Arbeitsrecht: Kündigung unwirksam, Verzehr von übrig gebliebenen Patientenessen muss erst abgemahnt werden

bei uns veröffentlicht am16.12.2010
Zusammenfassung des Autors

Eine fristlose KÜndigung ohne vorherige Abmahnung ist unwirksam, wenn ein unbescholtener langjährig Beschäftigter übriggebliebenes Patientessen verzehrt - BSP Rechtsanwälte - Anwältin Arbeitsrecht Berlin Mitte

Verzehrt ein in einem Krankenhaus langjährig Beschäftigter und bislang unbescholtener Arbeitnehmer ein Stück einer Patientenpizza sowie einen nicht verbrauchten Rest einer Patientenportion Gulasch, rechtfertigt dies in aller Regel nicht dessen fristlose Kündigung ohne vorherige Abmahnung.

Dies hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein entschieden und deshalb nicht mehr aufgeklärt, ob die Vorwürfe zutreffen. Geklagt hatte ein seit 1991 beschäftigter Krankenpflegehelfer. Er war von seinem Arbeitgeber beschuldigt worden, eine Ecke Pizza abgerissen und gegessen sowie einen Rest Gulasch verzehrt zu haben, welches beides den Patienten zugestanden hätte. Er habe zulasten der Patienten Vermögensdelikte begangen und deren besondere Schutzbedürftigkeit ausgenutzt. Der Pfleger bestritt die Vorwürfe. Ohne vorherige Abmahnung kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis nach Anhörung des Betriebsrats fristlos. Der Pfleger erhob daraufhin Kündigungsschutzklage.

Dieser Klage gab das LAG statt. Die Richter wiesen darauf hin, dass es für die Prüfung eines wichtigen Grundes für eine außerordentliche Kündigung nicht auf die strafrechtliche Würdigung des Fehlverhaltens ankomme. Zweck der fristlosen Kündigung dürfe nicht die Sanktion einer Vertragsverletzung sein. Vielmehr diene sie der Vermeidung des Risikos weiterer arbeitsvertraglicher Verstöße. Bei den Vorwürfen des unerlaubten Verzehrs von Essensresten handele es sich um ein geringfügiges Eigentumsdelikt. Bei einem steuerbaren Verhalten diene eine vorherige Abmahnung der Objektivierung einer negativen Zukunftsprognose. Sie sei nur entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung trotz Abmahnung nicht zu erwarten sei oder es sich um eine schwere Pflichtverletzung handele, aufgrund derer die Hinnahme durch den Arbeitgeber erkennbar ausgeschlossen sei. Vorliegend stelle jedoch die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses eine unverhältnismäßige Reaktion auf die behaupteten Pflichtverletzungen dar. Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, des langjährigen ungestörten Verlaufs des Arbeitsverhältnisses und des äußerst geringen Werts der angeblich verzehrten Speisen, habe jedenfalls auf eine Abmahnung nicht verzichtet werden können (LAG Schleswig-Holstein, 3 Sa 233/10).


Die Entscheidung im einzelnen lautet:

LAG Schleswig-Holstein: Urteil vom 29.09.2010 - 3 Sa 233/10

Isst ein Arbeitnehmer eine abgerissene Ecke eines Stückes einer Patientenpizza und/oder verzehrt er einen in der Küche abgestellten Teil eines Restes einer Patientenportion Gulasch, rechtfertigt dies in aller Regel keine Kündigung eines langjährig beschäftigten Arbeitnehmers.

Das gilt jedenfalls dann, wenn das Beschäftigungsverhältnis bisher ungestört verlaufen ist.

In einem solchen Fall ist als angemessene Reaktion regelmäßig lediglich eine Abmahnung gerechtfertigt, um durch Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses das künftige Verhalten des Arbeitnehmers positiv zu beeinflussen.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 11.05.2010 - 3 Ca 464/10 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Revision nicht gegeben; im Übrigen wird auf § 72 a ArbGG verwiesen.


Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit dem Vorwurf, der Kläger habe Gulasch und eine Ecke eines Stückes Pizza jeweils aus Patientenverpflegung gegessen.

Der Kläger ist 1954 geboren und seit Februar 1991 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Krankenpflegehelfer beschäftigt. Er ist verheiratet und zwei Kindern, einem Pflegekind sowie seiner Ehefrau gegenüber unterhaltspflichtig. Die Ehefrau ist schwersterkrankt und zu 100% schwerbehindert. Die durchschnittliche monatliche Vergütung des Klägers belief sich zuletzt auf 2.700,- EUR brutto. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach den Tarifverträgen für den öffentlichen Dienst. Der Kläger ist ordentlich unkündbar.

Abgemahnt wurde der Kläger in dem mehr als 19 Jahre bestehenden Arbeitsverhältnis bisher nicht.

Veranlasst durch Mitteilungen eines Arbeitskollegen des Klägers wirft die Beklagte dem Kläger letztendlich jetzt noch vor, der Kläger habe am 19.11.2009 von übrig gebliebenem, zurückgestelltem Patientengulasch gegessen; Patienten geduzt und mit Ausdrücken wie „Dummbatz“ und „Schwachmaten“ beschimpft sowie am 13.11.2009 eine Ecke von einem Stück Pizza, das aus Lebensmitteln der Patienten gemacht worden war, abgerissen und gegessen zu haben. Der Kläger wurde mehrfach angehört. Er hat die erhobenen Vorwürfe stets bestritten. Nach durchgeführter Betriebsratsanhörung kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 09.02.2010 das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos.

Der hiergegen am 22.02.2010 eingegangenen Kündigungsschutzklage hat das Arbeitsgericht stattgegeben. Dabei hat es dahingestellt sein lassen, ob die behaupteten streitigen Pflichtverletzungen erfolgt sind. Die außerordentliche Kündigung wurde vielmehr unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten für unwirksam erklärt und ggf. eine Abmahnung für ausreichend gehalten. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Tatbestand, Anträge und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Lübeck vom 11.05.2010, Aktenzeichen 3 Ca 464/10, verwiesen.

Gegen diese der Beklagten am 29.05.2010 zugestellte Entscheidung hat sie am 04.06.2010 Berufung eingelegt, die mit am 14.06.2010 eingegangenem Schriftsatz begründet wurde.

Die Beklagte behauptet, der Kläger habe Patienten gehörendes Gulasch und Patienten gehörende Pizza gegessen; sich insoweit „selbst bedient“ und damit Vermögensdelikte zulasten der Patienten begangen. Es handele sich um einen massiven Vertrauensbruch. Der Kläger habe gezeigt, dass er keinerlei Respekt vor den Rechtsgütern anderer habe. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang auch, dass sein Fehlverhalten gerade zulasten anvertrauter hilfsbedürftiger und pflegebedürftiger Personen gegangen sei. Er habe deren besondere Schutzwürdigkeit ausgenutzt. Verschärfend falle ins Gewicht, dass dieses Verhalten Auswirkungen auf die Therapierbarkeit der Patienten habe, bei denen es sich ausnahmslos um Straftäter handelt. Der Kläger habe beharrlich, nämlich mindestens zweimal, ein gleichgelagertes Fehlverhalten an den Tag gelegt und sei kaltblütig vorgegangen, da er trotz des Hinweises eines Kollegen sein Fehlverhalten fortgesetzt und wiederholt habe. Es müsse ferner berücksichtigt werden, dass der Kläger ihm anvertraute Schutzbefohlene mit Bezeichnungen wie „Schwachmat“, „du Toss“, und „Dummbatz“ belegt habe. Vor diesem Hintergrund habe eine ungestörte Beschäftigungszeit nicht vorgelegen. Vielmehr ergebe sich hieraus ein pflichtwidriges Vorverhalten, so dass eine Abmahnung nicht erforderlich sei. Angesichts dessen könnten dem Lebensalter, der Dauer der Betriebszugehörigkeit und den Unterhaltspflichten im Rahmen der Interessenabwägung kein großes Gewicht beigemessen werden. Im Übrigen würde Pflegepersonal auf dem Arbeitsmarkt gesucht, so dass das Lebensalter des Klägers mit 56 Jahren nicht ins Gewicht falle.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 11.05.2010 - 3 Ca 464/10 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht für zutreffend. Er bestreitet, Patientengulasch und Patientenpizza gegessen zu haben. Am 19.11.2009 habe er sein mitgebrachtes Essen aufgewärmt und gegessen. An Patientenpizza habe er sich weder ganz noch teilweise vergriffen. Auch habe er Patienten nicht geduzt oder gar, wie von der Beklagten behauptet, beschimpft. Im Übrigen sei die Vorgehensweise der Beklagten in jeder Hinsicht unverhältnismäßig.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf den mündlich vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und innerhalb der Berufungsbegründungsfrist auch begründet worden. In der Sache konnte sie jedoch keinen Erfolg haben.

Mit ausführlicher Begründung hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Dem folgt das Berufungsgericht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird vorab auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Lediglich ergänzend und auch auf den neuen, konkretisierten Vortrag der Parteien eingehend, wird Folgendes ausgeführt:

Gemäß §§ 34 Abs. 2 TV-L, 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die erforderliche Prüfung, ob ein gegebener Lebenssachverhalt einen wichtigen Grund darstellt, vollzieht sich zweistufig: Im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls an sich als wichtiger Kündigungsgrund geeignet ist. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es stets der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile auf Dauer zumutbar ist oder nicht.

Dem Sinn und Zweck des wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses entspricht es, dass auch bei einem abstrakt durchaus erheblichen Verhalten doch noch in jedem konkreten Einzelfalle eine Abwägung aller für und gegen die Lösung des Arbeitsverhältnisses sprechenden Gründe erfolgt. Bei der Prüfung des wichtigen Grundes kommt es nicht darauf an, wie ein bestimmtes Verhalten strafrechtlich zu würdigen ist, sondern darauf, ob der Gesamtsachverhalt die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht. Zweck einer Kündigung wegen einer Vertragsverletzung darf regelmäßig nicht die Sanktion einer Vertragsverletzung sein. Die Kündigung dient der Vermeidung des Risikos weiterer Vertragsverletzungen. Das ist unter dem Gesichtspunkt einer negativen Zukunftsprognose zu betrachten.

Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung und Einzelfallprüfung sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrauenskapital“ ebenso wie ggfs. die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes. Eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauens ausreichen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.

Beruht eine Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die Abmahnung dient der Objektivierung der Prognose.

Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die Kündigung der Beklagten vom 09.02.2010 unwirksam.

Wie das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat, kann hier dahingestellt bleiben, ob der Kläger die von der Beklagten behaupteten Vertragspflichtverletzungen überhaupt begangen hat. Der Kläger hat dieses stets bestritten.

Der Kammer ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht entgangen, dass der „seine Meldepflicht“ (Anlage B 7 - Blatt 46 d. A.) ausübende Arbeitskollege des Klägers seine gemeldeten Wahrnehmungen über dessen Verhalten mehrfach verändert und den Anhörungsergebnissen des Klägers angepasst hat. Der Kammer ist auch nicht entgangen, dass die als Anlage B 7 zur Akte gereichte Stellungnahme des Krankenpflegehelfers D. ganz offensichtlich vorformuliert ist und nicht aus seiner Feder stammt. So schreibt und spricht keine Naturalpartei.

Gleichwohl unterstellt, all das dort Niedergelegte treffe zu, rechtfertigen die dem Kläger gegenüber erhobenen Vorwürfe vorliegend keine außerordentliche Kündigung gemäß §§ 34 Abs. 2 TV-L, 626 Abs. 1 BGB. Die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses stellt keine angemessene Reaktion auf die von der Beklagten behaupteten - streitigen - Pflichtverletzungen und eine dadurch eingetretene Vertragsstörung dar. Eine Abmahnung wäre als milderes Mittel gegenüber der Kündigung angemessen und ausreichend gewesen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken. Entgegen der Ansicht der Beklagten hat das Arbeitsgericht die in Betracht kommenden Gesichtspunkte zutreffend und umfassend bewertet.

Eine vorherige Abmahnung ist unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder wenn es sich um eine schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar ist und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist. Selbst bei Störungen des Vertrauensbereiches durch Eigentums- und Vermögensdelikte kann es danach Fälle geben, in denen eine Abmahnung nicht ohne weiteres entbehrlich erscheint.

Die Beklagte verkennt, dass Zweck einer Kündigung wegen einer Vertragsverletzung regelmäßig nicht die Sanktion einer Vertragsverletzung sein darf. Ihre Einordnung des - streitigen - Lebenssachverhaltes ist unverhältnismäßig. Sie wird selbst unter Berücksichtigung des Inhalts der Anlage B7 der Realität nicht gerecht. Auch wenn die Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe unterstellt wird, wäre unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, des langjährigen ungestörten Verlaufs des Beschäftigungsverhältnisses und angesichts des äußerst geringen Wertes der verzehrten Speisen lediglich eine Abmahnung als angemessen Reaktion gerechtfertigt gewesen. Sie hätte ausgereicht, um durch Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses das künftige Verhalten des Klägers positiv zu beeinflussen.

Die Kammer kann in Bezug auf die streitigen Vorwürfe der Beklagten kein Verhalten des Klägers feststellen, das „keinerlei Respekt vor den Rechtsgütern anderer“ und ein gezieltes Ausnutzen besonderer Schutzwürdigkeit anvertrauter Patienten an den Tag legen würde. Bei dem Vorwurf des Verzehrs einer abgebrochenen Ecke eines Stückes Pizza zum Eigenverbrauch handelt es sich allenfalls um ein geringfügiges Eigentumsdelikt. Gleiches gilt vorliegend in Bezug auf den -streitigen- Vorwurf, der Kläger habe einen Teil eines Restes einer Patientenportion Gulasch gegessen. Die verzehrten Teile von Speisen haben einen äußerst geringen Wert. Das darf bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht unberücksichtigt bleiben.

Ausdrückliche und wiederkehrende Verhaltensanweisungen zum Umgang mit Speisenresten hat die Beklagte zudem nicht erteilt. Jedenfalls hat sie hierzu nichts vorgebracht.

Der Kläger hat mit den behaupteten - streitigen - Pflichtverletzungen auch keine besondere Schutzwürdigkeit ihm anvertrauter Patienten ausgenutzt. Das ihm vorgeworfene Handeln ist beliebig auf jeden anderen Lebenssachverhalt und Personenkreis übertragbar. Wenn die Vorwürfe tatsächlich zutreffen, hat der Kläger Lebensmittel bzw. Lebensmittelreste, die anderen Personen gehören bzw. für diese bestimmt waren, ganz oder teilweise gegessen. Ob es sich dabei um Lebensmittel oder Lebensmittelreste von Kollegen oder anvertrauten Patienten handelte, wäre nach der Überzeugung der Kammer Zufall. Die Richtigkeit des Vorbringens der Beklagten unterstellt, ist nicht ersichtlich, woraus sich ergeben soll, dass der Kläger zielgerichtet ausgerechnet auf Lebensmittel bzw. Lebensmittelreste von Patienten zugegriffen haben soll. Jedenfalls fehlt insoweit jegliches substantiierte Vorbringen der Beklagten. Die vorgeworfene Pflichtverletzung ist auch nicht annähernd vergleichbar mit dem gezielten Zugriff von Pflegekräften auf private Wertgegenstände, Geld, Schmuck oder Ähnliches von anvertrauten Personen. Die Beklagte hat insoweit mit ihrer Einordnung und der darauf beruhenden Reaktion das gebotene Betrachtungsmaß verloren.

Auch ihrem Vorbringen, die dem Kläger zur Last gelegten Vertragspflichtverletzungen hätten Auswirkungen auf die Therapierbarkeit der Patienten, kann die Kammer nicht folgen. Der unmittelbare Zusammenhang fehlt. Zudem hätte auch die Ahndung der dem Kläger vorgeworfenen - streitigen - Pflichtverletzungen mittels Abmahnung den Patienten, die Straftäter sind, aufgezeigt, dass ein solches Verhalten nicht folgenlos bleibt und ggf. zum Verlust eines Arbeitsplatzes führen kann.

Die Kammer kann auch unter Berücksichtigung des Tatsachenvortrags der Beklagten kein kaltblütiges Vorgehen des Klägers feststellen. Dieses Vokabular ist in diesem Zusammenhang gänzlich ungeeignet. Selbst wenn der später „seine Meldepflicht“ genüge tuende Arbeitskollege den Kläger im Zusammenhang mit dem behaupteten Verzehr einer abgerissenen Ecke eines Stückes Pizza darauf aufmerksam gemacht haben soll, dass dieses nicht korrekt sei, ist weder das Weiteressen und/oder Hinunterschlucken noch der behauptete -erst frühere, dann spätere - Genuss eines Teils eines Gulaschrestes „kaltblütig“. Kaltblütig bedeutet „bestialisch“, „roh“, „abgebrüht“, „skrupellos“,“ ohne Mitgefühl“. Selbst bei einer Antwort „Das merkt doch keiner“ ist eine solche verbale Einordnung unangemessen und auch nicht ansatzweise objektiviert.

Will die Beklagte eine Handlung der hier vorgeworfenen Art für eine - noch dazu fristlose - Kündigung eines langjährigen, unkündbaren Arbeitsverhältnisses ausreichen lassen, hätte sie, da es sich um ein steuerbares Verhalten handelt, dieses vorher jedenfalls im Wege einer Abmahnung verdeutlichen müssen. Ihre auf ein Vermögensdelikt gerichteten Vorwürfe beziehen sich auf eine nahezu wertlose Ecke eines Stückes Pizza und auf den - angeblichen - Teil einer restlichen, ebenfalls nahezu wertlosen Patientenportion Gulasch. Die Richtigkeit der Behauptungen der Beklagten unterstellt, konnte der Kläger schon mangels sich wiederholender einschlägiger Anweisungen, dass auch derartiges Verhalten nicht geduldet werde, nicht ansatzweise damit rechnen, nun ohne jegliche Vorwarnung sofort eine fristlose Kündigung zu erhalten. Es gilt zudem ungeachtet der Existenz einer vorherigen Abmahnung das Übermaßverbot. Das hat die Beklagte nicht beachtet.

Bei der Interessenabwägung ist vor allem auch die langjährige unbeanstandete Betriebszugehörigkeit des Klägers zu bewerten. Der Kläger hat 19 Jahre lang seine Arbeitsleistung ohne Beanstandungen erbracht. Damit hat er ein hohes Maß an Vertrauen aufgebaut. Die lange Beschäftigungszeit und das damit einhergehende erworbene Maß an Vertrauen in die Korrektheit seiner Aufgabenerfüllung und die Achtung der Vermögensinteressen der Beklagten schlagen insoweit regelmäßig hoch zu Buche. Sich bei dem vorliegenden Sachverhalt sofort auf einen vollständigen Vertrauensverlust zu berufen, stellt eine unangemessene Reaktion auf die - streitige - eingetretene Vertragsstörung dar.

Die Beklagte kann auch nicht damit gehört werden, sie müsse künftig ständig damit rechnen, dass der Kläger derartige Vorgehensweisen wiederhole, ohne dass diese ihn wirksam kontrollieren könne. Abgesehen davon, dass die erhobenen Vorwürfe streitig sind, gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger - ggf. nach einer Abmahnung oder klarstellenden Anweisung - künftig an Patientenessen bedienen wird. Es ist rechtlich anerkannt, dass grundsätzlich nicht aus jedem unkorrekten, eigentumsrechtlich relevanten Verhalten eines Arbeitnehmers darauf geschlossen werden kann, dass einem Arbeitnehmer eine an Korrektheit und Ehrlichkeit ausgerichtete Grundhaltung fehlt.

Die Beklagte kann das Erfordernis einer etwaigen Abmahnung in Bezug auf die vorgeworfenen Vermögensdelikte auch nicht damit verneinen, dass sie anführt, der Kläger habe zudem in der Vergangenheit ihm anvertraute Patienten beleidigt. Auch diese behauptete Pflichtverletzung ist streitig. Abgesehen davon hätte sie auch zunächst abgemahnt werden müssen, um überhaupt im Wiederholungsfall einen Kündigungsgrund ergeben zu können. Zudem sind diese behaupteten Pflichtverletzungen im Verhältnis zu den vorgeworfenen Vermögensdelikten nicht einschlägig. Sie sind nach der Überzeugung der Kammer gänzlich ungeeignet, das Fehlen einer Abmahnung aus Anlass der behaupteten streitigen Vertragspflichtverletzungen, die den Bereich von Vermögensverletzungen tangieren, aufzuwiegen.

Die Kammer gewichtet im Rahmen der Interessenabwägung letztendlich auch, dass der Kläger seiner schwerbehinderten, pflegebedürftigen Ehefrau sowie mehreren Kindern gegenüber zum Unterhalt verpflichtet ist. Dem Verweis der Beklagten, der 56jährige Kläger könne auf dem Arbeitsmarkt ohne weiteres einen neuen Arbeitsplatz als Pflegehelfer finden, wird demgegenüber im Rahmen der Interessenabwägung vorliegend keine besondere Bedeutung beigemessen. Ungeachtet der Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung würde der Kläger mit seinem Lebensalter von 56 Jahren bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach 19 Jahren Betriebszugehörigkeit in einem neuen Beschäftigungsverhältnis ohne jeglichen Bestandsschutz beginnen und in seinem Erwerbsleben mit „null“ Schutz erneut starten müssen. Das kann jedenfalls bei einer Pflichtverletzung der vorgeworfenen Art nicht unberücksichtigt bleiben. Diese Auswirkungen sind im Zuge der Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen im Hinblick auf die von der Beklagten vorgeworfenen Pflichtverletzungen unverhältnismäßig.

Aus den genannten Gründen liegt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sowie unter Abwägung der Interessen beider Parteien selbst dann, wenn zugunsten der Beklagten das Verspeisen einer Ecke eines Stückes Pizza sowie eines Teils einer Gulaschrestportion als geschehen unterstellt wird, keine Handlung des Klägers vor, die es der Beklagten als Arbeitgeberin unzumutbar macht, das 19-jährige Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Vorliegend konnte nicht auf eine Abmahnung verzichtet werden. Das Arbeitsgericht hat deshalb der Kündigungsschutzklage zu Recht stattgegeben. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor, so dass die Revision nicht zuzulassen war. Vorliegend handelt es sich ausschließlich um eine Einzelfallentscheidung.

 

Gesetze

Gesetze

7 Gesetze werden in diesem Text zitiert

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Zivilprozessordnung - ZPO | § 97 Rechtsmittelkosten


(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat. (2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vo

Arbeitsgerichtsgesetz - ArbGG | § 72 Grundsatz


(1) Gegen das Endurteil eines Landesarbeitsgerichts findet die Revision an das Bundesarbeitsgericht statt, wenn sie in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts oder in dem Beschluß des Bundesarbeitsgerichts nach § 72a Abs. 5 Satz 2 zugelassen worden ist.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 626 Fristlose Kündigung aus wichtigem Grund


(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unte

Arbeitsgerichtsgesetz - ArbGG | § 69 Urteil


(1) Das Urteil nebst Tatbestand und Entscheidungsgründen ist von sämtlichen Mitgliedern der Kammer zu unterschreiben. § 60 Abs. 1 bis 3 und Abs. 4 Satz 2 bis 4 ist entsprechend mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Frist nach Absatz 4 Satz 3 vier Woch

Artikel zu passenden Rechtsgebieten

Artikel zu Außerordentliche - meist - fristlose Kündigung

Arbeitsrecht: Das muss ein Arbeitgeber bei einer krankheitsbedingten Kündigung berücksichtigen

19.06.2020

In dem Urteil vom 13.08.2019 hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorprommern Grundsätze aufgezeigt, die ein Arbeitgeber bei einer krankheitsbedingten Kündigung beachten muss.  Streifler & Kollegen - Rechtsanwälte - Anwalt für Arbeitsrecht

Arbeitsrecht: fristlose Kündigung bei Beleidigung eines Kollegen

30.01.2018

Beleidigt ein Arbeitnehmer einen Kollegen in einer erheblich ehrverletzenden Art und Weise, verstößt er damit gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis. Dies kann eine außerordentliche fristlose Kündigung rechtfertigen – BSP Rechtsanwälte – Anwältin für Arbeitsrecht Berlin

Arbeitsrecht: Fristlose Kündigung wegen heimlicher Aufnahme eines Personalgesprächs wirksam

18.01.2018

Einem Arbeitnehmer, der zu einem Personalgespräch mit Vorgesetzen und Betriebsrat eingeladen wird und dieses heimlich aufnimmt, kann wirksam fristlos gekündigt werden – BSP Rechtsanwälte – Anwältin für Arbeitsrecht Berlin

Arbeitsrecht: Drohung mit Amoklauf kann fristlose Kündigung rechtfertigen

04.01.2018

Droht ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber mit Gefahren für Leben oder Leben kann dies eine fristlose Kündigung rechtfertigen -  BSP Rechtsanwälte – Anwältin für Arbeitsrecht Berlin

Referenzen

(1) Das Urteil nebst Tatbestand und Entscheidungsgründen ist von sämtlichen Mitgliedern der Kammer zu unterschreiben. § 60 Abs. 1 bis 3 und Abs. 4 Satz 2 bis 4 ist entsprechend mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Frist nach Absatz 4 Satz 3 vier Wochen beträgt und im Falle des Absatzes 4 Satz 4 Tatbestand und Entscheidungsgründe von sämtlichen Mitgliedern der Kammer zu unterschreiben sind.

(2) Im Urteil kann von der Darstellung des Tatbestandes und, soweit das Berufungsgericht den Gründen der angefochtenen Entscheidung folgt und dies in seinem Urteil feststellt, auch von der Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen werden.

(3) Ist gegen das Urteil die Revision statthaft, so soll der Tatbestand eine gedrängte Darstellung des Sach- und Streitstandes auf der Grundlage der mündlichen Vorträge der Parteien enthalten. Eine Bezugnahme auf das angefochtene Urteil sowie auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen ist zulässig, soweit hierdurch die Beurteilung des Parteivorbringens durch das Revisionsgericht nicht wesentlich erschwert wird.

(4) § 540 Abs. 1 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung. § 313a Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozessordnung findet mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass es keiner Entscheidungsgründe bedarf, wenn die Parteien auf sie verzichtet haben; im Übrigen sind die §§ 313a und 313b der Zivilprozessordnung entsprechend anwendbar.

(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

(2) Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Der Kündigende muss dem anderen Teil auf Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilen.

(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat.

(2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vorbringens obsiegt, das sie in einem früheren Rechtszug geltend zu machen imstande war.

(3) (weggefallen)

(1) Gegen das Endurteil eines Landesarbeitsgerichts findet die Revision an das Bundesarbeitsgericht statt, wenn sie in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts oder in dem Beschluß des Bundesarbeitsgerichts nach § 72a Abs. 5 Satz 2 zugelassen worden ist. § 64 Abs. 3a ist entsprechend anzuwenden.

(2) Die Revision ist zuzulassen, wenn

1.
eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts oder, solange eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtsfrage nicht ergangen ist, von einer Entscheidung einer anderen Kammer desselben Landesarbeitsgerichts oder eines anderen Landesarbeitsgerichts abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 547 Nr. 1 bis 5 der Zivilprozessordnung oder eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht wird und vorliegt.

(3) Das Bundesarbeitsgericht ist an die Zulassung der Revision durch das Landesarbeitsgericht gebunden.

(4) Gegen Urteile, durch die über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung eines Arrests oder einer einstweiligen Verfügung entschieden wird, ist die Revision nicht zulässig.

(5) Für das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Revision mit Ausnahme des § 566 entsprechend.

(6) Die Vorschriften der §§ 46c bis 46g, 49 Abs. 1, der §§ 50, 52 und 53, des § 57 Abs. 2, des § 61 Abs. 2 und des § 63 dieses Gesetzes über den elektronischen Rechtsverkehr, Ablehnung von Gerichtspersonen, Zustellung, Öffentlichkeit, Befugnisse des Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter, gütliche Erledigung des Rechtsstreits sowie Inhalt des Urteils und Übersendung von Urteilen in Tarifvertragssachen und des § 169 Absatz 3 und 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen bei der Entscheidungsverkündung gelten entsprechend.