsanwender über eine ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung hinwegsetzte, was verfassungsrechtlich unzulässig wäre (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.10.2016 - 1 BvR 871/13 -, NVwZ 2017, 617 Rn. 23). Dies könnte man annehmen, weil die Beibehaltung des Systems eines gesetzlichen Einreiseverbots mit sich anschließender behördlicher Befristung in der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss diskutiert worden ist (siehe Habbe, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17(4)282 E S. 8 ; Kluth, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17/4)282 A S. 2; Sommer, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17(4)282 B S. 3; Thym, Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Drucksache 17(4)282 F S. 3) und sich der Bundesgesetzgeber sodann für die - unionsrechtswidrige - Umsetzung entschieden hat. Indes lässt sich auch mit guten Gründen vertreten, dass eine solche Rechtsfortbildung die verfassungsrechtlichen Grenzen deswegen nicht überschreitet, weil bei einer Gesamtbetrachtung der Einzelne beim Vergleich zwischen der nationalen Konzeption von § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG einerseits und der unionsrechtskonformen Regelung andererseits in gleichem Maße in seinen Rechtspositionen beeinträchtigt würde (so Dörig/Hoppe, in: Dörig, Handbuch Migrationsrecht, 2018 im Erscheinen, Kapitel 5).
20 
ee) Aus der Darstellung der Probleme, die mit dem Unionsrechtsverstoß durch § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG verbunden sind, ergibt sich, dass derzeit in der Regel hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne von § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO einer jeden zulässigen Klage gegen den Ausspruch einer Befristung eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie bestehen.
21 
Bei diesem Befund kann der Senat offen lassen, ob es methodisch überhaupt möglich und zulässig ist, in einer Entscheidung einer Behörde über die Befristung eines gesetzlichen Verbots die Einzelfallanordnung eines befristeten Verbots zu erblicken (siehe hierzu Bauer, NVwZ 2018, 471 (473) - im Erscheinen)
22 
2. Es lässt sich derzeit nicht feststellen, dass die Regelung in Nr. 4 der Verfügung vom 17. März 2017 sich durch eine nachfolgende Regelung erledigt hätte.
23 
Das Regierungspräsidium Stuttgart hat zwar mit - nach dessen Auskunft vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart angegriffener - Verfügung vom 14. November 2017 „die Wirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf vier Jahre ab erneuter Ausreise (ggf. Abschiebung) befristet.“ Nach einem so genannten „Hinweis“ soll sich diese Entscheidung auf die (vom Regierungspräsidium Stuttgart) verfügte Ausweisung vom 9. August 2011 sowie auf die Abschiebungen des Antragstellers am 8. Dezember und vom 22. August 2014 beziehen. Dabei geht das Regierungspräsidium Stuttgart davon aus, dass Ausweisung und Abschiebung zu einem einheitlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot führen, das einheitlich zu befristen sei. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 RFRL darstellt (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 -, NVwZ-RR 2012, 492) und insoweit § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG nicht aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen unanwendbar sind, lässt sich die These einer einheitlichen Handhabung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aufgrund Ausweisung einerseits und Abschiebung andererseits nicht halten. Da schon deshalb auch die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Entscheidung vom 14. November 2017 offen erscheinen, hat diese Entscheidung derzeit keine Auswirkungen auf die Feststellung, dass der Klage gegen Nr. 4 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 17. März 2017 hinreichende Erfolgsaussicht zukommt.
IV.
24 
Soweit sich die Klage gegen die Abschiebungsandrohung nach Haftentlassung mit Fristsetzung für die freiwillige Ausreise richtet, kommen der Klage die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten im Sinne des § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hingegen nicht zu.
25 
Die vom Antragsteller geltend gemachten Umstände könnten allein auf Duldungsgründe führen. Diese stünden der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung indes nicht entgegen § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Gründe, die auf eine Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung führen könnten, wie etwa das Entfallen der Ausreisepflicht, werden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.
V.
26 
Die Entscheidung zu bestimmen, dass keine Gebühr nach Nr. 5502 der Anlage I zu § 3 Abs. 2 GKG zu erheben ist, nimmt der Senat in Ausübung seines ihm eingeräumten Ermessens aufgrund des teilweisen Obsiegens des Antragstellers mit seiner Beschwerde vor.
27 
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Außergerichtliche Kosten sind nicht erstattungsfähig, § 166 Abs. 1 VwGO iVm. § 127 Abs. 4 ZPO. Gerichtsgebühren fallen nach der Entscheidung des Senats nicht an.
28 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Tenor

Die Anträge auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes werden abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens als Gesamtschuldner.

Gründe

 
I.
Die Antragsteller sind kosovarische Staatsangehörige, die Antragstellerin Ziff. 1 die Mutter des minderjährigen Antragstellers Ziff. 2. Sie reisten am 27.04.2015 in die Bundesrepublik ein und stellten einen Tag später Asylanträge. Zur Begründung trug die Antragstellerin Ziff. 1 unter Vorlage einer Eheurkunde vor, seit August 2014 mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet zu sein. Sie sei nach Deutschland gekommen, um bei diesem zu sein, er wisse aber noch nichts von ihrem Besuch. Probleme mit staatlichen Behörden oder sonstige Konflikte habe es in ihrer Heimat nicht gegeben. Der Antragsteller Ziff. 2 gab an, ausgereist zu sein, da er nicht allein im Kosovo habe zurückbleiben wollen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte die Anträge auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 25.10.2016 als offensichtlich unbegründet ab (Ziff. 1 u. 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziff. 3) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Ziff. 4). Die Antragsteller wurden aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung des Bundesamtes zu verlassen. Sollten sie die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach Kosovo oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürften oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben (Ziff. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 10 Monate ab dem Tag der Ausreise befristet (Ziff. 6), das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 7). Zur Begründung verwies das Bundesamt auf die Einstufung des Kosovos als sicherer Herkunftsstaat. Die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 mit einem deutschen Staatsangehörigen habe auf die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots keinen Einfluss, da sie bei der Prüfung eines möglichen inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses durch die Ausländerbehörde Berücksichtigung finde.
Die Antragsteller haben daraufhin Klage erhoben und - mit separatem Schriftsatz - einen Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Die Abschiebungsandrohung und das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot verstießen gegen den Schutz der Ehe und der Familie durch die staatliche Ordnung. Wörtlich beantragen die Antragsteller,
die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.10.2015 anzuordnen.
II.
1. Gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG entscheidet der Berichterstatter über die Eilanträge als Einzelrichter.
2. Nachdem sich die Antragsteller in ihrer Antragsschrift ausdrücklich auf das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot beziehen, legt der Einzelrichter die Eilanträge dahingehend aus, dass sich die Antragsteller in der Sache erstens gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes wenden, zweitens vorläufigen Rechtsschutz gegen das gesetzliche und drittens gegen das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot begehren. Unter Zugrundelegung des genannten Interesses geht der Einzelrichter gemäß § 122 Abs. 1, § 88 VwGO von folgenden Anträgen aus:
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage A 10 K 5998/16 gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.10.2016 anzuordnen,
2. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, das im Bescheid vom 25.10.2016 festgesetzte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG vorläufig bis zum Eintritt der Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung auf 0 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen,
hilfsweise die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass die Abschiebung der Antragsteller bis zu einer erneuten Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nicht vollzogen werden darf.
10 
3. die aufschiebende Wirkung der Klage A 10 K 5998/16 gegen das im Bescheid vom 25.10.2016 festgesetzte behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 7 AufenthG anzuordnen.
11 
3. Bei dieser Auslegung sind die Anträge Ziff. 1 und Ziff. 2 zulässig (a und b), der Antrag Ziff. 3 hingegen bereits unzulässig (c).
12 
a) Der Antrag Ziff. 1 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG statthaft. Die einwöchige Antragsfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG wurde gewahrt.
13 
b) Statthafter Rechtsbehelf im Eilverfahren gegen das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot ist allein ein Antrag nach § 123 VwGO. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung würde den Antragstellern insoweit nicht helfen, da diese die von der Antragsgegnerin getroffene Befristungsentscheidung suspendieren und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG infolgedessen unbefristet gelten würde (OVG Nds., Beschluss vom 14.12.2015 - 8 PA 199/15 -, juris Rn. 5 m.w.N.). Die einwöchige Antragsfrist des § 36 Abs. 3 Satz 10 AsylG wurde gewahrt.
14 
c) Die Eilanträge gegen das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziff. 3) sind gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG statthaft. Die ehemals strittige Frage, ob es sich bei Rechtsbehelfen gegen die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt um asylrechtliche Streitigkeiten handelt (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 02.10.2015 - 5 B 3636/15 - juris Rn. 21; VG Regensburg, Beschluss vom 10.09.2015 - RO 9 K 15.1357 -, juris Rn. 6), bei denen Klagen gemäß § 75 Abs. 1 AsylG im Regelfall keine aufschiebende Wirkung haben, wurde mit der Einfügung des § 83c AsylG durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz 2015 (Gesetz vom 20.10.2015, BGBl. 2015 I S. 1722) ausdrücklich beantwortet und bejaht (ebenso VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 14; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 11 AufenthG Rn. 86; vgl. BT-Drs. 18/6185, S. 36).
15 
Eilanträgen gegen das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot fehlt jedoch regelmäßig das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Denn das behördliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wird gemäß § 11 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erst mit der Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Abgelehnte Asylbewerber werden durch das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot vor der Bestandskraft des Ablehnungsbescheids mithin noch nicht beschwert (VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 16; VG Ansbach, Beschluss vom 01.03.2016 - AN 4 S 16.30141 -, juris Rn. 11; VG Münster, Beschluss vom 20.01.2016 - 4 L 39/16.A -, juris Rn. 13).
16 
Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz 2015 in das Gesetz eingefügten § 36 Abs. 3 Satz 10 AsylG, wonach Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Anordnung und Befristung nach § 11 Abs. 7 Satz 1 AufenthG innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen sind. Denn aus den Gesetzesmaterialien geht hervor, dass diese Vorschrift ausschließlich der Harmonisierung der Antragsfristen dienen sollte (BT-Drs. 18/6185, S. 33). Es ist insofern nicht davon auszugehen, dass Eilanträge auch ohne Rechtsschutzbedürfnis zulässig sein sollen (VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 17; a.A. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 11 AufenthG Rn. 75).
17 
4. Erfolg in der Sache haben die Anträge aber auch insoweit nicht, wie sie zulässig sind.
18 
a) Der Antrag Ziff. 1 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes ist unbegründet.
19 
Prüfungsmaßstab für die Frage der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die auf § 34 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG. Hiernach darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (vgl. auch Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG). Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94, 166, Leitsatz 2.b.).
20 
Ein Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen. Ein Asylantrag ist insbesondere offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder, um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält (§ 30 Abs. 2 AsylG). Die Abweisung der Asylklage als offensichtlich unbegründet setzt voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre) die Abweisung der Klage sich dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschluss vom 20.09.2001 - 2 BvR 1392/00 -, juris Rn. 17 m.w.N.). In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kommt es darauf an, ob die Offensichtlichkeitsentscheidung in Bezug auf die geltend gemachten Asylgründe bei der hier gebotenen summarischen Prüfung mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr bestätigt werden kann (vgl. VG Würzburg, Beschluss vom 03.04.2014 - W 1 S 14.30293 -, juris Rn. 15).
21 
Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamtes nicht zu beanstanden. Die Antragsteller haben aller Voraussicht keinen Anspruch auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (aa). Abschiebungsverbote dürften ebenfalls nicht vorliegen (bb). Die Abschiebungsandrohung schließlich erweist sich bei summarischer Prüfung gleichfalls als rechtmäßig (cc).
22 
aa) Der Anerkennung der Antragsteller als Asylberechtigte steht bereits Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG entgegen, da sie nach eigenen Angaben auf dem Landweg nach Deutschland eingereist sind.
23 
Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist gemäß § 3 Abs. 1 AsylG unter anderem, dass sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Hieran dürfte es im Fall der Antragsteller fehlen. Die Antragstellerin Ziff. 1 hat in ihrer Anhörung beim Bundesamt offen eingeräumt, dass ihnen im Kosovo keine Verfolgung droht. Sie seien allein wegen ihres hier lebenden Mannes nach Deutschland gekommen. Der Antragsteller Ziff. 2 hat diese Angaben bestätigt.
24 
Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG dürften ebenfalls nicht vorliegen. Die Antragsteller behaupten selbst nicht, dass ihnen im Kosovo die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
25 
bb) Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 AufenthG dürften gleichfalls nicht vorliegen. Die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 mit einem deutschen Staatsangehörigen begründet kein solches Verbot. Denn Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 AufenthG können sich nur aus solchen Umständen ergeben, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (sog. zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse). Bestehen Hindernisse, die einer Vollstreckung der Ausreisepflicht entgegenstehen, weil anderenfalls ein Schutz des Rechtsguts im Bundesgebiet verletzt würde (sog. inlandsbezogene Vollstreckungs-/ Abschiebungshindernisse), muss sich der Ausländer auf einen Antrag auf Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG bei der örtlich zuständigen Ausländerbehörde verweisen lassen (OVG Nds., Urteil vom 18.05.2010 - 11 LB 186/08 -, juris Rn. 47; VG München, Urteil vom 24.10.2016 - M 17 K 16.32996 -, juris Rn. 41).
26 
cc) Schließlich erweist sich bei summarische Prüfung auch die Abschiebungsandrohung als rechtmäßig. Die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 ist als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis insoweit erneut nicht zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.11.1999 - 19 B 1599/98 -, juris Rn. 36 f.). Die formellen Anforderungen des § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG sind eingehalten; die Dauer der Ausreisefrist von einer Woche ergibt sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
27 
b) Die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz betreffend das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Antrag Ziff. 2) sind ebenfalls unbegründet.
28 
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines Rechts des Antragstellers treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung dieses Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) sind hierbei gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 und § 294 ZPO glaubhaft zu machen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
29 
Die primär begehrte Reduzierung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 0 Monate kommt schon deshalb nicht in Betracht, da über die Länge der Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden wird (Bayer. VGH, Urteil vom 12.07.2016 - 10 BV 14.1818 -, Ls., juris; a.A. - jedoch wohl nur bei Ausweisungen - VGH Bad.-Württ., Urteil vom 09.12.2015 - 11 S 1857/15 - juris Rn. 25 ff., Beschluss vom 11.04.2016 - 11 S 393/16 -, juris Rn. 42). Die von den Antragstellern begehrte Reduzierung käme daher in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 5 VwGO allenfalls bei einer Ermessensreduzierung auf Null in Betracht. An einer solchen fehlt es jedoch. Vertretbar sind verschiedene Befristungen.
30 
Aber auch insoweit die Antragsteller hilfsweise die Verpflichtung der Antragsgegnerin begehren, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass ihre Abschiebung bis zu einer erneuten Entscheidung des Bundesamtes über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nicht vollzogen werden darf, haben die Eilanträge keinen Erfolg. Zwar spricht manches dafür, dass die Antragsteller insoweit einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht haben. Denn die Befristungsentscheidung des Bundesamtes leidet nach summarischer Prüfung an einem Ermessensfehler, weil das Bundesamt die Ehe der Antragstellerin Ziff. 1 mit einem deutschen Staatsangehörigen nicht berücksichtigt hat. Auch lässt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nicht bereits damit verneinen, dass keine konkreten Abschiebemaßnahmen gegen die Antragsteller geplant sind. Denn Flüchtlinge, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, müssen, wenn die Frist zur freiwilligen Ausreise - wie hier - abgelaufen ist, jederzeit mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen rechnen, sofern das Gericht ihrem Eilantrag gegen die Abschiebungsandrohung nicht stattgibt. Ob und wann ihre Abschiebung konkret geplant ist, können sie nicht wissen, da der Termin der Abschiebung dem Ausländer gemäß § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise nicht angekündigt werden darf (VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 14; a.A. VG Sigmaringen, Beschluss vom 18.02.2016 - A 8 K 113/16 -, juris Rn. 14; Beschluss vom 21.10.2016 - A 3 K 3105/16 -, juris Rn. 22). Im Falle eines Eilantrages gegen das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG fehlt es aber regelmäßig deshalb - und so auch hier - an dem erforderlichen Anordnungsgrund, da es Ausländern grundsätzlich zumutbar ist, freiwillig auszureisen, um die Sperrwirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu vermeiden (VG Aachen, Beschluss vom 28.07.2016 - 2 L 572/16.A -, juris Rn. 7; im Ergebnis so wohl auch VG Sigmaringen, Beschluss vom 21.10.2016 - A 3 K 3105/16 -, juris Rn. 22). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot entfaltet, wie aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 AufenthG und im Umkehrschluss aus § 11 Abs. 6 Satz 1 AufenthG folgt, keine Sperrwirkung, wenn ein Ausländer, dem die Abschiebung angedroht wurde, freiwillig ausreist (vgl. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 11 AufenthG Rn. 7; Maor, in: BeckOK AuslR, Stand: 01.11.2016, § 11 AufenthG Rn. 39). Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall eine abweichende Betrachtung als geboten erscheinen lassen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 09.11.2012 - 11 S 2200/12 -, juris Rn. 11; VG Stuttgart, Beschluss vom 22.07.2016 - A 2 K 2113/16 -, juris Rn. 35), wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Der Antragstellerin Ziff. 1 und ihrem Ehemann erscheint eine (vorübergehende) Trennung zumutbar. Sie leben, kurze Besuche ausgenommen, seit ihrer Eheschließung freiwillig in verschiedenen Staaten.
31 
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
32 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.