Landgericht Stuttgart Urteil, 20. Apr. 2011 - 13 S 227/10

bei uns veröffentlicht am20.04.2011

Tenor

1. Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 27.09.2010 - 11 C 1219/10 - abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger Ziff. 1 und 2 jeweils 250,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 07.11.2007 zu bezahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Berufungsstreitwert: 500,00 Euro

Gründe

 
I.
Auf die im Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 27.09.2010 getroffenen tatsächlichen Feststellungen wird gem. § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen. Von der Darstellung des Berufungsvorbringens wird gem. § 540 Abs. 2 i.V.m. § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.
II.
Die - nach deren Zulassung durch das Amtsgericht - zulässige Berufung der Kläger ist begründet.
Die Kläger haben gegen die Beklagte jeweils einen Anspruch auf Ausgleichszahlung in der geltend gemachten Höhe entsprechend Artikel 5 Abs. 1 c) i.V.m. Artikel 7 Abs. 1 a) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (im Folgenden: VO EG Nr. 261/2004).
Zunächst findet die VO EG Nr. 261/2004 gemäß deren Artikel 3 auf den vorliegenden Fall Anwendung. Die Kläger hatten bei der Beklagten als Luftfahrtunternehmen für den 11.10.2007 zwei Plätze für den Flug mit der Nummer , der planmäßig von Hamburg um 21.00 Uhr abgehen und in Stuttgart um 22.15 Uhr ankommen sollte, gebucht. Tatsächlich sind die Kläger erst am 12.10.2007 mit dem Flug Nr. abfliegend von Hamburg um 8.10 Uhr nach Stuttgart gelangt.
Wie auch das Amtsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat, ist der klägerseits geltend gemachte Anspruch auf Ausgleichszahlung ferner nicht ausgeschlossen entsprechend Artikel 5 Abs. 3 VO EG Nr. 261/2004. Unabhängig von der Frage, ob im vorliegenden Fall eine - große - Verspätung oder Annullierung des ursprünglich gebuchten Fluges vorgelegen hat, hat die Beklagte nicht nachgewiesen, dass außergewöhnliche Umstände, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, vorgelegen haben. Zwar erachtet die Kammer angesichts der Ausführungen der Beklagtenseite im Schriftsatz vom 08.09.2010 (Bl. 173 ff. d.A.) entgegen der Ansicht des Amtsgerichts die Ursache für den plötzlichen Austritt von Hydrauliköl an der Verschlusskappe des Hauptfahrwerks des Airbus A 319 vor dem geplanten Flug als hinreichend dargelegt. Entgegen den Ausführungen der Beklagten begründet die behauptete ordnungsgemäße Wartung und Instandsetzung des Flugzeugs im Hinblick auf den eingetretenen technischen Defekt allein jedoch keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Artikel 5 Abs. 3 der VO EG Nr. 261/2004, denn der Eintritt eines solchen Defekts ist Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens (vgl. BGH, Urteil vom 12.11.2009, Xa ZR 76/07, NJW 2010, 1070 ff.; EuGH, Urteil vom 22.12.2008, C-549/07 - zitiert nach juris).
Der von den Klägern jeweils geltend gemachte Anspruch ist weiterhin nicht gemäß Artikel 35 Montrealer Übereinkommen ausgeschlossen. Auf den streitgegenständlichen Fall findet das Montrealer Übereinkommen bereits keine Anwendung. Denn die Beförderung zwischen zwei Orten innerhalb des Hoheitsgebiets nur eines Vertragsstaats ohne eine Zwischenlandung im Hoheitsgebiet eines anderen Staates gilt nicht als internationale Beförderung im Sinne dieses Übereinkommens, Artikel 1 Abs. 2 Satz 2 Montrealer Übereinkommen.
Die danach geltende Verjährungsfrist nach deutschem Recht ist gem. § 195 BGB vorliegend noch nicht abgelaufen.
Entgegen den Ausführungen des Amtsgerichts in der angefochtenen Entscheidung ist der von den Klägern jeweils geltend gemachte Anspruch auf der Grundlage der VO EG Nr. 261/2004 in Höhe von zweimal 250,00 Euro auch materiell gegeben. Dabei kann dahinstehen, ob hier - wie die Beklagte behauptet - eine große Verspätung oder - nach der Behauptung der Kläger - eine Annullierung des ursprünglich für den 11.10.2007 vorgesehenen Fluges vorgelegen hat. Denn der EuGH hat mit Urteil vom 19.11.2009 (C-402/07 und C-432/07, RRa 2009, 282 ff. - zitiert nach juris) im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 der VO EG Nr. 261/2004 Fluggäste eines verspäteten Fluges mit einem Zeitverlust von drei Stunden oder mehr - bezogen auf die ursprüngliche Ankunftszeit - denjenigen eines annullierten Fluges gleichgestellt. Da dieser Entscheidung des EuGH zwei mit dem vorliegenden Fall vergleichbare Fälle zugrunde lagen, hat dieses Urteil, dem u.a. ein Vorabentscheidungsverfahren des BGH gemäß Artikel 267 AEUV zugrunde lag (X ZR 95/06, NJW 2007, 3437 ff. - zitiert nach juris), nicht nur die Wirkung inter partes, sondern auch die Wirkung erga omnes. Die einheitliche Anwendung des Unionsrechts („effet utile“) erfordert es, dass - in vergleichbaren Fällen - nationale Gerichte das Unionsrecht in der vom EuGH vorgegebenen Auslegung anwenden (vgl. Wienhues in: Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010, Seite 2390 f.). Die oberste Auslegungskompetenz des EuGH (siehe Thorn in: Palandt, BGB, 70. Aufl. 2011, Vorbemerkung Rom I 1 (IPR) Rdnr. 4) führt danach in Bezug auf die Auslegung von Verordnungen als sekundärem Gemeinschaftsrecht zu einer Bindungswirkung für die nationalen Gerichte im Hinblick auf die grundsätzlich verbindliche Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH (siehe Staudinger/Schürmann, NJW 2010, 2771 ff. - zitiert nach beck-online; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 06.07.2010, 2 BvR 2661/06, NJW 2010, 3422 ff. - zitiert nach juris).
Abgesehen von dieser Bindungswirkung hinsichtlich der Auslegung der VO EG Nr. 261/2004, der sich auch der BGH für die Frage von Ausgleichsansprüchen bei großer Flugverspätung angeschlossen hat (so BGH, Urteil vom 18.02.2010, Xa ZR 95/06 nach erfolgter Vorlage an den EuGH; siehe auch die weitere Vorlage des BGH an den EuGH betreffend Flugverspätungen unterhalb der Grenzen gem. Art. 6 Abs. 1 der VO EG Nr. 261/2004: Beschluss vom 09.12.2010, Xa ZR 80/10 - zitiert nach juris), hält die Kammer die durch den EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009 vorgenommene Auslegung der VO EG Nr. 261/2004 im Hinblick auf einen Ausgleichsanspruch auch für Fälle großer Flugverspätungen für überzeugend. Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts ist gerade bei stark von der Entstehungsgeschichte her geprägten europäischen Verordnungen nicht nur auf die Auslegung nach Wortlaut und Systematik abzustellen. Vielmehr sind europäische Verordnungen und somit auch die VO EG Nr. 261/2004 zudem historisch und teleologisch auszulegen. Aus den Vorerwägungen zu dieser Verordnung, die die vorherige Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ablösen sollte, wird deutlich, dass Sinn und Zweck der Verordnung ist, alle Fluggäste zu schützen, unabhängig davon, ob diese nicht befördert werden oder deren Flug annulliert oder von einer großen Verspätung betroffen ist (vgl. insbesondere die Erwägungsgründe Nrn. 2, 3). Denn aus der Sicht des schützenswerten Fluggastes macht es keinen Unterschied, ob er mit derselben oder einer anderen Maschine zu einem späteren Zeitpunkt befördert wird. Für ihn ist bei einer erheblichen Verzögerung des geplanten Fluges Art und Grund der Verzögerung irrelevant. Nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz, der für das Gemeinschaftsrecht prägend ist, erscheint es damit auch aus der Sicht der Kammer zutreffend, von großen Flugverspätungen betroffene Fluggäste mit denjenigen eines annullierten Fluges gleichzustellen. Andernfalls würden sich auch in der Praxis schwierige Abgrenzungsfragen zwischen großer Verspätung und Annullierung eines Fluges, die ggf. von der Bezeichnung durch das Luftfahrtunternehmen abhingen, ergeben.
10 
Danach folgt die Kammer der durch den EuGH im Urteil vom 19.11.2009 (C-402/07 und C-432/07 - s.o.) vorgenommenen Auslegung der VO EG Nr. 261/04 im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Artikel 5 und 7 dieser Verordnung auch auf Fälle großer Flugverspätungen und schließt sich weiterhin der insoweit ergangenen jüngeren Rechtsprechung des BGH (Xa ZR 95/06, Xa ZR 80/10 - s.o.) an (so auch LG Darmstadt, Urteil vom 16.06.2010, 7 S 200/08, RRa 2010, 275 f. - zitiert nach juris). Die Kläger können mithin von der Beklagten auf der Grundlage der - an keine weiteren Voraussetzungen geknüpften - Art. 5 Abs. 1 c) i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der VO EG Nr. 261/2004 jeweils die Zahlung von 250,00 Euro verlangen.
11 
Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus Verzug, §§ 286, 288 Abs. 1 BGB.
12 
Der Klage war mithin insgesamt stattzugeben.
III.
13 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
14 
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
IV.
15 
Da die Kammer bei der Auslegung der VO EG Nr. 261/2004 betreffend den Ausgleichsanspruch für Gäste von Flügen mit großer Verspätung dem EuGH in der insoweit jüngsten ergangenen Entscheidung vom 19.11.2009 (C-402/07 und C-432/07 - s.o.) folgt, bestand keine Veranlassung, ein Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV durchzuführen.
16 
Es bestand ferner keine Veranlassung, das vorliegende Verfahren auszusetzen im Hinblick auf das Vorlageverfahren des AG Köln (Beschluss vom 03.11.2010, 142 C 535/08 - zitiert nach juris) oder das - erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 30.03.2011 von der Beklagtenseite genannte - Vorlageverfahren des High Court of Justice vom 24.12.2010 (C-629/10 - zitiert nach juris), da nicht ersichtlich ist, dass die jeweils dort zugrunde liegenden Fälle mit dem vorliegenden vergleichbar sind.
17 
Schließlich liegen auch keine Gründe, die Revision gem. § 543 ZPO zuzulassen, vor. Nachdem die Kammer der jüngsten Rechtsprechung des BGH betreffend die Anwendbarkeit des Ausgleichsanspruchs nach der VO EG Nr. 261/2004 auch für Fluggäste, die von großer Verspätung des von ihnen gebuchten Fluges betroffen sind, folgt, erfordern weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Revisionsgerichts. Angesichts dessen, dass die Kammer der Rechtsprechung von EuGH und BGH insoweit folgt und vorliegend ein - weiterer - Einzelfall mit einer Flugverspätung von über drei Stunden bezogen auf die ursprünglich geplante Ankunftszeit vorliegt, hat die Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung.

Urteilsbesprechung zu Landgericht Stuttgart Urteil, 20. Apr. 2011 - 13 S 227/10

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Lastenausgleichsgesetz - LAG

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

Zivilprozessordnung - ZPO | § 91 Grundsatz und Umfang der Kostenpflicht


(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung um
Landgericht Stuttgart Urteil, 20. Apr. 2011 - 13 S 227/10 zitiert 10 §§.

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Tenor 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger. 3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Klägern wird nachgelassen, die Vollstreckung seitens der Beklagten gegen Sicherheit

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Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Klägern wird nachgelassen, die Vollstreckung seitens der Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, es sei denn, die Beklagte leistet vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe.

4. Die Berufung gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Streitwert: 500,- EUR .

Tatbestand

 
Mit der an das Amtsgericht Stuttgart gerichteten Klage vom 30.03.2010 verlangten die beiden Kläger von der Beklagten, einem Luftfahrtunternehmen mit Sitz in K, jeweils die Zahlung von 250,- EUR nebst Zinsen im Hinblick auf den von den Klägern bei der Beklagten gebuchten Flug mit der Nr…., dessen Abflug ab H für 21.00 Uhr geplant war. Planmäßige Ankunft in S war für 22.15 Uhr vorgesehen.
Das Amtsgericht Stuttgart hat auf seine örtliche Unzuständigkeit hingewiesen und den Rechtsstreit schließlich mit Beschluss vom 30.06.2010 auf Antrag der Kläger an das Amtsgericht Nürtingen verwiesen, da der Flughafen S im Bezirk des Amtsgerichts Nürtingen liegt.
Die Kläger haben vorgebracht, der Flug sei gegen Mitternacht kurzfristig abgesagt worden. Erst zu diesem Zeitpunkt sei den Passagieren angeboten worden, wahlweise den ersten oder zweiten Flug, der am folgenden Tag nach S ging, wahrzunehmen. Darauf hin gelangten unstreitig die Kläger am 12.10.2007 mit dem Flug Nr. ..., Abflugszeit 08.10 Uhr in H, an den Ankunftsort Flughafen S.
In der mündlichen Verhandlung vom 13.09.2010, vgl. Bl. 196 ff. d. Gerichtsakten, haben die Kläger kundgetan, dass kurz vor Mitternacht oder kurz nach Mitternacht alle Passagiere im Flugzeug gesessen hätten und auf den Start gewartet hätten. Es habe vielleicht 15 Minuten gedauert, dann sei eine Durchsage aus dem Cockpit gekommen, leider findet der Flug heute Nacht nach S nicht statt, es gebe eine technische Störung.
Die Klägerin Ziffer 1 hat ergänzt, dass sie sich auch noch an das Stichwort „Nachtflugverbot“ erinnere. Es könne aber sein, dass dies von einem Passagier gekommen sei.
Die Kläger haben weiter in der mündlichen Verhandlung kundgetan, dass eine junge Dame von der Beklagten auch den Klägern bekannt gegeben habe, dass es die Möglichkeit gäbe, drei verschiedene Flüge am kommenden Morgen zu benutzen und zwar einen Flug ganz früh am Morgen, so um 06.00 Uhr herum. Hier sei der Vorschlag verbunden gewesen, dass sich die betreffenden Passagiere in einer noch zu öffnenden Halle des Flughafens niederlassen könnten zum Campieren, um auch wirklich pünktlich da zu sein. Ein zweiter Flug wurde angeboten nach 08.00 Uhr, und diesen zweiten Flug hätten die Kläger dann auch genommen. Die Kläger haben sich entschieden, die angebotene Hotelübernachtung in Anspruch zu nehmen und wurden mit einem Taxi ins Hotel gebracht und auch zurück vom Hotel zum Flughafen. Die Kläger haben vorgetragen, es möge sein, dass der 06.00 Uhr-Flug, der angeboten worden sei, ein solcher sei, der nur deswegen angeboten wurde, weil der 21.00 Uhr-Flug am Vortag ausgefallen war.
Die Kläger haben in der Klageschrift sich auf einen Ausgleichsanspruch aus Artikel 7 Abs. I a) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden nur noch Verordnung genannt) wegen großer Verspätung/Annullierung des von ihnen gebuchten Fluges berufen.
Gegenüber dem bereits außergerichtlich von der Beklagten geäußerten Sachvortrag, den die Beklagte im Prozessgeschehen wiederholt hat, dass nämlich der gebuchte Flug Nr. ..., planmäßiger Abflug H 21.00 Uhr, am Folgetag um 04.16 Uhr UTC (06.16 Uhr MEZ) „off-block“ gegangen sei, der Flug sei somit nicht annulliert gewesen, sondern nur verspätet durchgeführt worden, haben die Kläger bereits in der Klageschrift die Auffassung vertreten, hierauf komme es nicht an, weil Fluggästen bei – wie hier – großer Verspätung im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Verordnung ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung nach Artikel 7 zustehe, wie bei einer Annullierung des Fluges. Dabei hat sich die Klägerseite ausdrücklich auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, Aktenzeichen X a ZR 95/06 vom 18.02.2010, sowie die vorangegangene Entscheidung des EuGH, Aktenzeichen C-402/07 und C-432/07 vom 19.11.2009, berufen.
Die Kläger stehen auf dem Standpunkt, die Annullierung oder Verspätung sei nicht auf einem außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Artikel 5 Abs. III der Verordnung beruhend.
10 
Die Kläger haben beantragt , wie folgt für Recht zu erkennen:
11 
Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger jeweils 250,- EUR nebst Zinsen von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz p.a. seit dem 07.11.2007 zu bezahlen.
12 
Die Beklagte hat
13 
Klageabweisung beantragt .
14 
Sie macht geltend, der erhobene Anspruch bestehe bereits mangels Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen von vornherein nicht. Er sei jedenfalls gemäß Artikel 5 Abs. III der Verordnung ausgeschlossen und im Übrigen wegen verspäteter Klageerhebung gemäß Artikel 35 Montrealer Übereinkommen untergegangen.
15 
Im Einzelnen hat die Beklagte sich umfangreich gegen die Gleichstellung von Annullierung und Verspätung (Artikel 5 und Artikel 6 der Verordnung) gewandt und hierzu umfangreiche Ausführungen gemacht, vgl. Schriftsatz vom 19.08.2010, ab Seite 2 bis Seite 29, vgl. Bl. 91/118 d. Gerichtsakten.
16 
Die Beklagte beruft sich weiterhin darauf, dass das Flugzeug mit der Kennung D-, das den Flug Nr. … durchführen sollte, vom Typ A, nach der Landung in H am 11.10.2007 gegen 17.30 Uhr plötzlich einen Austritt von Hydrauliköl an der Verschlusskappe des Hauptfahrwerkes aufgewiesen habe. Da die Hydraulikflüssigkeit mit einer Geschwindigkeit von mehr als 60 Tropfen pro Minute ausgetreten sei, habe das Flugzeug vor seiner weiteren Verwendung zunächst repariert werden müssen und ein weiterer Einsatz sei bis dahin aus Sicherheitsgründen nicht möglich gewesen. Der technische Defekt sei bereits um 23.53 Uhr wieder so behoben gewesen, dass das Fluggerät 2 Std. 53 Min. nach dem planmäßigen Abflug einsatzbereit gewesen sei. Die weitere Verzögerung habe jedoch aufgrund der Nachtflugverbote, insbesondere auf dem Flughafen S, hingenommen werden müssen. Daher sei der Flug eben um 06.16 Uhr am Folgetag verspätet durchgeführt worden. Auf dem Flughafen H habe noch eine Ausnahmegenehmigung für den Start erreicht werden können, aber wegen der nicht durchführbaren Landung in S sei es schließlich zu der tatsächlichen eingetretenen Verzögerung gekommen.
17 
Die Flugzeuge der Beklagten, und so auch der betreffende A, werde von der Beklagten den Herstellerangaben und den behördlichen Auflagen entsprechend regelmäßig und ordnungsgemäß gewartet und instand gesetzt. Der an dem A aufgetretene technische Defekt sei zumindest als außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Artikel 5 Abs. III der Verordnung zu werten.
18 
Nach Auffassung der Beklagten unterliegt der geltend gemachte Anspruch der Ausschlussfrist des Artikels 35 Montrealer Übereinkommen und wegen Nichteinhaltung der 2-Jahres-Frist, gerechnet ab 11.10.2007, sei die Klage verspätet erhoben worden. Der Anspruch, wenn er denn bestanden hätte, sei untergegangen. Vorsorglich erhebt die Beklagte die Einrede der Verjährung.
19 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst beigefügten Anlagen sowie ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung vom 13.09.2010 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
20 
Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
I.
21 
Von vornherein die geltend gemachten Ansprüche, im Hinblick auf Artikel 5 Abs. III der Verordnung, auszuschließen, weil die Beklagte es nachgewiesen habe, dass die Annullierung/Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgehe, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, ist hier nicht gegeben.
22 
Trotz der ausdrücklichen Aufforderung des Gerichts in der Verfügung vom 20.08.2010, dort Seite 2, Buchstabe c), Bl. 148 d. Gerichtsakten, wo nachgefragt wurde, was die Ursache des plötzlichen Austritts von Hydrauliköl an der Verschlusskappe des Hauptfahrwerkes gewesen sein soll, hat sich die Beklagte mit Anwaltsschriftsatz vom 08.09.2010, dort Seite 2, vgl. Bl. 174 d. Gerichtsakten, lediglich dahin erklärt, dass eine Leitung (Flexleitung) defekt gewesen sei. Damit ist die Ursache des Defekts eben nicht erklärt und allein die Beachtung aller vorgeschriebenen oder sonst bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt gebotenen Wartungsarbeiten fristgerechter und ordnungsgemäßer Art begründen für sich gesehen, keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne der genannten Vorschrift, vgl. auch BGH, Urteil vom 12.11.2009, Aktenzeichen X a ZR 76/07.
II.
23 
Ebenfalls der Rechtsprechung des BGH folgend, hier Urteil vom 10.12.2009, Aktenzeichen X a ZR 61/09, verneint das Gericht sowohl den Untergang des möglichen Anspruches auf Ausgleichszahlungen nach der Verordnung im Hinblick auf die Ausschlussfrist des Artikel 35 Abs. I des Montrealer Übereinkommens, sondern vertritt ebenfalls die Auffassung, dass deutsches Sachrecht anwendbar ist und die Regelverjährung nach § 195 BGB (3 Jahre) Platz greift.
III.
24 
Das Gericht ist jedoch aus den nachfolgend dargestellten Erwägungen heraus nicht bereit, bei der Frage, ob eine „Verspätung“ der „Annullierung“ gleich zu erachten ist, den von den Klägern zitierten Entscheidungen des EuGH und des BGH zu folgen. In der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 nimmt dieser nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen zunächst zutreffend an, dass nach der Begrifflichkeit ein verspäteter Flug, unabhängig von der Dauer der Verspätung, auch wenn es sich um eine große Verspätung handelt, nicht als annulliert angesehen werden kann, wenn der Abflug entsprechend der ursprünglichen Flugplanung stattfindet. Wenn daher die Fluggäste mit einem Flug befördert werden, dessen Abflugzeit sich gegenüber der ursprünglich geplanten Abflugzeit verzögert, kann der Flug nur dann als „annulliert“ angesehen werden, wenn das Luftfahrtunternehmen die Fluggäste mit einem anderen Flug befördert, dessen ursprüngliche Planung von der des ursprünglich geplanten Fluges abweicht. Demnach kann grundsätzlich von einer Annullierung ausgegangen werden, wenn der ursprünglich geplante und verspätete Flug auf einen anderen Flug verlegt wird, d. h. wenn die Planung des ursprünglichen Fluges aufgegeben wird und die Fluggäste dieses Fluges zu den Fluggästen eines anderen, ebenfalls geplanten Fluges stoßen und zwar unabhängig von dem Flug, für den die so umgebuchten Fluggäste gebucht hatten, vgl. hierzu die gleichlautenden Ausführungen des EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009, Rdnr. 34-36. Der EuGH hat mithin nach der Begrifflichkeit weiterhin an der Unterscheidung von annulliertem Flug und verspätetem Flug festgehalten.
25 
In den Ausführungen ab der Rdnr. 40 der Entscheidung des EuGH wird zwar konzediert, dass sich aus dem Wortlaut der Verordnung nicht unmittelbar ergibt, dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch zusteht. Der EuGH weist jedoch darauf hin, dass die Möglichkeit der Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“, unter denen die Luftfahrtunternehmen von der Ausgleichszahlung nach Artikel 7 der Verordnung EG Nr. 261/2004 frei werden könnten, zwar nur in Artikel 5 Abs. III der Verordnung vorgesehen sei, der die Annullierung eines Fluges betrifft, doch heiße es im 15. Erwägungsgrund der Verordnung (die Erwägungsgründe sind dieser vorangestellt), dass dieser Rechtfertigungsgrund (außergewöhnliche Umstände) auch dann geltend gemacht werden könne, wenn eine Entscheidung des Flugmanagements zu einem einzelnem Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge habe, dass es zu einer „großen Verspätung – oder – einer Verspätung bis zum nächsten Tag“ komme. Da der Begriff der großen Verspätung im Kontext der außergewöhnlichen Umstände genannt sei, sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch ihn mit dem Ausgleichsanspruch verknüpft habe.
26 
Implizit werde dies durch das Ziel der Verordnung bestätigt, da sich aus den ersten vier Erwägungsgründen und insbesondere aus dem 2. Erwägungsgrund dieser Verordnung ergäbe, dass sie darauf abziele, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder einer Annullierung oder Verspätung eines Fluges betroffen seien, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind.
27 
Dies gelte umso mehr, als die Vorschriften, mit denen den Fluggästen Ansprüche eingeräumt werden, einschließlich derjenigen, die einen Ausgleichsanspruch vorsehen, weit auszulegen seien. Unter diesen Umständen könne nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass die Fluggäste verspäteter Flüge keinen Ausgleichsanspruch haben und im Hinblick auf die Anerkennung eines solchen Anspruches nicht den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können.
28 
Insgesamt spricht sich der EuGH im Hinblick auf die bedeutende Verspätung dafür aus, dass die Situation von Fluggästen verspäteter Flüge mit der von annullierten Flügen zu vergleichen sei. Mit diesen Maßnahmen solle die Verordnung unter anderem den Schaden ausgleichen, der in einem Zeitverlust der betroffenen Fluggäste besteht und der angesichts seines irreversiblen Charakters nur mit einer Ausgleichszahlung ersetzt werden könne.
29 
Der EuGH stellt heraus, dass eine unterschiedliche Behandlung der mit einem annullierten Flug konfrontierten Fluggäste oder von einer großen Verspätung des Fluges betroffenen Fluggäste durch keine objektive Erwägung gerechtfertigt werden könne.
30 
Eine unterschiedliche Behandlung sieht der EuGH als Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot an.
31 
Der EuGH ist der Auffassung, dass diese Schlussfolgerung nicht dadurch widerlegt werde, dass Artikel 6 der Verordnung für die Fluggäste verspäteter Flüge verschiedene Formen von Unterstützungsleistungen nach den Artikeln 8 und 9 der Verordnung vorsehe.
32 
Dem allem vermag das Amtsgericht Nürtingen nicht zu folgen.
33 
Gegen die vom EuGH vorgenommene Auslegung spricht bereits der Wortlaut, nämlich Artikel 1 der Verordnung, der die Fallgruppen a) Nichtbeförderung gegen den Willen der Fluggäste, b) Annullierung des Fluges und c) Verspätung des Fluges voneinander unterscheidet. Die Unterscheidung dieser Begriffe ist sinnlos, wenn anschließend durch Richterrecht die unterschiedlichen Rechtsfolgen wieder eingeebnet würden. Der Verordnungsgeber hat mit der akribischen Begrifflichkeit seinen Willen klar ausgedrückt, unter welchen Umständen welche Leistungen die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen zu erbringen haben, und hat damit seinen politischen Willen in Gesetzesform gegossen.
34 
Für den Fall der Nichtbeförderung wird gemäß Artikel 4 Abs. III in vollem Umfang auf den Anspruch der Fluggäste auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9 verwiesen.
35 
Im Falle der Annullierung wird gem. Artikel 5 auf die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 verwiesen, sowie die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Abs. I a) und Abs. II. Es handelt sich bei Artikel 5 mit den weiteren Bestimmungen um ein filigranes System der Ansprüche, bezüglich derer der Rechtsanwender nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen davon ausgehen muss, dass es einer Interessenabwägung des Gesetzgebers entsprungen ist und nach dem Prinzip der Gewaltenteilung der Richter sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen darf, wenn ihm bestimmte Ergebnisse der Regelung nicht gefallen. Der Richter ist jeweils Rechtsanwender, jedoch nicht Ersatzgesetzgeber. Eine Regelungslücke in dem Normengebilde der Verordnung ist von vornherein nicht auszumachen, da die Verordnung per se nur fragmentarischen Charakter hat und keine „ungeplante“ Regelungslücke aufweist.
36 
Ein Hauptargument des EuGH für die Gleichstellung von Verspätung und Annullierung bei größerer Verspätung ist die Formulierung der Vorerwägungen in Nr. 15. Es heißt dort „Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Fluges zu einer großen Verspätung, oder Verspätung bis zum nächsten Tag, oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“
37 
Es mutet schon eigenartig an, dass das Bemühen des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich des in dem Erwägungsgrund Nr. 14 versuchsweise näher definierten Begriff der „außergewöhnlichen Umstände“ im Erwägungsgrund Nr. 15 zur Einschränkung von Ansprüchen zu umschreiben, dazu benutzt wird, aus der Sicht des Amtsgerichts Nürtingen explizit in der eigentlichen Verordnung nicht zugebilligte Ansprüche durch Richterrecht zu kreieren. Der gesetzgeberische Wille des Verordnungsgebers hat sich im Wortlaut der Verordnung manifestiert und dort wurde die Feinabgrenzung vorgenommen, mögen auch die vorangestellten Erwägungen die Motive für den Erlass der Verordnung umschreiben.
38 
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die für den Verspätungsfall in Artikel 6 der Verordnung im Einzelnen aufgeführten Unterstützungsleistungen, insbesondere die Betreuungsleistungen, die in Artikel 9 genannt sind, auch bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen, weder beschränkt noch ausgeschlossen werden. Das bedeutet, der Verordnungsgeber hat, entgegen den Vorerwägungen in Nr. 14, etwa im Fall der mehrnächtigen Hotelunterbringung, dem Flugunternehmen das unentgeltliche Anbieten dieser Leistung auferlegt. Insoweit findet in der Verordnung weder eine Beschränkung noch ein Ausschluss statt. Als Beispiel sei hier genannt, die Situation der mehrtägigen Unterbrechung des Flugverkehres durch die Folgen eines größeren Vulkanausbruchs mit den entsprechenden Folgen für die Lahmlegung des Flugverkehrs. Hier ist für Jedermann ersichtlich, dass für diese Störungsart die Flugunternehmung keinerlei Verschulden oder auch nur eine nach Beherrschungsräumen abgegrenzte Verantwortung zukommen kann und dennoch hat der Verordnungsgeber es für richtig befunden, den Fluggästen den Anspruch auf unentgeltliche Betreuungsleistungen zuzubilligen. Nach dem Wortlaut der Verordnung werden in dem beschriebenen Falle die annullierungsbetroffenen Fluggäste mit den verspätungsbetroffenen Fluggästen gleich behandelt.
39 
In dem hier zur Entscheidung anstehenden Fall hat die Beklagte den Fluggästen zur Wahl gestellt, über die Regelung der Verordnung hinaus, ob sie den dann doch noch durchgeführten Flug ab H um 06.16 Uhr wahrnehmen wollen (ohne Hotelunterbringung) und sie aufgrund des Zeitablaufes im Flughafengebäude auf den Frühflug, der der verspätete Flug war, warten wollen, wofür sich im konkreten Falle etliche andere Fluggäste entschieden haben, oder ob sie den weiteren planmäßigen Flug …, Abflugzeit 08.10 Uhr ( mit Hotelunterbringung) ersatzweise wahrnehmen wollen, wofür sich die Kläger entschieden haben.
40 
Ein Blick in die Nomenklatur der übrigen Vorerwägungen zur Verordnung ergibt, dass die Folgen der unterschiedlichen Kategorien (Nichtbeförderung, Annullierung und große Verspätung, vgl. Erwägungsgrund Nr. 2) in unterschiedlicher Weise angesprochen sind.
41 
So ist etwa im Erwägungsgrund Nr. 9 im Falle der Nichtbeförderung von einer vollwertigen Ausgleichsleistung die Rede. Auch im Erwägungsgrund Nr. 12 ist im Satz 3 von einem Ausgleich die Rede, den die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen zu leisten hätten, wobei hier nur der Fall der Annullierung angesprochen ist, und als Korrelat mit Rücksichtnahme auf die Interessen der Luftfahrtunternehmungen dieser wieder entfallen solle, wenn die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
42 
Sämtliche Vorerwägungen lassen nicht erkennen, dass Ausgleichsleistungen im Falle von Nur-Verspätungen auch nur andeutungsweise angesprochen werden.
43 
Vielmehr ist in Nr. 17 der Vorerwägungen formuliert „Fluggäste, deren Flüge sich um eine bestimmte Zeit verspäten, sollten angemessen betreut werden und es sollte ihnen möglich sein, ihre Flüge unter Rückerstattung des Flugpreises zu stornieren, oder diese unter zufriedenstellenden Bedingungen fortzusetzen.“ Von einer Ausgleichsleistung ist im Verspätungsfalle, jedenfalls bei genauer Lektüre der Vorerwägungen, überhaupt nicht die Rede.
44 
Für die Verspätungsfälle, sieht in Erfüllung der Vorerwägung Nr. 17, Artikel 6, in abgestufter Weise, Unterstützungsleistungen (Betreuungsleistungen) vor, indem auf Artikel 9 Bezug genommen wird. Auch die Stornierungsmöglichkeit des Fluges durch den Fluggast unter Rückerstattung des Flugpreises ist über Artikel 6 Abs. I lit. iii) in Verbindung mit Artikel 8 Abs. I lit. a) der Verordnung angesprochen, während bereits eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühest möglichen Zeitpunkt oder eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze, schon gar nicht mehr vorgesehen ist. Im hier entschiedenen Fall hat die Beklagte jedoch genau das den Klägern angeboten und die Kläger haben davon Gebrauch gemacht.
45 
Für das Gericht steht es nach den vorstehenden Ausführungen außer Frage, dass die Verordnung auch unter Berücksichtigung der Vorerwägungen für den Verspätungsfall eine Ausgleichszahlung im Sinne von Artikel 7 der Verordnung weder ausdrücklich vorsieht, noch in analoger Anwendung dieser Vorschrift bejaht werden kann.
46 
Auch eine darüber hinaus vorgenommene Interessenabwägung führt nicht dazu, gewillkürte Nichtbeförderung oder die Annullierung mit dem Verspätungsfall gleich zu setzen. Im Verspätungsfall hat sich das Luftfahrtunternehmen, jedenfalls im Anwendungsbereich der Verordnung, im Ergebnis erfolgreich bemüht, die Ursachen für die Verspätung in der Weise zu beseitigen, dass der ursprünglich geplante Flug dann doch noch durchgeführt wird, während im Nichtbeförderungsfall eine gewillkürte Verweigerung der Mitnahme des Fluggastes stattgefunden hat und im Fall der Annullierung der gesamte Flug zur Nichtdurchführung kam.
47 
Dieser entscheidende Unterschied, der im Falle der Verspätung mit Sicherheit mit Zusatzkosten auf Seiten des Flugunternehmens verbunden ist, hat für das Amtsgericht Nürtingen nachvollziehbar zur aufgezeigten Differenzierung der Fallgestaltungen, Nichtbeförderung – Annullierung und Verspätung, geführt. Eine Gleichsetzung, in Ansehung der Ausgleichsregelung, von Annullierung und Verspätung, wenn nur die Verspätung lange genug dauert, so wie es der EuGH für Recht befunden hat, ist nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen weder nach den Vorerwägungsgründen, noch nach dem Wortlaut der Verordnung möglich.
48 
Da im hier zu entscheidenden Falle die Kläger im Ergebnis nicht unter Beweis gestellt haben, dass der Flug tatsächlich ersatzlos annulliert wurde, vielmehr die Kläger in der mündlichen Verhandlung Bekundungen von sich gegeben haben, die die Darstellung der Beklagten für zutreffend halten lassen (Durchführung eines sonst nicht geplanten Fluges ab H am 12.10.2007 um 06.16 Uhr), geht das Gericht von einem Verspätungsfall aus, der eine Ausgleichszahlung in Höhe der verlangten jeweils 250,- EUR nicht nach sich zieht.
49 
Nach allem war die Klage abzuweisen.
50 
Die Kostentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
51 
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils stützt sich auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
52 
Das Amtsgericht Nürtingen ist sich bewusst, dass mit dieser Entscheidung von der oben zitierten Entscheidung des EuGH bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht abgewichen wird.
53 
Im Hinblick auf § 511 Abs. IV Nr. 1 und Nr. 2 ZPO hat das Gericht die Berufung zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert.
54 
Nachdem die Berufung zugelassen wurde, war das Amtsgericht Nürtingen zur Anrufung des EuGH gemäß Artikel 234 Abs. III des Vertrages zur Gründung zur Europäischen Gemeinschaft nicht verpflichtet.
55 
Es bleibt vielmehr dem weiteren Gang des Verfahrens vorbehalten, ob es zu einer Anrufung des EuGH kommt oder nicht.

Gründe

 
20 
Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
I.
21 
Von vornherein die geltend gemachten Ansprüche, im Hinblick auf Artikel 5 Abs. III der Verordnung, auszuschließen, weil die Beklagte es nachgewiesen habe, dass die Annullierung/Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgehe, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, ist hier nicht gegeben.
22 
Trotz der ausdrücklichen Aufforderung des Gerichts in der Verfügung vom 20.08.2010, dort Seite 2, Buchstabe c), Bl. 148 d. Gerichtsakten, wo nachgefragt wurde, was die Ursache des plötzlichen Austritts von Hydrauliköl an der Verschlusskappe des Hauptfahrwerkes gewesen sein soll, hat sich die Beklagte mit Anwaltsschriftsatz vom 08.09.2010, dort Seite 2, vgl. Bl. 174 d. Gerichtsakten, lediglich dahin erklärt, dass eine Leitung (Flexleitung) defekt gewesen sei. Damit ist die Ursache des Defekts eben nicht erklärt und allein die Beachtung aller vorgeschriebenen oder sonst bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt gebotenen Wartungsarbeiten fristgerechter und ordnungsgemäßer Art begründen für sich gesehen, keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne der genannten Vorschrift, vgl. auch BGH, Urteil vom 12.11.2009, Aktenzeichen X a ZR 76/07.
II.
23 
Ebenfalls der Rechtsprechung des BGH folgend, hier Urteil vom 10.12.2009, Aktenzeichen X a ZR 61/09, verneint das Gericht sowohl den Untergang des möglichen Anspruches auf Ausgleichszahlungen nach der Verordnung im Hinblick auf die Ausschlussfrist des Artikel 35 Abs. I des Montrealer Übereinkommens, sondern vertritt ebenfalls die Auffassung, dass deutsches Sachrecht anwendbar ist und die Regelverjährung nach § 195 BGB (3 Jahre) Platz greift.
III.
24 
Das Gericht ist jedoch aus den nachfolgend dargestellten Erwägungen heraus nicht bereit, bei der Frage, ob eine „Verspätung“ der „Annullierung“ gleich zu erachten ist, den von den Klägern zitierten Entscheidungen des EuGH und des BGH zu folgen. In der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 nimmt dieser nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen zunächst zutreffend an, dass nach der Begrifflichkeit ein verspäteter Flug, unabhängig von der Dauer der Verspätung, auch wenn es sich um eine große Verspätung handelt, nicht als annulliert angesehen werden kann, wenn der Abflug entsprechend der ursprünglichen Flugplanung stattfindet. Wenn daher die Fluggäste mit einem Flug befördert werden, dessen Abflugzeit sich gegenüber der ursprünglich geplanten Abflugzeit verzögert, kann der Flug nur dann als „annulliert“ angesehen werden, wenn das Luftfahrtunternehmen die Fluggäste mit einem anderen Flug befördert, dessen ursprüngliche Planung von der des ursprünglich geplanten Fluges abweicht. Demnach kann grundsätzlich von einer Annullierung ausgegangen werden, wenn der ursprünglich geplante und verspätete Flug auf einen anderen Flug verlegt wird, d. h. wenn die Planung des ursprünglichen Fluges aufgegeben wird und die Fluggäste dieses Fluges zu den Fluggästen eines anderen, ebenfalls geplanten Fluges stoßen und zwar unabhängig von dem Flug, für den die so umgebuchten Fluggäste gebucht hatten, vgl. hierzu die gleichlautenden Ausführungen des EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009, Rdnr. 34-36. Der EuGH hat mithin nach der Begrifflichkeit weiterhin an der Unterscheidung von annulliertem Flug und verspätetem Flug festgehalten.
25 
In den Ausführungen ab der Rdnr. 40 der Entscheidung des EuGH wird zwar konzediert, dass sich aus dem Wortlaut der Verordnung nicht unmittelbar ergibt, dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch zusteht. Der EuGH weist jedoch darauf hin, dass die Möglichkeit der Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“, unter denen die Luftfahrtunternehmen von der Ausgleichszahlung nach Artikel 7 der Verordnung EG Nr. 261/2004 frei werden könnten, zwar nur in Artikel 5 Abs. III der Verordnung vorgesehen sei, der die Annullierung eines Fluges betrifft, doch heiße es im 15. Erwägungsgrund der Verordnung (die Erwägungsgründe sind dieser vorangestellt), dass dieser Rechtfertigungsgrund (außergewöhnliche Umstände) auch dann geltend gemacht werden könne, wenn eine Entscheidung des Flugmanagements zu einem einzelnem Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge habe, dass es zu einer „großen Verspätung – oder – einer Verspätung bis zum nächsten Tag“ komme. Da der Begriff der großen Verspätung im Kontext der außergewöhnlichen Umstände genannt sei, sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch ihn mit dem Ausgleichsanspruch verknüpft habe.
26 
Implizit werde dies durch das Ziel der Verordnung bestätigt, da sich aus den ersten vier Erwägungsgründen und insbesondere aus dem 2. Erwägungsgrund dieser Verordnung ergäbe, dass sie darauf abziele, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder einer Annullierung oder Verspätung eines Fluges betroffen seien, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind.
27 
Dies gelte umso mehr, als die Vorschriften, mit denen den Fluggästen Ansprüche eingeräumt werden, einschließlich derjenigen, die einen Ausgleichsanspruch vorsehen, weit auszulegen seien. Unter diesen Umständen könne nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass die Fluggäste verspäteter Flüge keinen Ausgleichsanspruch haben und im Hinblick auf die Anerkennung eines solchen Anspruches nicht den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können.
28 
Insgesamt spricht sich der EuGH im Hinblick auf die bedeutende Verspätung dafür aus, dass die Situation von Fluggästen verspäteter Flüge mit der von annullierten Flügen zu vergleichen sei. Mit diesen Maßnahmen solle die Verordnung unter anderem den Schaden ausgleichen, der in einem Zeitverlust der betroffenen Fluggäste besteht und der angesichts seines irreversiblen Charakters nur mit einer Ausgleichszahlung ersetzt werden könne.
29 
Der EuGH stellt heraus, dass eine unterschiedliche Behandlung der mit einem annullierten Flug konfrontierten Fluggäste oder von einer großen Verspätung des Fluges betroffenen Fluggäste durch keine objektive Erwägung gerechtfertigt werden könne.
30 
Eine unterschiedliche Behandlung sieht der EuGH als Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot an.
31 
Der EuGH ist der Auffassung, dass diese Schlussfolgerung nicht dadurch widerlegt werde, dass Artikel 6 der Verordnung für die Fluggäste verspäteter Flüge verschiedene Formen von Unterstützungsleistungen nach den Artikeln 8 und 9 der Verordnung vorsehe.
32 
Dem allem vermag das Amtsgericht Nürtingen nicht zu folgen.
33 
Gegen die vom EuGH vorgenommene Auslegung spricht bereits der Wortlaut, nämlich Artikel 1 der Verordnung, der die Fallgruppen a) Nichtbeförderung gegen den Willen der Fluggäste, b) Annullierung des Fluges und c) Verspätung des Fluges voneinander unterscheidet. Die Unterscheidung dieser Begriffe ist sinnlos, wenn anschließend durch Richterrecht die unterschiedlichen Rechtsfolgen wieder eingeebnet würden. Der Verordnungsgeber hat mit der akribischen Begrifflichkeit seinen Willen klar ausgedrückt, unter welchen Umständen welche Leistungen die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen zu erbringen haben, und hat damit seinen politischen Willen in Gesetzesform gegossen.
34 
Für den Fall der Nichtbeförderung wird gemäß Artikel 4 Abs. III in vollem Umfang auf den Anspruch der Fluggäste auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9 verwiesen.
35 
Im Falle der Annullierung wird gem. Artikel 5 auf die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 verwiesen, sowie die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Abs. I a) und Abs. II. Es handelt sich bei Artikel 5 mit den weiteren Bestimmungen um ein filigranes System der Ansprüche, bezüglich derer der Rechtsanwender nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen davon ausgehen muss, dass es einer Interessenabwägung des Gesetzgebers entsprungen ist und nach dem Prinzip der Gewaltenteilung der Richter sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen darf, wenn ihm bestimmte Ergebnisse der Regelung nicht gefallen. Der Richter ist jeweils Rechtsanwender, jedoch nicht Ersatzgesetzgeber. Eine Regelungslücke in dem Normengebilde der Verordnung ist von vornherein nicht auszumachen, da die Verordnung per se nur fragmentarischen Charakter hat und keine „ungeplante“ Regelungslücke aufweist.
36 
Ein Hauptargument des EuGH für die Gleichstellung von Verspätung und Annullierung bei größerer Verspätung ist die Formulierung der Vorerwägungen in Nr. 15. Es heißt dort „Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Fluges zu einer großen Verspätung, oder Verspätung bis zum nächsten Tag, oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“
37 
Es mutet schon eigenartig an, dass das Bemühen des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich des in dem Erwägungsgrund Nr. 14 versuchsweise näher definierten Begriff der „außergewöhnlichen Umstände“ im Erwägungsgrund Nr. 15 zur Einschränkung von Ansprüchen zu umschreiben, dazu benutzt wird, aus der Sicht des Amtsgerichts Nürtingen explizit in der eigentlichen Verordnung nicht zugebilligte Ansprüche durch Richterrecht zu kreieren. Der gesetzgeberische Wille des Verordnungsgebers hat sich im Wortlaut der Verordnung manifestiert und dort wurde die Feinabgrenzung vorgenommen, mögen auch die vorangestellten Erwägungen die Motive für den Erlass der Verordnung umschreiben.
38 
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die für den Verspätungsfall in Artikel 6 der Verordnung im Einzelnen aufgeführten Unterstützungsleistungen, insbesondere die Betreuungsleistungen, die in Artikel 9 genannt sind, auch bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen, weder beschränkt noch ausgeschlossen werden. Das bedeutet, der Verordnungsgeber hat, entgegen den Vorerwägungen in Nr. 14, etwa im Fall der mehrnächtigen Hotelunterbringung, dem Flugunternehmen das unentgeltliche Anbieten dieser Leistung auferlegt. Insoweit findet in der Verordnung weder eine Beschränkung noch ein Ausschluss statt. Als Beispiel sei hier genannt, die Situation der mehrtägigen Unterbrechung des Flugverkehres durch die Folgen eines größeren Vulkanausbruchs mit den entsprechenden Folgen für die Lahmlegung des Flugverkehrs. Hier ist für Jedermann ersichtlich, dass für diese Störungsart die Flugunternehmung keinerlei Verschulden oder auch nur eine nach Beherrschungsräumen abgegrenzte Verantwortung zukommen kann und dennoch hat der Verordnungsgeber es für richtig befunden, den Fluggästen den Anspruch auf unentgeltliche Betreuungsleistungen zuzubilligen. Nach dem Wortlaut der Verordnung werden in dem beschriebenen Falle die annullierungsbetroffenen Fluggäste mit den verspätungsbetroffenen Fluggästen gleich behandelt.
39 
In dem hier zur Entscheidung anstehenden Fall hat die Beklagte den Fluggästen zur Wahl gestellt, über die Regelung der Verordnung hinaus, ob sie den dann doch noch durchgeführten Flug ab H um 06.16 Uhr wahrnehmen wollen (ohne Hotelunterbringung) und sie aufgrund des Zeitablaufes im Flughafengebäude auf den Frühflug, der der verspätete Flug war, warten wollen, wofür sich im konkreten Falle etliche andere Fluggäste entschieden haben, oder ob sie den weiteren planmäßigen Flug …, Abflugzeit 08.10 Uhr ( mit Hotelunterbringung) ersatzweise wahrnehmen wollen, wofür sich die Kläger entschieden haben.
40 
Ein Blick in die Nomenklatur der übrigen Vorerwägungen zur Verordnung ergibt, dass die Folgen der unterschiedlichen Kategorien (Nichtbeförderung, Annullierung und große Verspätung, vgl. Erwägungsgrund Nr. 2) in unterschiedlicher Weise angesprochen sind.
41 
So ist etwa im Erwägungsgrund Nr. 9 im Falle der Nichtbeförderung von einer vollwertigen Ausgleichsleistung die Rede. Auch im Erwägungsgrund Nr. 12 ist im Satz 3 von einem Ausgleich die Rede, den die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen zu leisten hätten, wobei hier nur der Fall der Annullierung angesprochen ist, und als Korrelat mit Rücksichtnahme auf die Interessen der Luftfahrtunternehmungen dieser wieder entfallen solle, wenn die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
42 
Sämtliche Vorerwägungen lassen nicht erkennen, dass Ausgleichsleistungen im Falle von Nur-Verspätungen auch nur andeutungsweise angesprochen werden.
43 
Vielmehr ist in Nr. 17 der Vorerwägungen formuliert „Fluggäste, deren Flüge sich um eine bestimmte Zeit verspäten, sollten angemessen betreut werden und es sollte ihnen möglich sein, ihre Flüge unter Rückerstattung des Flugpreises zu stornieren, oder diese unter zufriedenstellenden Bedingungen fortzusetzen.“ Von einer Ausgleichsleistung ist im Verspätungsfalle, jedenfalls bei genauer Lektüre der Vorerwägungen, überhaupt nicht die Rede.
44 
Für die Verspätungsfälle, sieht in Erfüllung der Vorerwägung Nr. 17, Artikel 6, in abgestufter Weise, Unterstützungsleistungen (Betreuungsleistungen) vor, indem auf Artikel 9 Bezug genommen wird. Auch die Stornierungsmöglichkeit des Fluges durch den Fluggast unter Rückerstattung des Flugpreises ist über Artikel 6 Abs. I lit. iii) in Verbindung mit Artikel 8 Abs. I lit. a) der Verordnung angesprochen, während bereits eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühest möglichen Zeitpunkt oder eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze, schon gar nicht mehr vorgesehen ist. Im hier entschiedenen Fall hat die Beklagte jedoch genau das den Klägern angeboten und die Kläger haben davon Gebrauch gemacht.
45 
Für das Gericht steht es nach den vorstehenden Ausführungen außer Frage, dass die Verordnung auch unter Berücksichtigung der Vorerwägungen für den Verspätungsfall eine Ausgleichszahlung im Sinne von Artikel 7 der Verordnung weder ausdrücklich vorsieht, noch in analoger Anwendung dieser Vorschrift bejaht werden kann.
46 
Auch eine darüber hinaus vorgenommene Interessenabwägung führt nicht dazu, gewillkürte Nichtbeförderung oder die Annullierung mit dem Verspätungsfall gleich zu setzen. Im Verspätungsfall hat sich das Luftfahrtunternehmen, jedenfalls im Anwendungsbereich der Verordnung, im Ergebnis erfolgreich bemüht, die Ursachen für die Verspätung in der Weise zu beseitigen, dass der ursprünglich geplante Flug dann doch noch durchgeführt wird, während im Nichtbeförderungsfall eine gewillkürte Verweigerung der Mitnahme des Fluggastes stattgefunden hat und im Fall der Annullierung der gesamte Flug zur Nichtdurchführung kam.
47 
Dieser entscheidende Unterschied, der im Falle der Verspätung mit Sicherheit mit Zusatzkosten auf Seiten des Flugunternehmens verbunden ist, hat für das Amtsgericht Nürtingen nachvollziehbar zur aufgezeigten Differenzierung der Fallgestaltungen, Nichtbeförderung – Annullierung und Verspätung, geführt. Eine Gleichsetzung, in Ansehung der Ausgleichsregelung, von Annullierung und Verspätung, wenn nur die Verspätung lange genug dauert, so wie es der EuGH für Recht befunden hat, ist nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen weder nach den Vorerwägungsgründen, noch nach dem Wortlaut der Verordnung möglich.
48 
Da im hier zu entscheidenden Falle die Kläger im Ergebnis nicht unter Beweis gestellt haben, dass der Flug tatsächlich ersatzlos annulliert wurde, vielmehr die Kläger in der mündlichen Verhandlung Bekundungen von sich gegeben haben, die die Darstellung der Beklagten für zutreffend halten lassen (Durchführung eines sonst nicht geplanten Fluges ab H am 12.10.2007 um 06.16 Uhr), geht das Gericht von einem Verspätungsfall aus, der eine Ausgleichszahlung in Höhe der verlangten jeweils 250,- EUR nicht nach sich zieht.
49 
Nach allem war die Klage abzuweisen.
50 
Die Kostentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
51 
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils stützt sich auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
52 
Das Amtsgericht Nürtingen ist sich bewusst, dass mit dieser Entscheidung von der oben zitierten Entscheidung des EuGH bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht abgewichen wird.
53 
Im Hinblick auf § 511 Abs. IV Nr. 1 und Nr. 2 ZPO hat das Gericht die Berufung zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert.
54 
Nachdem die Berufung zugelassen wurde, war das Amtsgericht Nürtingen zur Anrufung des EuGH gemäß Artikel 234 Abs. III des Vertrages zur Gründung zur Europäischen Gemeinschaft nicht verpflichtet.
55 
Es bleibt vielmehr dem weiteren Gang des Verfahrens vorbehalten, ob es zu einer Anrufung des EuGH kommt oder nicht.

(1) Anstelle von Tatbestand und Entscheidungsgründen enthält das Urteil

1.
die Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen,
2.
eine kurze Begründung für die Abänderung, Aufhebung oder Bestätigung der angefochtenen Entscheidung.
Wird das Urteil in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen worden ist, verkündet, so können die nach Satz 1 erforderlichen Darlegungen auch in das Protokoll aufgenommen werden.

(2) Die §§ 313a, 313b gelten entsprechend.

Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
X ZR 95/06 Verkündet am:
17. Juli 2007
Potsch
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte) Artt. 2 lit. l, 5 Abs. 1 lit. c, 7
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden zur Auslegung von
Artt. 2 lit. l, 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung
für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der
Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und
zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist bei der Auslegung des Begriffs "Annullierung" entscheidend
darauf abzustellen, ob die ursprüngliche Flugplanung aufgegeben
wird, so dass eine Verzögerung unabhängig von ihrer Dauer
keine Annullierung darstellt, wenn die Fluggesellschaft die Planung
des ursprünglichen Fluges nicht aufgibt?
2. Falls die Frage zu 1 verneint wird: Unter welchen Umständen ist
eine Verzögerung des geplanten Fluges nicht mehr als Verspätung
, sondern als Annullierung zu behandeln? Hängt die Beantwortung
dieser Frage von der Dauer der Verspätung ab?
BGH, Beschl. v. 17. Juli 2007 - X ZR 95/06 - LG Darmstadt.
AG Rüsselsheim
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 17. Juli 2007 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den Richter
Keukenschrijver, die Richterinnen Ambrosius und Mühlens und den Richter
Gröning

beschlossen:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden zur Auslegung von Artt. 2 lit. l, 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs - und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist bei der Auslegung des Begriffs "Annullierung" entscheidend darauf abzustellen, ob die ursprüngliche Flugplanung aufgegeben wird, so dass eine Verzögerung unabhängig von ihrer Dauer keine Annullierung darstellt, wenn die Fluggesellschaft die Planung des ursprünglichen Fluges nicht aufgibt ? 2. Falls die Frage zu 1 verneint wird: Unter welchen Umständen ist eine Verzögerung des geplanten Fluges nicht mehr als Verspätung, sondern als Annullierung zu behandeln? Hängt die Beantwortung dieser Frage von der Dauer der Verspätung ab?

Gründe:


1
I. Die Kläger verlangen von der beklagten Charterfluggesellschaft unter anderem Ausgleichszahlungen nach Art. 7 VO (EG) 261/2004 (im Folgenden: VO), weil sie mit einer Verspätung von etwa 25 Stunden am Zielflughafen ankamen.
2
Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau, die ihre Ansprüche an ihn abgetreten hat, buchten für sich und ihre beiden Kinder, die Kläger zu 2 und 3, bei der Beklagten einen Flug von F. nach T. und zurück. Der für den 9. Juli 2005 mit der Abflugzeit 16:20 Uhr gebuchte Rückflug von T. erfolgte erst am nächsten Tag; die Kläger kamen etwa 25 Stunden später als geplant am 11. Juli 2005 um 7:00 oder 7:15 Uhr in F. an. Sie tragen vor, dass am 9. Juli 2005 gegen 23:30 Uhr der Flugkapitän mitgeteilt habe, der Flug werde annulliert ("cancelled"). So stand es auch auf der Anzeigetafel. Das bereits abgegebene Gepäck wurde den Fluggästen gegen Mitternacht wieder ausgehändigt. Sie wurden per Bus zur Übernachtung in ein Hotel gebracht, wo sie erst gegen 2:30 Uhr eintrafen. Am nächsten Tage mussten sie - am Schalter einer anderen Fluggesellschaft - erneut einchecken, erhielten andere Sitzplätze zugeteilt als am Vortag und mussten die Sicherheitsüberprüfung wiederholen. Die Flugnummer des einen Tag später durchgeführten Rückflugs entsprach der Bu- chung. Die Beklagte hatte für diesen Tag keinen weiteren, neuen Flug unter der gleichen Flugnummer geplant. Die Passagiere wurden auch nicht auf einen von einer anderen Gesellschaft geplanten Flug umgebucht.
3
Die Kläger meinen, es habe sich aufgrund aller dieser Umstände, vor allem wegen der 25-stündigen Dauer der Verzögerung, nicht um eine Verspätung , sondern um eine Annullierung gehandelt, so dass ihnen die bei einer Annullierung geschuldete Ausgleichszahlung von 600,-- € pro Person zustehe. Daneben verlangen sie Schadensersatz für Verdienstausfall, nutzlose Sitzplatzreservierungen und verfallene Bahnfahrscheine. Hilfsweise stützen sie ihre Klage auf eine Minderung des Flugpreises um 30 %.
4
Die Kläger haben beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1 1.381,45 € und an die Kläger zu 2 und 3 je 600,-- € nebst Zinsen zu zahlen.
5
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
6
Nach Auffassung der Beklagten lag lediglich eine Verspätung vor. Nachdem die Beklagte diese vorgerichtlich mit einem Hurrikan in der Karibik erklärt hatte, hat sie im Prozess technische Defekte am Flugzeug und eine Erkrankung der Besatzung als Ursachen angegeben. Die Reparaturarbeiten seien am 9. Juli 2005 um 23:10 Uhr beendet gewesen, jedoch habe die vorgesehene Crew Grippesymptome gezeigt. Im ersten Rechtszug, aber nicht mehr im Berufungsverfahren hat die Beklagte weiter vorgetragen, es habe sich um außergewöhnliche , unvermeidbare Umstände gehandelt.
7
Das Amtsgericht hat eine Verspätung, keine Annullierung, angenommen und deshalb die Ausgleichsansprüche der Kläger zurückgewiesen. Es hat ihnen lediglich für Verdienstausfall und Bahnfahrkarten Schadensersatz wegen Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags zugesprochen, da die Beklagte den Entlastungsbeweis für ihr fehlendes Verschulden nicht geführt, nämlich zur Wartung des Flugzeugs nicht konkret vorgetragen habe. Weiter hat das Amtsgericht den Klägern einen Bereicherungsanspruch bezüglich der Sitzplatzreservierungen und eine Minderung des Flugpreises für den Rückflug um 30 % zuerkannt. Insgesamt hat es der Klage in Höhe von 350,75 € nebst Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist vom Landgericht zurückgewiesen worden. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Kläger, mit der sie ihre Klage in vollem Umfang weiterverfolgen. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
8
II. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt : Das Amtsgericht sei zu Recht von einer bloßen Verspätung des Fluges ausgegangen. Nach Art. 2 lit. l VO sei unter "Annullierung" die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war, zu verstehen. Deshalb sei mit "Flug" die kollektive Beförderung einer Gruppe von Passagieren gemeint, die sich bei der Buchung für diesen Transport entschieden hätten, und sei darauf abzustellen, ob diese Gruppe, wie hier geschehen, im Wesentlichen in gleicher Zusammensetzung befördert werde, möge dies auch zu einem anderen Zeitpunkt als ursprünglich vorgesehen erfolgen. Aus dem Erwägungsgrund 12 und aus Art. 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung, deren Ziel es sei, die Flugunternehmen zu rechtzeitiger Unterrichtung der Fluggäste über die Annullierung zu veranlassen, folge weiter, dass mit "Annullierung" nur solche Fälle gemeint seien, in denen sich die Fluggesellschaft aus eigenem Willen, z.B. aus wirtschaftlichen Gründen, entschließe, einen Flug nicht durchzuführen. Im vorliegenden Fall sei jedoch ein plötzlich und unvorhergesehen eingetrete- nes Ereignis der Grund dafür gewesen, dass der Flug am 9. Juli 2005 nicht mehr habe durchgeführt werden können, obwohl die Beklagte ihn grundsätzlich habe durchführen wollen. Ob es maximale zeitliche Grenzen für die Verspätung gebe, brauche im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, weil jedenfalls bei 25 Stunden eine Verspätung begrifflich noch nicht ausgeschlossen sei. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil die Abgrenzung der Annullierung von einer Verspätung ungeklärt sei und grundsätzliche Bedeutung habe.
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III. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung von Art. 2 lit. l und eventuell Art. 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) ab. Das Revisionsverfahren ist deshalb auszusetzen, und es ist gemäß Art. 234 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zu den im Beschlusstenor gestellten Fragen einzuholen.
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1. Die Kläger erheben den schadens- und verschuldensunabhängigen, in der Höhe standardisierten Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung, der bei einem Flug von mehr als 3.500 km Länge 600,-- € beträgt. Weder das deutsche autonome Recht noch internationale Abkommen sehen einen derartigen Anspruch vor (BGH, Beschl. v. 12.07.2006 - X ZR 22/05, NJW-RR 2006, 1719). Die Revision der Kläger ist daher nur begründet, wenn die Verordnung ihnen einen Ausgleichsanspruch gewährt. Nach dem Text der Verordnung sind Ausgleichsleistungen nur für den Fall einer Annullierung vorgesehen (Art. 5 Abs. 1 lit. c VO), während bei einer Verspätung den Fluggästen keine Ausgleichszahlungen , sondern lediglich Betreuungs- und Unterstützungsleistungen zustehen, die z.B. in Mahlzeiten, Hotelunterbringung, Erstattung des Flugpreises oder anderweitiger Beförderung zum Endziel sowie bei einer Verspätung von mehr als fünf Stunden in Erstattung des Flugpreises oder anderweitiger Beförderung bestehen (Artt. 6, 8, 9 VO). Die Ausgleichsansprüche der Kläger sind somit nur begründet, wenn ihre verzögerte Rückbeförderung keine Verspätung war, sondern unter den Begriff der Annullierung einzuordnen bzw. wie eine solche zu behandeln ist. In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die vorgelegte Frage 1, ob eine Annullierung bzw. die Behandlung einer Verzögerung als Annullierung in jedem Fall, insbesondere ungeachtet der Dauer der Verzögerung, ausscheidet, wenn der ursprüngliche geplante Flug nicht aufgegeben wird, ob also eine Verzögerung ohne Aufgabe der ursprünglichen Flugplanung niemals eine Annullierung darstellt. Falls dies verneint wird, soll die Vorlagefrage 2 klären , unter welchen besonderen Umständen die Verzögerung eines Fluges trotz Aufrechterhaltung der ursprünglichen Planung wie eine Annullierung zu behandeln ist. Dabei ist insbesondere von Interesse, ob ab einer bestimmten Dauer der Verzögerung eine Verspätung in eine Annullierung umschlägt. Hierbei handelt es sich um Fragen, die im Wege der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung zu klären sind. Dazu ist nach Art. 234 EG der EuGH berufen. Eine Vorlagepflicht besteht nur dann nicht, wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts so offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 = NJW 1983, 1257 - CILFIT; BGHZ 153, 82, 92 und ständig). Das ist hier aus den nachfolgend dargelegten Gründen nicht der Fall.
11
2. Einerseits kommt eine am Wortlaut der VO orientierte Auslegung in Betracht, nach der bei einer 25-stündigen Verzögerung den Fluggästen kein Ausgleichsanspruch zustehen würde.
12
a) Art. 2 lit. l VO enthält folgende Legaldefinition der Annullierung: "die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war". Die Fluggesellschaft muss also ursprünglich einen Flug geplant, d.h. in ihren Flugplan aufgenommen und somit nach Abflug- und Zielort, Abflugsund Ankunftszeit festgelegt, mit einer Flugnummer versehen und zur Buchung freigegeben haben. Letzten Endes darf sie diesen geplanten Flug dann aber doch nicht durchgeführt haben.
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b) Entscheidend für die Annullierung könnte somit sein, dass ein bestimmter Flug, den die Fluggesellschaft in ihren Flugplan aufgenommen und zur Buchung angeboten hatte, endgültig aufgegeben wird (so AG Charlottenburg, Urt. v. 15.11.2005 - 218 C 290/05, nicht veröffentlicht; für Unmaßgeblichkeit des Zeitfaktors auch Bezirksgericht für Handelssachen Wien, Urt. v. 04.08.2006 - 8 C 2016/05m, RRa 2006, 276; AG Frankfurt a.M., Urt. v. 31.08.2006 - 30 C 1370/06, nicht veröffentlicht; so auch Führich, MDR 7/2007 Sonderbeilage S. 8). Dies bedeutet nicht - worauf die Revision zu Recht hinweist -, dass die Buchungspassagiere von der Luftfahrtgesellschaft gar nicht zum Zielort befördert werden. Vielmehr muss die Luftfahrtgesellschaft bei einer Annullierung den Fluggästen, wenn diese nicht Erstattung des Flugpreises wählen, eine anderweitige Beförderung zum Endziel verschaffen (Artt. 5 Abs. 1 lit. a, 8 Abs. 1). Diese anderweitige Beförderung erfolgt mittels eines Fluges, der "neuer Flug" (Art. 5 Abs. 1 lit. b) oder "Alternativflug" (Art. 7 Abs. 2) genannt wird. Das ausschlaggebende Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem alten, d.h. dem ursprünglich geplanten Flug und dem neuen bzw. Alternativflug könnte daher die Aufgabe der ursprünglichen Planung bzw. die Beförderung der Fluggäste auf einem vorher gar nicht oder auf einem von vornherein anders geplanten Flug sein, sei es dass dieser Alternativflug von einer anderen Fluggesellschaft gemäß deren Planung, sei es, dass er von der Vertragsgesellschaft, aber zu einer anderen Abflugzeit, von einem anderen Abflugort oder zu einem anderen Zielort als ursprünglich geplant durchgeführt wird. Werden die Passagiere zum Beispiel mit einem Flug der Vertragsgesellschaft befördert, der von vornherein für eine andere Abflugzeit, für einen anderen Tag oder für eine andere Route geplant war, oder werden die Passagiere auf den geplanten Flug eines anderen Luftfahrtunternehmens umgebucht, so würde es sich nach dieser Definition um eine Annullierung handeln, selbst wenn keine oder nur eine geringfügige Verspätung eintritt. Umgekehrt würde nur eine Verspätung vorliegen, wenn der Flug, mit dem die Passagiere schließlich befördert werden, weder von der Vertragsgesellschaft für eine andere Strecke oder Zeit noch von einer anderen Fluggesellschaft geplant war, selbst wenn der Flug außerordentlich viel später erfolgt als geplant.
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c) Wäre das Kriterium der aufgegebenen Planung maßgeblich, so könnte daraus die Unmaßgeblichkeit anderer Umstände folgen, die indessen in Rechtsprechung und Schrifttum zum Teil als Indizien für eine Annullierung angesehen werden. Die Wiederausgabe des Gepäcks und eine neue Abfertigung können darauf zurückzuführen sein, dass die Passagiere im Hotel übernachten mussten. Die Ausgabe einer neuen Bordkarte ist notwendig, wenn ein andersartiges Ersatzflugzeug verwendet wird. Beides steht daher der Annahme einer bloßen Verspätung nicht zwingend entgegen (so auch Tonner, RRa 2006, 278 f.; a.A. Schmid, NJW 2006, 1841, 1843; Führich, aaO). Die Bezeichnung des Fluges durch den Piloten und/oder auf der Anzeigetafel als "cancelled" statt "delayed" kann auf einer falschen rechtlichen Einordnung der Störung durch Dritte, nämlich den Piloten oder das Flughafenpersonal, beruhen und dürfte daher allenfalls ein schwaches Indiz für eine Annullierung sein. Wenig Indizwirkung dürften auch die Auswechslung des Flugzeugs und die der Besatzung haben (a.A. AG Frankfurt am Main, Urt. v. 12.10.2006 - 30 C 1726/06-75, nicht veröffentlicht), da die Identität der Maschine und des Flugpersonals nichts mit der Planung des Fluges zu tun hat, sondern nur mit dessen Organisation und Durchführung.
Selbst die Beförderung durch ein anderes als dasjenige Luftfahrtunternehmen, mit dem die Fluggäste den Beförderungsvertrag geschlossen haben, indiziert nicht ohne weiteres eine Annullierung. Werden beispielsweise wegen eines Flugzeugdefektes die Passagiere statt von der vertragschließenden Fluggesellschaft mit dem Flugzeug einer anderen Gesellschaft befördert, das die vertragliche Gesellschaft als Ersatz für ihr eigenes defektes Flugzeug angemietet hat (sogenannte Subcharter), so liegt keine Annullierung vor (Schmid, aaO, S. 1843). Auch die vom Berufungsgericht für erheblich gehaltene Frage, ob der Veranstalter den Flug aus wirtschaftlichen Erwägungen oder gezwungenermaßen abgesagt hat, dürfte nicht maßgeblich sein. Erwägungsgrund 12 und Art. 5 Abs. 1 lit. c VO die das Berufungsgericht herangezogen hat, geben für dessen Ansicht, bei einer Annullierung müsse die Fluggesellschaft schon längere Zeit vor der geplanten Abflugszeit Kenntnis von dem Hindernis gehabt haben, nichts her; die jeweilige Erwähnung von Annullierungen, die auf außergewöhnliche Umstände zurückgehen - zu denen laut Erwägungsgrund 14 Wetterbedingungen und unerwartete Flugsicherheitsmängel gehören - spricht vielmehr dagegen.
15
Umgekehrt folgt aus der Beibehaltung der gleichen Flugnummer nicht zwingend eine Verspätung (so auch AG Frankfurt aaO; Tonner, aaO). Denn wenn eine Fluggesellschaft täglich zur gleichen Zeit den gleichen Flug durchführt , trägt der Flug auch jeden Tag die gleiche Nummer, so dass Fluggäste, die wegen des Ausfalls eines geplanten Fluges erst 24 Stunden später mit dem für diesen Tag geplanten Flug befördert werden, trotz Annullierung ihres Fluges unter der gleichen Flugnummer reisen (Schmid, aaO, S. 1843). Auch der Umstand , den das Berufungsgericht als wesentlich für die Annahme einer Verspätung angesehen hat, dass die Gruppe der ursprünglich gebuchten Passagiere im Wesentlichen in gleicher Zusammensetzung befördert wird, wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt, dürfte eine eindeutige Zuordnung nicht zulassen.
Denn wenn diese Gruppe verhältnismäßig klein ist, kann es der Fluggesellschaft gelingen, sie insgesamt auf einem noch nicht ausgebuchten Alternativflug unterzubringen. Ein schwerwiegendes Indiz für eine Annullierung und gegen eine Verspätung wird demgegenüber eine andere Flugnummer sein (so auch Schmid, S. 1843), da eine solche in der Regel zu einem anders geplanten Flug gehört.
16
2. Andererseits kommt aber auch eine Auslegung in Betracht, nach der die im vorliegenden Fall geschehene Verzögerung von 25 Stunden nicht als Verspätung, sondern als Annullierung zu behandeln wäre. Diese Auslegung wäre weniger am Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 VO und mehr am Schutzbedürfnis der Fluggäste orientiert.
17
a) Möglicherweise schlägt eine Verspätung unter besonders belastenden Umständen und insbesondere bei einer bestimmten Dauer in eine Annullierung um. Der Text der Verordnung enthält zwar keine ausdrückliche Obergrenze für die Dauer der Verspätung. Aus Art. 6 Abs. 1 lit. c iii VO ergibt sich lediglich, dass die Verspätung mehr als fünf Stunden betragen kann, und aus Art. 6 Abs. 1 lit. c ii VO sowie aus Erwägungsgrund 15 geht hervor, dass bei einer Verspätung der Abflug auch erst am nächsten Tag erfolgen kann. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass es für die Verspätung keine zeitliche Grenze gibt, jenseits derer es sich um eine Annullierung handelt.
18
b) Für die Behandlung einer besonders belastenden Verzögerung und insbesondere einer besonders langen Verzögerung als Annullierung könnte die Schutzlücke sprechen, die sich anderenfalls auftun würde.
19
aa) Der allgemeine Schutzzweck der Verordnung ist es, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes in vollem Umfang Rechnung zu tragen (Erwägungsgrund 1). In den Erwägungsgründen wird weiter ausgeführt, dass Annullierungen und große Verspätungen für die Fluggäste ein Ärgernis seien und ihnen große Unannehmlichkeiten verursachten (Grund 2), dass ihre Zahl immer noch zu hoch sei (Grund 3) und dass die Gemeinschaft deshalb die Schutzstandards erhöhen sollte, um die Fluggastrechte zu stärken (Grund 4). Speziell zum Zweck der Ausgleichszahlungen bei Annullierung besagt der an die Erörterung der Nichtbeförderung gegen den Willen der Fluggäste (Überbuchung) anschließende Erwägungsgrund 12: "Das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, sollten ebenfalls verringert werden. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass die Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten und ihnen darüber hinaus eine zumutbare anderweitige Beförderung anzubieten, so dass die Fluggäste umdisponieren können. Andernfalls sollten die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen einen Ausgleich leisten und auch eine angemessene Betreuung anbieten, es sei denn, die Annullierung geht auf außergewöhnliche Umstände zurück, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären."
20
bb) Die Verordnung erklärt also nicht ausdrücklich, weshalb der Fluggast im Falle einer Annullierung weitergehende Ansprüche hat als bei einer Verspätung , nämlich unabhängig von seinem tatsächlichen Schaden eine Ausgleichszahlung beanspruchen kann (vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006 - C-344/04 IATA v. Department of Transport, Slg. 2006, S. I-00403, LS 3 Rdn. 69 ff.). Die Besserstellung des Fluggastes bei Annullierung lässt sich indessen vernünftigerweise nur durch die Vorstellung des Gesetzgebers erklären, dass der Fluggast im Regelfall durch eine Annullierung schwerer beeinträchtigt wird als durch eine Verspätung. Dazu passt die Feststellung des EuGH (aaO Rdn. 85), dass der Um- fang der vom Gemeinschaftsgesetzgeber festgelegten Leistungen - von deren Art hat der Gerichtshof allerdings nicht ausdrücklich gesprochen - sich nach der Schwere des Schadens richtet, der den Fluggästen entstanden ist, und entweder anhand des Ausmaßes der Verspätung und der Wartezeit oder anhand der Frist, innerhalb derer die Betroffenen über die Annullierung des Fluges unterrichtet wurden, bemessen werde. Der EuGH hat also zum einen die Dauer der Verspätung als Kriterium für die Schwere des Schadens und zum anderen die Schwere des Schadens als Maßstab für den Umfang der Leistung anerkannt.
21
Eine Vermutung, dass eine Annullierung in der Regel stärker belastet als eine Verspätung, könnte der Lebenserfahrung entsprechen. Dem Totalausfall eines Fluges gehen oft langwierige Reparaturversuche voraus, während derer die Fluggäste warten müssen. Erst nach deren letztendlichem Fehlschlag beginnt dann die Suche nach noch nicht ausgebuchten Alternativflügen. Diese sind häufig erst am nächsten Tage zu finden und führen dann nicht selten zu anderen Zielorten, von denen die Fluggäste zu dem von ihnen gebuchten Zielort weiterbefördert werden müssen. Demgegenüber erschöpfen sich die Unannehmlichkeiten einer Verspätung häufig in einer Wartezeit von wenigen Stunden am Abflughafen und der entsprechend späteren Ankunft am Zielort.
22
cc) Im Einzelfall kann es aber umgekehrt liegen, wenn z.B. bei einer Annullierung der Fluggast in kürzester Frist einen Ersatzflug zum gewünschten Zielort antreten kann oder wenn andererseits, wie im vorliegenden Fall, eine Verspätung mehr als einen Tag lang andauert. Für diese Fälle würde dann eine Schutzlücke bestehen (Staudinger, DAR 2007, 1324 f.). Es könnte der Billigkeit widersprechen, dass eine Annullierung, deren belastende Auswirkungen sich in einer Verspätung von, je nach Entfernung, zwei, drei oder vier Stunden zuzüglich einer Minute erschöpfen, zum ungekürzten Ausgleichsanspruch führen würde und dass selbst bei rechtzeitiger Ankunft eine Annullierung das Luftfahrt- unternehmen immerhin zur hälftigen Ausgleichszahlung verpflichtet wäre (Art. 7 Abs. 2 VO), während eine Verspätung von 25 Stunden, wie sie im vorliegenden Fall geschehen ist, überhaupt keinen Ausgleichsanspruch erzeugen würde. Eine Schutzlücke liegt aber möglicherweise auch schon darin, dass Passagiere einen für sie im Wesentlichen gleich belastenden Lebenssachverhalt, nämlich eine gleich lange Verzögerung ihrer Beförderung, erleben und doch ganz unterschiedliche Ansprüche erwerben können (Wagner, VUR 2006, S. 338).
23
c) Falls der Gesetzgeber die Schutzlücke erkannt und bewusst in Kauf genommen hat, wäre es den Gerichten möglicherweise versagt, sie im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zu schließen. Die Absicht des Gesetzgebers ist jedoch nicht klar.
24
Ambivalent ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Verordnung für den umgekehrten Fall der außergewöhnlich wenig belastenden Annullierung ausdrücklich eine Ausnahmeregelung vorsieht. Das Luftfahrtunternehmen darf die Ausgleichszahlungen um 50 % kürzen, wenn den Fluggästen ein Alternativflug zu ihrem Endziel angeboten wird, der, gestaffelt nach der Flugentfernung , nicht später als zwei, drei oder vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges ankommt (Art. 7 Abs. 2 VO). Diese ausdrückliche Ausnahmeregelung kann jedoch entweder darauf hindeuten , dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit einer reziproken Regelung für ungewöhnlich belastende Verspätungen übersehen hat, oder sie kann im Gegenteil den Rückschluss erlauben, dass der Gesetzgeber sich bewusst dagegen entschieden hat.
25
Letzteres erscheint möglich, weil Art. 7 Abs. 2 VO zeigt, dass der Gesetzgeber bestrebt war, die finanzielle Belastung der Fluggesellschaften durch Ausgleichszahlungen in Grenzen zu halten. Dieselbe Absicht geht aus der An- spruchsversagung im Falle außergewöhnlicher und unvermeidlicher Umstände hervor (Art. 7 Abs. 3). Die Erstreckung der Ausgleichszahlungen auf besonders schwerwiegende Verspätungen würde die finanzielle Belastung der Luftfahrtunternehmen hingegen erhöhen. Zu berücksichtigen ist weiter, dass der Fluggast, der infolge einer nicht entschuldigten Verspätung nachweisliche Schäden erleidet , nicht leer ausgeht, sondern nach dem Montrealer Übereinkommen und nach deutschem Recht auch nach dem Werkvertragsrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs Ersatz verlangen kann. Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 schließt die Verordnung einen weitergehenden Schadensersatzanspruch des Fluggastes nicht aus. Die Verordnung enthält standardisierte sofortige Maßnahmen zur Wiedergutmachung, die neben etwaige Ansprüche auf Schadensersatz als individuelle Wiedergutmachung nach Art. 19 des Montrealer Übereinkommens treten (EuGH aaO Rdn. 44 ff.). Dasselbe gilt für Schadensersatzansprüche aus Beförderungsvertrag (vgl. Führich, aaO, S. 10). Nach Ansicht mehrerer deutscher Gerichte steht dem Fluggast außerdem eine Minderung des Flugpreises zu, wenn eine große Verspätung einen Mangel der Beförderungsleistung darstellt.
26
Dass gleichwohl nicht klar ist, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber die aufgezeigte Schutzlücke bewusst in Kauf genommen hat, wird auch an der deutschen Rechtsprechung deutlich, die schon mehrfach eine Auslegung des Begriffs Annullierung in dem Sinne vorgenommen hat, dass auch eine außerordentlich große Verspätung darunterfällt. Der beschließende Senat hat die Frage eines Zeitfaktors ausdrücklich offengelassen (Beschl. v. 12.07. 2006, aaO).
27
d) Hält man eine derartige Auslegung im Prinzip für zulässig und geboten , so stellt sich die weitere Frage, unter welchen Umständen bzw. ab welcher Dauer eine große Verspätung in eine Annullierung umschlägt.
28
Dem Text der Verordnung lässt sich nicht entnehmen, dass die etwaige Obergrenze für eine Verspätung bei 24 Stunden oder sogar bei mehreren Tagen liegt. Soweit bei der Beschreibung der Betreuungsleistungen die Hotelunterbringung bei einem Aufenthalt von mehreren Nächten erwähnt wird (Art. 9 Abs. 1 lit. b VO), braucht sich dies nicht auf eine Verspätung zu beziehen. Denn Hotelunterbringung schuldet das Luftfahrtunternehmen nicht nur bei einer Verspätung des Fluges (Art. 6 Abs. 1 lit. c ii VO), sondern auch bei Annullierung (Art. 5 Abs. 1 lit. b VO). Die Erwähnung eines Aufenthalts von mehreren Nächten kann sich daher auch nur auf den Fall der Annullierung beziehen.
29
Das Amtsgericht Frankfurt am Main (Urt. v. 12.10.2006, aaO) hat die Grenze bei 22 Stunden deutlich überschritten gesehen, das Amtsgericht Rüsselsheim (Urt. v. 07.11.2006 - 3 C 717/06 (32), nicht veröffentlicht) hat sie bei 48 Stunden gezogen. Im Schrifttum wird in Anlehnung an Art. 6 Abs. 1 lit. c iii VO die Grenze bei fünf Stunden gesehen (Schmid, NJW 2006, 1841, 1843; Wagner, VuR 2006, 337, 339) oder das Anderthalbfache der Zeiträume des Art. 6 Abs. 1 VO vorgeschlagen, so dass eine Annullierung je nach Länge des Fluges ab drei, viereinhalb oder sechs Stunden anzunehmen wäre (Tonner, aaO). Nach anderer Ansicht muss eine Annullierung jedenfalls dann angenommen werden, wenn sich der Flug um mehrere Tage verschiebt (Führich, aaO).
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3. Nach alledem ist die richtige Auslegung der Verordnung nicht so offenkundig , dass für vernünftige Zweifel kein Raum verbleibt.
31
Dies sieht auch die Kommission nicht anders. Nach ihrer gemäß Art. 17 VO erstatteten Mitteilung vom 4. April 2007 über die Anwendung und die Ergebnisse der Verordnung (KOM (2007) 168 endg.) lässt sich schwer bestimmen , ob ein Flug verspätet war oder annulliert wurde, da die Luftfahrtunternehmen bei der Einstufung von Verspätungen oder Annullierungen unterschiedliche Konzepte anwenden, was sich wiederum auf die Zahlungen von Ausgleichsleistungen auswirkt (Nr. 4.1.2.), besteht Unklarheit über die Verpflichtung der Luftfahrtunternehmen gegenüber den Fluggästen bei langen Verspätungen über 24 Stunden (Nr. 5.4.) bzw. haben Fluggäste, einzelstaatliche Durchsetzungsstellen und Luftfahrtunternehmen Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Verspätungen und Annullierungen und bei der Frage, ob eine Verspätung von 24 Stunden z.B. als Annullierung oder große Verspätung einzustufen ist (Nr. 7.3.). Die Kommission selbst geht möglicherweise davon aus, dass eine Verspätung in eine Annullierung umschlagen kann; denn sie beanstandet, dass in einigen Fällen Luftfahrtunternehmen Flüge um 48 Stunden "verschoben", d.h.
als verspätet behandelt hätten, um Entschädigungsforderungen der Fluggäste zu vermeiden, während der Flug in Wirklichkeit infolge technischer Probleme "annulliert" gewesen sei (Nr. 7.3.).
Melullis Keukenschrijver Ambrosius
Gröning Mühlens
Vorinstanzen:
AG Rüsselsheim, Entscheidung vom 17.03.2006 - 3 C 109/06 (33) -
LG Darmstadt, Entscheidung vom 12.07.2006 - 21 S 82/06 -

Gründe

A.

I.

1

Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferung. Sie beschäftigt in ihrer Produktionsstätte in Schleswig-Holstein über 1.200 Arbeitnehmer. Mit dem Kläger des Ausgangsverfahrens schloss sie am 18. Februar 2003 für den Zeitraum vom 19. Februar 2003 bis zum 31. März 2004 einen sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag. Der Kläger wurde als Aushilfe in der Produktion von Bremsbelägen eingesetzt. Insgesamt wurden zu diesem Zeitpunkt von der Beschwerdeführerin 56 befristete Arbeitsverträge mit zuvor arbeitslosen Personen abgeschlossen, um Produktionsspitzen abzudecken. Von diesen 56 neuen Mitarbeitern hatten 13 Arbeitnehmer - unter ihnen der Kläger des Ausgangsverfahrens - das 52. Lebensjahr bereits vollendet. Die zusätzlichen Arbeitnehmer wurden nach den Angaben der Beschwerdeführerin bewusst auf der Grundlage des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz - TzBfG) eingestellt, um Rechtssicherheit vor Entfristungsklagen zu erlangen. Solche Entfristungsklagen seien in der Vergangenheit gegen die Beschwerdeführerin erhoben worden und hätten im Erfolgsfall zu Verwerfungen bei der Personalplanung geführt.

2

Der Kläger machte gegenüber der Beschwerdeführerin kurze Zeit später die Unwirksamkeit der Befristung seines Arbeitsvertrags geltend. Er berief sich auf die Unvereinbarkeit der Befristung auf der Grundlage von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl Nr. L 175/43) sowie der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl Nr. L 303/16). Das Arbeitsgericht Lübeck wies seine Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses und auf Weiterbeschäftigung mit Urteil vom 11. März 2004 ab. Der Kläger könne sich nicht auf eine unmittelbare Wirkung der Richtlinien im Verhältnis unter Privaten berufen. Die Berufung des Klägers wies das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 22. Juni 2004 zurück. Neben dem Hinweis auf die Nichtanwendbarkeit von Richtlinien in privatrechtlichen Verhältnissen verwies das Landesarbeitsgericht zusätzlich auf die unzureichende inhaltliche Bestimmtheit und Unbedingtheit der Richtlinien. Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Revision an das Bundesarbeitsgericht. Die Revision hatte in der Sache Erfolg.

II.

3

1. § 14 TzBfG lautete in seiner ursprünglichen Fassung vom 21. Dezember 2000 (BGBl I S. 1966) auszugsweise:

4

(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. […]

5

(2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; […] Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. […]

6

(3) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf keines sachlichen Grundes, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 58. Lebensjahr vollendet hat. Die Befristung ist nicht zulässig, wenn zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Ein solcher enger sachlicher Zusammenhang ist insbesondere anzunehmen, wenn zwischen den Arbeitsverträgen ein Zeitraum von weniger als sechs Monaten liegt.

7

(4) […]

8

Der Gesetzgeber erweiterte den personellen Anwendungsbereich des § 14 TzBfG im Dezember 2002 (Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002, BGBl I S. 4607). Für den Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2006 wurde die Altersgrenze einer sachgrundlosen Befristungsmöglichkeit vom vollendeten 58. auf das vollendete 52. Lebensjahr abgesenkt. Zu diesem Zweck wurde ein vierter Satz in § 14 Abs. 3 TzBfG eingefügt:

9

Bis zum 31. Dezember 2006 ist Satz 1 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des 58. Lebensjahres das 52. Lebensjahr tritt.

10

Mit dieser Änderung, die Bestandteil der Arbeitsmarktreformen war, verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die statistisch deutlich erhöhte Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen durch niedrigere Barrieren für deren Wiedereintritt in das Berufsleben zu verringern. Die über 50-Jährigen seien nicht nur länger arbeitslos als andere Altersgruppen, sondern sie stellten auch einen deutlich größeren Anteil der Langzeitarbeitslosen. Der Gesetzgeber verwies darauf, dass die geringe Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber im Wesentlichen auf eine "psychologische Einstellungsbarriere" zurückzuführen sei, die ihre Ursache in der unzutreffenden Überzeugung habe, ältere Arbeitnehmer könnten bei einem späteren Personalabbau nicht mehr entlassen werden (BTDrucks 15/25, S. 40). Da die Erfahrung gezeigt habe, dass die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen die Einstellungsbereitschaft anhebe und die befristeten Arbeitsverhältnisse im Durchschnitt etwa zur Hälfte in unbefristete Beschäftigungen einmündeten, sei § 14 Abs. 3 TzBfG entsprechend zu erweitern.

11

Der Gesetzgeber hielt die mit dieser Regelung verbundene Ungleichbehandlung älterer Arbeitssuchender mit Blick auf das beschäftigungspolitische Ziel, die Chancen älterer Menschen auf einen Arbeitsplatz zu verbessern, für gerechtfertigt. Dies entspreche auch einem wichtigen Ziel der europäischen Beschäftigungspolitik (BTDrucks 15/25, S. 40). Deutschland sei mit Beschluss 2001/63/EG des Rates vom 19. Januar 2001 über die Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (ABl Nr. L 22/18) ausdrücklich aufgefordert worden, Hindernisse und negative Faktoren für die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitsloser zu verbessern.

12

2. a) Art. 19 Abs. 1 AEUV (ehemals Art. 13 Abs. 1 EGV) ermächtigt den Rat, im Zuständigkeitsbereich der Union Regelungen unter anderem gegen altersbezogene Diskriminierungen zu erlassen. Ein unmittelbar wirkendes Diskriminierungsverbot enthält die Bestimmung nicht (vgl. Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 13 EGV Rn. 17; Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 13 EGV Rn. 1). Art. 19 Abs. 1 AEUV lautet:

13

Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.

14

Demgegenüber enthält Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta - GRCh) ein Diskriminierungsverbot aufgrund des Alters, dem unmittelbare Wirkung zukommt. Die Vorschrift lautet in der überarbeiteten Fassung vom 12. Dezember 2007 (ABl Nr. C 303/1; BGBl 2008 II S. 1165):

15

(1) Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.

16

(2) Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

17

Die Grundrechtecharta war in dem entscheidungserheblichen Zeitraum noch nicht rechtsverbindlich. Sie wurde den Verträgen erst mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007 (Vertrag von Lissabon - ABl Nr. C 306/10; BGBl 2008 II S. 1038) rechtlich gleichgestellt (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV).

18

b) Mit der Richtlinie 1999/70/EG soll die zwischen europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden getroffene Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge durchgeführt werden (Art. 1 der Richtlinie 1999/70/EG). Der Vereinbarung zufolge, die als Anhang Bestandteil der Richtlinie ist, gilt für befristet beschäftigte Arbeitnehmer der Grundsatz der Nichtdiskriminierung; der Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge ist zu vermeiden (vgl. im Einzelnen §§ 4, 5 des Anhangs der Richtlinie 1999/70/EG). Das Teilzeit- und Befristungsgesetz wurde vom deutschen Gesetzgeber im Jahr 2000 erlassen, um diese Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen.

19

Die Richtlinie 2000/78/EG soll unter anderem Diskriminierungen aufgrund des Alters verhindern. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG legt den Zweck des Rechtsaktes dahingehend fest, dass ein allgemeiner Rahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf, unter anderem wegen des Alters, zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten geschaffen werden soll. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird als Verbot bestimmter unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierungen definiert (Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Der Anwendungsbereich der Richtlinie erstreckt sich insbesondere auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen in einem Mitgliedstaat, unabhängig von der Existenz eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Art. 3 der Richtlinie 2000/78/EG). Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie sieht ferner vor, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Alters gerechtfertigt sein kann. Die Vorschrift lautet:

20

Artikel 6 - Gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen des Alters

21

(1) Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

22

Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

23

a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;

24

b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;

25

c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.

26

[…]

27

Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie lief am 2. Dezember 2003 ab (Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG). Die Mitgliedstaaten konnten im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen des Alters eine Zusatzfrist von drei Jahren bis zum 2. Dezember 2006 in Anspruch nehmen (Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Die Europäische Kommission war von der Inanspruchnahme dieser verlängerten Umsetzungsfrist in Kenntnis zu setzen. Ihr war zudem während dieses Zeitraums jährlich Bericht über die ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersdiskriminierung und über die Fortschritte, die bei der Umsetzung der Richtlinie erzielt werden konnten, zu erstatten. Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Zusatzfrist in Anspruch genommen. Die verlängerte Umsetzungsfrist endete am 2. Dezember 2006.

28

3. a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (jetzt Gerichtshof der Europäischen Union) stellte in seinem Urteil vom 22. November 2005 in der Rechtssache Mangold (Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981) fest, dass Gemeinschaftsrecht und insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG einer nationalen Regelung wie der des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG entgegenstünden. Es obliege dem nationalen Gericht, die volle Wirksamkeit des allgemeinen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters zu gewährleisten, indem es jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lasse, auch wenn die Frist für die Umsetzung der Richtlinie noch nicht abgelaufen sei.

29

Zur Begründung führte der Gerichtshof unter anderem aus, dass eine derartige Regelung zwar das legitime Ziel verfolge, ältere Arbeitnehmer wieder in das Berufsleben einzugliedern. Sie gehe aber über das erforderliche und angemessene Maß hinaus, weil sie allein auf das Alterskriterium abstelle und andere Umstände wie die Struktur des jeweiligen Arbeitsmarktes und die persönliche Situation des Betroffenen unberücksichtigt lasse.

30

Einem Verstoß gegen die Richtlinie 2000/78/EG stehe nicht entgegen, dass deren Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht abgelaufen gewesen sei. Erstens dürfe ein Mitgliedstaat schon während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen, die geeignet seien, die Erreichung des in einer Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen. Im vorliegenden Fall habe die Bundesrepublik Deutschland darüber hinaus von der Möglichkeit einer dreijährigen Fristverlängerung nach Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG Gebrauch gemacht. Diese Vorschrift impliziere durch Berichtspflichten an die Kommission, dass ein Mitgliedstaat in diesem Zeitraum schrittweise konkrete Maßnahmen ergreife, um seine Rechtsordnung dem Richtlinienziel anzunähern. Dieser Verpflichtung würde jegliche praktische Wirksamkeit genommen, wenn dem Mitgliedstaat gestattet wäre, während der Umsetzungsfrist Maßnahmen zu erlassen, die mit deren Zielen unvereinbar seien. Zweitens sei das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzusehen. Der Gerichtshof begründete die Existenz dieses neuen Grundsatzes mit dem Hinweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2000/78/EG, die ihrerseits auf verschiedene völkerrechtliche Verträge und die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten verwiesen.

31

Die vorliegende nationale Regelung falle in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts, weil § 14 Abs. 3 TzBfG als Maßnahme zur Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG ergangen und im Jahre 2002 um § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG ergänzt worden sei.

32

b) Nach Eingang der Verfassungsbeschwerde wurde die Frage, ob das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters einer nationalen Vorschrift entgegensteht, in den Rechtssachen Palacios (Urteil vom 16. Oktober 2007, Rs. C-411/05, Slg. 2007, S. I-8531), Bartsch (Urteil vom 23. September 2008, Rs. C-427/06, Slg. 2008, S. I-7245) und Kücükdeveci (Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07, NJW 2010, S. 427) erneut vor dem Gerichtshof aufgeworfen. In der Kücükdeveci-Entscheidung bestätigte der Gerichtshof die Mangold-Entscheidung im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der jede Diskriminierung aufgrund des Alters verbiete, und wies zur Begründung auf Art. 21 Abs. 1 GRCh hin.

III.

33

Das Bundesarbeitsgericht stellte mit dem angegriffenen Urteil vom 26. April 2006 fest, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht mit Ablauf des 31. März 2004 durch Befristung geendet habe. Es begründete dies unter anderem mit dem Argument, die Beschwerdeführerin könne sich zur Rechtfertigung der Befristung nicht auf § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG berufen. Zwar lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm vor. Die Vorschrift sei aber mit Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbaren und dürfe daher von den nationalen Gerichten nicht angewendet werden. Dies folge aus der Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs.

34

Der Senat sei an den Ausspruch der Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG durch den Gerichtshof gebunden, den dieser mit einem Verstoß gegen das Ziel der Richtlinie 2000/78/EG und mit einem Verstoß gegen das auf allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts beruhende Verbot der Altersdiskriminierung doppelt begründet habe. Die Entscheidung des Gerichtshofs beruhe auf der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 234 Abs. 1 Buchstabe a EGV (jetzt Art. 267 Abs. 1 Buchstabe a AEUV) und halte sich im Rahmen der dem Gerichtshof nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG übertragenen Zuständigkeiten.

35

Der vom Gerichtshof festgestellte Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, der einer Diskriminierung wegen der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Merkmale entgegenstehe, sei als Unterfall des allgemeinen Grundsatzes der Gleichheit und Nichtdiskriminierung anzusehen, der zu den Gemeinschaftsgrundrechten gehöre. Dieser Grundsatz, auf den sich auch eine Privatperson vor einem nationalen Gericht berufen könne, begrenze den nationalen Gesetzgeber bei der Normsetzung, soweit dessen Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz falle in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts, da es der Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG diene. Zwar möge es zutreffen, dass das Verbot der Altersdiskriminierung bisher weder in verbindlich geltenden völkerrechtlichen Verträgen noch in einer nennenswerten Anzahl von Verfassungen der Mitgliedstaaten ausdrücklich genannt sei. Dennoch sei eine Herleitung aus offen formulierten Tatbeständen und im Wege partieller Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen.

36

Auch soweit der Gerichtshof die Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aus der Richtlinie 2000/78/EG herleite, habe er seine Kompetenzen nicht überschritten. Die Begründung des Gerichtshofs sei dahingehend zu verstehen, dass ein während der Umsetzungsfrist einer Richtlinie erlassenes nationales Gesetz unanwendbar sei, wenn sein Inhalt im Widerspruch zu dem Richtlinienziel stehe und keine gemeinschaftskonforme Auslegung möglich sei. Rechtsgrundlage für diese Annahme von Vorwirkungen bilde der Grundsatz der Vertragstreue der Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 2 und Art. 249 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV und Art. 288 Abs. 3 AEUV).

37

Die Entscheidung sei jedenfalls im Ergebnis unmissverständlich; es bedürfe deshalb keiner erneuten Vorlage an den Gerichtshof zur Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit Gemeinschaftsrecht.

38

Das Bundesarbeitsgericht lehnte es ferner ab, § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aus Gründen des gemeinschaftsrechtlichen oder nationalen Vertrauensschutzes auf eine vor dem 22. November 2005 getroffene Befristungsabrede anzuwenden. Zur zeitlichen Begrenzung der Unanwendbarkeit einer gegen Primärrecht der Gemeinschaft verstoßenden nationalen Norm sei allein der Gerichtshof zuständig. Eine solche Begrenzung sei in der Mangold-Entscheidung jedoch nicht enthalten. Der Senat sah sich auch nicht verpflichtet, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen, weil die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine derartige zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht vorlägen. Selbst wenn der Senat nach einem Unanwendbarkeitsausspruch des Gerichtshofs befugt wäre, Vertrauensschutz nach nationalem Verfassungsrecht zu gewähren und damit dessen zeitliche Wirkung einzuschränken, bestehe kein Vertrauensschutz zugunsten der Beschwerdeführerin. Denn bis zum Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags mit dem Kläger habe es keine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Zulässigkeit einer allein auf das Lebensalter gestützten sachgrundlosen Befristung gegeben; darüber hinaus sei diese im arbeitsrechtlichen Schrifttum umstritten gewesen.

IV.

39

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 (1.) und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (2.).

40

1. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln geltend. Eine Verletzung ergebe sich zunächst daraus, dass das Bundesarbeitsgericht die angegriffene Entscheidung zur Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG maßgeblich auf die Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs gestützt habe. Wenn diese Entscheidung so zu verstehen sei, wie sie das Bundesarbeitsgericht in dem angegriffenen Urteil verstanden und angewandt habe, liege eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs vor. Soweit das Bundesarbeitsgericht darauf abstelle, dass der Gerichtshof sich auf einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts stütze, sei schon zweifelhaft, ob die Benennung und Anwendung eines Verbots der Altersdiskriminierung nicht in einem untrennbaren funktionalen Zusammenhang mit den Ausführungen zu Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG stehe. Darüber hinaus besitze der Gerichtshof keine Kompetenz zur Prüfung einer innerstaatlichen arbeitsrechtlichen Gesetzgebung bezüglich der Rechtsbeziehung zwischen Privaten. Die Verabschiedung des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG sei nicht als Durchführung von Gemeinschaftsrecht zu qualifizieren. Ferner betreibe der Gerichtshof durch die Postulierung eines unmittelbar anwendbaren allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung unzulässige Rechtsfortbildung. Außerdem führe die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2000/78/EG zu einer von den Verträgen nicht gedeckten Vor- und Drittwirkung von Richtlinien.

41

Eine Verletzung ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgt nach Ansicht der Beschwerdeführerin des Weiteren daraus, dass das Bundesarbeitsgericht keinen hinreichenden verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz gewährt und die Revision zurückgewiesen habe. Auch nach Gemeinschaftsrecht sei dem Bundesarbeitsgericht nicht versagt gewesen, Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen, da Fragen des Vertrauensschutzes im Mangold-Verfahren weder aufgeworfen noch entschieden worden seien. Der Unanwendbarkeitsausspruch des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold könne insoweit nicht als absolut und unbedingt geltend verstanden werden. Anders als vom Bundesarbeitsgericht angenommen, habe die Beschwerdeführerin sich darauf verlassen dürfen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nicht an der noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG gemessen werde.

42

2. Die Beschwerdeführerin trägt weiter vor, dass sie auch in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sei. Das Bundesarbeitsgericht habe seine nach Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt 267 Abs. 3 AEUV) bestehende Vorlagepflicht willkürlich verletzt, weil es den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten habe. Unterstelle man eine Bindung des Bundesarbeitsgerichts an die Mangold-Entscheidung, hätte das Bundesarbeitsgericht dem Gerichtshof die Frage vorlegen müssen, ob auch Vertragsverhältnisse erfasst seien, die vor der Mangold-Entscheidung abgeschlossen wurden, oder ob nicht Grundsätze des gemeinschaftsrechtlichen oder des nationalen Vertrauensschutzes eine zeitliche Einschränkung geböten. Dass der Gerichtshof eine zeitliche Begrenzung seiner Entscheidungswirkungen nur im Ausnahmefall ausspreche, beziehe sich lediglich auf die finanziellen Auswirkungen für die Mitgliedstaaten, nicht aber auf die vorliegende Fallgestaltung. Die fehlende zeitliche Begrenzung in der Mangold-Entscheidung selbst sei darauf zurückzuführen, dass dort keinerlei Veranlassung zu einer zeitlichen Begrenzung bestanden habe.

V.

43

Der Zweite und der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts sowie der Zweite und der Sechste Senat des Bundessozialgerichts haben Stellung genommen.

B.

44

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

I.

45

Das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist als eine Maßnahme der deutschen öffentlichen Gewalt tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Wahrung des Grundgesetzes besteht gegenüber allen Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt, grundsätzlich auch solchen, die die innerstaatliche Geltung von Gemeinschafts- und Unionsrecht begründen (vgl. BVerfGE 89, 155 <171>; 123, 267 <329>), Gemeinschafts- und Unionsrecht umsetzen (vgl. BVerfGE 113, 273 <292>; 118, 79 <94>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 2. März 2010 - 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08 -, NJW 2010, S. 833 <835>) oder vollziehen. Ob und inwieweit die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen durch das Bundesverfassungsgericht beschränkt ist, ist eine Frage der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, soweit wie hier diesbezüglich offene Fragen zu klären sind.

II.

46

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde genügt den Anforderungen der § 92, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. Nach den Darlegungen der Beschwerdeführerin erscheint es insbesondere möglich, dass das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Beschwerdeführerin in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, weil es zum einen auf einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Gerichtshofs beruht, die nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland nicht anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 89, 155 <188>; 123, 267 <353 f.>), und weil es zum anderen verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz nicht gewährt.

47

Die Beschwerdeführerin legt ausreichend dar, warum der Gerichtshof mit der Entscheidung in der Rechtssache Mangold die Grenzen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts überschritten und das Gemeinschaftsrecht in einer Weise fortgebildet habe, die von den Kompetenzen der Gemeinschaft nicht mehr gedeckt sei. Dabei setzt sie sich mit der bis zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kompetenzkontrolle, der für kompetenzwidrig gehaltenen Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs und den hierzu ergangenen kritischen Anmerkungen in der Literatur auseinander. Die Beschwerdeführerin war nicht gehalten, antizipierend auf vom Bundesverfassungsgericht erst noch zu präzisierende Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen auf die Beachtung der Grenzen ihrer Kompetenzen einzugehen.

C.

48

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

I.

49

Die Beschwerdeführerin ist nicht deswegen in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verletzt, weil das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts auf einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Gerichtshofs beruht.

50

1. a) Sowohl die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie als auch die Garantie der freien Berufsausübung nach Art. 12 Abs. 1 GG schließen das Recht ein, Arbeitsverhältnisse durch die Abgabe übereinstimmender Willenserklärungen zu begründen, auszugestalten und zu befristen (vgl. allgemein für die Gestaltung von Arbeitsverträgen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. November 2006 - 1 BvR 1909/06 -, NJW 2007, S. 286). Die Vertragsfreiheit als wesentlicher Ausdruck der Privatautonomie wird allgemein durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 72, 155 <170>; 81, 242 <254 ff.>; 89, 214 <231 ff.>; 103, 89 <100 f.>). Geht es um die Handlungsfreiheit gerade im Bereich der beruflichen Betätigung, die ihre spezielle Gewährleistung in Art. 12 Abs. 1 GG findet, scheidet die gegenüber anderen Freiheitsrechten subsidiäre allgemeine Handlungsfreiheit als Prüfungsmaßstab allerdings aus (vgl. BVerfGE 89, 1 <13>; 117, 163 <181>). Dies gilt insbesondere im Bereich des Individualarbeitsvertragsrechts (vgl. BVerfGE 57, 139 <158>; BVerfGK 4, 356 <363 f.>).

51

Die Privatrechtsordnung ist gesetzlich gestaltet. Gesetze regeln die Ausübung der Vertragsfreiheit nicht nur zu ihrem institutionellen Schutz, sondern auch um soziale Belange strukturell schwächerer Marktteilnehmer zu wahren. Aus diesem Grund wird der Abschluss befristeter Arbeitsverträge nicht vollständig in die Dispositionsfreiheit der Vertragsparteien gelegt, sondern traditionell an Voraussetzungen gebunden, die die Arbeitnehmer schützen sollen. Denn für Arbeitnehmer ist die Erwerbsarbeit regelmäßig alleinige Existenzgrundlage. Durch Befristung wird zwar den Flexibilitätsbedürfnissen rentabler Unternehmensführung entsprochen. Für die davon betroffenen Arbeitnehmer bedeutet ein befristetes Arbeitsverhältnis aber nicht nur die Chance auf Erwerbsarbeit, sondern ist auch mit Unsicherheit über den Fortbestand des Erwerbseinkommens verbunden. Der insoweit schützende staatliche Eingriff in die Privatautonomie bei der Ausgestaltung befristeter Arbeitsverhältnisse bedarf einer gesetzlichen Grundlage, die sich ihrerseits als verfassungsgemäß erweisen muss.

52

Die für das Verfassungsbeschwerdeverfahren maßgebliche Vorschrift des einfachen Rechts ist § 14 TzBfG in der vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Fassung. Von dem Grundsatz, dass es zur Begründung befristeter Arbeitsverhältnisse eines sachlichen Grundes bedarf, konnte nach § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG abgewichen werden, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hat. Diese Ausnahmeregelung hat indes zum Nachteil der Beschwerdeführerin unangewendet zu bleiben, wenn sie gegen Gemeinschaftsrecht (jetzt Unionsrecht) verstößt.

53

b) Das Recht der Europäischen Union kann sich nur wirksam entfalten, wenn es entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht verdrängt. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt zwar nicht dazu, dass entgegenstehendes nationales Recht nichtig wäre. Mitgliedstaatliches Recht kann vielmehr weiter seine Geltung entfalten, wenn und soweit es jenseits des Anwendungsbereichs einschlägigen Unionsrechts einen sachlichen Regelungsbereich behält. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts dagegen ist entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht grundsätzlich unanwendbar. Der Anwendungsvorrang folgt aus dem Unionsrecht, weil die Union als Rechtsgemeinschaft nicht bestehen könnte, wenn die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251 Rn. 12). Der Anwendungsvorrang entspricht auch der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG, wonach Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden können (vgl. BVerfGE 31, 145 <174>; 123, 267 <402>). Art. 23 Abs. 1 GG erlaubt mit der Übertragung von Hoheitsrechten - soweit vertraglich vorgesehen und gefordert - zugleich deren unmittelbare Ausübung innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Er enthält somit ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen, dem der unionsrechtliche Anwendungsvorrang entspricht.

54

c) aa) Anders als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang, wie ihn Art. 31 GG für die deutsche Rechtsordnung vorsieht, kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl. BVerfGE 73, 339 <375>; 123, 267 <398>).

55

Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Übertragung und Ermächtigung abhängig. Die Unionsorgane bleiben für die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsänderungen angewiesen, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der für sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorgenommen und verantwortet werden (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <187 f., 192, 199>; 123, 267 <349>; vgl. auch BVerfGE 58, 1 <37>; 68, 1 <102>; 77, 170 <231>; 104, 151 <195>; 118, 244 <260>). Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EUV). Das Bundesverfassungsgericht ist deshalb berechtigt und verpflichtet, Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen darauf zu überprüfen, ob sie aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausübungen im nicht übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 und Art. 20 GG) erfolgen (vgl. BVerfGE 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <188>; 113, 273 <296>; 123, 267 <353 f.>), und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kompetenzüberschreitender Handlungen für die deutsche Rechtsordnung festzustellen.

56

bb) Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, ist mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV).

57

Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe. Dass in den - wie nach den institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen des Unionsrechts zu erwarten - seltenen Grenzfällen möglicher Kompetenzüberschreitung seitens der Unionsorgane die verfassungsrechtliche und die unionsrechtliche Perspektive nicht vollständig harmonieren, ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge bleiben und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschritten wurde (vgl. BVerfGE 123, 267 <370 f.>). Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen.

58

cc) Die Ultra-vires-Kontrolle darf nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>).

59

(1) Die Union versteht sich als Rechtsgemeinschaft; sie ist insbesondere durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Grundrechte gebunden und achtet die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten (vgl. im Einzelnen Art. 4 Abs. 2 Satz 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 EUV). Nach der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts anzuerkennen und zu gewährleisten, dass die dem Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich vorbehaltenen Kontrollbefugnisse nur zurückhaltend und europarechtsfreundlich ausgeübt werden.

60

Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen (vgl. BVerfGE 123, 267 <353>).

61

Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind (vgl. BVerfGE 123, 267 <353, 400>). Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist (vgl. zur Formulierung "hinreichend qualifiziert" als Tatbestandsmerkmal im unionsrechtlichen Haftungsrecht etwa EuGH, Urteil vom 10. Juli 2003, Rs. C-472/00 P, Fresh Marine, Slg. 2003, S. I-7541 Rn. 26 f.). Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt (vgl. Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - zum Vertrag von Maastricht, AöR 1994, S. 207 <220>: "erhebliche Kompetenzüberschreitungen" und <233>: "drastische" Ultra-vires-Akte; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 238 für eine Evidenzkontrolle; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte - offener Dissens, in: Festschrift Stern, 1997, S. 1239 <1255>: "im Falle krasser und evidenter Kompetenzüberschreitung"; Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Bd. II, Art. 23 Rn. 32: "schwerwiegend, evident und generell"; Oeter, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 2007, S. 361 <377>: Rechtsprechung des Gerichtshofs sei verbindlich, "sofern sie sich nicht völlig von den vertraglichen Grundlagen ablöst"; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 40 : "offensichtlich, anhaltend und schwerwiegend").

62

(2) Der Auftrag, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV), beschränkt den Gerichtshof nicht darauf, über die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu wachen. Dem Gerichtshof ist auch die Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung nicht verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Befugnis stets ausdrücklich anerkannt (vgl. BVerfGE 75, 223 <242 f.>; BVerfGE 123, 267 <351 f.>). Ihr stehen insbesondere das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Struktur des unionalen Staatenverbundes nicht entgegen. Vielmehr kann die - in den ihr gesetzten Grenzen wahrgenommene - Rechtsfortbildung gerade auch im supranationalen Verbund zu einer der grundlegenden Verantwortung der Mitgliedstaaten über die Verträge gerecht werdenden Kompetenzabgrenzung zu den Regelungsbefugnissen des Unionsgesetzgebers beitragen.

63

Das Primärrecht sieht an einzelnen Stellen ausdrücklich vor, dass die Unionsorgane auf der Grundlage allgemeiner Grundsätze handeln sollen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 340 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV). Zur Aufgabe des Gerichtshofs gehört es insoweit, die Rechtlichkeit der Union im Sinne der gemeinsamen europäischen Verfassungstraditionen zu sichern. Maßstab ist sowohl das geschriebene Primär- und Sekundärrecht als auch die ungeschriebenen allgemeinen Grundsätze, wie sie aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten unter ergänzender Heranziehung der völkerrechtlichen Verträge der Mitgliedstaaten abgeleitet werden (vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 220 EGV Rn. 38 m.w.N. zu den allgemeinen Grundsätzen im Völkerrecht Gaja, General Principles of Law, in: Wolfrum, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, http://www.mpepil.com, Rn. 7 ff., 17 ff.). Bereits die unter anderem vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Notwendigkeit, einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz auszubilden (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>), war seit den 1970er Jahren nur rechtsfortbildend über die Methode der wertenden Rechtsvergleichung möglich (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125 Rn. 4; EuGH, Urteil vom 14. Mai 1974, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rn. 13).

64

Rechtsfortbildung ist allerdings keine Rechtsetzung mit politischen Gestaltungsfreiräumen, sondern folgt den gesetzlich oder völkervertraglich festgelegten Vorgaben. Sie findet hier Gründe und Grenzen. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird. Rechtsfortbildung überschreitet diese Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft. Dies ist vor allem dort unzulässig, wo Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus politische Grundentscheidungen trifft oder durch die Rechtsfortbildung strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung stattfinden.

65

Eine wesentliche Grenze richterlicher Rechtsfortbildung auf Unionsebene ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EUV). Es gewinnt seine Bedeutung vor dem Hintergrund der stark föderalisierten und kooperativen Organisationsstruktur der Europäischen Union, die in vielen Bereichen sowohl im Umfang der Kompetenzen als auch in der Organisationsstruktur und den Verfahren zwar staatsanalog, aber nicht bundesstaatlich geprägt ist. Die Mitgliedstaaten haben nur jeweils begrenzte Hoheitsrechte übertragen. Generalermächtigungen und die Kompetenz, sich weitere Kompetenzen zu verschaffen, widersprechen diesem Prinzip und würden die verfassungsrechtliche Integrationsverantwortung der Mitgliedstaaten untergraben (vgl. BVerfGE 123, 267 <352 f.>). Dies gilt nicht nur, wenn sich eigenmächtige Kompetenzerweiterungen auf Sachbereiche erstrecken, die zur verfassungsrechtlichen Identität der Mitgliedstaaten rechnen oder besonders vom demokratisch diskursiven Prozess in den Mitgliedstaaten abhängen (vgl. BVerfGE 123, 267 <357 f.>), allerdings wiegen hier Kompetenzüberschreitungen besonders schwer.

66

(3) Soll das supranationale Integrationsprinzip nicht Schaden nehmen, muss die Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zurückhaltend ausgeübt werden. Da es in jedem Fall einer Ultra-vires-Rüge auch über eine Rechtsauffassung des Gerichtshofs zu befinden hat, sind Aufgabe und Stellung der unabhängigen überstaatlichen Rechtsprechung zu wahren. Dies bedeutet zum einen, dass die unionseigenen Methoden der Rechtsfindung, an die sich der Gerichtshof gebunden sieht und die der "Eigenart" der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen (vgl. EuGH, Gutachten 1/91, EWR-Abkommen, Slg. 1991, S. I-6079 Rn. 51), zu respektieren sind. Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz. Daher ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Hinzunehmen sind auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen, die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen.

67

2. Gemessen an diesen Maßstäben hat das Bundesarbeitsgericht die Tragweite der Vertragsfreiheit der Beschwerdeführerin nach Art. 12 Abs. 1 GG nicht verkannt. Das angegriffene Urteil erweist sich als verfassungsgemäß, soweit es die Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG angenommen hat.

68

Im Hinblick auf die zugrundegelegte Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Rechtsfortbildung ultra vires, die zur - allein vom Bundesverfassungsgericht feststellbaren (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>) - Unanwendbarkeit der betreffenden Rechtsgrundsätze in Deutschland führen müsste, nicht ersichtlich. Es kann dahinstehen, ob sich das in der Mangold-Entscheidung gefundene Ergebnis durch anerkannte juristische Auslegungsmethoden noch gewinnen lässt und ob gegebenenfalls bestehende Mängel offenkundig wären. Jedenfalls handelt es sich um keine das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in offensichtlicher und strukturwirksamer Weise verletzende Überschreitung der durch Zustimmungsgesetz auf die Europäische Union übertragenen Hoheitsrechte.

69

a) Der Gerichtshof kam in der Mangold-Entscheidung zu dem Ergebnis, eine nationale Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG verstoße gegen Gemeinschaftsrecht und müsse unangewendet bleiben (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981 Rn. 77 f.). Diese Aussage wurde mit zwei Argumenten begründet, deren Beziehung zueinander unklar bleibt (vgl. Thüsing, Europarechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz als Bindung des Arbeitgebers?, ZIP 2005, S. 2149 <2150 f.>). Die Regelung stehe sowohl im Widerspruch zu Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG als auch zu einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der Diskriminierungen aus Gründen des Alters untersage.

70

Während eine Stelle in der englischen und französischen Sprachfassung der Mangold-Entscheidung darauf hindeutet, dass sich der Gerichtshof insbesondere auf das allgemeine Diskriminierungsverbot zu stützen scheint (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 74: "[z]weitens" , "[i]n the second place and above all" , "[e]n second lieu et surtout" ), könnte eine andere Stelle für das Gegenteil sprechen (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 78: "insbesondere Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2000/78"). Dem entspricht die Vermutung, dass die Mangold-Entscheidung, obwohl die Richtlinie 2000/78/EG für Deutschland innerhalb der noch laufenden Umsetzungsfrist noch nicht anwendbar war, die deutsche Befristungsregel am Maßstab dieser Richtlinie prüfte, weil die Richtlinie nur das konkretisiere, was durch den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung ohnehin und unabhängig von der Richtlinie gelte (vgl. Skouris, Methoden der Grundrechtsgewinnung in der EU, in: Merten/Papier, HGRe, Bd. VI/1, 2010, § 157 Rn. 24).

71

b) Ein hinreichend qualifizierter Verstoß des Gerichtshofs gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung lässt sich nicht feststellen. Weder die Öffnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2000/78/EG auf Fälle, die gerade einer beruflichen Eingliederung von älteren Langzeitarbeitslosen dienen sollten (aa), noch die vom Gerichtshof angenommene Vorwirkung der in Deutschland noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG (bb) noch die Herleitung eines allgemeinen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung (cc) hat zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen geführt.

72

aa) Der Gerichtshof hielt den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung in der Rechtssache Mangold für anwendbar, weil der Sachverhalt grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG falle (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 51, 64, 75). Diese Weichenstellung war die Voraussetzung dafür, dass eine nationale Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG überhaupt am Gemeinschaftsrecht - und also auch an dessen allgemeinen Grundsätzen - gemessen werden konnte. Die Beschwerdeführerin hat dagegen vorgetragen, dass die einschlägige Vorschrift des Teilzeit- und Befristungsgesetzes der Beschäftigungspolitik gedient habe, welche weiterhin in der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit liege.

73

Ob eine bestimmte Maßnahme eines Mitgliedstaates in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, bestimmt der Gerichtshof jeweils im Einzelfall nach der inhaltlichen Tragweite der Maßnahme in Bezug auf die Sachmaterie und die beteiligten Personen. Auch eine Richtlinie kann den Anwendungsbereich der Verträge eröffnen und so dazu führen, dass die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts in das mitgliedstaatliche Recht einwirken (vgl. von Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, S. 697 <704>). Ob eine Richtlinie den Anwendungsbereich der Verträge eröffnet, wird nach ihren Zielen bestimmt (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juni 1998, Rs. C-226/97, Lemmens, Slg. 1998, S. I-3711 Rn. 25 und 35 f.). Dagegen kann der nationale Gesetzgeber nicht den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts ausschließen, indem er mit einer Maßnahme auch Ziele - wie etwa die Beschäftigungspolitik (vgl. die beschränkten Handlungskompetenzen nach Art. 145 bis Art. 150 AEUV) - verfolgt, zu deren Regelung die Union nicht befugt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 24. November 1998, Bickel und Franz, Rs. C-274/96, Slg. 1998, S. I-7637 Rn. 17; stRspr). Der Gerichtshof rechtfertigt dies mit dem Hinweis, dass die Mitgliedstaaten andernfalls durch unterschiedliche Zielsetzungen die einheitliche Wirkung des Unionsrechts beeinträchtigen könnten.

74

Im konkreten Fall begründete der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts und damit des allgemeinen Verbots der Altersdiskriminierung damit, dass mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz ursprünglich die Richtlinie 1999/70/EG habe umgesetzt werden sollen (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 75). Dagegen kann eingewendet werden, dass nur der ursprüngliche Erlass des Teilzeit- und Befristungsgesetzes im Jahr 2000 der Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG diente, nicht aber das Änderungsgesetz, mit dem Satz 4 in den bestehenden § 14 Abs. 3 TzBfG eingefügt wurde (vgl. zum fehlenden Verweis auf das Gemeinschaftsrecht BTDrucks 15/25, S. 40). Entscheidende Erwägung, die aus der Binnenlogik des Unionsrechts heraus nicht vollständig zurückgewiesen werden kann, ist jedoch die sachliche Reichweite der Richtlinie 1999/70/EG, insbesondere deren Verschlechterungsverbot (§ 8 Abs. 3 der Richtlinie 1999/70/EG). Sie ist das maßgebende Argument, nicht die jeweilige Zielsetzung des nationalen Gesetzgebers.

75

bb) Eine im Hinblick auf das Ersichtlichkeitskriterium gravierende, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzende Rechtsfortbildung durch die Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs ist auch nicht wegen der vom Gerichtshof angenommenen Vorwirkung der in Deutschland noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG gegeben.

76

Der Gerichtshof ging davon aus, dass einem Verstoß einer nationalen Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG gegen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG nicht entgegenstehe, dass deren Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht abgelaufen gewesen sei (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 70 ff.). Der während der Umsetzungsfrist bestehende Handlungs- und Konkretisierungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland wurde dadurch jedoch nicht so verkürzt, dass eine strukturwirksame Kompetenzverschiebung angenommen werden müsste. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer in Kraft getretenen Richtlinie keine Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernsthaft in Frage zu stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Dezember 1997, Rs. C-129/96, Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, S. I-7411 Rn. 45; EuGH, Urteil vom 8. Mai 2003, Rs. C-14/02, ATRAL, Slg. 2003, S. I-4431 Rn. 58).

77

Die Mangold-Entscheidung lässt sich in die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur innerstaatlichen Wirkung von Richtlinien einordnen. Obwohl der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, dass eine Richtlinie "nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist" (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, S. I-3325 Rn. 19 ff.; EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, verb. Rs. C-397-403/01, Pfeiffer, Slg. 2004, S. I-8835 Rn. 108), hat der Gerichtshof anerkannt, dass richtlinienwidrig erlassene innerstaatliche Normen in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet bleiben müssen (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-194/94, CIA Security, Slg. 1996, S. I-2201; EuGH, Urteil vom 26. September 2000, Rs. C-443/98, Unilever, Slg. 2000, S. I-7535 Rn. 49 ff.). Mit der in der Mangold-Entscheidung angenommenen Vorwirkung von Richtlinien schafft der Gerichtshof eine weitere Fallgruppe für die sogenannte "negative" Wirkung von Richtlinien. Diese dient wie die Rechtsprechung zur "negativen" Wirkung von Richtlinien insgesamt lediglich der Effektuierung bestehender Rechtspflichten der Mitgliedstaaten, schafft aber keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten.

78

cc) Es kann dahinstehen, ob sich ein allgemeiner Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten ableiten ließe, obwohl nur zwei der zum Zeitpunkt der Mangold-Entscheidung 15 Verfassungen der Mitgliedstaaten ein besonderes Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters zu entnehmen war (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mazák vom 15. Februar 2007, Rs. C-411/05, Palacios, Slg. 2007, S. I-8531 Rn. 88; Hölscheidt, in: Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2006, Art. 21 Rn. 15) und auch die völkerrechtlichen Verträge, auf die sich der Gerichtshof mit seinem Hinweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2000/78/EG bezogen hatte, kein spezielles Diskriminierungsverbot enthielten. Denn zu einem ersichtlichen Verstoß im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung würde auch eine unterstellte, rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare Rechtsfortbildung des Gerichtshofs erst dann, wenn sie auch praktisch kompetenzbegründend wirkte. Mit dem in der Ableitung aus den gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen umstrittenen allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung wurde aber weder ein neuer Kompetenzbereich für die Union zulasten der Mitgliedstaaten begründet noch eine bestehende Kompetenz mit dem Gewicht einer Neubegründung ausgedehnt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn ohne den Erlass eines - hier als vorwirkend angesehenen - Sekundärrechtsaktes nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten von Bürgern durch Rechtsfortbildung begründet würden, die sich sowohl als Grundrechtseingriffe als auch als Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten erweisen würden. Allgemeine Grundsätze dürfen, auch wenn sie den Grundrechtsschutz auf Unionsebene gewährleisten, nicht den Ge-staltungsbereich des Unionsrechts über die eingeräumten Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnen oder gar neue Aufgaben und Zuständigkeiten begründen (vgl. Art. 51 Abs. 2 GRCh).

79

Hier liegt der Fall jedoch anders, weil die an der auf Art. 13 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV) gestützten Rechtsetzung beteiligten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters im Rat - und nicht Richter im Zuge der Rechtsfortbildung - den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragsrechtliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet haben (vgl. insoweit oben aa).

II.

80

Die Beschwerdeführerin ist auch nicht dadurch in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, dass das angegriffene Urteil keinen Vertrauensschutz gewährt hat.

81

1. a) Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips zählt die Rechtssicherheit. Der rechtsunterworfene Bürger soll nicht durch die rückwirkende Beseitigung erworbener Rechte in seinem Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht werden (vgl. BVerfGE 45, 142 <167>; 72, 175 <196>; 88, 384 <403>; 105, 48 <57>).

82

Das Vertrauen in den Fortbestand eines Gesetzes kann nicht nur durch die rückwirkende Feststellung seiner Nichtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 99, 341 <359 f.>), sondern auch durch die rückwirkende Feststellung seiner Nichtanwendbarkeit durch den Gerichtshof berührt werden. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein unionsrechtswidriges Gesetz bestimmt sich insbesondere danach, inwieweit vorhersehbar war, dass der Gerichtshof eine derartige Regelung als unionsrechtswidrig einordnet. Es ist ferner von Belang, dass eine Disposition im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage vorgenommen, das Vertrauen mit anderen Worten betätigt wurde (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>).

83

b) Die Möglichkeiten mitgliedstaatlicher Gerichte zur Gewährung von Vertrauensschutz sind unionsrechtlich vorgeprägt und begrenzt. Entscheidungen des Gerichtshofs im Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV wirken grundsätzlich ex tunc. Die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof ist deshalb von den mitgliedstaatlichen Gerichten auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die vor Erlass der Vorabentscheidung begründet wurden. Der Gerichtshof schränkt nur ausnahmsweise in Anbetracht der erheblichen Schwierigkeiten, die seine Entscheidung bei in gutem Glauben begründeten Rechtsverhältnissen für die Vergangenheit hervorrufen kann, die Rückwirkungen seiner Entscheidung ein (vgl. EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. C-61/79, Denkavit, Slg. 1980, S. 1205 Rn. 16 f.; stRspr).

84

Vertrauensschutz kann von den mitgliedstaatlichen Gerichten demnach nicht dadurch gewährt werden, dass sie die Wirkung einer Vorabentscheidung zeitlich beschränken, indem sie die nationale Regelung, deren Unvereinbarkeit mit Unionsrecht festgestellt wurde, für die Zeit vor Erlass der Vorabentscheidung anwenden. Eine solche primärwirksame Wirkung des Vertrauensschutzes lässt der Gerichtshof regelmäßig nicht zu, da er im Hinblick auf die einheitliche Geltung des Unionsrechts davon ausgeht, dass nur er selbst die Wirkung der in seinen Entscheidungen vorgenommenen Auslegung zeitlich beschränken könne (vgl. EuGH, Urteil vom 27. März 1980, a.a.O., Rn. 18; stRspr). In der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich hingegen keine Anhaltspunkte dafür, dass es den mitgliedstaatlichen Gerichten verwehrt wäre, sekundären Vertrauensschutz durch Ersatz des Vertrauensschadens zu gewähren.

85

c) Es ist danach möglich, zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes in Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs innerstaatlich eine Entschädigung dafür zu gewähren, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat. Auch das unionsrechtliche Haftungsrecht weist dem Mitgliedstaat die Verantwortung für ein unionsrechtswidriges Gesetz zu und entlastet insoweit den Bürger. Es kann offen bleiben, ob ein entsprechender Anspruch bereits im bestehenden Staatshaftungssystem angelegt ist.

86

2. Das Bundesarbeitsgericht hat die Tragweite eines nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zu gewährenden Vertrauensschutzes nicht verkannt. Wegen des gemeinschafts- beziehungsweise unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs durfte sich das Bundesarbeitsgericht außer Stande sehen, Vertrauensschutz dadurch zu gewähren, dass es die zugunsten der Beschwerdeführerin ergangenen Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. Ein ohne Verstoß gegen den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang möglicher Anspruch auf Entschädigung gegen die Bundesrepublik Deutschland für Vermögenseinbußen, die die Beschwerdeführerin durch die Entfristung des Arbeitsverhältnisses erlitten hat, war nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesarbeitsgericht.

III.

87

Das angegriffene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

88

1. Der Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es stellt einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt allerdings nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Denn das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 29, 198 <207>; 82, 159 <194>).

89

Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht. Das Bundesverfassungsgericht ist unionsrechtlich nicht verpflichtet, die Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht voll zu kontrollieren und an der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 267 Abs. 3 AEUV auszurichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2008 - 2 BvR 2419/06 -, NVwZ-RR 2008, S. 658 <660>; anders BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, NJW 2010, S. 1268 <1269>). Art. 267 Abs. 3 AEUV fordert kein zusätzliches Rechtsmittel zur Überprüfung der Einhaltung der Vorlagepflicht (vgl. Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, S. 633 <635>). Ein letztinstanzliches Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist definitionsgemäß die letzte Instanz, vor der der Einzelne Rechte geltend machen kann, die ihm aufgrund des Unionsrechts zustehen (vgl. EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, S. I-10239 Rn. 34). So behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht, das nur über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums wacht, wird seinerseits nicht zum "obersten Vorlagenkontrollgericht" (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 - 2 BvR 808/82 -, NJW 1988, S. 1456 <1457>).

90

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <194 ff.>). Zu verneinen ist in diesen Fällen ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG deshalb bereits dann, wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat.

91

2. Das angegriffene Urteil verletzt nicht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, denn das Bundesarbeitsgericht hat durch die Entscheidung, das Verfahren nicht an den Gerichtshof vorzulegen, die Beschwerdeführerin nicht ihrem gesetzlichen Richter entzogen.

92

Das Bundesarbeitsgericht hätte insbesondere nicht wegen Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vorabentscheidung herbeiführen müssen. Unter der Annahme, dass der Gerichtshof die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG in der Mangold-Entscheidung mit der gebotenen Eindeutigkeit festgestellt habe und die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht erfüllt seien, sah das Bundesarbeitsgericht sich nicht als verpflichtet an, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen. Dies stellt ein vertretbares Ergebnis dar. Die Gegenauffassung der Beschwerdeführerin, dass der Gerichtshof die Frage des rückwirkenden Vertrauensschutzes in der Rechtssache Mangold offen gelassen habe und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Begrenzung von Entscheidungswirkungen sich nicht auf die vorliegende Fallgestaltung beziehe, ist der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht eindeutig vorzuziehen. Das Bundesarbeitsgericht durfte vielmehr davon ausgehen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nach der Mangold-Entscheidung unangewendet bleiben musste.

IV.

93

Diese Entscheidung ist hinsichtlich der Begründung mit 6:2 Stimmen und im Ergebnis mit 7:1 Stimmen ergangen.

Abw. Meinung

94

Entgegen der Ansicht der Senatsmehrheit ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Das angefochtene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, weil das Bundesarbeitsgericht § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG ohne verfassungsrechtlich tragfähigen Grund unangewendet gelassen und sich so der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) entzogen hat. Auf das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Gerichtshof) in der Rechtssache Mangold konnte sich das Bundesarbeitsgericht von Verfassungs wegen nicht berufen.

95

Die Senatsmehrheit überspannt die Anforderungen an die Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der Gemeinschafts- oder Unionsorgane durch das Bundesverfassungsgericht und weicht insofern ohne überzeugende Gründe von dem Senatsurteil zum Vertrag von Lissabon ab (I.). Zu Unrecht verneint sie eine Kompetenzüberschreitung seitens des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold (II.). Auch das Bundesarbeitsgericht hat diese Kompetenzüberschreitung und die hieraus resultierenden Handlungsoptionen verkannt (III.).

I.

96

1. Mit dem Urteil zum Lissabon-Vertrag vom 30. Juni 2009 ist in Erinnerung zu rufen, dass das Handeln von Organen der Europäischen Union nur so lange demokratisch legitimiert ist, wie es sich im Rahmen der Kompetenzen hält, die die Mitgliedstaaten der Union übertragen haben. Die Einhaltung von Zuständigkeitsgrenzen ist nicht allein eine Frage des Austarierens der Machtbefugnisse von Verfassungs- und Gemeinschaftsorganen. Im demokratischen Regierungssystem folgt der Geltungsanspruch einer Norm nicht aus einer einseitigen Machtunterworfenheit des Bürgers, sondern aus ihrer Rückführung auf den Bürger selbst. Demokratische Legitimation erfordert deshalb eine tatsächliche, durchgehende Anknüpfung an das Staatsvolk. Sie darf nicht nur - und sei es im Wege des Ausschlusses einer Überprüfbarkeit - konstruiert sein. Ihre Notwendigkeit endet nicht an der Grenze des nationalen Zustimmungsgesetzes und dem Verbot der Blankettermächtigung, sondern setzt sich innerhalb der Staatengemeinschaft fort. Tätigkeiten, die von den übertragenen Aufgaben nicht umfasst werden, sind dadurch nicht mitlegitimiert (vgl. BVerfGE 93, 37 <68>). In diesem Sinne vermitteln und begrenzen die der Union von den Mitgliedstaaten verliehenen Kompetenzen den (sachlichen) Legitimationszusammenhang, in dem jedes Hoheitsgewalt ausübende Organ stehen muss (vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 307), und dessen Wahrung auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlage aller Unionsgewalt zum Ziel hat.

97

Denn die Ermächtigung, hoheitliche Gewalt supranational auszuüben, rührt von den Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge her (BVerfGE 123, 267 <349>); für die europäische Unionsgewalt gibt es kein Legitimationssubjekt, das sich unabgeleitet von der Hoheitsgewalt der Staaten auf gleichsam höherer Ebene verfassen könnte. Der Lissabon-Vertrag hat in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV das Prinzip begrenzter und kontrollierter Einzelermächtigung bestätigt. Zuständigkeitsausübungsregeln wie Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4, Art. 4 Abs. 2 EUV gewährleisten zudem, dass übertragene Kompetenzen in einer die mitgliedstaat-lichen Zuständigkeiten schonenden Weise wahrgenommen werden. Darüber hinaus enthält der Vertrag - bei verfassungsgemäßer Interpretation - keinerlei Vorschriften, die den Unionsorganen die Kompetenz-Kompetenz verschaffen würde (vgl. BVerfGE 123, 267 <392 f.>; zustimmend v. Bogdandy, NJW 2010, S. 1, 4). Dafür wäre auch die Verknüpfung von demokratischer Legitimation mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt, die die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hervorhebt, nicht hinreichend ausgeprägt. Der Anwendungsvorrang, der durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt wurde, bleibt ein völkervertraglich übertragenes und damit abgeleitetes Institut (BVerfGE 123, 267 <400>). Er ändert gerade nichts an der Pflicht zur Einhaltung der Kompetenzordnung. Er reicht für in Deutschland ausgeübte Hoheitsgewalt nur so weit, wie die Bundesrepublik dem zugestimmt hat oder zustimmen durfte (BVerfGE 123, 267 <402>). Insbesondere auch die dem Gerichtshof übertragene Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ist nicht schrankenlos. Die ihr durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen unterliegen letztlich der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 75, 223 <235>; 123, 267 <344>).

98

Verfassung und völkerrechtlicher Vertrag begründen Kompetenzen, um damit im Umfang der jeweiligen Zuschreibung rechtmäßige, das heißt rechtsstaatlich und demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt zu begründen. Dies stand dem Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 vor Augen und hat seine Linienführung bestimmt. Durch die Zuschreibung von Kompetenzen werden unterschiedliche supranationale und nationale Funktionen einander zugeordnet. Sie wollen damit eine sachgemäße Kooperation, sichtbare Verantwortlichkeit gegenüber dem Bürger und gegenseitige Kontrolle sichern und im Ergebnis so den Missbrauch hoheitlicher Gewalt verhindern. Ein Übermaß an Verflechtungen und Überlagerungen höhlt die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit aus und verletzt das aus demokratischer Rechtsstaatlichkeit fließende Gebot, dass Organe - nationale oder supranationale - für ihre Entscheidungen Verantwortung zu tragen haben.

99

2. Im Falle von Grenzdurchbrechungen - die diese Verantwortlichkeiten verwischen - hat das Bundesverfassungsgericht die Pflicht zur Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 123, 267 <353 f.>). Beim derzeitigen Entwicklungsstand des Unionsrechts kommen allein die nationalen Höchstgerichte, insbesondere die Verfassungsgerichte, als Instanzen für die Ausübung einer Kompetenzkontrolle gegenüber den Unionsorganen in Frage, nachdem auf der europäischen Ebene der Gerichtshof den Schlussstein des Systems bildet und diese Position tendenziell gemeinschaftsfreundlich genutzt hat (vgl. Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <494>). Die exekutiven und judikativen Instanzen der Europäischen Union haben weithin die Möglichkeit, das Unionsrecht in der von ihnen für richtig gehaltenen Interpretation durchzusetzen, ohne dass die politischen Instanzen über effektive Mechanismen zur Gegensteuerung für den Fall verfügen würden, dass sie die Folgen der Interpretation für schädlich erachten. Die Möglichkeit, eingetretenen Kompetenzaushöhlungen legislativ oder durch Vertragsrevisionen zu begegnen, ist angesichts der hierfür bestehenden hohen Hürden in einer Union mit 27 Mitgliedstaaten von geringer praktischer Wirksamkeit (vgl. Grimm, a.a.O. <493 f.>; Scharpf, Legitimität im europäischen Mehrebenensystem, Leviathan 2009, S. 244 <248 ff.>).

100

3. Bei der Ausübung dieser Prüfungskompetenz ist der Grundsatz der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes als Korrelat des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zu beachten und fruchtbar zu machen (BVerfGE 123, 267<354>). Das hier auftretende Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Wahrung demokratischer Legitimation und der Funktionsfähigkeit der Union (vgl. Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 395) löst die Mehrheit einseitig zu Gunsten der Funktionsfähigkeit auf.

101

a) In der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon hat der Senat ein ausgewogenes Modell entwickelt, das die Kontrolle in materieller Hinsicht auf ersichtliche Grenzdurchbrechungen gegenüber den Mitgliedstaaten beschränkt und sie in formeller Hinsicht unter den Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene stellt (BVerfGE 123, 267 <353>). Erfasst ist damit jede ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt (vgl. Everling, EuR 2010, S. 91 <103, Fn. 62>). Kompetenzverletzungen peripherer Natur, die einen offensichtlichen und eindeutigen Charakter vermissen lassen und die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit nicht in Frage stellen, bleiben außer Betracht; das gleiche gilt selbstverständlich für Kompetenzüberschreitungen, die nur von unionsinterner Bedeutung sind und sich auf die Freiräume der Mitgliedstaaten nicht auswirken. "Ersichtliche", also klare und eindeutige Verletzungen, sind zunächst einer Beurteilung durch den Gerichtshof zugänglich zu machen, wobei die Möglichkeit besteht, bestehende Bedenken in kompetenzieller Hinsicht zu artikulieren. Am vorliegenden Fall zeigt sich geradezu exemplarisch, wie der Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene zu realisieren gewesen wäre und welches konstruktive Potential dessen Ausschöpfung gehabt hätte (unten III.). Auf diesem Wege lässt sich hinreichend sicherstellen, dass eine Aktivierung der Reservekompetenz (BVerfGE 123, 267 <401>) des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Unionsrecht wegen Kompetenzüberschreitung auf Ausnahmefälle beschränkt bleibt (vgl. Wahl, Der Staat 48 <2009>, S. 587 <594>).

102

b) Die Senatsmehrheit geht über das Erfordernis einer ersichtlichen - also klaren und offensichtlichen - Kompetenzüberschreitung hinaus und verlässt den der Lissabon-Entscheidung zu Grunde liegenden Konsens, indem sie nun einen "hinreichend qualifizierten" Kompetenzverstoß fordert, der nicht nur offensichtlich ist, sondern zudem zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und supranationaler Organisation führt. Damit schießt die Senatsmehrheit über das Ziel einer europarechtsfreundlichen Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle hinaus. Sie verkennt die in der Lissabon-Entscheidung hervorgehobene wesentliche Voraussetzung einer zwingenden demokratischen Legitimation bei Ausübung aller hoheitlichen Gewalt, die bei jeder Kompetenzverletzung durchbrochen ist; wird die Ausübung hoheitlicher Gewalt ohne hinreichende demokratische Legitimation zugelassen, so widerspricht dies der Kernaussage des Senatsurteils vom 30. Juni 2009.

103

Mit der Forderung nach einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge (C. I. 2. b) verkennt die Senatsmehrheit zudem, dass spezifische Gefahren für die Wahrung der Kompetenzen und damit der demokratischen Legitimation im Fall der Europäischen Union weniger von schwerwiegenden - und als solchen erkennbaren - Kompetenzanmaßungen im Einzelfall als von schleichenden Entwicklungen ausgehen, in deren Verlauf kleinere, für sich betrachtet möglicherweise geringfügige Kompetenzüberschreitungen kumulativ bedeutende Folgen haben. Die wohl in allen föderalen Systemen naheliegende Gefahr einer "politischen Selbstverstärkung" (vgl. BVerfGE 123, 267 <351 f.>) der höheren Ebene besteht im Fall der Europäischen Union in besonderer Weise, da die Kompetenzverteilung hier - anders als in Bundesstaaten - nicht gegenstandsbezogen, sondern final erfolgt. Das Ziel, die Herstellung und Aufrechterhaltung des Binnenmarktes, wirkt entgrenzend (Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <493>). Ob sich im Rahmen solcher Entwicklungen - die sich anhand der im Fall Mangold kulminierenden steten Erweiterung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Wirkung von Richtlinienbestimmungen (unten II. 1. b) illustrieren lassen - jemals ein Einzelfall einer Kompetenzüberschreitung ausmachen lässt, der die von der Senatsmehrheit geforderte Schwere aufweist und daher den Gegenmechanismus der Ultra-vires-Kontrolle auslöst, erscheint sehr fraglich - zumal die Eignung eines Einzelakts, strukturelle Verschiebungen im Kompetenzgefüge herbeizuführen, sich vielfach erst im Nachhinein wirklich wird beurteilen lassen (vgl. Scharpf, Legitimität im europäischen Mehrebenensystem, Leviathan 2009, S. 244 <264>).

104

c) Im Ergebnis wird die Senatsmehrheit so ihrer Verantwortung für den rechtsstaatlich-demokratischen Sinngehalt von Kompetenzvorschriften nicht gerecht. Sie verfolgt damit eine schon in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennbare problematische Tendenz weiter, das demokratisch begründete nationale Letztentscheidungsrecht über die Anwendung von Hoheitsgewalt im eigenen Territorium und die damit einhergehende Verantwortung auch für die Einhaltung der an die Union verliehenen Kompetenzen nur noch auf dem Papier zu behaupten und vor deren praktisch wirksamer Vollziehung zurückzuschrecken: Hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst offen gelassen, ob Gemeinschaftsrecht am Grundgesetz gemessen werden könne (BVerfGE 22, 293 <298 f.>), so hatte es die Frage sodann in der Solange I-Entscheidung im Hinblick auf eine Grundrechtskontrolle bejaht (BVerfGE 37, 271 <280 ff.>), um eben diese Prüfungskompetenz zwölf Jahre später (zur Zwischenzeit siehe BVerfGE 52, 187 <202 f.>) im Hinblick auf die gewachsene Grundrechtsjudikatur des Gerichtshofs zu suspendieren (Solange II, BVerfGE 73, 339 <387>). Sodann entwickelte das Gericht erst in Umrissen, später deutlicher die Vorstellung einer Nachprüfung der Einhaltung der Kompetenzgrenzen (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <188>). Anstatt allerdings dieses Mittel zu einem effektiven Kontrollinstrument zu machen, kehrte das Gericht praktisch wieder zum status quo der Solange II-Entscheidung zurück (vgl. etwa den Bananenmarkt-Beschluss BVerfGE 102, 147 <163>; zur Entwicklung vgl. Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <478 f.>).

II.

105

Der Gerichtshof hat mit seinem Urteil in der Rechtssache Mangold die ihm verliehenen Kompetenzen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts ersichtlich überschritten und ultra vires gehandelt. Die von der Mehrheit offen gelassene Frage, ob der Gerichtshof mit seinem Urteil den Bereich der vertretbaren Auslegung - einschließlich der Rechtsfortbildung - verlassen hat, ist offensichtlich zu bejahen (1.); die Entscheidung des Gerichtshofs hat sich auch zu Lasten der dem Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland nach dem Vertrag verbleibenden Handlungsspielräume ausgewirkt (2.).

106

1. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Gerichtshof im Fall Mangold zu Recht den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts für eröffnet gehalten und zu Recht einen inhaltlichen Widerspruch zwischen § 14 TzBfG und Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG festgestellt hat. Jedenfalls die Erwägungen, mit denen der Gerichtshof sich über den fehlenden Ablauf der Umsetzungsfrist hinweggesetzt hat, stellen sich nicht mehr als noch vertretbare Auslegung und Fortbildung des Unionsrechts dar, sondern als ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt.

107

a) Auszugehen ist von einem schlichten Befund, für dessen Wahrnehmung man sich freilich nicht den Blick verstellen darf, indem man die am Gedanken des effet utile orientierte Rechtsprechungstradition des Gerichtshofs von vornherein als gegeben voraussetzt: Der Gerichtshof hat das deutsche Recht an Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG gemessen, obwohl diese Richtlinie zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Bundesrepublik Deutschland nicht verbindlich war; nach dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers waren die demokratisch legitimierten Organe der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt den Bindungen der Richtlinie noch nicht unterworfen. Ferner hat der Gerichtshof der noch nicht in Kraft getretenen Richtlinie trotz der in Art. 249 Abs. 2, 3 des EG-Vertrages in der Gestalt des Vertrages von Nizza (Art. 288 Abs. 2, 3 AEUV) niedergelegten Differenzierung eine (negative) unmittelbare innerstaatliche Wirkung beigemessen, die zur Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts führte. Letzteres hat sich schließlich - wie auch dem Gerichtshof klar sein musste - zu Lasten von Grundrechtsträgern ausgewirkt, welche auf die Wirksamkeit des nationalen Arbeitsrechts vertrauten.

108

b) Die für dieses Ergebnis vorgebrachten Begründungsansätze des Gerichtshofs vermögen ersichtlich nicht zu überzeugen; sie führen zu dem Schluss, dass der Gerichtshof ein von ihm im Sinne einer möglichst weitgehenden Geltung des Gemeinschaftsrechts gewolltes Ergebnis ohne Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers durchgesetzt und so die Grenzen methodisch vertretbarer Rechtsfortbildung verlassen hat. Zudem verdeutlichen sie, wie unterschiedliche, durchweg unionsfreundliche, aber für sich genommen längst akzeptierte Argumentationsmuster des Gerichtshofs in ihrer Kombination die Gefahr einer schrittweisen, schwer aufzuhaltenden Erosion mitgliedstaatlicher Kompetenzen und demokratischer Legitimation mit sich bringen.

109

aa) Soweit der Gerichtshof das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet und sich hierauf bezogen hat, lässt sich dies weder anhand der Urteilsgründe noch auch unabhängig davon nachvollziehen. Die Herleitung eines spezifischen Diskriminierungsverbots wegen des Alters aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten oder aus internationalen Verträgen ist nicht vertretbar. Das ist im juristischen Schrifttum und nicht zuletzt von Generalanwalt Mazák bereits hinreichend dargelegt und bislang nicht ernstlich bezweifelt worden; auch die Senatsmehrheit kommt - obwohl sie die Frage formell offenlässt - letztlich nicht umhin, dies zu bemerken (siehe dazu unter C. I. 2. b) cc) mit den dort genannten Nachweisen; vgl. ferner Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz, "Mangold" als ausbrechender Rechtsakt, 2009, S. 19 ff.; Körner, NZA 2005, S. 1395 <1397>; Krebber, Comparative Labor Law & Policy Journal 2006, S. 377 <390 f.>; Preis, NZA 2006, S. 401 <402>; Riesenhuber, ERCL 2007, S. 62 <66 f.>; Wieland, NJW 2009, S. 1841 <1843>). Vor diesem Hintergrund geht es auch nicht an, das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters kurzerhand zum Anwendungsfall des allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977 - Rs. C-117/76 -, Slg. 1977, S. 1753 Rn. 7 ff.) zu erklären, wie es der Gerichtshof mit seiner Bezugnahme auf die erste Begründungserwägung der Richtlinie 2000/78/EG in der Rechtssache Mangold (Rn. 74) andeutungsweise und in einer Folgeentscheidung ausdrücklich (EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010 - Rs. C-555/07 -, juris, Rn. 50) unternimmt; denn die entscheidende Wertung, dass das Alter ein problematisches, weiter rechtfertigungsbedürftiges Differenzierungskriterium darstellen könnte, ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht. Zudem ist sie - wie dargelegt - den gemeinsamen Verfassungstraditionen fremd und gerade im Kontext des Arbeitsmarkts angesichts der großen Probleme, die für ältere arbeitslose Menschen bei der Suche nach einer festen Anstellung bestehen, alles andere als selbstverständlich. Schließlich verliert der Gerichtshof kein Wort über den durch die Doppelung der Rechtsgrundlagen in Art. 12 und 13 EGV (heute: Art. 18 und 19 AEUV) deutlich zum Ausdruck gekommenen Willen der Mitgliedstaaten, Differenzierungen wegen anderer Merkmale als der Staatsangehörigkeit nur nach (!) sekundärrechtlicher Konkretisierung zu beschränken.

110

bb) Auch der Gedanke einer "Vorwirkung" der Richtlinie (siehe dazu unter C. I. 2. b) bb) kann das Auslegungsergebnis des Urteils in der Rechtssache Mangold weder für sich genommen noch in der Zusammenschau mit dem vermeintlichen ungeschriebenen Diskriminierungsverbot wegen des Alters tragen. Denn das vom Gerichtshof erwünschte Ergebnis ergibt sich insofern erst aus einer Kumulation verschiedener, mitgliedstaatliche Freiräume beschneidender dogmatischer Ansätze, die unter Gesichtspunkten einer transparenten demokratischen Kompetenzverteilung im Ergebnis nicht mehr hinzunehmen ist.

111

Die Anerkennung der unmittelbaren Wirksamkeit von Richtlinienbestimmungen seitens des Gerichtshofs war bereits ein eindeutig über den Wortlaut des Vertrags hinausweisender Schritt der Rechtsfortbildung (Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, S. 184; vgl. auch Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, insbesondere S. 16 ff.), den das Bundesverfassungsgericht allerdings - anders als manches andere Gericht (vgl. BFHE 143, 383; Conseil d'Etat, Entscheidung vom 22. Dezember 1978, EuR 1979, S. 292) - mitgegangen ist (BVerfGE 75, 223). Insofern hat sich das Bundesverfassungsgericht vom Gedanken der Europarechtsfreundlichkeit leiten lassen. Es hat gewürdigt, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs sich auf gewichtige sachliche Argumente - namentlich den Gedanken einer effektiven Sanktionierung von Mitgliedstaaten nach fruchtlosem Ablauf der Umsetzungsfrist - stützen konnte und die unmittelbare Wirkung an nicht ohne Weiteres erfüllte Voraussetzungen knüpfte, die eine vertragswidrige Gleichstellung von Richtlinie und Verordnung verhinderte (BVerfGE 75, 223 <237, 241 f., 244>). Diese Zurückhaltung lässt der Gerichtshof in der Rechtssache Mangold vermissen. Er hat das Prinzip, dass die unmittelbare Anwendung von Richtlinienbestimmungen den Ablauf der Umsetzungsfrist voraussetzt (vgl. dazu nur Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 249 EGV Rn. 28), aufgegeben; zudem hat er in der Sache eine unmittelbare Auswirkung der Richtlinie auf das Verhältnis zwischen Privaten zugelassen (vgl. dagegen noch zurückhaltend EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994 - Rs. C-91/92 -, Slg. 1994, S. I-3325 Rn. 19 ff.). Auf den Gedanken der Sanktionierung von (säumigen) Mitgliedstaaten lassen sich diese weitreichenden Schritte nicht mehr stützen. Der Gerichtshof erklärt sie mit dem pauschalen Hinweis auf den Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie keine Vorschriften mehr erlassen dürfen, die das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernsthaft in Frage stellen können, nur höchst unzureichend. Wenn die Senatsmehrheit hier von einer bloßen "Effektuierung bestehender Rechtspflichten" spricht, die "keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten" schaffe, wird die Problematik verschleiert: Auch eine "Effektuierung" bestehender Pflichten kann schließlich nur bedeuten, dass rechtliche Bindungen über das Maß des Vereinbarten hinaus verstärkt werden.

112

2. Das durch den Gerichtshof in der Rechtssache Mangold entwickelte Verständnis des Gemeinschaftsrechts betrifft die für das Eingreifen der Ultra-vires-Kontrolle entscheidende Abgrenzung der Kompetenzen von Gemeinschaft (Union) und Mitgliedstaaten. Es nimmt den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume auf dem Feld der Beschäftigungspolitik, das in weitem Umfang den Mitgliedstaaten vorbehalten ist (vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe i, Art. 125 ff. EGV; Art. 2 Abs. 3, Art. 5 Abs. 2, Art. 145 ff. AEUV). Damit sind die Voraussetzungen für das Eingreifen der Ultra-vires-Kontrolle erfüllt, auch wenn man die Bedeutung der vorliegenden Kompetenzüberschreitung angesichts des abzusehenden Ablaufs der Umsetzungsfrist für die Richtlinie nicht überbewerten muss. Wenn die Senatsmehrheit aber eine "praktische kompetenzbegründende Wirkung" mit der Erwägung verneinen möchte, dass die zur Rechtsetzung befugten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters dort den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht "und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet" haben, unterstellt sie ohne weitere Anhaltspunkte, dass die Rechtsauffassung des Gerichtshofs vom gesetzgeberischen Willen gedeckt war. Wenn es noch eines gegenteiligen Indizes bedurft hätte, zeigt doch die Verabschiedung des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG sehr deutlich, dass insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ihre Handlungsspielräume keinesfalls in der Weise eingeschränkt wissen wollte, wie sie sich aus dem Urteil in der Rechtssache Mangold ergibt. Im Gegenteil: Der deutsche Vertreter im Rat hatte ersichtlich eine die Freiräume der Bundesrepublik Deutschland einschränkende gerichtliche Rechtsinterpretation nicht im Blick und musste diese auch nicht erkennen können.

113

Schließlich macht auch die Tatsache, dass die Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs für die heute geltende Rechtslage keine Folgen mehr haben dürfte, nachdem ein Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in Art. 21 Abs. 1 der Grundrechte-Charta enthalten ist, den Verstoß nicht ungeschehen - vor allem nicht mit Blick auf den vorliegenden Fall, den das Bundesarbeitsgericht auf der Grundlage des zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Rechts zu entscheiden hatte (vgl. BAG, Urteil vom 27. November 2003 - 2 AZR 177/03 -, juris, Rn. 16; Krüger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 170 EGBGB Rn. 3).

III.

114

Unter diesen Umständen war es dem Bundesarbeitsgericht verwehrt, sich auf das Urteil in der Rechtssache Mangold zu berufen, den klaren Normanwendungsbefehl des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG unangewendet zu lassen und der Entfristungsklage stattzugeben. Da es dem Gericht umgekehrt nach Art. 234 EGV von Gemeinschaftsrechts wegen - und über Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch von Verfassungs wegen - nicht freistand, unter offener Abweichung von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheiden, hätte der 7. Senat alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erwägen oder erörtern müssen, die sich abzeichnende Spannungslage aufzulösen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass das Bundesarbeitsgericht - wie die Senatsmehrheit - die Kompetenzüberschreitung durch den Gerichtshof verkannt hat, zu Unrecht unterblieben.

115

Vorrangig wäre insofern die Inanspruchnahme von Rechtsschutz auf Unionsebene in Betracht gekommen, wie es auch im - freilich erst nach der hier angegriffenen Entscheidung ergangenen - Lissabon-Urteil ausgeführt ist. Das Bundesarbeitsgericht wäre ohne Weiteres in der Lage gewesen, den Gerichtshof im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EGV erneut und unter Darlegung der bestehenden Bedenken mit der Frage zu befassen, ob das Gemeinschaftsrecht die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG verlangte. Das Gemeinschaftsrecht stand einer solchen erneuten, erweitert begründeten Vorlage nicht entgegen (vgl. EuGH, Beschluss vom 5. März 1986 - Rs. C-69/85 -, Slg. 1986, S. 947 Rn. 15). In diesem Rahmen hätte auch die Möglichkeit bestanden, explizit die Frage nach einer möglichen zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen zu stellen (vgl. nur EuGH, Urteil vom 8. April 1976 - Rs. C-43/75, Slg. 1976, S. 455; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 Rn. 67). Schon das Vorlageverfahren hätte mannigfache Möglichkeiten eröffnet, den sich abzeichnenden Konflikt zwischen verfassungsrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Erfordernissen in kooperativer Weise und in einem frühen Stadium aufzulösen oder doch zu entschärfen.

116

Für den Fall einer vollumfänglichen Bestätigung der Mangold-Entscheidung hätte das Bundesarbeitsarbeitsgericht des Weiteren prüfen können und müssen, ob und inwieweit europarechtskonforme Entscheidungsmöglichkeiten bestanden, die den in § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willen jedenfalls im Ergebnis respektiert hätten, etwa indem der vorliegende Rechtsstreit unter Nichtanwendung der genannten Vorschriften nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage entschieden worden wäre. Nur wenn auch solche Wege nicht gangbar gewesen wären, hätte das Bundesarbeitsgericht den Weg der Normenkontrolle entsprechend Art. 100 Abs. 1 GG zur förmlichen Feststellung der Kompetenzüberschreitung durch das Bundesverfassungsgericht gehen können und müssen. Dies zeigt im Übrigen, dass die Ultra-vires-Kontrolle über weite Strecken in europarechtsfreundlicher, kooperativer Weise ausgeübt werden kann; der eigentliche Akt der Feststellung von Kompetenzüberschreitung und Unanwendbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht bleibt folglich in jedem Fall ultima ratio.

*

(1) Leistet der Schuldner auf eine Mahnung des Gläubigers nicht, die nach dem Eintritt der Fälligkeit erfolgt, so kommt er durch die Mahnung in Verzug. Der Mahnung stehen die Erhebung der Klage auf die Leistung sowie die Zustellung eines Mahnbescheids im Mahnverfahren gleich.

(2) Der Mahnung bedarf es nicht, wenn

1.
für die Leistung eine Zeit nach dem Kalender bestimmt ist,
2.
der Leistung ein Ereignis vorauszugehen hat und eine angemessene Zeit für die Leistung in der Weise bestimmt ist, dass sie sich von dem Ereignis an nach dem Kalender berechnen lässt,
3.
der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert,
4.
aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der sofortige Eintritt des Verzugs gerechtfertigt ist.

(3) Der Schuldner einer Entgeltforderung kommt spätestens in Verzug, wenn er nicht innerhalb von 30 Tagen nach Fälligkeit und Zugang einer Rechnung oder gleichwertigen Zahlungsaufstellung leistet; dies gilt gegenüber einem Schuldner, der Verbraucher ist, nur, wenn auf diese Folgen in der Rechnung oder Zahlungsaufstellung besonders hingewiesen worden ist. Wenn der Zeitpunkt des Zugangs der Rechnung oder Zahlungsaufstellung unsicher ist, kommt der Schuldner, der nicht Verbraucher ist, spätestens 30 Tage nach Fälligkeit und Empfang der Gegenleistung in Verzug.

(4) Der Schuldner kommt nicht in Verzug, solange die Leistung infolge eines Umstands unterbleibt, den er nicht zu vertreten hat.

(5) Für eine von den Absätzen 1 bis 3 abweichende Vereinbarung über den Eintritt des Verzugs gilt § 271a Absatz 1 bis 5 entsprechend.

*

(1) Eine Geldschuld ist während des Verzugs zu verzinsen. Der Verzugszinssatz beträgt für das Jahr fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz.

(2) Bei Rechtsgeschäften, an denen ein Verbraucher nicht beteiligt ist, beträgt der Zinssatz für Entgeltforderungen neun Prozentpunkte über dem Basiszinssatz.

(3) Der Gläubiger kann aus einem anderen Rechtsgrund höhere Zinsen verlangen.

(4) Die Geltendmachung eines weiteren Schadens ist nicht ausgeschlossen.

(5) Der Gläubiger einer Entgeltforderung hat bei Verzug des Schuldners, wenn dieser kein Verbraucher ist, außerdem einen Anspruch auf Zahlung einer Pauschale in Höhe von 40 Euro. Dies gilt auch, wenn es sich bei der Entgeltforderung um eine Abschlagszahlung oder sonstige Ratenzahlung handelt. Die Pauschale nach Satz 1 ist auf einen geschuldeten Schadensersatz anzurechnen, soweit der Schaden in Kosten der Rechtsverfolgung begründet ist.

(6) Eine im Voraus getroffene Vereinbarung, die den Anspruch des Gläubigers einer Entgeltforderung auf Verzugszinsen ausschließt, ist unwirksam. Gleiches gilt für eine Vereinbarung, die diesen Anspruch beschränkt oder den Anspruch des Gläubigers einer Entgeltforderung auf die Pauschale nach Absatz 5 oder auf Ersatz des Schadens, der in Kosten der Rechtsverfolgung begründet ist, ausschließt oder beschränkt, wenn sie im Hinblick auf die Belange des Gläubigers grob unbillig ist. Eine Vereinbarung über den Ausschluss der Pauschale nach Absatz 5 oder des Ersatzes des Schadens, der in Kosten der Rechtsverfolgung begründet ist, ist im Zweifel als grob unbillig anzusehen. Die Sätze 1 bis 3 sind nicht anzuwenden, wenn sich der Anspruch gegen einen Verbraucher richtet.

(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung umfasst auch die Entschädigung des Gegners für die durch notwendige Reisen oder durch die notwendige Wahrnehmung von Terminen entstandene Zeitversäumnis; die für die Entschädigung von Zeugen geltenden Vorschriften sind entsprechend anzuwenden.

(2) Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Die Kosten mehrerer Rechtsanwälte sind nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. In eigener Sache sind dem Rechtsanwalt die Gebühren und Auslagen zu erstatten, die er als Gebühren und Auslagen eines bevollmächtigten Rechtsanwalts erstattet verlangen könnte.

(3) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne der Absätze 1, 2 gehören auch die Gebühren, die durch ein Güteverfahren vor einer durch die Landesjustizverwaltung eingerichteten oder anerkannten Gütestelle entstanden sind; dies gilt nicht, wenn zwischen der Beendigung des Güteverfahrens und der Klageerhebung mehr als ein Jahr verstrichen ist.

(4) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne von Absatz 1 gehören auch Kosten, die die obsiegende Partei der unterlegenen Partei im Verlaufe des Rechtsstreits gezahlt hat.

(5) Wurde in einem Rechtsstreit über einen Anspruch nach Absatz 1 Satz 1 entschieden, so ist die Verjährung des Anspruchs gehemmt, bis die Entscheidung rechtskräftig geworden ist oder der Rechtsstreit auf andere Weise beendet wird.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

(1) Die Revision findet nur statt, wenn sie

1.
das Berufungsgericht in dem Urteil oder
2.
das Revisionsgericht auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung
zugelassen hat.

(2) Die Revision ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.
Das Revisionsgericht ist an die Zulassung durch das Berufungsgericht gebunden.