Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Beschluss, 03. Apr. 2017 - LVerfG 2/16

ECLI:ECLI:DE:LVGSH:2017:0403.LVERFG2.16.0A
bei uns veröffentlicht am03.04.2017

Tenor

Die Vorlage ist unzulässig.

Gründe

A.

1

Das Vorlageverfahren betrifft die Vereinbarkeit von § 15 Abs. 4 Satz 2 Verwaltungskostengesetz des Landes Schleswig-Holstein (VwKostG) vom 17. Januar 1974 (GVOBl S. 37), zuletzt geändert durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Verwaltungskostengesetzes des Landes Schleswig-Holstein und des Kommunalabgabengesetzes des Landes Schleswig-Holstein vom 17. November 2004 (GVOBl S. 412) mit Art. 2a der Schleswig-Holsteinischen Landesverfassung (LV) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG).

I.

2

Das Verwaltungskostengesetz des Landes Schleswig-Holstein regelt die Erhebung von Kosten im Zusammenhang mit Verwaltungsverfahren. In § 15 VwKostG, der in Abschnitt III - Allgemeine Vorschriften - verortet ist, ist die Erhebung von Verwaltungsgebühren in besonderen Fällen geregelt. § 15 VwKostG lautet wie folgt:

§ 15

3

Verwaltungsgebühren in besonderen Fällen

4

(1) Wird ein Antrag ausschließlich wegen Unzuständigkeit der Behörde abgelehnt, wird keine Verwaltungsgebühr erhoben. Dasselbe gilt bei Rücknahme eines Antrages, wenn mit der sachlichen Bearbeitung noch nicht begonnen ist.

5

(2) Die vorgesehene Verwaltungsgebühr ermäßigt sich um ein Viertel, wenn

6

1. ein Antrag zurückgenommen wird, nachdem mit der sachlichen Bearbeitung begonnen, die Amtshandlung aber noch nicht beendet ist,

7

2. ein Antrag aus anderen Gründen als wegen Unzuständigkeit abgelehnt wird oder

8

3. eine Amtshandlung zurückgenommen oder widerrufen wird.

9

Aus Gründen der Billigkeit kann die Verwaltungsgebühr bis zu einem Viertel der vorgesehenen Verwaltungsgebühr ermäßigt oder von ihrer Erhebung abgesehen werden.

10

(3) Wird gegen eine kostenpflichtige Amtshandlung Widerspruch erhoben, sind für den Erlaß des Widerspruchsbescheides Verwaltungsgebühren und Auslagen zu erheben, soweit der Widerspruch zurückgewiesen wird. In diesem Fall ist eine Verwaltungsgebühr von mindestens fünf Euro bis zur Höhe der Verwaltungsgebühr, die für die Amtshandlung zu zahlen ist, zu erheben; § 9 Abs. 1 ist anzuwenden. Wird ein Widerspruch zurückgenommen, nachdem mit der sachlichen Bearbeitung begonnen, der Widerspruchsbescheid aber noch nicht erlassen ist, oder erledigt sich der Widerspruch auf andere Weise, so sind 25 v.H. der nach Satz 2 festzusetzenden Verwaltungsgebühren zu erheben. Wird der Widerspruchsbescheid der nächsthöheren Behörde von einem Verwaltungsgericht ganz oder teilweise aufgehoben, sind die für den Widerspruchsbescheid bereits gezahlten Verwaltungsgebühren und Auslagen dem Träger der öffentlichen Verwaltung, der die Kosten des Verfahrens einschließlich des Vorverfahrens zu tragen hat, auf Antrag zu erstatten.

11

(4) Richtet sich in einer kostenpflichtigen Angelegenheit der Widerspruch ausschließlich gegen die Kostenentscheidung, gilt Absatz 3 Satz 1 entsprechend. Die Verwaltungsgebühr für den Widerspruchsbescheid bei Kostenentscheidungen beträgt 10 v. H. des angefochtenen Betrages, mindestens fünf Euro.

II.

12

Im Ausgangsverfahren vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht wandte sich der Kläger gegen einen Leistungsbescheid vom 12. Februar 2015 für eine Abschleppmaßnahme der Landeshauptstadt Kiel. Diese hatte vom Kläger des Ausgangsverfahrens für einen eingeleiteten, aber nicht durchgeführten Abschleppvorgang Kosten in Höhe von insgesamt 100,70 € (Kosten Abschleppunternehmer: 48,20 €, Gebühren: 49,- €, Auslagen: 3,50 €) erhoben. Eine Überwachungskraft der Landeshauptstadt Kiel hatte veranlasst, dass das Auto des Klägers am 27. November 2014 um 12:21 Uhr aus dem öffentlichen Straßenraum abgeschleppt werden sollte. Der Kläger, so die Begründung des Bescheides, habe vor einer Bordsteinabsenkung und weniger als fünf Meter vor der Einmündung geparkt und dadurch andere behindert. Aufgrund der Schwere des Verkehrsverstoßes habe eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorgelegen. Die Veranlassung eines Abschleppvorgangs sei das mit geringstem Aufwand erfolgversprechende Mittel gewesen, um diese Gefahr zu beseitigen. Der Kläger des Ausgangsverfahrens habe nicht mit zumutbarem Aufwand ermittelt werden können, um den PKW selbst zu entfernen. Einer Androhung der Ersatzvornahme habe es nicht bedurft. Die Kostenpflicht werde schon durch die Einleitung des Abschleppvorgangs ausgelöst.

13

Im Widerspruchsverfahren gegen den Leistungsbescheid vom 12. Februar 2015 wandte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens gegen die Rechtmäßigkeit der Einleitung des nicht durchgeführten Abschleppvorgangs. Dies wies die Landeshauptstadt mit Widerspruchsbescheid vom 1. September 2015 zurück; die Abschleppmaßnahme sei zu Recht erfolgt. Für den Erlass des Widerspruchsbescheides setzte sie weitere Gebühren in Höhe von 43,- € sowie Postgebühren im Zustellungsverfahren in Höhe von 3,45 € fest und gab hierfür als Rechtsgrundlage § 73 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 15 Abs. 3 VwKostG an.

14

Hiergegen hat der Kläger des Ausgangsverfahrens am 2. Oktober 2015 Klage erhoben, zu deren Begründung er ergänzend zu seinem vorherigen Vorbringen vorgetragen hat, die Abschleppmaßnahme sei übereilt eingeleitet worden. Eine Behinderung anderer sei für ihn nicht erkennbar gewesen. Auf Anfrage des Gerichts hat er „klarstellend“ mitgeteilt, dass die Widerspruchsgebühr gleichfalls Streitgegenstand sei.

15

Im Klageverfahren hatte die 3. Kammer des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts zunächst den Rechtsstreit mit Beschluss vom 22. Juni 2016 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, da die Sache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise und auch keine grundsätzliche Bedeutung habe.

16

Mit Beschluss des Einzelrichters vom 5. Oktober 2016 ist der Rechtsstreit auf die Kammer zurückübertragen worden. Diese hat mit Beschluss aufgrund mündlicher Verhandlung vom 22. November 2016 das Verfahren ausgesetzt, um die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts zu der Frage einzuholen, ob § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG mit Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei.

III.

17

Zur Begründung der Vorlage führt das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass sich die Unvereinbarkeit von § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG maßgeblich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 6. Februar 1979 - 2 BvL 5/76 - (BVerfGE 50, 217 ff.) ergebe.

18

In seinem Beschluss vom 6. Februar 1979 - 2 BvL 5/76 - hatte das Bundesverfassungsgericht die Regelung in § 15 Abs. 4 Satz 2 des Gebührengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. November 1971 (GV S. 354; - Geb NW -) für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig erklärt. Zur Begründung hatte es angeführt, dass die Gebühren nach dieser Regelung unabhängig von den Kosten der gebührenpflichtigen Staatsleistung festgesetzt worden seien und die Regelung, bezogen auf den Zweck der Kostendeckung, nicht sachgemäß gewesen sei. Die seinerzeit zur Überprüfung gestellte Regelung des § 15 GebG NW lautete:

§ 15

19

Gebühren in besonderen Fällen

20

(1) Wird ein Antrag ausschließlich wegen Unzuständigkeit der Behörde abgelehnt, so werden weder Gebühren noch Auslagen erhoben. Dasselbe gilt bei Rücknahme eines Antrages, wenn mit der sachlichen Bearbeitung noch nicht begonnen ist.

21

(2) Wird ein Antrag auf Vornahme einer Amtshandlung zurückgenommen, nachdem mit der sachlichen Bearbeitung begonnen, die Amtshandlung aber noch nicht beendet ist, oder wird ein Antrag aus anderen Gründen als wegen Unzuständigkeit abgelehnt oder wird eine Amtshandlung zurückgenommen oder widerrufen, so ermäßigt sich die vorgesehene Gebühr um ein Viertel; sie kann bis zu einem Viertel der vorgesehenen Gebühr ermäßigt oder es kann von ihrer Erhebung abgesehen werden, wenn dies der Billigkeit entspricht.

22

(3) Wird gegen eine gebührenpflichtige Sachentscheidung Widerspruch erhoben, so sind für den Erlaß des Widerspruchsbescheides Gebühren und Auslagen zu erheben, wenn und soweit der Widerspruch zurückgewiesen wird. In diesem Falle ist die gleiche Gebühr wie für die Sachentscheidung zu erheben. Richtet sich der Widerspruch nur gegen einen Teil der Entscheidung, so ermäßigt sich die Gebühr entsprechend. Wird der Widerspruchsbescheid der nächsthöheren Behörde von einem Verwaltungsgericht ganz oder teilweise aufgehoben, so sind die für den Widerspruchsbescheid bereits gezahlten Gebühren und Auslagen der Behörde, die die Kosten des Verfahrens einschließlich des Vorverfahrens zu tragen hat, auf Antrag zu erstatten.

23

(4) Richtet sich in einer gebührenpflichtigen Angelegenheit der Widerspruch ausschließlich gegen die Kostenentscheidung, so gilt Absatz 3 Satz 1 sinngemäß. In diesem Falle beträgt die Gebühr ein Viertel der Gebühr für die Sachentscheidung. Absatz 3 Satz 3 findet Anwendung.

24

(5) Ist der Entscheidung des Beschlußausschusses ein Bescheid seines Vorsitzenden vorausgegangen, so sind nur für die Entscheidung des Beschlußausschusses Gebühren und Auslagen zu erheben.

25

Die bis heute geltende Fassung von § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG trage – so das Verwaltungsgericht weiter – diesem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend Rechnung. Der schleswig-holsteinische Landesgesetzgeber habe seinerzeit die bis dahin gleich lautende Parallelnorm noch vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts geändert. Er habe sich aber darauf beschränkt, das Verhältnis zwischen Widerspruchsgebühr und festgesetzten Kosten im Ausgangsbescheid von einem Viertel auf 10 % zu reduzieren. Im Übrigen sei der vom Bundesverfassungsgericht als willkürlich beanstandete starre Gebührenmaßstab strukturell beibehalten worden. Die Regelung in § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG koppele die Widerspruchsgebühr weiterhin generell und durchgängig an die im Ausgangsbescheid festgesetzten Kosten. Dieser durchgängige Gebührenmaßstab ohne jede absolute obere Begrenzung der Gebührenschuld lasse die Regelung als nicht mehr sachlich gerechtfertigt erscheinen, weil sie nicht hinreichend an den Aufwand anknüpfe, der mit dem Widerspruchsverfahren verbunden sei. Gerade bei einer Ersatzvornahme könne sich die nach § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG festzusetzende Widerspruchsgebühr im Einzelfall noch weiter vom tatsächlichen Verwaltungsaufwand entfernen. Es sei nicht ersichtlich, dass durch die Anknüpfung an den angefochtenen Betrag anstelle der „Gebühr für die Sachentscheidung“ der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend Rechnung getragen werde.

26

Eine verfassungskonforme Auslegung der beanstandeten Norm komme nicht in Betracht. Die Festlegung einer konkret bezifferten Obergrenze wäre, so das vorlegende Gericht, ein „Eingriff in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“. Auch den Begriff des „angefochtenen Betrages“ als „Gebührenhöhe des Ausgangsbescheides“ zu verstehen, sei nicht möglich.

27

Die beanstandete Norm sei entscheidungserheblich. Im Falle der Verfassungswidrigkeit der beanstandeten Norm sei der Widerspruchsbescheid hinsichtlich der festgesetzten Gebühr mangels entsprechender Rechtsgrundlage vollständig aufzuheben. Im Falle der Gültigkeit der Norm wäre dieser nur insoweit aufzuheben, als ein Betrag von mehr als 10,07 € (10 % des angefochtenen Betrages) festgesetzt worden sei.

28

Das Ausgangsverfahren sei entscheidungsreif. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ersatzvornahme bestünden nicht. Die Klage sei jedoch hinsichtlich der im Widerspruchsbescheid festgesetzten Widerspruchsgebühr zumindest teilweise begründet. Die Festsetzung der Gebühr für den Erlass des Widerspruchsbescheides sei durch die Beklagte des Ausgangsverfahrens fälschlich nach § 15 Abs. 3 VwKostG erfolgt. Die einschlägige Rechtsgrundlage der Verwaltungsgebühr für den Widerspruchsbescheid bei Anfechtung allein einer Kostenentscheidung in einer kostenpflichtigen Angelegenheit sei § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG. Danach betrage die Gebühr in solchen Fällen 10 vom Hundert des angefochtenen Betrages, mindestens fünf Euro. Mit dem Ausgangsbescheid sei lediglich die Kostenentscheidung für eine vorangegangene Ersatzvornahme getroffen worden. Andere Regelungen enthalte der Leistungsbescheid nicht. § 15 Abs. 3 Satz 1 und 2 VwKostG betreffe unter Berücksichtigung seines Wortlautes allein die Fälle, in denen „gegen eine kostenpflichtige Amtshandlung“ Widerspruch erhoben worden sei. In Fällen wie dem Ausgangsverfahren richte sich der Widerspruch gerade nicht mehr gegen die bereits erledigte Ersatzvornahme, sondern nur gegen den Leistungsbescheid, mit dem die angefallenen Gebühren und Auslagen geltend gemacht würden. Es handele sich insoweit um eine isolierte Anfechtung einer Kostenentscheidung im Sinne von § 22 Abs. 2 VwKostG.

IV.

29

1. Der Schleswig-Holsteinische Landtag und die Landesregierung halten den Antrag für unzulässig, jedenfalls für unbegründet.

30

Das vorlegende Gericht genüge nicht seiner Darlegungspflicht nach § 44 Abs. 1 Landesverfassungsgerichtsgesetz (LVerfGG). Das vorlegende Gericht habe versäumt, mit einer rechtlich nachvollziehbaren Begründung die Entscheidungserheblichkeit von § 15 Abs. 4 VwKostG darzulegen. So habe es sich nicht hinreichend damit beschäftigt, ob § 15 Abs. 3 oder § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG Rechtsgrundlage für die Widerspruchsgebühr sei. Bei einem Kostenfestsetzungsbescheid für einen Abschleppvorgang könne die Rechtmäßigkeit des – gegebenenfalls fiktiven – Grundverwaltungsakts regelmäßig nicht mehr isoliert, sondern nur inzident mit der Rechtmäßigkeit der Kostenfestsetzung überprüft werden. Es würden jedoch im Allgemeinen und so auch im zu entscheidenden Fall keine kostenspezifischen Einwände erhoben, sondern nur Einwände gegen die Rechtmäßigkeit des – gegebenenfalls fiktiven – Grundverwaltungsakts. Demgegenüber werde bei einer isolierten Anfechtung der Kostenentscheidung gerade nicht die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung überprüft. Im Übrigen habe das vorlegende Gericht zu Unrecht angenommen, dass sich die Ersatzvornahme erledigt habe. Eine Ersatzvornahme erledige sich nicht deshalb, weil sie durchgeführt worden sei.

31

2. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hat in ihrer Stellungnahme – wie bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht – darauf hingewiesen, dass die beanstandete Norm nicht entscheidungserheblich sei, sondern sich die Erhebung der Widerspruchsgebühr allein nach § 15 Abs. 3 VwKostG richte. Sie verweist ebenfalls darauf, dass bei Abschleppvorgängen ein isoliertes gerichtliches Vorgehen gegen die Ersatzvornahme nicht möglich sei und ihre Rechtmäßigkeit allein inzident mit dem Leistungsbescheid überprüft werden könne. Auch wenn der Leistungsbescheid nur die Kostenpflichtigkeit der Ersatzvornahme regele, handele es sich nicht um eine isolierte Kostenentscheidung im Sinne von § 22 Abs. 2 VwKostG. § 15 Abs. 4 VwKostG betreffe allein die Fälle, in denen abstrakt um Kosten gestritten werde.

32

3. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich der Ansicht des vorlegenden Gerichts angeschlossen.

B.

33

Die Vorlage ist unzulässig.

34

Es ist bereits zweifelhaft, ob § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich ist. Dies kann aber offen bleiben, da die Entscheidungserheblichkeit durch das vorlegende Gericht in dem Vorlagebeschluss jedenfalls nicht hinreichend dargelegt wurde.

35

Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist nur zulässig, wenn es für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm ankommt (§ 44 Abs. 1 LVerfGG), diese mithin entscheidungserheblich ist. Entscheidungserheblich ist eine Norm, wenn das Gericht im Ausgangsverfahren bei ihrer Ungültigkeit anders entscheiden müsste als bei ihrer Gültigkeit

36

(Beschluss vom 27. Januar 2016 - LVerfG 2/15 -, SchlHA 2016, 58 <59>, Juris Rn. 19 m.w.N.).

37

Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm für das Ausgangsverfahren ist dabei grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, es sei denn, diese ist offensichtlich unhaltbar oder in der Sache nicht nachvollziehbar

38

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19. November 2014 - 2 BvL 2/13 -, BVerfGE 138, 1 ff., Juris Rn. 41, vom 19. Dezember 2012 - 1 BvL 18/11 -, BVerfGE 133, 1 ff., Juris Rn. 35, vom 2. Mai 2012 - 1 BvL 20/09 -, BVerfGE 131, 1 ff., Juris Rn. 66, und vom 17. Juli 2003 - 2 BvL 1/99 u.a. -, BVerfGE 108, 186 ff., Juris Rn. 94, jeweils m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 2016 - 1 BvL 7/15 -, NVwZ 2016, 1318 <1319>, Juris Rn. 15 m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Dezember 2015 - 1 BvL 4/11 -, NZS 2016, 263 <264>, Juris Rn. 14 m.w.N., stRspr; vgl. hierzu auch: Eisele/ Hyckel, NVwZ 2016, 1298 <1299 f.>).

39

Jedoch muss das vorlegende Gericht in einem aus sich heraus verständlichen Vorlagebeschluss darlegen, dass seine Entscheidung im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Norm von dieser abhängt. Der Vorlagebeschluss muss also erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit dieser Norm zu einem anderen Ergebnis kommen würde, als im Falle der Ungültigkeit. Hierbei muss das vorlegende Gericht insbesondere die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, auf einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder des Landesverfassungsgerichts eingehen und sich gegebenenfalls auch mit der Entstehungsgeschichte der Norm auseinandersetzen

40

(vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. Dezember 2013 - 1 BvL 5/12 -, Juris Rn. 5 f. m.w.N.).

41

Das vorlegende Gericht hat sich bei der Begründung der Entscheidungserheblichkeit eingehend mit der einfachrechtlichen Rechtslage anhand der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen und zu unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten Stellung zu nehmen, sofern diese für die Entscheidungserheblichkeit maßgeblich sein können

42

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2. Mai 2012 - 1 BvL 20/09 -, BVerfGE 131, 1 ff., Juris Rn. 67, und vom 22. September 2009 - 2 BvL 3/02 -, BVerfGE 124, 251 ff., Juris Rn. 23, jeweils m.w.N; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 2016 - 1 BvL 7/15 -, NVwZ 2016, 1318 <1319>, Juris Rn. 15 m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Juli 2014 - 2 BvL 25/09 u.a. -, Juris Rn. 27 m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Dezember 2015 - 1 BvL 4/11 -, NZS 2016, 263 <264>, Juris Rn. 14 m.w.N.).

43

Diesen Anforderungen genügt der Vorlagebeschluss nicht. Zwar hat das vorlegende Gericht den seiner Ansicht nach entscheidungserheblichen Sachverhalt im Wesentlichen wiedergegeben und näher ausgeführt, wie sich eine Nichtigkeit von § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG auf seine Entscheidung auswirken würde. Das vorlegende Gericht setzt sich jedoch im Vorlagebeschluss nicht ausreichend damit auseinander, ob Rechtsgrundlage für die Widerspruchsgebühr § 15 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwKostG oder § 15 Abs. 3 Satz 2 VwKostG ist.

44

§ 15 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwKostG wären für das Ausgangsverfahren nur dann entscheidungserheblich, wenn sich der Kläger des Ausgangsverfahrens „allein“ gegen eine Kostenentscheidung in diesem Sinne gewandt hätte

45

(vgl. Friedersen, in: Busch/ Friedersen, Praxis der Kommunalverwaltung - E 4 b SH - VwKostG SH, Stand: September 2006, § 22 Erl. 3),

46

wenn der in dem Ausgangsverfahren angefochtene Leistungsbescheid also eine reine Kostenentscheidung im Sinne von § 15 Abs. 4 Satz 1 VwKostG wäre und auch insoweit ausschließlich diese Entscheidung durch den Kläger des Ausgangsverfahrens angefochten worden wäre.

47

Das vorlegende Gericht hätte sich zur hinreichenden Begründung der Entscheidungserheblichkeit damit auseinander setzen müssen, ob § 15 Abs. 4 VwKostG nur die Fälle betrifft, in denen sich der Widerspruch allein gegen die festgesetzten Kosten als solche richtet, zum Beispiel gegen die Höhe der Kosten, deren Berechnung oder die richtige Anwendung von Gebührennormen. Dabei hätte sich das vorlegende Gericht zudem damit beschäftigen müssen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens sich in der Sache erkennbar nur gegen die Kosten oder auch gegen die Rechtmäßigkeit der Ersatzvornahme gewendet hatte.

48

Insofern ist das vorlegende Gericht trotz bestehender Notwendigkeit nicht hinreichend auf die Besonderheiten des Ausgangsverfahrens eingegangen. Dieses betrifft einen Leistungsbescheid zu einer Ersatzvornahme. Zwar werden mit dem Leistungsbescheid Auslagen der Verwaltung sowie pauschalisierte Verwaltungsgebühren erhoben. Voraussetzung für die Erhebung dieser Kosten einer Ersatzvornahme ist jedoch auch die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Ersatzvornahme als Kostengrund

49

(vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 1984 - 4 C 31.81 -, NJW 1984, 2591 <2592>, Juris Rn. 12; OVG Schleswig, Urteil vom 27. April 2006 - 4 LB 23/04 -, NordÖR 2006, 204 <205>, Juris Rn. 88 m.w.N.; VG Schleswig, Urteil der vorlegenden Kammer vom 17. Februar 2015 - 3 A 78/14 -, Juris Rn. 18, vgl. auch Rn. 40, wo als Rechtsgrundlage für die Widerspruchsgebühr § 15 Abs. 3 VwKostG benannt wird).

50

Bei einem angefochtenen Leistungsbescheid zu einer Ersatzvornahme ist also zwingend inzident auch deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen.

51

Es bleibt der betroffenen Person im Ergebnis keine andere Möglichkeit, als den Leistungsbescheid anzufechten, wenn sie die Rechtmäßigkeit der Ersatzvornahme überprüft wissen möchte. In einem solchen Fall geht es nicht (nur) darum, die Kosten des Abschleppvorgangs nicht zu zahlen, sondern auch um die Feststellung, dass das Parkverhalten nicht rechtswidrig war, sei es aus Rehabilitationsinteresse, sei es aus Interesse an Rechtssicherheit für zukünftiges Verhalten.

52

Nicht anders verhält es sich im Ausgangsverfahren. In diesem geht es erkennbar zumindest auch um eine Anfechtung der Sachentscheidung über die Ersatzvornahme. Der Kläger hat sich sowohl im Widerspruchsverfahren als auch im Klageverfahren argumentativ allein gegen die Rechtmäßigkeit des eingeleiteten Abschleppvorgangs gewendet. Einwendungen gegen die im angefochtenen Leistungsbescheid festgesetzten Kosten als solche, also gegen deren Höhe oder deren Berechnung, hat der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht vorgebracht. Die „Klarstellung“, dass er sich auch gegen die Widerspruchsgebühr wende, ist erst nach Anfrage durch das vorlegende Gericht erfolgt.

53

Es ist fraglich, ob bei einem isolierten Widerspruch gegen die Kostenentscheidung in der Hauptsache im Sinne von § 15 Abs. 4 VwKostG die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung zu überprüfen ist. In der vom vorlegenden Gericht zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Februar 1979 (- 2 BvL 5/76 -, BVerfGE 50, 217 ff., Juris Rn. 42) hebt das Bundesverfassungsgericht hervor, dass bei einer isolierten Anfechtung der Kostenentscheidung die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung nicht zu überprüfen ist. Es führt aus:

54

Die Widerspruchsbehörde hat lediglich zu prüfen, ob von der Ausgangsbehörde bei der Kostenentscheidung die Vorschriften des Gebührengesetzes oder der Allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung beachtet worden sind, etwa ob ein Billigkeitsfall vorliegt.

55

Soweit das vorlegende Gericht ausgeführt hat, dass die Beklagte des Ausgangsverfahrens zu Unrecht von § 15 Abs. 3 VwKostG als Rechtsgrundlage für die Widerspruchsgebühr ausgegangen sei, da aufgrund der Erledigung der Ersatzvornahme sich der Widerspruch nicht mehr gegen diese gerichtet habe, sondern allein gegen die Kostenentscheidung und somit diese isoliert im Sinne von § 22 Abs. 2 VwKostG angefochten sei, genügt dies nicht zur Darlegung der Entscheidungserheblichkeit.

56

Dies gilt umso mehr, als die Beklagte des Ausgangsverfahrens in dem Verfahren unter Auseinandersetzung mit der vom vorlegenden Gericht in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausführlich dargelegt hat, warum die Festsetzung der Widerspruchsgebühr aus § 15 Abs. 3 VwKostG folge, und insbesondere auch darauf hingewiesen hat, dass sich der Kläger des Ausgangsverfahren jedenfalls auch gegen die Sachentscheidung wehren will. Bereits dies hätte dem vorlegenden Gericht Anlass geben müssen, sich im Vorlagebeschluss mit dieser Frage dezidiert zu befassen. Da sich die Beklagte des Ausgangsverfahrens auf dieselbe Entscheidung bezogen hat wie das vorlegende Gericht, hätte dieses sich zudem mit der Argumentation der Beklagten anhand dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auseinander setzen müssen.

57

Mit keiner dieser Fragen befasst sich das vorlegende Gericht im Vorlagebeschluss hinreichend. Das wäre aber erforderlich gewesen, zumal diese in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nicht geklärt sind. Von entsprechenden Darlegungen kann auch nicht deshalb abgesehen werden, weil nicht allein das vorlegende Gericht die Auffassung vertritt, dass die Anfechtung eines zur Festsetzung von Kosten einer Ersatzvornahme erlassenen Leistungsbescheides eine Anfechtung allein einer Kostenentscheidung darstellt

58

(so etwa auch: VG Schwerin, Urteil vom 14. September 2016 - 7 A 31/16 SN -, Juris Rn. 30).

59

Hinzu kommt, dass das vorlegende Gericht selbst in einer vorherigen Entscheidung noch § 15 Abs. 3 VwKostG und nicht etwa § 15 Abs. 4 VwKostG als Rechtsgrundlage für die Widerspruchsgebühr benennt

60

(VG Schleswig, Urteil der vorlegenden Kammer vom 17. Februar 2015 - 3 A 78/14 -, Juris Rn. 40).

61

Das vorlegende Gericht befasst sich damit, ob § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG in der von ihm vorausgesetzten Weise der vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm des nordrhein-westfälischen Rechts ähnelt. § 15 Abs. 4 GebG NW hatte den Gebührenmaßstab für einen Widerspruch gegen die Kostenentscheidung an die Kosten der Sachentscheidung geknüpft. Dagegen bezieht sich § 15 Abs. 4 Satz 2 VwKostG auf den angefochtenen Betrag. Das vorlegende Gericht führt zwar aus, dass auch der angefochtene Betrag erheblich sein kann, bezieht sich dabei jedoch auf ein Beispiel, in welchem es letztlich um die Sachentscheidung geht (Beseitigung einer Ölspur). Der angefochtene Betrag muss aber gerade nicht den gesamten Kosten der Sachentscheidung entsprechen, sondern kann deutlich niedriger sein, wenn zum Beispiel nur die Angemessenheit der erhobenen Kosten für die Beseitigung der Ölspur im Streit steht. Der angefochtene Betrag steht auch in einem anderen Verhältnis zu den Kosten des Widerspruchsverfahrens als die Kosten der Sachentscheidung. Dieser Unterschied könnte entscheidungserheblich sein, wird vom vorlegenden Gericht aber ebenfalls nicht erörtert.

C.

62

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Kosten werden nicht erstattet (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

63

Der Beschluss ist einstimmig ergangen.


Urteilsbesprechung zu Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Beschluss, 03. Apr. 2017 - LVerfG 2/16

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(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Ni

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 73


(1) Hilft die Behörde dem Widerspruch nicht ab, so ergeht ein Widerspruchsbescheid. Diesen erläßt 1. die nächsthöhere Behörde, soweit nicht durch Gesetz eine andere höhere Behörde bestimmt wird,2. wenn die nächsthöhere Behörde eine oberste Bundes- od
Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Beschluss, 03. Apr. 2017 - LVerfG 2/16 zitiert 4 §§.

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1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Beschluss, 03. Apr. 2017 - LVerfG 2/16.

Verwaltungsgericht Schwerin Urteil, 28. Feb. 2018 - 7 A 550/17 SN

bei uns veröffentlicht am 28.02.2018

Tenor Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 12. August 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Januar 2017 wird aufgehoben, soweit insgesamt Verwaltungskosten von mehr als 53,15 Euro erhoben werden. Die Klage im Übrigen wird

Referenzen

(1) Hilft die Behörde dem Widerspruch nicht ab, so ergeht ein Widerspruchsbescheid. Diesen erläßt

1.
die nächsthöhere Behörde, soweit nicht durch Gesetz eine andere höhere Behörde bestimmt wird,
2.
wenn die nächsthöhere Behörde eine oberste Bundes- oder oberste Landesbehörde ist, die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat,
3.
in Selbstverwaltungsangelegenheiten die Selbstverwaltungsbehörde, soweit nicht durch Gesetz anderes bestimmt wird.
Abweichend von Satz 2 Nr. 1 kann durch Gesetz bestimmt werden, dass die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, auch für die Entscheidung über den Widerspruch zuständig ist.

(2) Vorschriften, nach denen im Vorverfahren des Absatzes 1 Ausschüsse oder Beiräte an die Stelle einer Behörde treten, bleiben unberührt. Die Ausschüsse oder Beiräte können abweichend von Absatz 1 Nr. 1 auch bei der Behörde gebildet werden, die den Verwaltungsakt erlassen hat.

(3) Der Widerspruchsbescheid ist zu begründen, mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen und zuzustellen. Zugestellt wird von Amts wegen nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes. Der Widerspruchsbescheid bestimmt auch, wer die Kosten trägt.

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Tenor

§ 23a Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004 (GVBl S. 298), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes zur Regelung des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungszustellungsrechts für den Freistaat Sachsen und zur Änderung anderer Gesetze vom 19. Mai 2010 (GVBl S. 142), ist mit Artikel 28 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz unvereinbar und nichtig, soweit er die Schulnetzplanung für Grund- und Mittelschulen betrifft.

Gründe

A.

1

Die Vorlage des Verwaltungsgerichts Dresden betrifft die in § 23a des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004, SächsGVBl Jg. 2004, Bl.-Nr. 15, S. 298 (SchulG) geregelte Schulnetzplanung. Sie wirft die Frage auf, ob die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden einer Übertragung der Standortplanung für allgemein bildende Schulen auf die Kreise entgegensteht und in welchem Umfang sie die Beteiligung der kreisangehörigen Gemeinden an dieser Planung erfordert.

I.

2

1. Träger der allgemein bildenden Schulen im Freistaat Sachsen sind gemäß § 22 Abs. 1 SchulG grundsätzlich die Gemeinden. § 21 Abs. 2 SchulG berechtigt und verpflichtet die Schulträger, öffentliche Schulen einzurichten und fortzuführen, wenn dafür ein öffentliches Bedürfnis besteht; dieses richtet sich in erster Linie nach der in § 4a SchulG bestimmten Mindestschülerzahl für jede Schulart.

3

2. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung im Freistaat Sachsen schuf der Landesgesetzgeber mit Art. 6 des Gesetzes über Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Haushalte 2001 und 2002 im Freistaat Sachsen (Haushaltsbegleitgesetz 2001 und 2002) und zur Änderung der Vorläufigen Haushaltsordnung des Freistaates Sachsen vom 14. Dezember 2000 (GVBl S. 513) § 23a SchulG, der den kreisfreien Städten und den Landkreisen die Aufgabe einer Schulnetzplanung für ihr Gebiet zuweist. Gegenstand der Schulnetzplanung ist die Ausweisung der Schulstandorte und des mittel- und langfristigen Schulbedarfs. Die Schulnetzpläne werden von den kreisfreien Städten und den Landkreisen "im Benehmen" mit den kreisangehörigen Gemeinden aufgestellt und sollen die Grundlage für ein alle Bildungsgänge umfassendes, regional ausgeglichenes und unter zumutbaren Bedingungen erreichbares Bildungsangebot schaffen. § 23a SchulG lautet:

(1) Die Landkreise und Kreisfreien Städte stellen Schulnetzpläne für ihr Gebiet auf. Die Schulnetzplanung soll die planerische Grundlage für ein alle Bildungsgänge umfassendes, regional ausgeglichenes und unter zumutbaren Bedingungen erreichbares Bildungsangebot schaffen. Dabei sind vorhandene Schulen in freier Trägerschaft sowie bei den berufsbildenden Schulen die Möglichkeit der betrieblichen Aus- und Weiterbildung zu berücksichtigen. Die Ziele der Raumordnung und der Landesplanung sind zu beachten.

(2) In den Plänen werden der mittelfristige und langfristige Schulbedarf sowie die Schulstandorte ausgewiesen. Für jeden Schulstandort ist anzugeben, welche Bildungsangebote dort vorhanden sind und für welche räumlichen Bereiche (Einzugsbereiche) sie gelten sollen. Es sind auch die Bildungsbedürfnisse zu berücksichtigen, die durch Schulen für das Gebiet nur eines Schulträgers nicht sinnvoll befriedigt werden können. Schulnetzpläne müssen die langfristige Zielplanung und die Ausführungsmaßnahmen unter Angabe der Rangfolge ihrer Verwirklichung enthalten.

(3) Die Schulnetzpläne sind im Benehmen mit den Gemeinden und den übrigen Trägern der Schulen des Gebietes aufzustellen. Die Pläne sind mit benachbarten Landkreisen und Kreisfreien Städten abzustimmen.

(4) Die Schulnetzpläne bedürfen der Genehmigung der obersten Schulaufsichtsbehörde. Diese überprüft die Rechtmäßigkeit und Vereinbarkeit der Pläne mit den schulpolitischen und den sich aus dem Staatshaushaltsplan ergebenden Maßnahmen, insbesondere um zu gewährleisten, dass die personelle Ausstattung der Schulen im Rahmen der Bedarfs- und Finanzplanung des Freistaates Sachsen möglich ist. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die Schulnetzplanung mit den in den Absätzen 1 bis 3 genannten Anforderungen nicht übereinstimmt oder einer den Maßgaben des Freistaates Sachsen entsprechenden ordnungsgemäßen Gestaltung des Unterrichts entgegensteht.

(5) Beschlüsse des Schulträgers und Entscheidungen des Staatsministeriums für Kultus nach § 24 erfolgen auf der Grundlage eines genehmigten Schulnetzplanes.

(6) Das Staatsministerium für Kultus wird ermächtigt, das Nähere zur Aufstellung, Fortschreibung und Genehmigung der Schulnetzpläne durch Rechtsverordnung im Einvernehmen mit dem Staatsministerium des Innern zu regeln.

In § 24 SchulG ist bestimmt:

(1) Der Beschluss eines Schulträgers über die Einrichtung einer öffentlichen Schule bedarf der Zustimmung der obersten Schulaufsichtsbehörde.

(2) Stellt die oberste Schulaufsichtsbehörde fest, dass ein öffentliches Bedürfnis für die Einrichtung einer öffentlichen Schule besteht und erfüllt der Schulträger die ihm nach § 21 Abs. 2 obliegende Verpflichtung nicht, trifft die Rechtsaufsichtsbehörde die notwendigen Maßnahmen; der Schulträger ist vorher zu hören.

(3) Absatz 1 gilt entsprechend für die Aufhebung einer öffentlichen Schule. Stellt die oberste Schulaufsichtsbehörde fest, dass das öffentliche Bedürfnis für die Fortführung der Schule oder eines Teils derselben nicht mehr besteht, kann sie die Mitwirkung des Freistaates an der Unterhaltung der Schule widerrufen; der Schulträger ist vorher zu hören.

(4) Die Vorschriften über die Einrichtung und Aufhebung einer öffentlichen Schule gelten entsprechend für die Änderung einer öffentlichen Schule. (…)

4

Die Übertragung der Schulnetzplanung auf die Landkreise bedeutet nach Einschätzung des Gesetzgebers teilweise die Hochzonung einer bisher den kreisangehörigen Gemeinden zugewiesenen Aufgabe, teilweise aber auch die Kommunalisierung einer staatlichen Aufgabe. Die kreisangehörigen Gemeinden seien zu einer regional abgestimmten Schulstandortplanung überwiegend nicht in der Lage. Es habe sich gezeigt, dass die Gemeinden überwiegend keine Schulnetzpläne aufgestellt und von gebotenen Schulschließungen abgesehen hätten (LTDrucks 3/2401, S. 84).

II.

5

Klägerin des Ausgangsverfahrens ist die Stadt Seifhennersdorf, eine kreisangehörige Gemeinde im Landkreis Görlitz, die unter anderem Trägerin einer Grund- und einer Mittelschule ist. Sie wendet sich gegen einen Bescheid des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus als der obersten Schulaufsichtsbehörde vom 20. Dezember 2010, mit dem der für die Jahre 2010 bis 2015 fortgeschriebene Schulnetzplan genehmigt wurde. In diesem ist die Schließung der von der Klägerin getragenen Mittelschule vorgesehen.

6

Die Klägerin sieht sich durch die Hochzonung der Schulnetzplanung auf die Kreisebene in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 82 Abs. 2 SächsVerf) verletzt, das auch das Recht beinhalte, Träger der allgemeinbildenden Schulen zu sein. Soweit § 23a SchulG Grund- und Mittelschulen betreffe, sei er verfassungswidrig. Durch die Verpflichtung von Landkreisen und Kreisfreien Städten, bei Aufstellung der Schulnetzplanung lediglich das Benehmen mit den kreisangehörigen Gemeinden herzustellen, werde ihr Recht auf Selbstverwaltung nicht hinreichend gewahrt. Der angefochtene Bescheid vom 20. Dezember 2010 beruhe deshalb nicht auf einer wirksamen Ermächtigung.

III.

7

Das Verwaltungsgericht Dresden hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 23a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar ist.

8

1. Die Verfassungsmäßigkeit von § 23a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG sei entscheidungserheblich. Wäre die Vorschrift verfassungsgemäß, sei die Klage mangels Klagebefugnis abzuweisen. Zur Begründung von subjektiven Rechten der Klägerin könne nicht auf die kommunale Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 GG abgestellt werden, weil § 23a SchulG den Gewährleistungsbereich der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Selbstverwaltungsgarantie auf die in der Bestimmung zugewiesenen Rechtspositionen begrenze. Auch aus der Benehmensregelung des § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vermöge die Klägerin keine Klagebefugnis herzuleiten. Materielle Rechte könne sie nur insoweit im Wege der Benehmensregelung geltend machen, wie ihr außerhalb derselben subjektive Rechte zustünden. Wäre § 23a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG dagegen verfassungswidrig, sei der Klage stattzugeben. Denn das Recht aus Art. 28 Abs. 2 GG, das als Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung die Schulträgerschaft jedenfalls hinsichtlich der Grundschule umfasse, wäre in diesem Fall nicht durch § 23a SchulG eingeschränkt und durch den angegriffenen Genehmigungsbescheid verletzt, weil er ohne gesetzliche Grundlage oder ohne verfassungsgemäße Beteiligung der Klägerin ergangen wäre.

9

2. Das Verwaltungsgericht ist von der Verfassungswidrigkeit des § 23a Abs. 1 und Abs. 3 SchulG überzeugt.

10

a) Die Zuweisung der Schulnetzplanung durch § 23a Abs. 1 SchulG an die Landkreise bedeute eine unzulässige Hochzonung einer kommunalen Aufgabe. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 26, 228 ff.) ergebe sich, dass die Schulträgerschaft der Volksschulen, worunter heute jedenfalls die Grundschulen fielen, prinzipiell den Gemeinden zustehe. Selbst wenn einzelne Gemeinden nicht in der Lage seien, Träger einer Volksschule zu sein, dürfe der Staat in deren Schulträgerschaft nur eingreifen, wenn sie keine geeignete Lösung fänden, etwa durch Zusammenschluss zu einem leistungsfähigen Schulträger mit anderen Gemeinden im Wege der kommunalen Zusammenarbeit.

11

Die Zuständigkeit der kreisangehörigen Gemeinden für die Schulträgerschaft werde dadurch beeinträchtigt, dass § 23a SchulG ihnen die Schulnetzplanung entziehe und den Landkreisen übertrage. Der Schulnetzplan schaffe die Grundlage für den Entzug der staatlichen Mitwirkung an der Unterhaltung einer Schule (§ 24 SchulG). Durch den Schulnetzplan und die später darauf aufbauende Entziehung der staatlichen Mitwirkung werde es den Gemeinden faktisch unmöglich gemacht, ihrer Schulträgerschaft auch für Grundschulen nachzukommen. Das verletze Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Jedenfalls die Schulnetzplanung für Grundschulen sei wegen des starken Bezugs zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ein wesentlicher Teil der gemeindlichen Selbstverwaltung.

12

Der vollständige, sich auch auf die Grundschulen erstreckende Entzug der Schulnetzplanung werde durch die Erwägungen des Gesetzgebers nicht gerechtfertigt. Dieser berufe sich auf die demographische Entwicklung, die eine bessere Koordinierung der Schulstandorte erfordere. Insofern handele es sich jedoch um reine Wirtschaftlichkeitserwägungen ohne rechtlichen Gehalt, die das Recht der Gemeinden missachteten, alle im Zusammenleben vor Ort wurzelnden Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft selbst zu regeln. Soweit sich der Gesetzgeber darauf beziehe, dass einzelne Gemeinden erforderliche Schulschließungen nicht vorgenommenen hätten, könne dem mit den Mitteln der Aufsicht begegnet werden. Die Zuständigkeit der Gemeinden für die Errichtung und Unterhaltung der Schulen werde bereits aus vielfältigen Gründen durch die staatliche Schulhoheit (Art. 7 Abs. 1 GG) eingeschränkt. Umso wichtiger sei es, die Zuständigkeit für die örtliche Schulnetzplanung bei den Gemeinden zu belassen. Sie betreffe in erheblichem Maße das Zusammenleben der Menschen in ihrer Gemeinde. Zudem habe der Juristische Dienst des Sächsischen Landtags im Jahre 2002 festgestellt, dass das örtliche Schüleraufkommen aus kreisangehörigen Gemeinden oder freiwillig gebildeten Verwaltungsgemeinschaften im Regelfall ausreiche, um eine Grundschule zu betreiben. Vor diesem Hintergrund greife die Verlagerung der Schulnetzplanung für Grundschulen auf die Landkreise in den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie ein.

13

Die Regelung sei auch unverhältnismäßig, weil sie nicht danach unterscheide, ob eine Gemeinde in der Lage sei, eine Schulnetzplanung selbst durchzuführen, ob sie bereit sei, die Schulnetzplanung freiwillig abzugeben, oder ob sie sich entschließe, die Schulnetzplanung in kommunaler Zusammenarbeit zu erfüllen.

14

b) Die Benehmensregel des § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG verstoße sowohl für die Grundschulen als auch für die Mittelschulen gegen Art. 28 Abs. 2 GG.

15

Zwar habe die Schulnetzplanung hinsichtlich der Mittelschulen nicht den gleichen örtlichen Bezug wie hinsichtlich der Grundschulen. Weiterführende Schulen beträfen nicht unbedingt das Zusammenleben und -wohnen vor Ort, da sich die Schüler einer Gemeinde auf verschiedene weiterführende Schulen aufteilten. Ein erheblicher Teil besuche das Gymnasium, das schon zur Erreichung des notwendigen Angebotsstandards auf die Bildung von Zentren angewiesen und somit auf Überörtlichkeit angelegt sei. Hinsichtlich der weiterführenden Schulen sei die durch § 23a SchulG eingeführte Beschränkung der Selbstverwaltung daher auch gerechtfertigt.

16

Hinsichtlich der Mittelschulen sei der Gesetzgeber jedoch weniger frei, da diese auch den Hauptschulbildungsgang umfassten und damit die ehemalige weiterführende Volksschule, deren Trägerschaft zu den örtlichen Angelegenheiten rechne. Den Gemeinden müsse daher auch bei der Schulnetzplanung für Mittelschulen eine stärkere Mitwirkungsmöglichkeit eingeräumt werden, als dies bei einer Benehmensherstellung der Fall sei.

17

Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieses Eingriffs gälten die gleichen Erwägungen wie im Rahmen von § 23a Abs. 1 SchulG. Die vorgesehene Begrenzung der Mitwirkung für kreisangehörige Gemeinden sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil sie allen kreisangehörigen Gemeinden, unabhängig von Größe und Leistungsfähigkeit, eine rechtlich verbindliche Einwirkung auf die Schulnetzplanung versage.

18

3. Eine verfassungskonforme Auslegung hält das Verwaltungsgericht nicht für möglich. Aus der gesetzlichen Formulierung in § 23a Abs. 1 SchulG ergebe sich ausdrücklich, dass die kreisangehörigen Gemeinden von der Schulnetzplanung ausgeschlossen seien. Auch der Begriff des "Benehmens" in § 23a Abs. 3 SchulG sei ein klar konturierter Rechtsbegriff, der eine stärkere Beteiligung als eine "bessere Anhörung" nicht zulasse.

IV.

19

Die Klägerin und der Landkreis als Beigeladener des Ausgangsverfahrens sowie für den beklagten Freistaat Sachsen das Staatsministerium der Justiz und für Europa haben zu dem Vorlagebeschluss Stellung genommen. Weitere Stellungnahmen von Äußerungsberechtigten sind nicht eingegangen.

20

1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Vorlage des Verwaltungsgerichts für begründet. Die Schulnetzplanung auf der Grundlage von § 23a SchulG bedeute für die kreisangehörigen Gemeinden eine verbindliche Festlegung der Schulstandorte durch die Landkreise. Diese Hochzonung eines Teils ihrer planerischen Kompetenzen verletze das Recht der kreisangehörigen Gemeinden auf kommunale Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG.

21

Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiere den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln. Die Gemeinden hätten daher das Recht, die Aufgabe des Schulträgers im Rahmen der Gesetze in alleiniger Entscheidungskompetenz ungestört und unbeeinflusst auszuüben. Zu dieser Aufgabe gehörten unter anderem die planerischen Entscheidungen im Zusammenhang mit Standortwahl, Betrieb, Einrichtung, Aufrechterhaltung, Art und Umfang der Schule, die Wahl des Schulgebäudes, Zügigkeit und Klassenbildung, und damit auch die Schulnetzplanung. Bei einer durch Hochzonung erfolgten Aufgabenverlagerung müsse die Zuständigkeit der Gemeinden zumindest durch ein angemessenes Beteiligungsrecht kompensiert werden.

22

§ 23a SchulG greife in die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG ein, weil den Gemeinden durch die Hochzonung der Schulnetzplanung auf die Ebene der Landkreise eine Aufgabe entzogen worden sei. § 23a Abs. 1 und Abs. 3 SchulG beeinträchtigten auch die von Art. 28 Abs. 2 GG garantierte Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung. Zwar blieben die Gemeinden Schulträger; sie könnten aber nicht mehr über Schulstandort, Schulart, Zügigkeit, Klassenstärke oder das angebotene Leistungsspektrum wie etwa Ganztagsschulen entscheiden, da dies durch den Schulnetzplan verbindlich vorgegeben werde.

23

Das Benehmenserfordernis genüge dem aus Art. 28 Abs. 2 GG abzuleitenden Beteiligungsanspruch bei der Hochzonung einer kommunalen Aufgabe nicht. Schulnetzpläne dürften von den Landkreisen allenfalls im Einvernehmen mit den kreisangehörigen Gemeinden aufgestellt werden. Dabei erforderten die Interessen der Gemeinden eine umso stärkere verfahrensrechtliche Einbindung, je enger die jeweilige Aufgabe an die örtliche Gemeinde gebunden sei.

24

2. Die Sächsische Staatsregierung hält die Vorlage für unzulässig (a), jedenfalls für unbegründet (b).

25

a) Das Verwaltungsgericht erfülle die Darlegungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht. Die Ausführungen des Gerichts seien sowohl unzureichend als auch inhaltlich unzutreffend und daher nicht geeignet, die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Normen zu begründen.

26

aa) Das Verwaltungsgericht habe nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Schulnetzplanung eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft sei. Es hätte insofern zwischen Schulträgerschaft und Schulnetzplanung unterscheiden müssen. Eine Schulnetzplanung im Sinne von § 23a SchulG könne mit Blick auf das landesweit anzustrebende regional ausgewogene Bildungsprogramm nur sinnvoll gelingen, wenn die Planungsaufgaben oberhalb der Ebene kreisangehöriger Gemeinden wahrgenommen würden. Der Gesetzgeber habe mit § 23a SchulG die aus der staatlichen Schulhoheit abzuleitenden staatlichen Planungsaufgaben auf die Landkreise und Kreisfreien Städte übertragen. Auch die demographische Entwicklung spreche dagegen, die Schulnetzplanung als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft einzustufen. Diese auch der Gesetzesbegründung zugrunde liegenden Erwägungen seien im Gegensatz zur Auffassung des Verwaltungsgerichts keine reinen Wirtschaftlichkeitserwägungen. Vielmehr könne, wenn die Schülerzahlen im ländlichen Raum zurückgingen und andere Maßnahmen nicht gleich effektiv seien, der Staat ein regional ausgewogenes Bildungsangebot nur durch die Reduzierung der Anzahl von Schulen aufrechterhalten.

27

bb) Das Verwaltungsgericht habe auch einen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht nicht ausreichend begründet.

28

(1) Die Schulnetzplanung könne als vorgelagerte Fachplanung nicht in das kommunale Selbstverwaltungsrecht eingreifen. Der Schulnetzplan lege nur fest, über welche Schulen die Schulträger "Beschlüsse fassen sollen". Diese Entscheidungen orientierten sich an den tatsächlichen Anmeldezahlen eines Schuljahres, seien also unabhängig von den in einem Schulnetzplan enthaltenen mehrjährigen Prognosen. Eine Aussage im Schulnetzplan sei zwar Voraussetzung für einen Entzug der staatlichen Mitwirkung an einer Schule. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe eine Planaussage aber keine unmittelbare Wirkung auf die Schulträgerschaft. Erst deren Umsetzung durch eine am öffentlichen Bedürfnis orientierte Maßnahme der Schulaufsichtsbehörde nach § 24 SchulG könne zur Schließung einer Schule führen.

29

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts würden den Gemeinden auch keine selbständigen Lösungen bei einem Rückgang der Schülerzahlen verwehrt. Es bleibe dem Schulträger überlassen, wie er auf eine sich abzeichnende unzureichende Auslastung einer Schule reagiere. Neben der Schulschließung sei eine Änderung des Schulbezirks oder des Schuleinzugsbereichs denkbar.

30

cc) Schließlich hätte das Verwaltungsgericht eine verfassungskonforme Auslegung prüfen müssen. Es sei nämlich nichts dafür ersichtlich, dass die in § 23a Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 SchulG näher konkretisierte Schulnetzplanung einer örtlichen Schulentwicklungsplanung entgegenstehe.

31

b) Die Vorlage sei auch unbegründet. Die Schulnetzplanung nach § 23a Abs. 1 SchulG greife nicht in das Selbstverwaltungsrecht der klagenden Gemeinde ein (aa); ein Eingriff wäre jedenfalls aber gerechtfertigt (bb). Auch § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG sei nicht zu beanstanden (cc).

32

aa) Die Schulnetzplanung habe das Ziel, eine dem öffentlichen Bedürfnis entsprechende ausgeglichene Verteilung von Lehrerressourcen und sächlichen und finanziellen Mitteln des Freistaates Sachsen und der Schulträger zu ermöglichen (§ 1 SchulnetzVO). Das zeige, dass es allein um die überörtliche Planung und Koordinierung gehe, die sinnvoll nicht durch kreisangehörige Gemeinden erfolgen könne. Um ein regional ausgewogenes Bildungsangebot sicherzustellen, müsse angesichts der demographischen Entwicklung der Schülerzahlen bereits auf der Grundschulebene überörtlich geplant werden. Demgegenüber falle die "örtliche Schulnetzplanung" im Sinne der Entscheidung über den konkreten Standort einer Schule innerhalb der Gemeinde in den Schutzbereich von Art. 28 Abs. 2 GG und sei den Gemeinden auch verblieben.

33

bb) Ein etwaiger Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie sei jedenfalls gerechtfertigt. Die staatliche Schulhoheit beinhalte die Befugnis zur Organisation, Leitung und Planung des gesamten Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern Bildungsmöglichkeiten entsprechend ihren Fähigkeiten eröffne. Das Spannungsverhältnis zwischen der Selbstverwaltungsgarantie und der staatlichen Schulhoheit sei so aufzulösen, dass den Gemeinden das Recht der Schulträgerschaft zustehe, soweit dieses mit den staatlich allgemein festgelegten Zielen für die Ausgestaltung des Schulwesens vereinbar sei. Ein ausgewogenes Bildungssystem setze gewisse Mindestschülerzahlen voraus. Das Bundesverfassungsgericht habe ausdrücklich anerkannt, dass die kommunale Schulträgerschaft an der Leistungsfähigkeit oder der Größe einer Schule scheitern könne. An diese Maßstäbe knüpfe das sächsische Schulrecht an.

34

cc) Für die Schulart Mittelschule sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine stärkere Beteiligung der Gemeinden an der Schulnetzplanung nicht geboten. Das Verwaltungsgericht lege seiner Auffassung einen Begriff der Volksschule zugrunde, den es seit Jahrzehnten nicht mehr gebe und in Sachsen auch nie gegeben habe. Eine bis zur Klassenstufe 10 gehende Schule, die keine für alle Schüler gemeinsame Schulbildung vorsehe, sei keine Volksschule im Sinne von Art. 7 Abs. 5 GG. Die sächsische Mittelschule habe keinen der Grundschule vergleichbaren örtlichen Bezug.

35

3. Der Landkreis Görlitz hält die Schulnetzplanung auf Landkreisebene angesichts der demographischen Entwicklung für geboten. In seinem Gebiet habe sich die Schülerzahl von 61.198 im Schuljahr 1995/1996 auf 27.766 im Schuljahr 2012/2013 vermindert. Es hätten bereits mehr als 100 Schulen aller Schularten aufgehoben werden müssen, da die erforderliche Mindestschülerzahl nach § 4a SchulG nicht erreicht worden sei. Die Zahl der Schulen in öffentlicher Trägerschaft sei in diesem Zeitraum von 210 auf 99 zurückgegangen. Von den 54 öffentlichen Grundschulen im Landkreis verteilten sich 28 Grundschulen auf die neun Städte und Gemeinden, die aus Zusammenschlüssen entstanden seien. Für die übrigen 45 Kommunen verblieben nur 26 Grundschulen, die dementsprechend gemeindegebietsübergreifend, aber zugleich möglichst wohnortnah errichtet seien.

V.

36

Einen Antrag der Stadt Seifhennersdorf auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der darauf abzielte, entgegen der Festsetzung im Schulnetzplan die Einrichtung einer 9. Klasse der Mittelschule im Schuljahr 2014/2015 zu ermöglichen, hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 4. März 2014 zurückgewiesen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. März 2014 - 2 BvL 2/13 -, NVwZ-RR 2014, S. 369 f.).

B.

37

Die Vorlage des Verwaltungsgerichts Dresden ist zulässig. Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 GG hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist zu begründen, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gerichts abhängig und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die Vorschrift unvereinbar ist. Zur Begründung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm muss dargelegt sein, dass und aus welchen Gründen das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle der Ungültigkeit. Das Gericht muss sich dabei mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 58, 300 <318>; 105, 61 <67>; 122, 151 <173>). Was die verfassungsrechtliche Beurteilung der zur Prüfung gestellten Norm angeht, muss das vorlegende Gericht von ihrer Verfassungswidrigkeit überzeugt sein und die für diese Überzeugung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegen (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>). Diesem Begründungserfordernis genügt der Vorlagebeschluss.

I.

38

Der Vorlagebeschluss lässt mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, dass das Verwaltungsgericht bei Gültigkeit der vorgelegten Normen anders entscheiden würde als bei deren Ungültigkeit.

39

Falls § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG nichtig ist, wäre der im Ausgangsverfahren angegriffene Verwaltungsakt ohne Rechtsgrundlage und unter Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ergangen und damit rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht geht davon aus, dass die Schulnetzplanung für die Grund- und Mittelschulen eine unter den Schutz von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG fallende Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft ist. Ihre Hochzonung auf die Ebene der Landkreise stelle einen Aufgabenentzug zu Lasten der Gemeinden dar, der den Gewährleistungsbereich von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verletze. Auch die Beschränkung der gemeindlichen Beteiligung auf ein bloßes Benehmenserfordernis durch § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG sei unzureichend. Die Nichtigkeit dieser Bestimmung habe zur Folge, dass der in der Hochzonung der Schulnetzplanung liegende Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden ebenfalls einen Verfassungsverstoß darstelle. Auf dem Boden dieser Auffassung verletzt der angegriffene Genehmigungsbescheid die Klägerin des Ausgangsverfahrens in ihrer subjektiven Rechtsstellungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 GG, so dass der Klage stattzugeben wäre (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

40

Ist § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG hingegen verfassungsgemäß, so wäre die Klage nach Ansicht des vorlegenden Gerichts als unzulässig abzuweisen. Fiele die Schulnetzplanung nicht in den Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung, so könnte der Gesetzgeber den Gemeinden diese Aufgabe ohne weiteres entziehen und auch frei darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang er die Gemeinden an der Aufgabe des Staates oder der Gemeindeverbände beteiligt; das Benehmenserfordernis in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG stellte dann eine bloße Ordnungsvorschrift dar, die einer sachgerechten Entscheidungsfindung diene, nicht jedoch der Wahrung individueller Rechte. Auf der Basis dieser - an die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anknüpfenden (vgl. z.B. BVerfGE 22, 180 <205>; 23, 353 <365 f.>; 26, 172 <180>; 52, 95 <116>) - Rechtsauffassung könnte die Klägerin nicht geltend machen, dass der angegriffene Bescheid wegen Verletzung des in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG verankerten Benehmenserfordernisses rechtswidrig sei und sie in ihren Rechten verletze (§§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

41

Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 2, 181 <190 f., 193>; 88, 187 <194>; 105, 61 <67>, 129, 186 <203>). Letzteres ist hier nicht der Fall, auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip entnimmt, das der Gesetzgeber zu beachten hat und aus dem sich ein prinzipieller Vorrang der Gemeindeebene vor der Kreisebene ableiten lässt, der auch bei der Auslegung kommunalrechtlicher Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen Berücksichtigung verlangt (vgl. BVerfGE 79, 127 <150 ff.>; 107, 1 <12>; 110, 370 <399 ff.>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, juris, Rn. 114). Die - für die Auslegung von § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG - stattdessen auf die Zuordnung einer Aufgabe zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie abstellende Auffassung des Verwaltungsgerichts ist jedenfalls nicht unvertretbar und auch in höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Februar 2006 - 6 P 4/05 -, SächsVBl 2007, S. 10) und Literatur (z.B. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 933) noch anzutreffen.

II.

42

Das Verwaltungsgericht hat ferner seine für die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar dargelegt (vgl. BVerfGE 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 187 <194>). Es setzt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von kommunaler Schulträgerschaft und staatlicher Schulaufsicht (vgl. BVerfGE 26, 228 ff.) eingehend auseinander und hat die - soweit ersichtlich - bislang einzige landesverfassungsgerichtliche Entscheidung zur Übertragung der Schulnetzplanung auf die Kreisebene (Urteil des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg vom 17. Juli 1997 - VfGBbg 1/97 -, LVerfGE 7, 74 ff.) herangezogen. Auf die für Hochzonung kommunaler Aufgaben maßgebliche, allerdings das Abfallrecht betreffende Rastede-Entscheidung (BVerfGE 79, 127 ff.) geht es zumindest am Rande ein.

C.

43

§ 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG ist mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar.

I.

44

1. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sichert den Gemeinden einen grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden Aufgabenbereich (a) sowie die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte (b).

45

a) Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts solche Aufgaben, die das Zusammenleben und -wohnen der Menschen vor Ort betreffen oder einen spezifischen Bezug darauf haben (vgl. BVerfGE 8, 122 <134>; 50, 195 <201>; 52, 95 <120>; 79, 127 <151 f.>; 110, 370 <400>). Eine inhaltlich umrissene Aufgabengarantie enthält Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG allerdings nicht (vgl. BVerfGE 79, 127 <146>; 107, 1 <12>; Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 46, Rn. 114).

46

Die örtlichen Bezüge einer Aufgabe und deren Gewicht für die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung lassen sich nicht an scharf konturierten Merkmalen messen. Vielmehr muss bei ihrer Bestimmung der geschichtlichen Entwicklung und den verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung Rechnung getragen werden (vgl. BVerfGE 59, 216 <226>; 91, 228 <238>; 125, 141 <167>). Es kommt insoweit darauf an, ob eine Aufgabe für das Bild der typischen Gemeinde charakteristisch ist.

47

Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG enthält jedoch keine Garantie des Status quo im Sinne eines einmal erreichten Aufgabenbestands (BVerfGE 78, 331<340>). Die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft bilden keinen ein für alle Mal feststehenden Aufgabenkreis, weil sich die örtlichen Bezüge einer Angelegenheit mit ihren sozialen, wirtschaftlichen oder technischen Rahmenbedingungen wandeln (vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 13. Januar 2004 - VerfGH 16/02 -, DÖV 2004, 662 <663>; Burgi, Kommunalrecht, 4. Aufl. 2012, S. 54; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 51 - November 2012 -; Röhl, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, S. 27 f.).

48

Um in den Schutzbereich von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zu fallen, muss eine Aufgabe allerdings nicht hinsichtlich aller ihrer Teilaspekte eine örtliche Angelegenheit darstellen; sie kann auch nur teilweise als eine solche der örtlichen Gemeinschaft anzusehen, im Übrigen jedoch überörtlicher Natur sein (vgl. BVerfGE 110, 370 <401>). Weist eine Aufgabe örtliche und überörtliche Aspekte auf, muss der Gesetzgeber diese bei der Ausgestaltung der Selbstverwaltungsgarantie angemessen berücksichtigen.

49

b) Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Gemeinden nicht nur die Allzuständigkeit hinsichtlich aller örtlichen Angelegenheiten. Im Bereich der ihnen vom Staat übertragenen Aufgaben vermittelt er auch die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte. Eine umfassende staatliche Steuerung der kommunalen Organisation wäre mit dieser verfassungsrechtlich garantierten Eigenverantwortlichkeit unvereinbar (vgl. BVerfGE 91, 228 <239>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 47, Rn. 117). Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Gemeinden insbesondere die Organisationshoheit als das Recht, über die innere Verwaltungsorganisation einschließlich der bei der Aufgabenwahrnehmung notwendigen Abläufe und Zuständigkeiten eigenverantwortlich zu entscheiden. Dies schließt die Befugnis ein, selbst darüber zu befinden, ob eine bestimmte Aufgabe eigenständig oder gemeinsam mit anderen Verwaltungsträgern wahrgenommen wird (sog. Kooperationshoheit, vgl. BVerfGE 119, 331 <362>).

50

2. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert die kommunale Selbstverwaltung "im Rahmen der Gesetze". Bei der somit gebotenen gesetzlichen Ausgestaltung steht dem Gesetzgeber jedoch keine ungebundene Gestaltungsfreiheit zu (vgl. BVerfGE 110, 370 <400>). Die Bedeutung der Gemeinden für den demokratischen Staatsaufbau (a) bedingt einen grundsätzlichen Vorrang der kommunalen Aufgabenzuständigkeit (b).

51

a) Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung ist Ausdruck der grundgesetzlichen Entscheidung für eine dezentral organisierte und bürgerschaftlich getragene Verwaltung.

52

aa) Art. 28 Abs. 1 und Abs. 2 GG konstituieren die Gemeinden als einen wesentlichen Bestandteil der staatlichen Gesamtorganisation; sie sind ein Teil des Staates, in dessen Aufbau sie integriert und mit eigenen Rechten ausgestattet sind (vgl. BVerfGE 79, 127 <148 f.>; 83, 37 <54>). Indem der Verfassungsgeber die gemeindliche Selbstverwaltung in den Aufbau des politisch-demokratischen Gemeinwesens des Grundgesetzes eingefügt und - anders als die Reichsverfassung von 1849 (§ 184), die Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art. 127) oder die Bayerische Verfassung (Art. 11) - nicht als Grundrecht, sondern als institutionelle Garantie ausgestaltet hat, hat er ihr eine spezifisch demokratische Funktion beigemessen (vgl. BVerfGE 47, 253 <275 ff.>; 91, 228 <244>). Das Bild der Selbstverwaltung, wie sie der Gewährleistung des Art. 28 Abs. 2 GG zugrunde liegt, wird daher maßgeblich durch das Prinzip der Partizipation geprägt. Kommunale Selbstverwaltung bedeutet ihrer Intention nach Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten, die die örtliche Gemeinschaft zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben zusammenschließt mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und örtliche Eigenart zu wahren (vgl. BVerfGE 11, 266 <275 f.>). Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG fordert für die örtliche Ebene insofern eine mit wirklicher Verantwortlichkeit ausgestattete Einrichtung der Selbstverwaltung, die den Bürgern eine effektive Mitwirkung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ermöglicht (vgl. BVerfGE 79, 127 <150>; 91, 228 <238>; 107, 1 <12>). Hierfür gewährleistet die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung den Gemeinden einen eigenen Aufgabenbereich sowie die Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenerfüllung und sichert so die notwendigen Bedingungen einer wirksamen Selbstverwaltung.

53

bb) Dem Wesen der institutionellen Garantie entsprechend bezieht sich der Schutz des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf die individuelle Gemeinde, sondern ist abstrakt-generell zu verstehen. Vor diesem Hintergrund kommt es bei der Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nicht darauf an, ob die Verwaltungskraft einer Gemeinde für die Bewältigung der Aufgabe tatsächlich ausreicht (vgl. BVerfGE 79, 127 <151 f.>; 110, 370 <400>). Entscheidend ist, ob eine Aufgabe in gemeindlicher Trägerschaft bei typisierender Betrachtung eine sachangemessene, für die spezifischen Interessen der Einwohner förderliche und auch für die Wahrnehmung anderer Gemeindeaufgaben notwendige Erfüllung finden kann. Auch die Finanzkraft einzelner Gemeinden hat auf die Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft grundsätzlich keinen Einfluss; vielmehr muss der Staat gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG den Gemeinden gegebenenfalls die Mittel zur Verfügung stellen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 21. Juni 2005 - VerfGH 28/03 -, NVwZ-RR 2005, S. 665 <666 f.>).

54

b) Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG statuiert ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugunsten der Gemeinden (vgl. dazu BVerfGE 79, 127 <150 f.>; 83, 363 <383>; 91, 228 <236>; 110, 370 <400>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 47, Rn. 114). Der Entzug einer solchen Angelegenheit unterliegt strengen Rechtfertigungsanforderungen (aa) und findet seine Grenze in einem unantastbaren Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie (bb).

55

aa) Eingriffe in den von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Aufgabenbestand unterliegen den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (vgl. BVerfGE 76, 256 <359>; 80, 109 <119 f.>; 108, 129 <136>) auch im Staatsorganisationsrecht dort Bedeutung erlangen kann, wo Träger öffentlicher Gewalt mit Rechten gegenüber dem Staat ausgestattet sind. Das ist bei der Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie durch den Gesetzgeber der Fall (vgl. BVerfGE 79, 127 <143 ff., 154>; 103, 332 <367>; 119, 331 <363>; 125, 141 <167 f.>; siehe auch BbgVerfG, LVerfGE 11, 99 <111>; VerfGH NRW, OVGE 46, 295 <310>; VerfG LSA, LVerfGE 17, 437 <446>; NdsStGH, OVGE 50, 497 <506 f.>).

56

(1) Steht der Entzug einer Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft im Raum, wandelt sich die für institutionelle Garantien typische Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers praktisch zum Gesetzesvorbehalt (vgl. BVerfGE 79, 127 <143>; 107, 1 <12>; 110, 370 <402>). Gesetzliche Regelungen, die den Gemeinden Aufgaben entziehen, sind auf ihre Vereinbarkeit mit dem grundsätzlichen Zuständigkeitsvorrang zugunsten der Kommunen zu prüfen, wenn sie Bezüge zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft aufweisen. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ist dabei umso enger und die verfassungsgerichtliche Kontrolle umso intensiver, je mehr die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden als Folge der gesetzlichen Regelung an Substanz verliert (vgl. BVerfGE 79, 127 <154>).

57

(2) Der Gesetzgeber hat die widerstreitenden Belange der Verwaltungseffizienz und Bürgernähe in einen vertretbaren Ausgleich zu bringen. Dabei muss er nicht jeder einzelnen Gemeinde, auch nicht jeder insgesamt gesehen unbedeutenden Gruppe von Gemeinden, Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 79, 127 <153 f.>). Auch wenn die Verwaltungskraft der einzelnen Gemeinde grundsätzlich ohne Bedeutung für die Bestimmung der örtlichen Angelegenheiten ist, können die Aufgaben nicht für alle Gemeinden unabhängig von ihrer Einwohnerzahl, Ausdehnung und Struktur gleich sein (vgl. BVerfGE 79, 127 <153 f.>). Die Gemeinden sind Teil der staatlichen Verwaltung und dem Gemeinwohl verpflichtet. Unbedingten Vorrang vor den Interessen des Gesamtstaats kann ihr Interesse an einer möglichst weit gehenden Zuständigkeitszuweisung nicht beanspruchen (vgl. BVerfGE 110, 370 <401>). Trotz örtlicher Bezüge ist es deshalb nicht ausgeschlossen, dass eine Aufgabe, die einzelne größere Gemeinden in einem Landkreis auf örtlicher Ebene zu erfüllen vermögen, für andere Teile des Landkreises nur überörtlich erfüllbar ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 7 C 11935/97 -, juris, Rn. 56; Lange, Kommunalrecht, 2013, S. 40 f.).

58

(3) Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG konstituiert ein Regel-Ausnahmeverhältnis, wonach der Gesetzgeber den Gemeinden örtliche Aufgaben nur aus Gründen des Gemeinwohls entziehen darf, vor allem, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre. Das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration - etwa im Interesse der Übersichtlichkeit der öffentlichen Verwaltung - scheidet als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus; denn dies zielte ausschließlich auf die Beseitigung eines Umstandes, der gerade durch die vom Grundgesetz gewollte dezentrale Aufgabenansiedlung bedingt wird (vgl. BVerfGE 79, 127 <153>). Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung rechtfertigen eine "Hochzonung" erst, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde. Auch wenn eine zentralistisch organisierte Verwaltung rationeller und billiger arbeiten könnte, setzt die Verfassung diesen ökonomischen Erwägungen den politisch-demokratischen Gesichtspunkt der Teilnahme der örtlichen Bürgerschaft an der Erledigung ihrer öffentlichen Aufgaben entgegen und gibt ihm den Vorzug. Der Staat ist daher zunächst darauf beschränkt sicherzustellen, dass die Gemeinden ihre Angelegenheiten nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllen; dass andere Aufgabenträger in größeren Erledigungsräumen dieselbe Aufgabe insgesamt wirtschaftlicher erledigen könnten, gestattet - jedenfalls grundsätzlich - keinen Aufgabenentzug (vgl. BVerfGE 79, 127 <153 f.>).

59

bb) Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers findet seine Grenze im Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie. Mit Blick auf die Aufgabengarantie zählt zum Kernbereich allerdings kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Allzuständigkeit als die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft anzunehmen, die nicht anderen Verwaltungsträgern zugeordnet sind (vgl. BVerfGE 79, 127 <146>; 107, 1 <11 f.>). Im Hinblick auf die Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung zählen vor allem die gemeindlichen Hoheitsrechte (Gebiets-, Planungs-, Personal-, Organisations- und Finanzhoheit), die der Staat den Gemeinden im Interesse einer funktionsgerechten Aufgabenwahrnehmung garantieren muss, zu dem durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Kernbereich (vgl. BVerfGE 52, 95 <117>; Löwer, in: von Münch/Kunig, GG, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 73). Das gilt jedoch nur in ihrem Grundbestand (vgl. BVerfGE 103, 332 <366>). Insofern verbietet der Schutz des Kernbereichs von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG Regelungen, die eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit der Kommunen ersticken würden (vgl. BVerfGE 91, 228 <239>).

60

3. Werden Aufgaben mit relevanter kommunaler Bedeutung auf eine andere staatliche Ebene verlagert, kann sich aus dem - auf Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG übertragbaren - Gedanken des Rechtsgüterschutzes durch Verfahren (vgl. BVerfGE 56, 298 <319 ff.>; 76, 107 <122>; 86, 90 <107 f.>; 107, 1 <24 f.>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 47, Rn. 112) - ein Mitwirkungsrecht der betroffenen Kommunen ergeben. Das gilt insbesondere, wenn und soweit eine aus dem Selbstverwaltungsrecht abgeleitete Rechtsposition durch die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben gegenwärtig oder künftig betroffen werden kann (vgl. BVerwGE 87, 228 <232 ff.>). So ist etwa bei fachplanerischen Entscheidungen, die bedeutsame Auswirkungen auf eine Gemeinde haben, deren vorherige Beteiligung zwingend (vgl. BVerwGE 90, 96 <100>; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Rn. 60 - November 2012). Die Beteiligung ist umso wirksamer auszugestalten, je gewichtiger das berührte Gemeindeinteresse ist. Je nach Regelungsgegenstand reicht das Mitwirkungsrecht von einem Anhörungs-, Mitberatungs- oder Vorschlagsrecht bis zur kondominialen Verwaltung (vgl. Lange, Kommunalrecht, 2013, S. 42 f.).

II.

61

Nach diesen Maßstäben ist § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG verfassungswidrig, da er das Selbstverwaltungsrecht der kreisangehörigen Gemeinden nicht hinreichend berücksichtigt. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet den Gemeinden grundsätzlich das Recht, Träger der Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen (Grund- und Hauptschulen), zu sein, und damit auch ein eigenständiges Recht der Standortplanung (1.). In dieses Recht greift die Zuweisung der Schulnetzplanung an die Landkreise ein (2.), ohne dass ein hinreichender Rechtfertigungsgrund zu erkennen ist (3.). Jedenfalls fehlt eine ausreichende verfahrensrechtliche Absicherung der gemeindlichen Zuständigkeit (4.).

62

1. Die Schulträgerschaft für die Schulen, die einen der allgemeinen Schulpflicht entsprechenden Bildungsgang anbieten und in der Vergangenheit regelmäßig als eigenständige "Volksschulen" organisiert waren, ist als historisch gewachsene Gemeindeaufgabe eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft (a). Sie umfasst Grund- und Hauptschulen, auch wenn diese in andere Schulformen integriert sind (b). Soweit eine Gemeinde diese Aufgabe nicht selbständig wahrnehmen kann oder will, gewährleistet Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch die Möglichkeit, sie in interkommunaler Zusammenarbeit zu erfüllen (c).

63

a) Die Trägerschaft der Gemeinden für die Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen (Grund- und Hauptschulen), entspricht der überkommenen Zuständigkeitsverteilung im Schulwesen und wird von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützt (aa). Sie erstreckt sich auf die äußeren Schulangelegenheiten (bb). Das gilt auch für den Freistaat Sachsen (cc).

64

aa) Die Schulträgerschaft zählt zum historisch gewachsenen Aufgabenbestand der Kommunen. Schon nach §§ 29 und 34 des Zwölften Titels des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 oblag die Unterhaltung der Schulgebäude und der Lehrer der gemeindlichen Schulen "sämtlichen Hausvätern" beziehungsweise "Einwohnern" "jedes Ortes". Daran anknüpfend wies § 179 Buchstabe b der Preußischen Städteordnung von 1808 die äußeren Schulangelegenheiten ausdrücklich den Kommunen zu (vgl. Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <332 ff.>; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 52). Die Weimarer Reichsverfassung enthielt zwar keine ausdrückliche Zuweisung der äußeren Schulangelegenheiten. Damit war aber keine Abkehr von der überkommenen Aufgabenverteilung im Schulwesen verbunden (vgl. Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <838>). Auch unter dem Grundgesetz hat sich daran nichts geändert.

65

Die Trägerschaft von Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen (Grund- und Hauptschulen), den früheren Volksschulen, zählt zu den von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden (vgl. OVG Frankfurt/Oder, Urteil vom 24. April 2002 - 1 D 71/00 -, LKV 2003, S. 85 <86>; Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <341>; Luthe, Bildungsrecht, 2003, S. 128). Sie ist eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft, weil die grundsätzlich für alle Kinder vorgeschriebene Schulpflicht jedenfalls den Besuch der Grund- und Hauptschule verlangt und Grund- und Hauptschule deshalb zu denjenigen Bedürfnissen und Interessen zählen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben (vgl. BVerfGE 8, 122 <134>; 50, 195 <201>; 52, 95 <120>; 79, 127 <151 f.>; 83, 363 <384>; 86, 148 <220 f.>; 110, 370 <400>), die also den Gemeindeeinwohnern als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der Gemeinde betreffen (vgl. BVerfGE 79, 127 <151 f.>; 83, 363 <384>; 86, 148 <220 f.>; 110, 370 <400>; zuletzt BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 63, Rn. 163). Die kommunale Trägerschaft für die äußeren Schulangelegenheiten der Volksschulen ist daher auch der Regelfall (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Abs. 1 Rn. 51 - Juni 2006 -; Boysen, in: von Münch/Kunig, GG, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 7 Rn. 50; Luthe, Bildungsrecht, 2003, S. 128; s. auch Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <339 ff.>).

66

bb) Die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Schulträgerschaft der Gemeinden für die Grund- und Hauptschulen erstreckt sich auf die äußeren Schulangelegenheiten. Im Gegensatz zu den dem Staat zugewiesenen inneren Schulangelegenheiten, die sämtliche Bildungs- und Erziehungsfragen betreffen, also die Fragen, "was und wie durch welche Lehrkräfte von wem gelernt werden soll" (Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <838>), erfassen die äußeren Schulangelegenheiten die räumlich-sächlichen Voraussetzungen der Beschulung einschließlich Errichtung, Änderung und Aufhebung von Schulen, deren Verwaltung sowie die Beschaffung und Bereitstellung der Lernmittel (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 51 - Juni 2006 -; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 48; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <837 f.>).

67

Zu den mit der Schulträgerschaft verbundenen Aufgaben gehört namentlich die - in der Regel unter Mitwirkung des Staates (§ 21 Abs. 3 und § 24 SchulG; zu anderen Ländern Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <341>) zu treffende - Entscheidung, ob eine Schule eingerichtet oder geschlossen werden soll. Diese Entscheidung geht über die bloße Bestimmung eines konkreten Standorts innerhalb des Gemeindegebiets weit hinaus. Der Schulträger hat auch darüber zu befinden, ob ein öffentliches Bedürfnis für den Betrieb einer Schule auf seinem Gebiet besteht, und eine Schule einzurichten, fortzuführen oder zu schließen ist (vgl. § 21 Abs. 2 SchulG; vgl. auch § 27 Abs. 2 SchulG BW; § 99 Abs. 2 Satz 1 BbgSchulG; § 137 HSchulG; § 13 Abs. 2 Satz 1 ThürSchulG). Er muss dazu unter anderem Daten zur Bevölkerungsstruktur erheben, den Bestand geeigneter Schulgebäude sichten, die örtlichen Gegebenheiten bewerten, möglichst gefahrenfreie Schulwege bestimmen und die konkreten Standorte innerhalb der Gemeinde festlegen (vgl. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 964; Winkler, DÖV 2011, S. 686 <687>).

68

cc) Das gilt auch für den Freistaat Sachsen (§ 21 Abs. 1 SchulG). Unter die Schulträgerschaft fallen hier die Errichtung und Erhaltung der Schulgebäude und Schulräume sowie ihre Ausstattung mit den erforderlichen Lehr- und Lernmitteln. Der Schulträger trägt die sächlichen Schulkosten (§ 23 Abs. 2 SchulG) und muss eine Schule einrichten, wenn ein öffentliches Bedürfnis dafür besteht (§ 21 Abs. 2 SchulG).

69

b) Die Zuständigkeit der Gemeinden für die äußeren Schulangelegenheiten der "Volksschulen" erfasst die Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht von in der Regel neun Schuljahren dienen. Dies gilt neben der Grundschule insbesondere auch für die Hauptschule (aa). Schulorganisatorische Entscheidungen wie die Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen zu Regel- oder Gesamtschulen lösen die Hauptschule aus der "Volksschule" in diesem Sinne nicht heraus (bb).

70

aa) Mit dem in Art. 7 Abs. 5 GG verwendeten, heute kaum noch gebräuchlichen Begriff der Volksschule knüpft das Grundgesetz an die Schulbestimmungen der Art. 145 ff. WRV an (vgl. BVerfGE 88, 40 <49 f.>), die die grundsätzlich der allgemeinen Schulpflicht dienende Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr unterschieden. Die Weimarer Reichsverfassung etablierte die Volksschule als Einheitsschule und beseitigte die bei ihrem Erlass anzutreffende Vielfalt der sogenannten niederen Schulformen, die sich in Bezeichnungen wie Bezirksschule, Bürgerschule, höhere Bürgerschule und anderen widerspiegelte und hinsichtlich der sozialen Herkunft der Schulkinder und der Leistungsziele erhebliche Unterschiede aufwies (vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946, S. 330 f.). Im Gegensatz zur Reichsverfassung von 1849 (§ 153 RV 1849) statuierte Art. 145 Satz 1 WRV eine allgemeine Schulpflicht, die nicht mehr durch häuslichen Unterricht, sondern nur durch Anwesenheit in der Schule erfüllt werden konnte. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baute das mittlere und höhere Schulwesen auf (Art. 146 Abs. 1 Satz 2 WRV). Dabei stand die Volksschule als Teil des dreigliedrigen Schulaufbaus den weiterführenden mittleren und höheren Schulen gegenüber. In heutiger Terminologie umfasst sie sowohl die Grundschule als auch die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienende Hauptschule (vgl. BVerfGK 18, 469 <473>; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 122 - Juni 2007 -; Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 1, 6. Aufl. 2010, Art. 7 Rn. 227).

71

bb) Die Zuordnung der Hauptschule zur Volksschule im Sinne von Art. 7 Abs. 5 GG wie auch die Zuordnung der äußeren Schulangelegenheiten zu den Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft werden nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Landesgesetzgeber die "Volksschule" mit anderen Schularten, insbesondere der Realschule, zu einer Mittel-, Regel-, Regional- oder Oberschule oder einer ähnlich bezeichneten Schulform zusammenlegt. Zwar überlässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber weitgehend die Entscheidung darüber, welche Schulformen er einführen will (vgl. BVerfGE 41, 29 <44 ff.>). Die in Art. 7 Abs. 5 GG enthaltene Wertentscheidung für eine grundsätzlich alle Schüler umfassende Volksschule hat er jedoch ebenso zu beachten wie die verfassungsrechtliche Rolle der Gemeinden bei der Schulträgerschaft (vgl. auch BVerfGE 34, 165 <183>; 41, 29 <46 f.>).

72

Der Landesgesetzgeber hat diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben unter anderem dadurch Rechnung getragen, dass die Hauptschule innerhalb der genannten Schularten ein eigenständiger Ausbildungsgang geblieben ist, der in der Regel nach einer gemeinsamen Orientierungsphase in einem abschlussbezogenen differenzierten Unterrichtsangebot mündet (vgl. etwa § 6 Abs. 1 und 2 SchulG; siehe auch § 6 Abs. 1 ThürSchulG; § 16 Abs. 2 SchulG MV).

73

c) Der Zuordnung der Schulträgerschaft für Grund- und Hauptschulen zu den Gemeinden steht nicht entgegen, dass manche nicht mehr über ein ausreichendes Schüleraufkommen für eine eigene Grund- oder Hauptschule verfügen. Die Verwaltungskraft einer einzelnen Gemeinde ist für Umfang und Reichweite des Gewährleistungsbereichs von Art. 28 Abs. 2 GG grundsätzlich nicht entscheidend (vgl. oben Rn. 53). Andererseits hängt es durchaus von der Größe einer Gemeinde ab, ob sie die Aufgabe des Schulträgers tatsächlich erfüllen kann, schon weil sich ihre Zuständigkeit - ihrer Natur als Gebietskörperschaft entsprechend - in der Regel auf die eigenen Einwohner beschränkt. Es gehört dagegen nicht zu den durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Aufgaben der Gemeinde, schulische Angebote für Einwohner von Nachbarkommunen einzurichten und vorzuhalten (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 18. Juli 2013 - 12 K 780/13 -, juris, Rn. 26; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. August 2014 - 9 S 1722/13 -, juris, Rn. 67).

74

Genügen Leistungsfähigkeit und Verwaltungskraft einer Gemeinde nicht, um die mit der Schulträgerschaft einer Grund- oder Hauptschule verbundenen Aufgaben wahrzunehmen, gewährleistet Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG den Kommunen jedoch das Recht, diese Aufgabe in kommunaler Zusammenarbeit zu erfüllen, bevor der Staat sie an sich zieht (vgl. BVerfGE 26, 228 <239>; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 53; vgl. auch Geis, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2014, S. 41).

75

2. Die Zuweisung der Schulnetzplanung an die Kreisebene durch § 23a Abs. 1 Satz 1 SchulG greift in die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Befugnis der Gemeinden ein, die Schulträgerschaft der Grund- und Hauptschulen in eigener Verantwortung wahrzunehmen, weil sie wesentliche Aspekte der Schulträgerschaft betrifft und diese weitgehend aushöhlt.

76

Nach § 23a Abs. 5 SchulG können Statusentscheidungen über Schulen - wie die Aufhebung oder der Entzug der staatlichen Mitwirkung - nur auf der Grundlage eines staatlich genehmigten Schulnetzplans erfolgen. Damit ist die Wahrnehmung der mit der Schulträgerschaft für die Grund- und Hauptschulen verbundenen Aufgaben weitgehend von den Festsetzungen des Schulnetzplanes abhängig, so dass sie durch den jeweiligen Landkreis und den Freistaat Sachsen maßgeblich gesteuert werden können. Das grundlegende Recht des kommunalen Schulträgers, im Rahmen der allgemeinen schulrechtlichen Vorgaben über Bestand, Standort und inhaltliche Akzentsetzung einer solchen Schule selbst zu entscheiden, wird dadurch weitgehend entleert. Wesentliche Statusentscheidungen werden - wie im Fall von § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG - auf einer anderen Ebene getroffen, während dem Schulträger lediglich die Möglichkeit verbleibt, seine Vorstellungen in dem von anderer Stelle durchzuführenden Planungsverfahren geltend zu machen.

77

Das geht über die Schulaufsicht weit hinaus. Zwar bedürfen auch Statusentscheidungen des Schulträgers regelmäßig der Zustimmung des Landes. Die im Rahmen der Schulaufsicht ergehenden Maßnahmen sind - angesichts der Bedeutung der Grund- und Hauptschulen für die kommunale Selbstverwaltung - jedoch auf eine bloße Rechtsaufsicht beschränkt (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 51 f. - Juni 2006 -; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 44, 48 ff.).

78

3. Hinreichende Gründe für die Hochzonung der Schulnetzplanung auf die Kreisebene folgen weder aus der staatlichen Schulaufsicht (a), noch lassen sie sich der Gesetzesbegründung entnehmen (b).

79

a) Die in Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat zugewiesene Schulaufsicht (aa) vermittelt diesem gegenüber den Gemeinden kein umfassendes Bestimmungsrecht in allen schulischen Angelegenheiten (bb). § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG sind keine Ausprägung der staatlichen Schulaufsicht (cc).

80

aa) Zur Schulaufsicht im Sinne von Art. 7 Abs. 1 GG zählt die Befugnis zur zentralen Ordnung und Organisation des Schulwesens (vgl. BVerfGE 26, 228 <238>; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 49 - Juni 2006 -). Der Staat hat ein funktionierendes Schulsystem zu gewährleisten, das jedem Schüler entsprechend seiner Begabung eine Schulausbildung ermöglicht. Dem Staat stehen deshalb Möglichkeiten der Einwirkung auf Errichtung, Änderung oder Aufhebung der einzelnen öffentlichen Schule zu (vgl. BVerfGE 26, 228 <238>).

81

bb) Wie andere Bestimmungen des Grundgesetzes, insbesondere des ersten Abschnitts (Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 3 Abs. 2, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG), schließt der in Art. 7 Abs. 1 GG verwendete Begriff des Staates die Kommunen ein. Die staatliche Schulhoheit ist insofern nicht als Gegensatz zwischen Staat und Gemeinden zu verstehen, sondern in Abgrenzung zur ursprünglich kirchlichen Vormachtstellung im Schulwesen (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 3 - Juni 2006 -; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 52; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <838 f.>). Die Reichsverfassung von 1849 stellte in § 153 klar, dass das Unterrichts- und Erziehungswesen unter der Oberaufsicht des Staates stehen und, abgesehen vom Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit entzogen sein sollten. Dementsprechend betraute auch Art. 144 Satz 2 WRV "fachmännisch vorgebildete Beamte" mit der Schulaufsicht und grenzte sich so von der vormals üblichen Beaufsichtigung durch Geistliche ab (vgl. Brosius-Gersdorf, in: Henneke, Stärkung kommunaler Bildungskompetenzen, 2011, S. 63 ff. <70>; Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <332 ff.>; Thiel, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 7 Rn. 33; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <841>). Art. 144 Satz 1 WRV stellte das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates, der die Gemeinden daran beteiligen konnte.

82

Auch wenn Art. 7 Abs. 1 GG im Gegensatz zu Art. 144 Satz 1 WRV die Gemeinden im Zusammenhang mit der Schulaufsicht nicht nennt, hat sich an dieser organisatorischen Ausgestaltung der Zuständigkeiten im Schulwesen insoweit nichts geändert (vgl. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 929). Das Grundgesetz hat die Gemeinden in den Staatsaufbau integriert und sie zugleich mit eigenen Rechten ausgestattet. Ein umfassender staatlicher Machtanspruch gegenüber den Kommunen im Bereich der Schulaufsicht ist damit nicht vereinbar. Länder und Gemeinden üben - jedenfalls bei den äußeren Schulangelegenheiten - die Schulaufsicht vielmehr gemeinsam aus und sind dabei zum Zusammenwirken verpflichtet (vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 51 f.; Uhle, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 7 Rn. 15 - Juni 2014 -; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 7 Rn. 4; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <841>; a.A. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 929).

83

cc) Das Spannungsverhältnis zwischen dem aus Art. 7 Abs. 1 GG folgenden zentralen Bestimmungsrecht des Staates in schulischen Angelegenheiten und dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden im Bereich der Grund- und Hauptschulen ist dahin aufzulösen, dass den Gemeinden die Wahrnehmung der äußeren Schulangelegenheiten zusteht, soweit diese mit den vom Staat allgemein festgelegten Zielen für die Ausgestaltung des Schulwesens vereinbar ist (vgl. BVerfGE 26, 228 <239 f.>). Gesetzliche Anforderungen, etwa Vorgaben von Mindestzahlen (vgl. § 4a Abs. 1 SchulG), kann der Staat festsetzen und im Wege der Rechtsaufsicht ebenso durchsetzen wie die ordnungsgemäße Erledigung der mit der Schulträgerschaft verbundenen Aufgaben. Erfüllt eine Gemeinde jedoch die allgemeinen schulrechtlichen Vorgaben für den Betrieb einer Grund- oder Hauptschule, garantiert ihr Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG bei der Schulnetzplanung jedenfalls ein wirksames Mitentscheidungsrecht.

84

b) Andere Gründe, die eine Hochzonung der Schulnetzplanung für Grund- oder Hauptschulen rechtfertigen könnten, sind derzeit nicht ersichtlich. Der in der Gesetzesbegründung angeführte Befund, dass die Gemeinden überwiegend davon abgesehen hätten, Schulnetzpläne aufzustellen, belegt nur, dass sie diese Aufgabe nicht wahrgenommen haben, lässt aber nicht den Schluss zu, dass sie dazu nicht in der Lage wären (vgl. BbgVerfG, Beschluss vom 17. Juli 1997 - VfGBbg 1/97 -, LKV 1997, S. 449 <453>). Insofern handelt es sich bei der behaupteten Überforderung der Gemeinden allenfalls um eine Effizienzüberlegung, die es für sich genommen jedenfalls nicht rechtfertigt, die Schulnetzplanung allen kreisangehörigen Gemeinden unterschiedslos zu entziehen. Ebenso wenig sind unterbliebene Entscheidungen über Schulschließungen ein Beleg dafür, dass die Gemeinden nicht in der Lage wären, für ihr jeweiliges Gebiet - oder abgestimmt mit Nachbargemeinden - eine Schulnetzplanung vorzunehmen, solange dem Freistaat Sachsen mit der Aufsicht ausreichend Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um die Beachtung der gesetzlichen Anforderungen zur Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen und gesetzeskonformen Schulbetriebs sicherzustellen.

85

4. Eine Schulnetzplanung auf Kreisebene für die Grund- und Mittelschulen ist mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nach alledem nur vereinbar, wenn sie den kreisangehörigen Gemeinden ein wirksames Mitentscheidungsrecht einräumt. Das in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vorgesehene Benehmenserfordernis genügt diesen Vorgaben nicht (a). Bei der Aufstellung von Schulnetzplänen durch die Landkreise ist jedenfalls die Herstellung eines Einvernehmens mit den betroffenen kreisangehörigen Gemeinden erforderlich (b).

86

a) Das in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vorgesehene Benehmenserfordernis gewährt den Gemeinden kein wirksames Mitentscheidungsrecht. Es steht für eine verfahrensrechtliche Beteiligung, in der der Mitwirkung nach dem Willen des Gesetzgebers keine materielle Rechtsposition des beteiligten Trägers öffentlicher Belange korrespondiert. Benehmenserfordernisse "sind im Regelfall ausschließlich dem objektiv-rechtlichen Ziel einer breiteren Beurteilungsgrundlage und damit einer besseren Entscheidungsfindung verpflichtet" (BVerwGE 92, 258 <261>; vgl. auch Pünder, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, S. 487 f.).

87

Die Herstellung des Benehmens erfordert nach dem gefestigten verwaltungsrechtlichen Verständnis daher zwar eine Anhörung des Trägers öffentlicher Belange durch die entscheidende Behörde und verpflichtet diese, die Stellungnahme zu erwägen und Möglichkeiten einer Berücksichtigung auszuloten. Der beteiligte Träger öffentlicher Belange soll seinen Standpunkt darlegen, Einwände im Hinblick auf die von ihm vertretenen Interessen erheben und auf das Ergebnis der Entscheidung auch Einfluss nehmen können (vgl. HessVGH, Urteil vom 12. Juni 2012 - 2 C 165/11.T -, juris, Rn. 36). Eine Benehmensherstellung erfordert allerdings keine Einigung der beteiligten Verwaltungsträger, sondern gestattet es der entscheidenden, das Benehmen herstellenden Behörde, sich über das Vorbringen des beteiligten Trägers öffentlicher Belange hinwegzusetzen (vgl. BVerwGE 92, 258 <262>; 114, 232 <235>; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem u.a., GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rn. 24; Pünder, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, S. 487). Anders als bei Einvernehmens- oder Zustimmungserfordernissen gewährt das Benehmenserfordernis somit kein echtes Mitentscheidungsrecht.

88

b) Im Falle der kommunalen Schulträgerschaft geht es hingegen nicht nur um öffentliche Belange, sondern um die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, die als subjektive Rechtstellungsgarantie auch ihre Geltendmachung im Einzelfall ermöglicht und in die die Schulnetzplanung der Landkreise nach § 23a Abs. 1 Satz 1 SchulG eingreift. Eine Schulnetzplanung für Grund- und Hauptschulen gegen den Willen der betroffenen Gemeinden ist grundsätzlich unzulässig. Mit der in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vorgesehenen Beschränkung auf ein bloßes Benehmenserfordernis kann die Verteidigung ihrer spezifischen Belange nicht wirksam gelingen. Vielmehr sind den Gemeinden für die Beteiligung an einer Schulnetzplanung auf Kreisebene zumindest Mitentscheidungsbefugnisse einzuräumen, wie sie etwa für das Einvernehmen kennzeichnend sind (vgl. dazu Groß, GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 13 Rn. 106). Das schließt nicht aus, dass ihre Mitwirkung rechtlich, etwa durch Vorschriften über Mindestschülerzahlen (vgl. § 4a SchulG, Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus zur Schulnetzplanung im Freistaat Sachsen vom 2. Oktober 2001, Anhang SächsGVBl 2001, S. 672) oder an die Feststellung eines öffentlichen Bedürfnisses für die Errichtung oder Fortführung einer öffentlichen Schule (§ 21 Abs. 2 SchulG), gebunden wird oder dass sie bei einer rechtswidrigen Verweigerung auch durch die Aufsichtsbehörde ersetzt werden kann.

Gründe

1

Die Vorlage des Sozialgerichts betrifft die durch § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III verkürzte Antragsfrist für die freiwillige Weiterversicherung von Selbständigen in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung.

I.

2

1. Das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S. 2848) hat Selbständigen seit dem 1. Februar 2006 erstmals die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung eröffnet. Wer eine selbständige Tätigkeit im Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich aufnimmt oder ausübt, kann gemäß § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III (BGBl I S. 2848<2853 f.>) auf Antrag ein Versicherungspflichtverhältnis in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung begründen. § 28a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III (in der so bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung) verlangt dafür, dass der Antragsteller innerhalb der letzten beiden Jahre vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit mindestens zwölf Monate versicherungspflichtig beschäftigt war oder eine Entgeltersatzleistung nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch bezogen hat. Gemäß § 28a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB III (in der so bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung) muss er unmittelbar vor der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden oder eine Entgeltersatzleistung nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch bezogen haben. Nach § 28a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB III (in der so bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung) darf Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung nicht anderweitig bestehen. Die Begründung des Versicherungspflichtverhältnisses muss gemäß § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III (in der so bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung) spätestens innerhalb eines Monats nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit beantragt werden.

3

Um "zunächst Erfahrungen im Hinblick auf die Inanspruchnahme und die damit verbundenen Risiken für die Arbeitslosenversicherung" zu sammeln (vgl. BTDrucks 15/1515, S. 78), befristete § 28a Abs. 2 Satz 3 Nr. 4 SGB III die freiwillige Weiterversicherung für Selbständige und Auslandsbeschäftigte bis zum 31. Dezember 2010. Diese zeitliche Begrenzung des Versicherungsverhältnisses ist durch Art. 1 Nr. 4 des Beschäftigungschancengesetzes vom 24. Oktober 2010 (BGBl I S. 1417 <1417 f.>) ersatzlos entfallen; der Gesetzgeber hat die Beendigungstatbestände nunmehr in § 28a Abs. 5 SGB III zusammengefasst, der eine vergleichbare Regelung nicht länger vorsieht.

4

Um die Versicherungspflicht auch Personen zu eröffnen, die schon vor Inkrafttreten des § 28a SGB III selbständig waren, wurde eine flankierende Übergangsregelung geschaffen (vgl. BTDrucks 15/1515, S. 78). § 434j Abs. 2 SGB III in der Fassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S. 2848 <2885>) bestimmte, dass der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung bis zum 31. Dezember 2006 gestellt werden kann. Die Vorschrift lautet:

"(2) § 28a Abs. 2 gilt mit der Maßgabe, dass ein Antrag auf freiwillige Weiterversicherung ungeachtet der Voraussetzungen des Satzes 2 bis zum 31. Dezember 2006 gestellt werden kann."

Infolgedessen konnten auch Selbständige, die ihre Tätigkeit schon seit Jahrzehnten ausüben, die Versicherungsmöglichkeit wahrnehmen.

5

2. Die für das Vorlageverfahren maßgebliche Änderung der Rechtslage erfolgte durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II-Fortentwicklungsgesetz ) vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1706 <1717>). Die bisherige Regelung des § 434j Abs. 2 SGB III wurde um einen Satz 2 ergänzt, der auf die Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 31. Mai 2006 zurückgeht (vgl. BTDrucks 16/1696, S. 12). § 434j Abs. 2 SGB III lautet danach wie folgt:

"(2) § 28a Abs. 2 gilt mit der Maßgabe, dass ein Antrag auf freiwillige Weiterversicherung ungeachtet der Voraussetzungen des Satzes 2 bis zum 31. Dezember 2006 gestellt werden kann. Stellt eine Person, deren Tätigkeit oder Beschäftigung gemäß § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt, den Antrag nach dem 31. Mai 2006, gilt Satz 1 mit der Einschränkung, dass die Tätigkeit oder Beschäftigung nach dem 31. Dezember 2003 aufgenommen worden sein muss."

6

Die Gesetzesänderung hat zur Konsequenz, dass Selbständige, die ihre Tätigkeit vor dem 1. Januar 2004 begonnen haben, die freiwillige Versicherung nur noch bis zum 31. Mai 2006 (und nicht mehr bis zum 31. Dezember 2006) beantragen konnten. Dies soll den engen "Zusammenhang zur bisherigen Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft" stärker betonen (vgl. BTDrucks 16/1696, S. 32).

7

§ 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III ist gemäß Art. 16 Abs. 3 GSiFoG (BGBl I S. 1706<1720>) schon vor seiner Verkündung am 25. Juli 2006 (vgl. BGBl I S. 1706) zum 1. Juni 2006 (dem Tag der dritten Lesung und des Gesetzesbeschlusses im Bundestag, vgl. BT-Plenarprotokoll 16/37, S. 3333 A ff.) in Kraft getreten. Der Gesetzgeber hat dies für erforderlich gehalten, "um bei der Behandlung von Anträgen auf freiwillige Weiterversicherung für solche Personen Rechtssicherheit zu schaffen, die ihren Antrag zwischen dem Tag der dritten Lesung dieses Gesetzes und dem Inkrafttreten der übrigen Vorschriften stellen" (vgl. BTDrucks 16/1696, S. 33). Durch Art. 2 Nr. 100 des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 (BGBl I S. 2854 <2916>) ist die Übergangsregelung § 434j SGB III mit Wirkung vom 1. April 2012 aufgehoben worden.

8

3. In dem Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht begehrt der dortige Kläger die Feststellung, dass er ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung gemäß § 28a SGB III begründet hat. Der 1958 geborene Kläger des Ausgangsverfahrens war von September 1991 bis einschließlich Juli 1997 arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Vom 1. August 1997 bis 30. Juni 1998 erhielt er Arbeitslosengeld. Seit dem 1. Juli 1998 ist er als selbständiger Industriedesigner mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mehr als 15 Stunden erwerbstätig und in der Künstlersozialkasse renten- und krankenversichert. Am 19. Dezember 2006 stellte er einen Antrag auf freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung; der Antrag ging am 22. Dezember 2006 bei der im Ausgangsverfahren beklagten Bundesagentur für Arbeit ein.

9

Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat zur Klagebegründung vorgetragen, ihm sei das Ende der "Antragsabgabefrist" nicht rechtzeitig bekannt gewesen. Die ihm vorliegenden Hinweisblätter hätten vielmehr alle ausdrücklich als "Abgabedatum" den 31. Dezember 2006 genannt. Ihm sei ausdrücklich und mehrfach eine solche "Abgabefrist" genannt worden. Dazu verweist er auf undatierte amtliche Hinweise der Künstlersozialkasse und der Bundesagentur für Arbeit für die ab dem 1. Februar 2006 geltende Rechtslage zur freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung. Von der Antragsmöglichkeit bis zum 31. Dezember 2006 habe er "damals über" die Künstlersozialkasse erfahren und sich bis zum 19. Dezember 2006 Zeit gelassen, da er in diesem Jahr insgesamt beruflich sehr stark belastet gewesen sei.

10

4. Das Sozialgericht hat das Verfahren durch Beschluss vom 10. Dezember 2010 ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III, eingefügt durch Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (GSiFoG) vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1706), in Kraft getreten mit Wirkung vom 1. Juni 2006 (Art. 16 Abs. 3 GSiFoG), gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, insoweit durch die vorgenannte Vorschrift die Antragsfrist für die freiwillige Weiterversicherung nach § 28a SGB III teilweise nachträglich geändert und unterschiedlich - abhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung und der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in der Vergangenheit - geregelt wurde.

II.

11

Die Vorlage ist unzulässig. Sie genügt nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Das Sozialgericht hat die Entscheidungserheblichkeit der Antragsfriständerung durch § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III nicht hinreichend dargelegt.

12

1. Ein Gericht kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift, als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 <76>). Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht in den Gründen seines Beschlusses dazu ausführen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist. Das vorlegende Gericht muss die für seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>). Es muss deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu dieser Auffassung gelangt ist.

13

Im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Norm muss dem Vorlagebeschluss mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (vgl. BVerfGE 7, 171 <173 f.>; 105, 61 <67>; 125, 175 <219 f.>; 131, 88 <117>; 133, 1 <10 f. Rn. 34>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, juris Rn. 92). Damit fehlt es an der Entscheidungserheblichkeit, solange die Möglichkeit besteht, dass das Gericht den Rechtsstreit entscheiden kann, ohne die von ihm für verfassungswidrig gehaltene Norm anwenden zu müssen (vgl. BVerfGE 58, 153 <157 f.>; 64, 251 <254>; 105, 48 <56>; Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 80 Rn. 61; Lenz/Hansel, BVerfGG, § 80 Rn. 70). Das Fachgericht muss das Verfahren zunächst so weit wie möglich bis zur Entscheidungsreife fördern, um dann zu beurteilen, ob es für die Entscheidung auf die Verfassungsmäßigkeit einer hierfür maßgeblichen Norm ankommt oder nicht. In der Regel bedarf es dafür einer mündlichen Verhandlung (vgl. BVerfGE 79, 256 <264 f.>). Insbesondere muss der Sachverhalt so weit aufgeklärt werden, dass die Entscheidungserheblichkeit der zu prüfenden Vorschrift feststeht, bevor ein Gericht dem Bundesverfassungsgericht die Rechtsfrage der Gültigkeit eines Gesetzes vorlegt (vgl. BVerfGE 64, 251 <254>; BVerfGK 18, 222 <232 f.>). Dazu müssen auch die erforderlichen Beweise erhoben werden (vgl. BVerfGK 15, 447 <452 f.>).

14

Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich. Allerdings muss die Auffassung des Fachgerichts zumindest nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGE 126, 77 <97>; 127, 224 <244>; 131, 1 <15>; 133, 1 <10 f. Rn. 35>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 19. November 2014 - 2 BvL 2/13 -, juris Rn. 41). Außerdem muss sich das Gericht eingehend mit der einfachrechtlichen Rechtslage anhand der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen auseinandergesetzt haben und zu unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten Stellung nehmen, soweit sie für die Entscheidungserheblichkeit maßgeblich sein können (vgl. BVerfGE 105, 48 <56>; 105, 61 <67>; 121, 233 <238>; 124, 251 <260>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Juli 2014 - 2 BvL 25/09, 2 BvL 32 BvL 3/11 -, juris Rn. 28 ff.).

15

2. Diesen Anforderungen genügt der Vorlagebeschluss nicht. Ihm lässt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift des § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit. Denn es hat nicht geprüft, ob hier im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine rechtzeitige Antragstellung zu bejahen sein könnte, so dass es auf die Gültigkeit der die Antragsfrist verkürzenden Norm nicht ankäme. Es hat sich insofern nicht mit der dafür zunächst heranzuziehenden einfachrechtlichen Rechtslage auseinandergesetzt (siehe a). Es ist für das Bundesverfassungsgericht auch nicht zu erkennen, ob das Sozialgericht den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife gefördert und gegebenenfalls erforderliche Beweise erhoben hat (siehe b). Das Sozialgericht durfte auch nicht die fehlende Rechtserheblichkeit dieser Umstände unterstellen (siehe c).

16

a) Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat zur Klagebegründung und im Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. Dezember 2010 vorgetragen, ihm sei das Ende der "Antragsabgabefrist" nicht rechtzeitig bekannt gewesen, da die ihm vorliegenden Auskünfte der Künstlersozialkasse und Hinweisblätter der Bundesagentur für Arbeit zur Antragstellung eine Frist bis zum 31. Dezember 2006 genannt hätten. Ihm sei ausdrücklich und mehrfach eine solche "Abgabefrist" mitgeteilt worden. Diese Umstände selber hat das Sozialgericht in seiner Vorlage nicht gewürdigt, obgleich es sich offenbar nicht um Behauptungen "ins Blaue hinein" gehandelt hat und wiewohl sie für die Entscheidungsfindung von Bedeutung und Grund für weitere Sachverhaltsermittlungen und rechtliche Überlegungen sein könnten.

17

Es ist nicht auszuschließen, dass die näheren Umstände der Beratung und Antragstellung hier für die Entscheidungsfindung von rechtlicher Relevanz sein könnten. Das Sozialgericht hat die tatsächlichen Anknüpfungspunkte offenbar nicht zum Anlass genommen, um zu prüfen, ob hier eine "rechtzeitige" Antragstellung im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X, der grundsätzlich sowohl für Verfahrensfristen als auch für Fristen mit materiell-rechtlichem Charakter gilt, in Betracht kommen könnte und hat sich mit der dazu heranzuziehenden sozialverwaltungsrechtlichen Rechtslage nicht befasst. Ebenso wenig hat es die daneben anwendbaren (vgl. BSGE 96, 44 <48 Rn. 20 ff.>) Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, nach denen im Einzelfall einem Sozialversicherungsträger auch der Beratungsfehler eines anderen Sozialleistungsträgers zurechenbar sein kann (vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005 - B 5 RJ 6/04 R -, juris Rn. 29), geprüft. Jedenfalls verhält sich die Vorlage zu den beiden Rechtsinstituten nicht.

18

b) So lässt sich für das Bundesverfassungsgericht auch nicht erkennen, ob das Sozialgericht den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife gefördert hat. Das vorlegende Gericht hätte insbesondere feststellen und gegebenenfalls ermitteln müssen, wann und in welcher Form dem Kläger des Ausgangsverfahrens, wie er behauptet, "ausdrücklich und mehrfach" ein Fristlauf bis zum 31. Dezember 2006 genannt wurde; mit welcher Behörde eine konkrete Kontaktaufnahme erfolgte; ob eine sozialversicherungsrechtliche Beratung durch die Künstlersozialkasse erfolgte; was gegebenenfalls Ziel und Gegenstand der Beratung war und welches Beratungsbedürfnis dabei zu Tage trat; ob hierbei auch die tatsächlichen Voraussetzungen einer gesteigerten Hinweispflicht (vgl. BSGE 98, 108 <114 Rn. 21>) eingetreten sind und ob eine Einbeziehung der Bundesagentur für Arbeit und ihrer Formulare in die Beratung erfolgte. Ferner lässt sich nicht erkennen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens behördlich über die rückwirkende Änderung der Rechtslage informiert wurde oder hiervon in anderer Weise erfuhr und wenn ja, wann dies geschah. Außerdem fehlen Einlassungen dazu, inwieweit er auf die Beständigkeit des Fristlaufs vertraute und inwiefern ein solches subjektives Vertrauen objektiv schutzwürdig war. Das Sozialgericht geht schließlich nicht darauf ein, in welcher Art und Weise die versäumte Handlung nachgeholt und ob dabei konkludent ein Wiedereinsetzungsantrag gestellt wurde oder zumindest Anlass für eine Wiedereinsetzungsprüfung von Amts wegen bestanden haben könnte. Die in einem kurzen Satz protokollierte Anhörung des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung genügt hierfür nicht. Sie lässt nahezu alle relevanten Fragen offen, ohne dass der Sitzungsniederschrift entnommen werden könnte, dass dem Kläger nähere Angaben unmöglich waren oder von ihm verweigert worden wären.

19

c) Die fehlende Rechtserheblichkeit dieser Umstände durfte das Sozialgericht auch nicht ohne Weiteres unterstellen. Wenngleich für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich seine Beurteilung maßgeblich ist, muss die Auffassung des Fachgerichts zumindest nachvollziehbar sein. Hierfür wäre sie auch insoweit zu begründen gewesen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Möglichkeit besteht, dass das Sozialgericht den Rechtsstreit entscheiden kann, ohne die von ihm für verfassungswidrig gehaltene Norm anwenden zu müssen.

20

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Gründe

I.

1

1. Das Amtsgericht hat in einem Bußgeldverfahren, das gegen den privaten Fernsehsender S. und dessen verantwortlichen Redakteur wegen der Ausstrahlung einer Folge einer Sendereihe, in der fiktive Kriminalfälle im Stil einer Dokumentation präsentiert werden, eingeleitet wurde, mit Beschluss vom 17. Februar 2012 dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Klärung vorgelegt, ob der Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 24 Abs. 1 Nr. 4 Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.

2

2. Das vorlegende Gericht hält die Vorschrift für verfassungswidrig, weil sie sich ausschließlich an die privatrechtlichen Fernsehanstalten beziehungsweise deren Redakteure richte, während für die öffentlichrechtlichen Sender beziehungsweise deren Redakteure eine vergleichbare Bußgeldvorschrift überhaupt nicht existiere. Da die Sichtweise des vorlegenden Gerichts der Auffassung der Betroffenen entspreche, nehme es auf die wörtlich zitierten Ausführungen der Betroffenen Bezug.

3

3. Die Vorlagefrage sei entscheidungserheblich, da bei Verfassungswidrigkeit der zitierten Vorschrift die Betroffenen freizusprechen beziehungsweise das Verfahren einzustellen wäre. Demgegenüber sei bei Annahme der Wirksamkeit ein Bußgeld zu verhängen. Die Eingangssequenz der beanstandeten Sendung, in der die Tötung einer Frau angedeutet wurde, sei im Sinne des § 24 Abs. 1 Nr. 4 JMStV geeignet, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen und erheblich zu gefährden. Eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift komme infolge des eindeutigen Wortlauts nicht in Betracht.

II.

4

Der Normenkontrollantrag ist unzulässig, weil die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11, §§ 80 f. BVerfGG nicht erfüllt sind.

5

1. Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt. Der Vorlagebeschluss muss danach mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie das Gericht dieses Ergebnis begründen würde (seit BVerfGE 7, 171 <173 f.> stRspr, vgl. zuletzt BVerfGE 107, 59 <85>; 124, 251 <260>; 131, 1 <15>). Hierbei muss es insbesondere die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 65, 308 <316>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. August 1999 - 1 BvL 7/96 -, NJW 1999, S. 3550; stRspr), auf einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eingehen (vgl. BVerfGE 79, 240 <243 ff.>) und sich gegebenenfalls auch mit der Entstehungsgeschichte der Norm auseinandersetzen (vgl. BVerfGE 92, 277 <312>; stRspr).

6

2. Diesen Anforderungen genügt der Vorlagebeschluss des Amtsgerichts nicht. Aus dem vorgelegten Beschluss ergibt sich jedenfalls nicht die hinreichende Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits im Sinne von Art. 100 Abs. 1 GG. Da der Begründungszwang des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht entlasten soll, muss der Vorlagebeschluss aus sich heraus verständlich sein. Das vorlegende Gericht hat daher in den Gründen des Vorlagebeschlusses den Sachverhalt, soweit er für die rechtliche Beurteilung wesentlich ist, und die rechtlichen Erwägungen erschöpfend darzulegen (vgl. BVerfGE 17, 135 <138 f.>; 65, 308 <314>; stRspr).

7

a) Das vorlegende Gericht hat zwar den seiner Ansicht nach entscheidungserheblichen Sachverhalt im Wesentlichen wiedergegeben und im Beschluss ausgeführt, dass die Eingangssequenz der fraglichen Sendung, in dem ein Ritualmord an einer Frau angedeutet wird, Anlass zur Beanstandung gegeben hat, weil dieser Teil geeignet gewesen sei, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen. Darüber hinaus hat das Amtsgericht - wenngleich mit dem schlichten Verweis auf den vermeintlich eindeutigen Wortlaut des § 24 Abs. 1 Nr. 4 JMStV - eine mit Blick auf die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG vorrangig zu prüfende verfassungskonforme Auslegung (vgl. BVerfGE 22, 373 <377>; 68, 337 <344>; 90, 145 <170>; 96, 315 <324 f.>; 124, 251 <262>; stRspr) erwogen und im Ergebnis ausgeschlossen.

8

b) Dies reicht jedoch nicht aus, um den Anforderungen zu genügen, die an die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage zu stellen sind. Aus dem Vorlagebeschluss ist nicht zu erkennen, dass den Betroffenen bei Gültigkeit der vorgelegten Vorschrift des § 24 Abs. 1 Nr. 4 JMStV das Bußgeld zu Recht auferlegt würde.

9

Das vorlegende Gericht hat keine ausreichende eigene Subsumtion unter die Vorschriften des § 24 Abs. 1 Nr. 4 JMStV und § 5 Abs. 1 JMStV vorgenommen, sondern sich auf die Feststellung beschränkt, dass die streitgegenständliche Eingangssequenz der Sendung, die eine selbst für Erwachsene erheblich bedrohlich und beängstigend wirkende Situation dargestellt habe, wegen der hohen Erreichbarkeit von Kindern und Jugendlichen zur Sendezeit geeignet gewesen sei, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen. An dieser Stelle hätte das vorlegende Gericht die Tatbestandsvoraussetzung der Eignung zur Entwicklungsbeeinträchtigung auslegen, anschließend den Sachverhalt hierunter subsumieren und genau darstellen müssen, welche Elemente des Sachverhalts im Einzelnen oder ihrer Gesamtschau die Einstufung der beanstandeten Sendung als zur Beeinträchtigung der Entwicklung geeignet rechtfertigen. Nicht zuletzt fehlen Überlegungen, nach welchen Maßstäben sich eine Eignung zur Beeinträchtigung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen objektiv bemessen lässt. Warum bei Gültigkeit des § 24 Abs. 1 Nr. 4 JMStV ein Freispruch der Betroffenen oder eine Einstellung des Verfahrens ausgeschlossen wäre, hat das vorlegende Gericht somit nicht in der nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gebotenen Weise dargelegt.

10

c) Im Übrigen ist zweifelhaft, ob das Amtsgericht sich eine eigene Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Vorschrift des § 24 Abs. 1 Nr. 4 JMStV gebildet hat. Denn die Ausführungen des vorlegenden Gerichts zur Darlegung der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Vorschrift erschöpfen sich im Wesentlichen in einer Kopie des Schriftsatzes der Bevollmächtigten der Betroffenen und dem Hinweis, dass sich das vorlegende Gericht diese Ausführungen vollumfänglich zu eigen mache. Insofern ist nicht ersichtlich, dass sich das vorlegende Gericht selbst mit der verfassungsrechtlichen Lage auseinandergesetzt und aufgrund dessen eine eigene Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit gewonnen hat. Nach Art. 100 Abs. 1 GG muss das vorlegende Gericht selbstständig und in eigener Verantwortung über die Vorlage entscheiden, was eine eigene Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm voraussetzt (vgl. BVerfGE 22, 373 <379>; 68, 337 <343 ff.>). Die eigene Darstellung des wesentlichen Sachverhalts und der rechtlichen Erwägungen darf nicht durch Hinweise auf die Ausführungen eines anderen Gerichts ganz oder auch nur teilweise ersetzt werden (vgl. BVerfGE 22, 175 <177>; 90, 145 <167>; 93, 121 <132>). Dies muss erst recht für die Ausführungen in Schriftsätzen der am Verfahren des Ausgangsrechtsstreits Beteiligten gelten.

11

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Gründe

A.

1

Die Vorlage des Bayerischen Landessozialgerichts betrifft die Frage, ob § 47 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - (SGB VI) mit Art. 6 Abs. 5 GG und Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.

I.

2

1. a) Das Rentenrecht kennt derzeit drei Regelungen, nach denen bei Versterben des Ehegatten oder des geschiedenen Ehegatten dem überlebenden Ehegatten eine Rente nach dem Sozialgesetzbuch VI zustehen kann: für Verheiratete die Witwen- und Witwerrente und für Geschiedene die Erziehungsrente sowie die Geschiedenenwitwenrente als Altfallregelung für Scheidungen vor dem 1. Juli 1977.

3

b) Hat die Ehe bis zum Tod des Ehegatten bestanden, regelt § 46 SGB VI den Anspruch auf die Witwen- und Witwerrente. Absatz 1 regelt die sogenannte kleine, Absatz 2 die sogenannte große Witwen- und Witwerrente.

4

Die Vorschrift lautet:

5

§ 46 Witwenrente und Witwerrente

6

(1) Witwen oder Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, haben nach dem Tod des versicherten Ehegatten Anspruch auf kleine Witwenrente oder kleine Witwerrente, wenn der versicherte Ehegatte die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Der Anspruch besteht längstens für 24 Kalendermonate nach Ablauf des Monats, in dem der Versicherte verstorben ist.

7

(2) Witwen oder Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, haben nach dem Tod des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, Anspruch auf große Witwenrente oder große Witwerrente, wenn sie

8

1. ein eigenes Kind oder ein Kind des versicherten Ehegatten, das das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erziehen,

9

2. das 47. Lebensjahr vollendet haben oder

10

3. erwerbsgemindert sind.

11

Als Kinder werden auch berücksichtigt:

12

1. Stiefkinder und Pflegekinder (§ 56 Abs. 2 Nr. 1 und 2 Erstes Buch), die in den Haushalt der Witwe oder des Witwers aufgenommen sind,

13

2. Enkel und Geschwister, die in den Haushalt der Witwe oder des Witwers aufgenommen sind oder von diesen überwiegend unterhalten werden.

14

Der Erziehung steht die in häuslicher Gemeinschaft ausgeübte Sorge für ein eigenes Kind oder ein Kind des versicherten Ehegatten, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, auch nach dessen vollendetem 18. Lebensjahr gleich.

15

(2a) Witwen oder Witwer haben keinen Anspruch auf Witwenrente oder Witwerrente, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen.

16

(2b) Ein Anspruch auf Witwenrente oder Witwerrente besteht auch nicht von dem Kalendermonat an, zu dessen Beginn das Rentensplitting durchgeführt ist. Der Rentenbescheid über die Bewilligung der Witwenrente oder Witwerrente ist mit Wirkung von diesem Zeitpunkt an aufzuheben; die §§ 24 und 48 des Zehnten Buches sind nicht anzuwenden.

17

(3) Überlebende Ehegatten, die wieder geheiratet haben, haben unter den sonstigen Voraussetzungen der Absätze 1 bis 2b Anspruch auf kleine oder große Witwenrente oder Witwerrente, wenn die erneute Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt ist (Witwenrente oder Witwerrente nach dem vorletzten Ehegatten).

18

...

19

c) Wurde die Ehe geschieden und ist der geschiedene Ehegatte verstorben, hängt der Rentenanspruch davon ab, wann die Ehe geschieden wurde. Wurde die Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden, dem Stichtag für das Inkrafttreten des neuen Ehe- und Ehescheidungsrechts mit Versorgungsausgleich, gewährt § 243 SGB VI eine Geschiedenenwitwen- oder -witwerrente (Altfallregelung). Der Anspruch auf diese Rente setzt nach § 243 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI voraus, dass der Anspruchsberechtigte im letzen Jahr vor dem Tode des Versicherten Unterhalt von diesem erhalten oder zumindest einen Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten hat.

20

d) Bei einer Ehescheidung am oder nach dem Stichtag, dem 1. Juli 1977, ist hingegen § 47 SGB VI anwendbar.

21

Die Vorschrift lautet:

22

§ 47 Erziehungsrente

23

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Erziehungsrente, wenn

24

1. ihre Ehe nach dem 30. Juni 1977 geschieden und ihr geschiedener Ehegatte gestorben ist,

25

2. sie ein eigenes Kind oder ein Kind des geschiedenen Ehegatten erziehen (§ 46 Abs. 2),

26

3. sie nicht wieder geheiratet haben und

27

4. sie bis zum Tod des geschiedenen Ehegatten die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

28

(2) Geschiedenen Ehegatten stehen Ehegatten gleich, deren Ehe für nichtig erklärt oder aufgehoben ist.

29

(3) Anspruch auf Erziehungsrente besteht bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch für verwitwete Ehegatten, für die ein Rentensplitting durchgeführt wurde, wenn

30

1. sie ein eigenes Kind oder ein Kind des verstorbenen Ehegatten erziehen (§ 46 Abs. 2),

31

2. sie nicht wieder geheiratet haben und

32

3. sie bis zum Tod des Ehegatten die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

33

...

34

Verfassungsbeschwerden gegen die rechtliche Zuordnung von Scheidungsfolgen in Abhängigkeit von dem genannten Stichtag wurden vom Bundesverfassungsgericht mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG, Beschluss vom 16. Februar 1978 - 1 BvR 814/77, 1 BvR 926/77, 1 BvR 965/77, 1 BvR 966/77, 1 BvR 983/77, 1 BvR 1060/77, 1 BvR 1073/77, 1 BvR 1198/77, 1 BvR 29/78 -, ZfSH 1978, S. 274 f.).

35

e) Die Erziehungsrente nach § 47 SGB VI ist wie die Witwen- und Witwerrente eine Rente wegen Todes, aber im Gegensatz zu jener eine Rente aus eigener Versicherung des überlebenden, geschiedenen Ehegatten. Sie knüpft an die Versichertenstellung und an die Erfüllung der Wartezeit des überlebenden, geschiedenen Ehegatten, nicht des verstorbenen Ehegatten an. Es ist kein Ausschlussgrund für die Renten nach den §§ 46, 47 SGB VI, wenn die erziehende Person bei Versterben des Ehegatten in einer nichtehelichen Beziehung lebt. Anders als die Altfallregelung § 243 SGB VI setzt § 47 SGB VI nicht voraus, dass der geschiedene Ehegatte tatsächlich Unterhalt gewährt hat oder ein Unterhaltsanspruch bestand.

36

Der Kreis der Kinder, deren Erziehung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGB VI oder § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI einen Anspruch auf Rente auslöst, wird einheitlich bestimmt. Das Gesetz stellt darauf ab, dass ein eigenes Kind oder ein Kind des verstorbenen Ehegatten erzogen wird. Dabei muss es sich nicht um ein Kind aus der gemeinsamen Ehe, sondern kann es sich auch um ein eigenes, nichteheliches Kind oder um ein eigenes, eheliches Kind aus einer früheren Ehe handeln. Die Erziehung nichtehelicher Kinder des verstorbenen Ehegatten aus einer früheren Beziehung wirkt ebenso anspruchsbegründend wie die Erziehung ehelicher Kinder des Verstorbenen aus einer früheren Ehe. Als "eigene Kinder" gelten ebenfalls Stiefkinder, Pflegekinder, Enkel oder Geschwister sowohl des verstorbenen als auch des erziehenden Ehegatten.

37

2. a) Eine Witwenrente gab es im Rentenversicherungssystem bereits seit 1911 (vgl. Butzer, in: Ruland/Försterling , GK-SGB VI, § 46 Rn. 1). Die Hinterbliebenenrente an geschiedene Ehegatten wurde erst 1942 eingeführt. Mit der Eherechtsreform 1977, die unter anderem das Institut des Versorgungsausgleichs schuf, wurde die Geschiedenenwitwenrente für Ehen gestrichen, die nach dem seit 1. Juli 1977 geltenden Recht geschieden wurden. Für sie sah der Gesetzgeber grundsätzlich kein Bedürfnis mehr, weil über den Versorgungsausgleich alle während der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften von Mann und Frau je zur Hälfte aufgeteilt werden. Der geschiedene und nicht wieder verheiratete Ehegatte profitiert von den ihm übertragenen Rentenanwartschaften aber grundsätzlich erst bei Bewilligung einer eigenen Rente. Die Absicherung derjenigen geschiedenen Person, die wegen der Erziehung eines Kindes nicht erwerbstätig sein kann oder aber nur ein geringes Einkommen erzielt, übernahm daher ab 1. Juli 1977 die Erziehungsrente.

38

b) Die Rentenversicherungsträger gingen bei der Auslegung des Begriffs des "waisenrentenberechtigten Kindes" in Vorläufervorschriften zunächst davon aus, dass eine Erziehungsrente nur zu gewähren war, wenn es sich bei dem zu erziehenden Kind um ein Kind des Verstorbenen handelte. Mit Urteilen vom 18. März 1983 - 11 RA 22/82 -, SozR 2200 § 1265 Nr. 70 und vom 13. April 1983 - 4 RJ 53/82 -, SozR 2200, § 1268 Nr. 21 entschied das Bundessozialgericht, dass die früheren wegen Kindererziehung erhöhten Renten auch zu leisten seien, wenn die Waisenrentenberechtigung des Kindes nicht aus demselben Versicherungsverhältnis wie die Witwenrente abzuleiten ist. Damit muss das waisenrentenberechtigte Kind seine Rentenberechtigung nicht aus einem Abstammungsverhältnis zum verstorbenen Ehegatten ableiten. Dadurch war zugleich der Wegfall eines Unterhaltsanspruchs des Kindes und eines Betreuungsunterhaltsanspruchs des überlebenden Ehegatten durch den Tod des Unterhaltsverpflichteten nicht mehr Voraussetzung für den Anspruch auf derartige Renten nach früherem Recht. Entscheidend war nach dieser Rechtsprechung, dass die erhöhten Renten gewährt wurden, um der Witwe, die ein "potentiell waisenrentenberechtigtes" Kind erzieht, im Regelfall den Unterhalt der Familie ohne Erwerbstätigkeit zu ermöglichen (vgl. BSG, Urteil vom 13. April 1983 - 4 RJ 53/82 -, SozR 2200, § 1268 Nr. 21). In der Folgezeit haben die Rentenversicherungsträger die zu den Vorläufervorschriften ergangene Rechtsprechung auf die Erziehungsrente übertragen und diese auch bei Erziehung von eigenen Kindern des überlebenden Elternteils gewährt, die nicht vom Verstorbenen abstammten.

39

c) Die Witwen- und Witwerrente und die Erziehungsrente wurden zum 1. Januar 1992 in das Sozialgesetzbuch Sechstes Buch übernommen und umgestaltet. In Erweiterung des früheren Rechts kommt es auf die Waisenrentenberechtigung des Kindes nunmehr nicht mehr an. Berücksichtigung findet damit ein größerer Kreis von Kindern, die der überlebende Ehegatte erzieht.

40

3. Die Erziehungsrente nach § 47 SGB VI weist in der Praxis nur eine geringe Bedeutung auf. Am 31. Dezember 2009 bezogen 9.788 Personen eine Erziehungsrente. Demgegenüber bezogen 4.891.844 Frauen eine große Witwen- und 540.496 Männer eine große Witwerrente (vgl. Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Rentenbestand am 31. Dezember 2009, Abschnitt 406.00 G, S. 58), davon allerdings nur ein kleiner, nicht näher ausgewiesener Teil wegen Kindererziehung, das Gros wegen Vollendung des 47. Lebensjahres (§ 46 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI). Im Jahr 2009 kamen 1.432 neue Erziehungsrentner hinzu, davon 157 Männer und 1.275 Frauen. Ihr Alter lag zwischen 25 und 64 Jahren, die Mehrheit davon zwischen 41 und 45 Jahren. Die durchschnittliche, monatliche Höhe der Erziehungsrente betrug für Frauen 673,85 €, für Männer 570,05 € und lag damit über der durchschnittlichen großen Witwen- und Witwerrente (vgl. Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Rentenzugang 2009, Abschnitt 402.00 Z, S. 85). Die durchschnittliche Erziehungsrente von Frauen lag in Ostdeutschland pro Monat (704,15 €) etwas höher als in den alten Bundesländern (668,28 €). Bei den Männern war es umgekehrt (Ost: 566,18 €; West: 571,78 €; vgl. Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Rentenzugang 2009, Abschnitt 402.10 Z, S. 143 und Abschnitt 402.20 Z, S. 199).

II.

41

1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerin) begehrt die Gewährung einer Erziehungsrente nach § 47 SGB VI. Die 38-jährige Klägerin hat drei Kinder mit drei verschiedenen Männern. Sie war nie verheiratet. Zwei der Kinder sind minderjährig und leben bei ihr. Dabei handelt es sich um eine 1996 geborene Tochter und einen im April 2007 geborenen Sohn. Das älteste Kind, ein 1989 geborener Sohn, besitzt einen eigenen Hausstand. Der Vater des 2007 geborenen Sohnes ist im Mai 2008 verstorben. Er war zwei Monate nach der Geburt dieses Sohnes in eine separate Wohnung in dem Haus gezogen, in dem die Klägerin mit ihren zwei Kindern schon wohnte. Bis zu seinem Tod stand die Klägerin in einer Beziehung zu ihm, die sie als "feste Partnerschaft" bezeichnet. Der Verstorbene habe viel Zeit in der Wohnung der Klägerin verbracht, was diese als "richtige Familie" empfand. Außer einer Rente hatte er kein Einkommen. Unterhalt für seinen Sohn zahlte er nicht, beteiligte sich nach Schilderung der Klägerin aber finanziell an den Einkäufen und machte seinem Sohn ab und zu kleine Geschenke. Die Klägerin bestreitet den Lebensunterhalt für sich und ihre minderjährigen Kinder aus Einkünften aus einer geringfügigen Beschäftigung, aus einer Halbwaisenrente für den Sohn, aus dem Kindesunterhalt, den der Vater ihrer Tochter leistet, aus Kindergeld für beide Kinder und aus ergänzenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

42

Die von der Klägerin beantragte Erziehungsrente lehnte die Rentenversicherung ab, weil die Klägerin mit dem Verstorbenen nie verheiratet war. In ihrem Widerspruch trug die Klägerin vor, sie strebe die Gleichbehandlung mit geschiedenen oder verheirateten Menschen an. Widerspruch und Klage vor dem Sozialgericht blieben ohne Erfolg.

43

Die Berufung begründete die Klägerin damit, sie fühle sich in ihren Grundrechten, insbesondere in Art. 3 GG, verletzt. Es liege ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz vor, wenn eine Person, deren Ehe geschieden worden sei, bei Versterben des früheren Ehegatten Erziehungsrente erhalte, eine ledige Person, deren Partner verstorben sei, jedoch nicht. Eine Heiratsabsicht zwischen der Klägerin und dem Verstorbenen habe bestanden.

44

2. Mit Beschluss vom 30. September 2009 hat das Bayerische Landessozialgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Fragen vorgelegt, ob § 47 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Sechstes Buch in der Fassung von Artikel 1 Nr. 15 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2007 (BGBl I S. 554) insoweit mit

45

1. Art. 6 Abs. 5 des Grundgesetzes vereinbar ist, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf Erziehungsrente genügen lässt,

46

2. Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar ist, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf Erziehungsrente ausreichen lässt, andererseits aber die Erziehung nicht gemeinsamer Kinder dafür genügen kann,

47

3. Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar ist, als die Norm die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder der Erziehungsperson und des verstorbenen anderen Elternteils nicht für die Auslösung eines Anspruchs auf Erziehungsrente genügen lässt, die Erziehung gemeinsamer ehelicher dagegen schon.

48

Das Landessozialgericht hält § 47 SGB VI für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 5 GG und mit Art. 3 Abs. 1 GG. Es stellt fest, dass die Klägerin die Leistungsvoraussetzungen für eine Erziehungsrente nicht erfülle. Sie sei zwar Versicherte im Sinne von § 47 Abs. 1 SGB VI, erziehe ein eigenes Kind (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI) und habe "nicht wieder", nämlich nie geheiratet (§ 47 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI). Des Weiteren habe sie die allgemeine Wartezeit erfüllt. Auch sei der Vater ihres 2007 geborenen Sohnes verstorben (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI). Ein Anspruch scheitere jedoch daran, dass sie von ihm nicht nach dem 30. Juni 1977 geschieden wurde, weil sie nie mit ihm verheiratet gewesen sei.

49

a) Das Landessozialgericht hält die Vorschrift des § 47 SGB VI für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 5 GG, weil ein Leistungsausschluss, der auf dem Fehlen einer Scheidung beruhe, verfassungswidrig sei. § 47 SGB VI verletze Art. 6 Abs. 5 GG, weil das gemeinsame Kind der Klägerin und des Verstorbenen gerade wegen seines Nichtehelichenstatus benachteiligt werde. Es werde deswegen schlechter gestellt, weil seine Eltern nicht miteinander verheiratet gewesen seien. Wären sie geschieden, wäre es eheliches Kind, und seine Mutter, die Klägerin, besäße einen Anspruch auf Erziehungsrente. Das nichteheliche Kind erhielte vermutlich wegen der finanziellen Schlechterstellung seiner Mutter weniger persönliche Betreuung, als wenn seine Eltern geschieden wären, es also ein eheliches Kind wäre, und die Klägerin deshalb eine Erziehungsrente erhalten würde. Wegen des Zusammenhangs einer finanziellen Schlechterstellung der Mutter mit diesem Nachteil für das Kind verweist das Landessozialgericht auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Ausgestaltung des Betreuungsunterhalts für eheliche und nichteheliche Kinder (Hinweis auf BVerfGE 118, 45 <63, 65 bis 67>). Die dort angestellten Erwägungen gälten ohne Einschränkung auch für die Vorenthaltung einer Erziehungsrente. Dass die Erziehungsrente der Klägerin und nicht dem Kind gewährt werde, sei unerheblich. Denn Art. 6 Abs. 5 GG verbiete schon die mittelbare Schlechterstellung (Hinweis auf BVerfGE 118, 45 <62>).

50

Eine differenzierende Regelung für nichteheliche Kinder sei verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn eine unterschiedliche tatsächliche Lebenssituation sie zwingend erfordere, um nichteheliche mit ehelichen Kindern gleichzustellen. Fehle es an solchen Gründen, sei eine Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder nur durch kollidierendes Verfassungsrecht zu rechtfertigen (BVerfGE 118, 45 <62> m.w.N.). Danach könne die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nicht auf eine bloße Willkürprüfung beschränkt werden. Vielmehr sei eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung anzustellen.

51

Zwar benachteilige § 47 Abs. 1 SGB VI nach seinem Wortlaut nicht spezifisch nichteheliche Kinder gegenüber ehelichen. Nur im Fall gemeinsamer Kinder ergebe sich ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 GG. Die diskriminierende Tendenz des § 47 SGB VI folge nicht aus dem Tatbestand der Norm, sondern daraus, dass von ihr in der Realität meistens gemeinsame Kinder aus einer geschiedenen Ehe erfasst und einen Anspruch auf Erziehungsrente auslösen würden, während er bei gemeinsamen Kindern nie verheirateter Eltern nicht entstünde.

52

Der Maßstab zur Beurteilung einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung müsse der gleiche sein, den das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfGE 118, 45 angelegt habe. Das verfassungsrechtliche Problem entspreche im Wesentlichen dem im Unterhaltsrecht, weil der Erziehungsrente in erster Linie Unterhaltsersatzfunktion zukomme.

53

Es ließen sich keine tatsächlichen oder rechtlichen Unterschiede feststellen, die geeignet wären, die Schlechterstellung der gemeinsamen nichtehelichen gegenüber den gemeinsamen ehelichen Kindern zu rechtfertigen. Weder unterschiedliche tatsächliche Lebensbedingungen noch die nacheheliche Solidarität eigneten sich dazu, die Benachteiligung zu rechtfertigen. Dass die Ehepartner mit der Heirat eine Solidar- und Einstandsgemeinschaft begründeten, die bei einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vermieden werde, rechtfertige die Ungleichbehandlung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 118, 45) nicht. Der gegenwärtige Rechtszustand zur Erziehungsrente könne auch nicht mit einer Prüfungsfrist für den Gesetzgeber für eine rentenrechtliche Folgeregelung gerechtfertigt werden.

54

Der Gesetzgeber könne die Erziehungsrente nicht als reine Leistung für Geschiedene reservieren. Die Erziehungsrente verfolge zwar das Ziel, eine finanzielle Unterstützung bei Wegfall der Geschiedenenwitwenrente bereitzustellen. Auch sei die Erziehungsrente keine obligatorische Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung. Schutzzweck und Disposivität der Leistung ergäben aber keine Rechtfertigung für eine Differenzierung zu Lasten gemeinsamer nichtehelicher Kinder. Der überlebende Elternteil gemeinsamer nichtehelicher Kinder dürfe von der Erziehungsrente nicht systematisch ausgeschlossen werden. Weil die Erziehungsrente eine Rente aus eigener Versicherung der Erziehungsperson darstelle, dürfe der Ehe zwischen ihr und dem verstorbenen Partner keine derart dominierende Bedeutung beigemessen werden.

55

b) Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG sieht das Landessozialgericht darin, dass gemeinsame Kinder nicht Verheirateter nicht für eine Erziehungsrente ausreichten, während nicht gemeinsame (eheliche oder nichteheliche) Kinder zur Erziehungsrente führen könnten. Von § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI würden auch Kinder privilegiert, welche die erziehende Person oder der verstorbene Ehegatte in eine später geschiedene Ehe eingebracht habe. Solche "Patchwork-Kinder" würden gegenüber dem gemeinsamen Kind aus einer nichtehelichen Beziehung bevorzugt. Waren Eltern nie verheiratet, führe nicht einmal der Tod des leiblichen Vaters zur Gewährung einer Erziehungsrente, während bei "Patchwork-Kindern" schon der Tod eines Stiefelternteils diese Rechtsfolge auslösen könne, wenn der Elternteil und der Stiefelternteil voneinander geschieden seien.

56

c) Die nicht mit dem verstorbenen Partner verheirateten Erziehungspersonen würden gegenüber denjenigen gleichheitswidrig benachteiligt, die mit ihm verheiratet gewesen seien. Dabei sei es unerheblich, dass die Beziehung zwischen der Klägerin und dem Verstorbenen bis zu dessen Tod intakt gewesen sei, obwohl § 47 SGB VI nur zerbrochene Beziehungen erfasse. Denn die entscheidende Gemeinsamkeit, welche die Vergleichbarkeit letztlich herstelle, bestehe darin, dass einerseits in beiden Fällen Mütter nicht in den Genuss einer Witwenrente kommen könnten, weil sie zum Zeitpunkt des Ablebens des Partners nicht mit diesem verheiratet gewesen seien, andererseits in beiden Fällen durch dessen Tod bei typisierender Betrachtung ein Unterhaltszahler verloren gehe. Diese Übereinstimmung werde nicht dadurch in relevanter Weise berührt, dass im einen Fall die Beziehung zum Zeitpunkt des Todes bereits zerbrochen gewesen sei, im anderen Fall nicht. Im Übrigen setze auch § 47 SGB VI nicht stets ein Scheitern der Beziehung voraus, so etwa nicht nach § 47 Abs. 2 SGB VI bei Nichtigerklärung der Ehe wegen Doppelehe. Der strenge Rechtfertigungsmaßstab des Art. 6 Abs. 5 GG müsse zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen auf die Schlechterstellung der Erziehungsperson selbst übertragen werden.

III.

57

Zur Vorlage haben sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Deutsche Rentenversicherung Bund, der Deutsche Familiengerichtstag e.V. und der Deutsche Juristinnenbund geäußert.

58

1. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) kommt in seiner Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass § 47 SGB VI weder gegen Art. 6 Abs. 5 GG noch gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.

59

Grundsätzlich behandele § 47 Abs. 1 SGB VI alle ehelichen und nichtehelichen Kinder gleich. Lediglich diejenigen Elternteile nichtehelicher Kinder, die niemals verheiratet gewesen seien, könnten nicht in den Kreis der Anspruchsberechtigten einer Erziehungsrente kommen. Insoweit würden allenfalls nichteheliche Kinder ungleich behandelt, deren Elternteile nie eine Ehe geschlossen hätten. Entscheidend sei das Fehlen einer Ehe und in der Folge davon einer Scheidung. Der Gesetzgeber dürfe die Ehe wegen ihres verfassungsrechtlichen Schutzes gegenüber anderen Lebensformen begünstigen (Hinweis auf BVerfGE 6, 55 <76 f.>; 105, 313 <348>). Die Anwendung des § 47 Abs. 1 SGB VI auf Fälle ohne Ehe würde zu sozialpolitisch unangemessenen Ergebnissen führen. Ein Verzicht auf die Scheidung als Anspruchsvoraussetzung würde eine Erziehungsrente allein aufgrund des Tatbestandes auslösen, dass ein nicht verheirateter Elternteil ein Kind erziehe und eine mit ihm zusammenlebende Person gestorben sei. Die Beziehung zwischen beiden Personen bliebe völlig offen. Eine Begrenzung des Tatbestandes auf leibliche Kinder sei rechtlich ausgeschlossen.

60

2. Nach Auffassung der Deutschen Rentenversicherung Bund verstößt die Regelung des § 47 Abs. 1 SGB VI nicht gegen das Grundgesetz. § 47 SGB VI benachteilige nichteheliche Kinder im Vergleich zu ehelichen Kindern weder unmittelbar noch mittelbar. Eine unmittelbare Ungleichbehandlung sei schon deswegen zu verneinen, weil der Anspruch aus § 47 SGB VI der Erziehungsperson und nicht dem Kind zustehe. Von einer Ungleichbehandlung sei auch deshalb nicht auszugehen, weil der Wortlaut des § 47 SGB VI nicht nach dem Status des Kindes als ehelich oder nichtehelich differenziere.

61

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 2007 (BVerfGE 118, 45) führe zu keiner anderen Beurteilung. Dort gehe es um Unterhaltansprüche, hier sei die Erziehungsrente vom Bestehen eines Unterhaltsanspruchs gegen den Verstorbenen unabhängig. Die Erziehungsrente habe zwar ursprünglich dem Unterhaltsersatz gedient. Mit ihrer Überführung in das SGB VI sei der Zusammenhang zwischen Erziehungsrente und Unterhaltsrecht aber gelöst worden. Nach neuem Recht komme es allein darauf an, dass ein Kind erzogen werde. Auch habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung betont, dass Ehegatten finanziell besser gestellt werden dürfen als Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Zudem lägen Zivilrecht und Sozialversicherungsrecht unterschiedliche Regelungsziele zugrunde. Zivilrechtliche Unterhaltsansprüche seien auf den Interessenausgleich zwischen Personen gerichtet. Bei Rentenansprüchen entscheide der Gesetzgeber über die Absicherung von Risiken. Die gesetzliche Rentenversicherung sei nicht dafür bestimmt, das Risiko abzusichern, wegen Kindererziehung keine Erwerbstätigkeit ausüben zu können.

62

3. Der Deutsche Familiengerichtstag e.V. vertritt in seiner Stellungnahme die Auffassung, dass ein Ausschluss von der Erziehungsrente wegen des Fehlens einer Scheidung gegen Art. 3 Abs. 1 sowie gegen Art. 6 Abs. 1 und 5 GG verstoße. Die Abhängigkeit des Anspruchs auf Erziehungsrente von einer Scheidung verletze sowohl die Grundrechte der Betreuenden als auch mittelbar die des betreuten Kindes, widerspreche dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie und benachteilige gemeinsame nichteheliche Kinder gegenüber anderen Kindern.

63

4. Der Deutsche Juristinnenbund verneint einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 GG, weil die Möglichkeit des Verzichtes auf eigene Erwerbstätigkeit wegen Kinderbetreuung maßgeblich durch andere Regelungen vorstrukturiert sei und nur einen kurzen, völligen Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit nahe lege. Es liege aber ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 5 GG in der Diskriminierung nichtverheirateter Versicherter gegenüber ursprünglich verheirateten Versicherten und ihren Familien vor. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Förderung der Familien nach Art. 6 Abs. 1 GG sei überschritten. Das Gleichstellungsgebot aus Art. 6 Abs. 5 GG erlaube es nicht, an die Ehelichkeit oder Nichtehelichkeit von Familien anzuknüpfen. Rechtfertigende Gründe bestünden weder in der tatsächlichen Lebenssituation noch in den rechtlichen Rahmensetzungen.

B.

64

Die Vorlage ist unzulässig.

65

Die Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit und zur Verfassungswidrigkeit der zur Überprüfung gestellten Norm genügen nicht den Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zu stellen sind (vgl. BVerfGE 86, 71 <76 f.>; 105, 48 <56>).

I.

66

Die Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG setzt voraus, dass die Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung vorgelegten Norm für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich ist (vgl. BVerfGE 11, 330 <334>; 107, 218 <232>; stRspr). Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit kommt es auf die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts an. Das gilt jedoch nicht, wenn diese offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 31, 47 <52>; 100, 209 <212>; 105, 61 <67>; stRspr) oder die Entscheidungserheblichkeit von verfassungsrechtlichen Vorfragen abhängt (vgl. BVerfGE 46, 268 <284>; 63, 1 <27>).

67

Die Entscheidungserheblichkeit ist vom vorlegenden Gericht zu begründen (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der Vorlagebeschluss muss hinreichend deutlich erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle ihrer Ungültigkeit (vgl. BVerfGE 7, 171 <173 f.>; 107, 59 <85>; stRspr), und sich unter Berücksichtigung der in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen (BVerfGE 47, 109 <114 f.>; 105, 61 <67>; stRspr). Richten sich die Bedenken gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhängt, müssen die weiteren mit ihr im Zusammenhang stehenden Bestimmungen in die rechtlichen Erwägungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung gestellten Norm oder zur Darlegung ihrer Entscheidungserheblichkeit erforderlich ist.

68

Das vorlegende Gericht muss ferner deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu dieser Auffassung gelangt ist. Auch insoweit bedarf es eingehender, Rechtsprechung und Schrifttum einbeziehender Darlegungen (vgl. BVerfGE 89, 329 <337>; 105, 48 <56>; stRspr).

II.

69

1. Diesen Darlegungsanforderungen werden alle drei Vorlagefragen nicht gerecht. Das Landessozialgericht formuliert im Vorlagebeschluss die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 47 Abs. 1 SGB VI. Dabei versäumt es, die Vorschrift in den Gesamtregelungszusammenhang mit den Renten wegen Todes zu stellen, und zieht für einen möglichen Rentenanspruch der Klägerin die Bestimmung über die große Witwenrente nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI gar nicht in Betracht.

70

Bei dem Verstorbenen handelte es sich um den letzten Lebensgefährten der Klägerin, der nach ihrem Vortrag mit ihr wie in einer "richtigen Familie" zusammenlebte. Nach Angaben der Klägerin bestand Heiratsabsicht. Bei diesem Sachverhalt ist es begründungsbedürftig, warum nicht die Vorschrift zur großen Witwenrente nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI in die Gleichheitsprüfung einbezogen wird, sondern allein die Regelung zur Erziehungsrente, die zusätzlich zum Eingehen einer Ehe noch eine Ehescheidung voraussetzt. Eine Ehescheidung setzt ein Scheitern der Ehe voraus. Hier lebten die Klägerin und ihr verstorbener Partner nach dem Vortrag der Klägerin bis zu dessen Tod jedoch in einer intakten Lebensgemeinschaft. Deshalb hätte das Landessozialgericht darlegen müssen, warum es eine Parallele zur Ehe und damit eine Anwendung des § 46 SGB VI als Bezugspunkt der Gleichheitsprüfung ausschließt und allein auf die Regelung des Scheidungsfolgenrechts abstellt.

71

Die notwendige Einbeziehung des § 46 SGB VI erübrigt sich nicht schon dadurch, dass die Klägerin bei der Rentenversicherung einen Antrag nach § 47 SGB VI und nicht nach § 46 SGB VI gestellt hat und die Klage auf Gewährung einer Erziehungsrente aus § 47 SGB VI gerichtet ist. Denn über das Begehren eines Antragstellers ist im Rentenrecht nach der objektiven Rechtslage zu entscheiden. Wird ein Antrag auf eine bestimmte Rentenart gestellt, deren gesetzliche Voraussetzungen nicht erfüllt sind, der aber den Voraussetzungen für eine andere Rentenart genügt, hat der Rentenversicherungsträger Versicherte so zu stellen, als sei der zutreffende Antrag eingereicht worden, wenn für ihn der Sachverhalt erkennbar war (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 10. Oktober 1996 - L 8 Ar 640/95 -, Breithaupt 1997, S. 533). Wenn sich im Verwaltungsverfahren ein konkreter Anlass ergibt, Versicherte spontan auf klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und die verständige Versicherte mutmaßlich nutzen würden, so folgt der Verletzung von Beratungs- und Auskunftspflichten ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, ohne dass Versicherte um Auskunft und Beratung nachgesucht hätten (sogenannte Spontanberatung, vgl. BSG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 8 RKn 1/97 -, BSGE 81, 251). Die Klägerin hatte in ihrem Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vorgetragen, sie strebe die Gleichbehandlung mit geschiedenen oder verheirateten Menschen an. Damit hatte sie auf eine angestrebte Rentengewährung nach § 47 SGB VI oder nach § 46 SGB VI hingewiesen. Eine Berücksichtigung des § 46 SGB VI würde nicht an versicherungsrechtlichen Voraussetzungen scheitern, da der verstorbene Lebensgefährte der Klägerin seit 1. November 2007 eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung bezog.

72

Der Vorlagebeschluss führt aus, ein Anspruch der Klägerin scheitere lediglich am Tatbestandsmerkmal der "Geschiedenheit". § 47 SGB VI setze aber nicht stets ein Scheitern der Beziehung voraus, nämlich nicht bei Nichtigerklärung der Ehe im Sinne des § 47 Abs. 2 SGB VI mit der Folge rückwirkender Kraft (vgl. RGZ 88, 328), zum Beispiel bei einer Doppelehe. Dieser Hinweis trifft nicht mehr zu. Denn zum 1. Juli 1998 ist die Unterscheidung zwischen Nichtigkeit und Aufhebung der Ehe entfallen. §§ 1313, 1314 BGB regeln die Aufhebung der Ehe durch richterliche Entscheidung mit Rechtskraft ex nunc abschließend. Diese Änderung im Familienrecht ist vom Gesetzgeber in § 47 SGB VI noch nicht redaktionell nachvollzogen worden (Butzer, in: Ruland/Försterling , GK-SGB VI, § 47 Rn. 54). § 47 Abs. 2 SGB VI kann sich jetzt nur noch auf die Aufhebung der Ehe ex nunc beziehen (§ 1313 Satz 2 BGB).

73

§ 46 SGB VI setzt nur das Bestehen einer Ehe voraus, während § 47 SGB VI die Eingehung einer Ehe und deren Scheidung voraussetzt. Ein Scheitern der Ehe ist Voraussetzung einer Scheidung und einer Eheaufhebung und damit implizites Tatbestandsmerkmal des § 47 SGB VI. Für die von der Klägerin geltend gemachten Gleichheitsfragen drängt es sich dabei auf, nicht allein auf eine Bestimmung abzustellen, die greift, wenn die Ehe geschieden wurde, sondern angesichts einer bestehenden, intakten Beziehung auch auf diejenige, die für nicht geschiedene Ehen gilt, also auf § 46 SGB VI. Das Landessozialgericht hätte diese mit § 47 SGB VI im Zusammenhang stehende Bestimmung in die rechtlichen Erwägungen einbeziehen müssen.

74

Auf bis zum Tod eines Ehegatten bestehende Ehen wird § 47 SGB VI nur angewendet, wenn Ehegatten ein Rentensplitting nach §§ 120a ff. SGB VI durchgeführt haben und dadurch eine Witwen- oder Witwerrente nach § 46 Abs. 2b SGB VI ausgeschlossen wird. Da dieses Institut aber nur Ehegatten und Lebenspartnern offensteht und ein dem Splitting vergleichbares Arrangement nicht ersichtlich ist, hätte sich das Landessozialgericht damit auseinandersetzen müssen, warum es im Falle der mit ihrem Partner nicht verheirateten Klägerin gerade eine Parallele zu Ehegatten sieht, die ein Rentensplitting durchgeführt haben.

75

Das Landessozialgericht hat in seiner Vorlage § 47 SGB VI nicht von § 46 SGB VI und § 243 SGB VI abgegrenzt und die Norm nicht in das Gesamtleistungssystem der Versorgung bei Versterben eines Ehegatten eingeordnet. Damit ist nicht dargetan, dass es auf die Verfassungsmäßigkeit des § 47 SGB VI entscheidungserheblich ankommt.

76

2. Die Ausführungen des Vorlagebeschlusses zur zweiten Vorlagefrage zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG werden auch in anderer Hinsicht den Darlegungsanforderungen nicht gerecht.

77

Das Landessozialgericht sieht Art. 3 Abs. 1 GG für die Vorlagefrage als einschlägig an. Verglichen werden gemeinsame leibliche Kinder, deren Eltern bis zum Tod des einen Partners eine nichteheliche Lebensgemeinschaft bildeten, mit Kindern eines geschiedenen Paares, die nicht aus der gemeinsamen Verbindung stammen. Einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG schließt das Landessozialgericht a minore ad maius aus seinen Ausführungen zu Art. 6 Abs. 5 GG: "Wenn schon im Vergleich eheliche/nichteheliche Kinder eine Verfassungswidrigkeit vorliegt, so muss man diese - auch wenn nicht Art. 6 Abs. 5 GG, sondern der allgemeine Gleichheitssatz einschlägig ist - hier erst recht annehmen". Das Landessozialgericht sieht das Problem im Ausgangsfall darin, dass "nicht einmal der Tod des leiblichen Vaters zur Gewährung einer Erziehungsrente" an die Mutter führt, während "Patchwork-Kinder", also mit dem Verstorbenen nicht verwandte Kinder der Erziehungsperson, diese Rente auslösen können, wenn der Eltern- und der Stiefelternteil voneinander geschieden sind. Letztlich möchte das Landessozialgericht daher aus der besonderen Nähe des Kindes zum Verstorbenen, nämlich seiner leiblichen Abstammung, die Erst-recht-Rentenberechtigung der Erziehungsperson herleiten.

78

Hier setzt sich das Landessozialgericht nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 1 GG im Fürsorgerecht auseinander. Danach kann eine Hinterbliebenenversorgung wie für Witwen und Witwer bei Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder durch den überlebenden Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft durch Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG geboten sein (vgl. BVerfGE 112, 50 <67 ff.>).

79

3. Die dritte Vorlagefrage stellt zusätzlich darauf ab, dass die Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder für einen Anspruch nach § 47 SGB VI nicht genüge, die Erziehung gemeinsamer ehelicher Kinder dafür aber ausreiche. Das Landessozialgericht sieht darin eine mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbare Benachteiligung der mit dem verstorbenen Partner nicht verheirateten Erziehungsperson gegenüber einer solchen Erziehungsperson, die mit ihm verheiratet war. Die über Art. 6 Abs. 1 GG geschützte nacheheliche Solidarität sei ungeeignet, einen Differenzierungsgrund zu liefern. Vielmehr müsse der strenge Rechtfertigungsmaßstab des Art. 6 Abs. 5 GG, um Wertungswidersprüche zu vermeiden, auf die Schlechterstellung der Erziehungsperson selbst übertragen werden. Damit wird letztlich angenommen, Ehen und nichteheliche Lebensgemeinschaften dürften nach Art. 3 Abs. 1 GG in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht unterschiedlich behandelt werden, soweit der Tatbestand auch an die Erziehung eines Kindes anknüpft, denn nach Art. 6 Abs. 5 GG seien eheliche und nichteheliche Kinder gleich zu behandeln. Eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Ehe unter Art. 6 Abs. 1 GG findet nicht statt (BVerfGE 105, 313<348 f.>).Insbesondere fehlen Ausführungen dazu, wann eine rechtlich nicht ausgeformte, nichteheliche Lebensgemeinschaft der Ehe oder einer eingetragenen Lebenspartnerschaft vergleichbar ist, in der auf Dauer rechtlich verbindlich Verantwortung für einander übernommen wird (vgl. BVerfGE 124, 199 <225>). Weiter fehlen Überlegungen dazu, ob es für die den Art. 3 Abs. 1 GG mit prägende Wertung des Art. 6 Abs. 5 GG von Bedeutung ist, dass es nicht um einen Betreuungsunterhaltsanspruch des erziehenden Elternteils gegen den anderen Elternteil geht (vgl. dazu BVerfGE 118, 45), sondern um einen Anspruch gegen einen Dritten, die Rentenversicherung, der in keiner Weise davon abhängig ist, ob durch den Todesfall etwaige Betreuungsunterhaltsansprüche verloren gegangen sind.

Tenor

Die Vorlage ist unzulässig.

Gründe

I.

1

Das Vorlageverfahren betrifft die Minderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) aufgrund von Pflichtverletzungen der leistungsberechtigten Person. Zum 1. April 2011 wurden die zugrunde liegenden Vorschriften neu geordnet (Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011, BGBl I S. 453) und zum 1. April 2012 geändert (Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011, BGBl I S. 2854). § 31 SGB II regelt die Tatbestände von Pflichtverletzungen; § 31a SGB II enthält die leistungsmindernden Rechtsfolgen und § 31b SGB II deren Beginn und Dauer.

2

Tatbestandlich setzt eine Leistungsabsenkung nach § 31a SGB II voraus, dass die leistungsberechtigte Person eine Pflicht aus dem gesetzlichen Katalog des § 31 SGB II oder nach § 32 SGB II verletzt, sie zuvor über die Rechtsfolgen dieser Pflichtverletzung entweder schriftlich belehrt wurde oder sie Kenntnis dieser Rechtsfolgen hat (§ 31 Abs. 1 Satz 1 und § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II), und die leistungsberechtigte Person für die Pflichtverletzung keinen wichtigen Grund geltend machen kann (§ 31 Abs. 1 Satz 2 und § 32 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Eine Pflichtverletzung liegt unter anderem in der Weigerung, in der Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB II oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II), und in der Weigerung, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II oder ein nach § 16e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch eigenes Verhalten zu verhindern (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II). Was zumutbar ist, regelt § 10 SGB II.

3

Rechtsfolge einer vorwerfbaren Pflichtverletzung ist eine prozentuale Minderung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II, die sich bei mehreren Pflichtverstößen summiert. Der Auszahlungsanspruch mindert sich grundsätzlich mit Beginn des Kalendermonats, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes folgt, der die Pflichtverletzung und den Umfang der Minderung der Leistung feststellt (§ 31b Abs. 1 Satz 1 SGB II), und grundsätzlich für den Zeitraum von drei Monaten (§ 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II). Bei wiederholter Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres nach einem Minderungszeitraum werden die Leistungen bei Leistungsberechtigten ab Vollendung des 25. Lebensjahres um 60 % gemindert (§ 31a Abs. 1 SGB II), bei weiteren Pflichtverletzungen in diesem Zeitraum entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 bis 5 SGB II). Im Falle der Minderung um mehr als 30 % können in angemessenem Umfang Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden (§ 31a Abs. 3 SGB II).

4

1. Im Ausgangsverfahren wendet sich der 1982 geborene Kläger gegen zwei Bescheide über Leistungsminderungen. Für die Zeiträume vom 1. März 2014 bis 31. August 2014 sowie vom 1. September 2014 bis 28. Februar 2015 wurden ihm Grundsicherungsleistungen bewilligt.

5

Durch Bescheid vom 4. Juni 2014 minderte das Jobcenter als Beklagte für die Zeit vom 1. Juli 2014 bis 30. September 2014 das Arbeitslosengeld II um 30 % des maßgebenden Regelbedarfes (117,30 € monatlich) und hob die Leistungsbewilligung für den Zeitraum 1. Juli 2014 bis 31. August 2014 teilweise auf. Es habe dem Kläger ein zumutbares Beschäftigungsverhältnis als Lager- und Transportarbeiter angeboten. Er habe verhindert, dass ein Beschäftigungsverhältnis zustande kam, obwohl er über die Rechtsfolgen einer solchen Pflichtverletzung schriftlich belehrt worden sei.

6

Dagegen erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens Widerspruch, den das Jobcenter mit Bescheid vom 15. Oktober 2014 als unbegründet zurückwies. Anwendung finde § 31 Abs. 1 SGB II. Der Kläger habe sich geweigert, die angebotene Beschäftigung anzunehmen. Das Angebot als Lagermitarbeiter sei aufgrund der Ausbildung des Klägers im Bereich Lager/Logistik zumutbar gewesen. Vorrangiges Interesse an einem anderen Beschäftigungsverhältnis sei kein wichtiger Grund, eine Arbeitsaufnahme abzulehnen, denn ein solcher Grund müsse im Verhältnis zu den Interessen der Allgemeinheit besonderes Gewicht haben. Angesichts der Zumutbarkeitsregelungen des § 10 SGB II sei bei der Prüfung des wichtigen Grundes ein strenger Maßstab anzulegen. Der Kläger müsse alle Möglichkeiten ausschöpfen, um seine Hilfebedürftigkeit zu verringern und auch Tätigkeiten ausüben, die nicht seinen persönlichen Vorlieben entsprächen. Er sei mit Schreiben vom 25. Februar 2014 über die Folgen einer Pflichtverletzung belehrt worden.

7

Mit einem weiteren Bescheid vom 19. September 2014 minderte das Jobcenter wegen wiederholter Pflichtverletzung das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Oktober 2014 bis 31. Dezember 2014 um monatlich 60 % des maßgeblichen Regelbedarfes und hob den Bewilligungsbescheid für diesen Zeitraum teilweise auf. Mit einer Eingliederungsvereinbarung sei durch Verwaltungsakt vom 21. Juli 2014 verfügt worden, dass der Kläger bei einem Arbeitgeber einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein einzulösen habe, um eine praktische Erprobung zu ermöglichen. Dem sei der Kläger trotz Belehrung über die Rechtsfolgen der Vereinbarung nicht nachgekommen. Wegen wiederholter Pflichtverletzung führe dies zu einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um monatlich 60 % des maßgeblichen Regelbedarfes. Der Bewilligungsbescheid für den Sanktionszeitraum wurde teilweise aufgehoben.

8

Der dagegen gerichtete Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2014 wiederum als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger habe sich ohne Grund geweigert, die im Verwaltungsakt festgelegten Pflichten zu erfüllen. Der Kläger müsse alles tun, um seine Hilfebedürftigkeit zu verringern. Er habe den Gutschein nicht eingelöst und somit innerhalb eines Jahres wiederholt Pflichten verletzt. Daher mindere sich das Arbeitslosengeld II um 60 % des Regelbedarfs. Auf Antrag könnten in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden, was hier nicht genutzt wurde.

9

Mit Schriftsatz vom 13. November 2014 erhob der Kläger Anfechtungsklage gegen die Widerspruchsbescheide vom 15. Oktober 2014 und 23. Oktober 2014. § 31a SGB II sei verfassungswidrig. Der Rechtsstreit müsse ausgesetzt und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes eingeholt werden.

10

2. Das Sozialgericht hat am 26. Mai 2015 aufgrund mündlicher Verhandlung beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht folgende Fragen zur Entscheidung vorzulegen:

"2.1. Ist § 31a i.V.m. § 31 und § 31b SGB II in der Fassung vom 13.05.2011, gültig ab 01.04.2011, Bundesgesetzblatt I vom 13. Mai 2011 insoweit mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz - Sozialstaatlichkeit - und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar, als sich das für die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums maßgebliche Arbeitslosengeld II auf Grund von Pflichtverletzungen um 30 bzw. 60% des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs mindert bzw. bei weiteren Pflichtverletzungen vollständig entfällt?

2.2. Ist § 31a i.V.m. § 31 und § 31b SGB II in der Fassung vom 13.05.2011, gültig ab 01.04.2011, Bundesgesetzblatt I vom 13. Mai 2011 insoweit mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar, als Sanktionen, wenn sie zu einer Lebensgefährdung oder Beeinträchtigung der Gesundheit der Sanktionierten führen, gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstoßen?

2.3. Ist § 31a i.V.m. § 31 und § 31b SGB II in der Fassung vom 13.05.2011, gültig ab 01.04.2011, Bundesgesetzblatt I vom 13. Mai 2011 insoweit mit Art. 12 GG vereinbar, als Sanktionen gegen die Berufsfreiheit verstoßen?"

11

Die Kammer sei überzeugt, dass § 31a in Verbindung mit § 31 und 31b SGB II verfassungswidrig seien, weil die Regelung gegen Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art.12 Abs.1 sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstoße.

12

Die Entscheidung über die Anfechtungsklage hänge von der Verfassungsmäßigkeit von § 31a in Verbindung mit § 31 und § 31b SGB II ab. Die zulässige Anfechtungsklage wäre in der Sache unbegründet, wenn die vorgelegten Regelungen verfassungskonform wären. Die angefochtenen Sanktionsbescheide seien dann rechtmäßig. Auf die streitgegenständlichen Widerspruchsbescheide, die den Sachverhalt jeweils im Wesentlichen vollständig und richtig darstellten, werde Bezug genommen; der Sachverhalt und die rechtliche Bewertung durch den Beklagten seien vom Kläger insoweit nicht bestritten worden.

II.

13

Die Vorlage ist unzulässig, weil sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt.

14

1. Gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 1 BVerfGG hat ein Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Gesetz für verfassungswidrig hält, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt. Es muss zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft haben (vgl. BVerfGE 127, 335 <355>). Das vorlegende Gericht muss deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu dieser Auffassung gelangt ist. Insoweit bedarf es eingehender, Rechtsprechung und Schrifttum einbeziehender Darlegungen (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 89, 329 <337>). Die Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der Norm müssen den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für die Überzeugung des Gerichts maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar und umfassend darlegen (vgl. BVerfGE 88, 70 <74>; BVerfGK 14, 429 <432>). Zudem muss das vorlegende Gericht die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung erörtern (vgl. BVerfGE 85, 329 <333 f.>; 124, 251 <262>) und vertretbar begründen, dass sie diese nicht für möglich hält (BVerfGE 121, 108 <117> m.w.N.).

15

Das Gericht muss in der Begründung der Vorlage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG insbesondere hinreichend deutlich machen, dass und aus welchen Gründen es im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Normen zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle ihrer Ungültigkeit (vgl. BVerfGE 7, 171 <173 f.>; 107, 59 <85>; stRspr). Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich, die jedoch zumindest nachvollziehbar sein muss (vgl. BVerfGE 126, 77 <97>; 127, 224 <244>; 131, 1 <15>; 133, 1 <10 f. Rn. 35>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 19. November 2014 - 2 BvL 2/13 -, juris, Rn. 41). Dazu gehört es, sich eingehend mit der einfachrechtlichen Rechtslage anhand der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen und zu unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten Stellung zu nehmen, soweit sie für die Entscheidungserheblichkeit maßgeblich sein können (vgl. BVerfGE 105, 48 <56>; 105, 61 <67>; 121, 233 <238>; 124, 251 <260>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Juli 2014 - 2 BvL 25/09, 2 BvL 32 BvL 3/11 -, juris, Rn. 28 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Dezember 2015 - 1 BvL 4/11 - juris, Rn. 14). Desgleichen muss das vorlegende Gericht unter Ausschöpfung der ihm verfügbaren prozessualen Mittel auch alle tatsächlichen Umstände aufklären, die für die Vorlage Bedeutung erlangen können. Die ungeprüfte Übernahme von Parteivorbringen reicht dafür grundsätzlich nicht aus (vgl. BVerfGE 87, 341 <346>). Es bedarf vielmehr hinreichender Feststellungen, die seine fach- und verfassungsrechtliche Beurteilung tragen können (vgl. BVerfGE 37, 328 <333>; 48, 396 <400>; 86, 52 <57>; 86, 71 <78>; 88, 198 <201>). Das Bundesverfassungsgericht kann die fehlende Begründung der Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Entscheidungserheblichkeit der Vorlage nicht durch eigene Erwägungen ersetzen, denn diese Prüfung muss Aufgabe des sie verantwortenden Fachgerichts bleiben (vgl. BVerfGE 97, 49 <62>).

16

2. Diesen Anforderungen wird die Vorlage nur zum Teil gerecht. Zwar wirft der Vorlagebeschluss durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf (a). Das vorlegende Gericht hat jedoch nicht in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass diese hier auch entscheidungserheblich sind (b).

17

a) Zwar genügen die Darlegungen des Sozialgerichts zu seiner Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II jedenfalls hinsichtlich Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG den Anforderungen. Das vorlegende Gericht hat sich mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundsicherung (vgl. BVerfGE 125, 175; 132, 134; 137, 34 sowie BVerfGK 5, 237; 17, 375) ausführlich auseinandergesetzt. Dagegen spricht auch nicht, dass das vorlegende Gericht seine eigene Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit dahingehend zuspitzt, die §§ 31 ff. SGB II seien bereits verfassungswidrig, weil der Minderung kein veränderter Bedarf zugrunde liege und das Grundgesetz keine Selbsthilfeobliegenheit kenne. Das Gericht befasst sich daneben auch mit weiteren verfassungsrechtlichen Zweifeln sowie den seiner Ansicht entgegenstehenden Interpretationen der bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Auch setzt es sich mit den in Literatur und sozialgerichtlicher Rechtsprechung vertretenen Ansichten zur verfassungskonformen Auslegung der zur Prüfung vorgelegten Regelungen auseinander und verwirft diese vertretbar.

18

b) Es fehlt jedoch an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II in diesem Verfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob die Rechtsfolgenbelehrungen zu den hier in Rede stehenden Sanktionsbescheiden den gesetzlichen Anforderungen des § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II genügen, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen entscheidungserheblich nicht mehr an.

19

aa) Hinsichtlich des ersten Sanktionsbescheids vom 4. Juni 2014 trifft das vorlegende Gericht keine eigenen Feststellungen zu einer der sanktionierten Pflichtverletzung vorausgegangenen Rechtsfolgenbelehrung, ihrer Richtigkeit und Vollständigkeit. Das vorlegende Gericht gibt in der Darlegung des Sachverhalts lediglich im Konjunktiv die schlichte Feststellung des Jobcenters aus dem Widerspruchsbescheid wieder, der Kläger des Ausgangsverfahrens sei über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung mit dem Vermittlungsvorschlag vom 25. Februar 2014 belehrt worden, ohne dass der Widerspruchsbescheid seinerseits nähere Feststellungen zur Belehrung enthält. Die Entscheidungsgründe des Vorlagebeschlusses gehen auf das Erfordernis einer Rechtsfolgenbelehrung und deren inhaltliche Anforderungen ebenfalls nicht ein, sondern verweisen in ganz allgemeiner Weise zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31a in Verbindung mit § 31 SGB II auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Weder anhand der Vorlage selbst noch anhand des in Bezug genommenen Widerspruchbescheides lässt sich feststellen, welchen Inhalt die Rechtsfolgenbelehrung hatte und ob sie den einfachrechtlichen Anforderungen genügt.

20

Das Sozialgericht durfte auch nicht etwa auf eigene Ausführungen verzichten, weil die Beteiligten die Frage der ordnungsgemäßen Rechtsfolgenbelehrung nicht thematisieren. Wenngleich für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich ist, muss diese zumindest nachvollziehbar sein. Dies setzt ein Mindestmaß an Begründung voraus, dem die Vorlage nicht gerecht wird. Das gilt hier insbesondere, weil die fachgerichtliche Rechtsprechung hohe Anforderungen an die Art und Weise der Rechtsfolgenbelehrung stellt. Die Belehrung muss - bezogen auf die Pflichtverletzung - konkret, richtig, vollständig und verständlich sein, und im Zusammenhang mit einem Arbeitsangebot zeitnah und zutreffend erläutern, welche unmittelbaren und konkreten Auswirkungen auf den Leistungsanspruch eine unbegründete Arbeitsablehnung haben kann; nicht hinreichend konkret ist eine Belehrung, wenn sie nur den Gesetzestext wiedergibt oder ohne Bezug zu den konkreten Pflichten der Betroffenen eine Vielzahl von Sachverhaltsvarianten nennt (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010 - B 14 AS 53/08 R -, BSGE 105, 297 <302 f. Rn. 20 f.> m.w.N.). Aus dem Vorlagebeschluss ist nicht zu entnehmen, ob das vorlegende Gericht diesen Anforderungen gefolgt ist oder etwa eigene Maßstäbe zugrunde gelegt hat. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Art und Weise der Rechtsfolgenbelehrung und ihr Inhalt für die verfassungsrechtliche Bewertung der Sanktionsvorschriften von Bedeutung sind, weil die Verhältnismäßigkeit einer Sanktion mit davon abhängen kann, in welchem Maße Betroffene darüber informiert sind, was aus ihrem Verhalten folgt.

21

bb) Dies gilt ebenso für den zweiten Sanktionsbescheid vom 19. September 2014. Es ist nicht erkennbar, ob dem damit sanktionierten Verstoß eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung vorausging. Insoweit hat das Sozialgericht zwar selbst ausdrücklich festgestellt, der Kläger sei über die "Rechtsfolgen der Vereinbarung" belehrt worden. Es geht jedoch nicht darauf ein, wann und in welcher Form mit welchem Inhalt dies geschehen sein soll. Dazu aber besteht Anlass. Richtigkeit und Verständlichkeit der laut Verwaltungsakte dem Eingliederungsverwaltungsakt beigefügten Belehrung können in Zweifel gezogen werden, da sie primär über die Minderung in Höhe von 30 % bei erstmaligem Verstoß informiert und auf die Folgen eines wiederholten Verstoßes nur "vorsorglich" hinweist. Daraus ergibt sich nicht, dass das Jobcenter zu diesem Zeitpunkt bereits von einem ersten sanktionierten Pflichtenverstoß ausging und nun ein Verstoß gegen die Pflichten im Eingliederungsverwaltungsakt (als wiederholte Pflichtverletzung) eine Absenkung der Leistungen in Höhe von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs zur Folge hat. Darüber hinaus werden allgemein "mit Ihnen vereinbarte" Pflichten erwähnt, obwohl es sich um einseitig durch Verwaltungsakt auferlegte Pflichten handelt. Auch insoweit fehlen Ausführungen des Gerichts, die hinreichend nachvollziehbar erkennen lassen, dass die Rechtsfolgenbelehrung den gesetzlichen Anforderungen entspricht.

22

cc) Ausführungen zum Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechtsfolgenbelehrung liegen auch nahe, weil die Fehleranfälligkeit von Rechtsfolgenbelehrungen der Fachöffentlichkeit bekannt ist. Darauf hat der Gesetzgeber im Jahr 2011 mit einer Ergänzung von § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II reagiert. Danach steht eine unzureichende oder fehlende Belehrung bei Kenntnis der Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung einer Sanktion nicht entgegen. Das vorlegende Gericht hat jedoch auch zu dieser Tatbestandsalternative keinerlei Ausführungen gemacht.

23

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Gründe

1

Die Vorlage des Sozialgerichts betrifft die durch § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III verkürzte Antragsfrist für die freiwillige Weiterversicherung von Selbständigen in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung.

I.

2

1. Das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S. 2848) hat Selbständigen seit dem 1. Februar 2006 erstmals die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung eröffnet. Wer eine selbständige Tätigkeit im Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich aufnimmt oder ausübt, kann gemäß § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III (BGBl I S. 2848<2853 f.>) auf Antrag ein Versicherungspflichtverhältnis in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung begründen. § 28a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III (in der so bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung) verlangt dafür, dass der Antragsteller innerhalb der letzten beiden Jahre vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit mindestens zwölf Monate versicherungspflichtig beschäftigt war oder eine Entgeltersatzleistung nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch bezogen hat. Gemäß § 28a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB III (in der so bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung) muss er unmittelbar vor der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden oder eine Entgeltersatzleistung nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch bezogen haben. Nach § 28a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB III (in der so bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung) darf Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung nicht anderweitig bestehen. Die Begründung des Versicherungspflichtverhältnisses muss gemäß § 28a Abs. 2 Satz 2 SGB III (in der so bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung) spätestens innerhalb eines Monats nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit beantragt werden.

3

Um "zunächst Erfahrungen im Hinblick auf die Inanspruchnahme und die damit verbundenen Risiken für die Arbeitslosenversicherung" zu sammeln (vgl. BTDrucks 15/1515, S. 78), befristete § 28a Abs. 2 Satz 3 Nr. 4 SGB III die freiwillige Weiterversicherung für Selbständige und Auslandsbeschäftigte bis zum 31. Dezember 2010. Diese zeitliche Begrenzung des Versicherungsverhältnisses ist durch Art. 1 Nr. 4 des Beschäftigungschancengesetzes vom 24. Oktober 2010 (BGBl I S. 1417 <1417 f.>) ersatzlos entfallen; der Gesetzgeber hat die Beendigungstatbestände nunmehr in § 28a Abs. 5 SGB III zusammengefasst, der eine vergleichbare Regelung nicht länger vorsieht.

4

Um die Versicherungspflicht auch Personen zu eröffnen, die schon vor Inkrafttreten des § 28a SGB III selbständig waren, wurde eine flankierende Übergangsregelung geschaffen (vgl. BTDrucks 15/1515, S. 78). § 434j Abs. 2 SGB III in der Fassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S. 2848 <2885>) bestimmte, dass der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung bis zum 31. Dezember 2006 gestellt werden kann. Die Vorschrift lautet:

"(2) § 28a Abs. 2 gilt mit der Maßgabe, dass ein Antrag auf freiwillige Weiterversicherung ungeachtet der Voraussetzungen des Satzes 2 bis zum 31. Dezember 2006 gestellt werden kann."

Infolgedessen konnten auch Selbständige, die ihre Tätigkeit schon seit Jahrzehnten ausüben, die Versicherungsmöglichkeit wahrnehmen.

5

2. Die für das Vorlageverfahren maßgebliche Änderung der Rechtslage erfolgte durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II-Fortentwicklungsgesetz ) vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1706 <1717>). Die bisherige Regelung des § 434j Abs. 2 SGB III wurde um einen Satz 2 ergänzt, der auf die Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 31. Mai 2006 zurückgeht (vgl. BTDrucks 16/1696, S. 12). § 434j Abs. 2 SGB III lautet danach wie folgt:

"(2) § 28a Abs. 2 gilt mit der Maßgabe, dass ein Antrag auf freiwillige Weiterversicherung ungeachtet der Voraussetzungen des Satzes 2 bis zum 31. Dezember 2006 gestellt werden kann. Stellt eine Person, deren Tätigkeit oder Beschäftigung gemäß § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt, den Antrag nach dem 31. Mai 2006, gilt Satz 1 mit der Einschränkung, dass die Tätigkeit oder Beschäftigung nach dem 31. Dezember 2003 aufgenommen worden sein muss."

6

Die Gesetzesänderung hat zur Konsequenz, dass Selbständige, die ihre Tätigkeit vor dem 1. Januar 2004 begonnen haben, die freiwillige Versicherung nur noch bis zum 31. Mai 2006 (und nicht mehr bis zum 31. Dezember 2006) beantragen konnten. Dies soll den engen "Zusammenhang zur bisherigen Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft" stärker betonen (vgl. BTDrucks 16/1696, S. 32).

7

§ 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III ist gemäß Art. 16 Abs. 3 GSiFoG (BGBl I S. 1706<1720>) schon vor seiner Verkündung am 25. Juli 2006 (vgl. BGBl I S. 1706) zum 1. Juni 2006 (dem Tag der dritten Lesung und des Gesetzesbeschlusses im Bundestag, vgl. BT-Plenarprotokoll 16/37, S. 3333 A ff.) in Kraft getreten. Der Gesetzgeber hat dies für erforderlich gehalten, "um bei der Behandlung von Anträgen auf freiwillige Weiterversicherung für solche Personen Rechtssicherheit zu schaffen, die ihren Antrag zwischen dem Tag der dritten Lesung dieses Gesetzes und dem Inkrafttreten der übrigen Vorschriften stellen" (vgl. BTDrucks 16/1696, S. 33). Durch Art. 2 Nr. 100 des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 (BGBl I S. 2854 <2916>) ist die Übergangsregelung § 434j SGB III mit Wirkung vom 1. April 2012 aufgehoben worden.

8

3. In dem Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht begehrt der dortige Kläger die Feststellung, dass er ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung gemäß § 28a SGB III begründet hat. Der 1958 geborene Kläger des Ausgangsverfahrens war von September 1991 bis einschließlich Juli 1997 arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Vom 1. August 1997 bis 30. Juni 1998 erhielt er Arbeitslosengeld. Seit dem 1. Juli 1998 ist er als selbständiger Industriedesigner mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mehr als 15 Stunden erwerbstätig und in der Künstlersozialkasse renten- und krankenversichert. Am 19. Dezember 2006 stellte er einen Antrag auf freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung; der Antrag ging am 22. Dezember 2006 bei der im Ausgangsverfahren beklagten Bundesagentur für Arbeit ein.

9

Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat zur Klagebegründung vorgetragen, ihm sei das Ende der "Antragsabgabefrist" nicht rechtzeitig bekannt gewesen. Die ihm vorliegenden Hinweisblätter hätten vielmehr alle ausdrücklich als "Abgabedatum" den 31. Dezember 2006 genannt. Ihm sei ausdrücklich und mehrfach eine solche "Abgabefrist" genannt worden. Dazu verweist er auf undatierte amtliche Hinweise der Künstlersozialkasse und der Bundesagentur für Arbeit für die ab dem 1. Februar 2006 geltende Rechtslage zur freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung. Von der Antragsmöglichkeit bis zum 31. Dezember 2006 habe er "damals über" die Künstlersozialkasse erfahren und sich bis zum 19. Dezember 2006 Zeit gelassen, da er in diesem Jahr insgesamt beruflich sehr stark belastet gewesen sei.

10

4. Das Sozialgericht hat das Verfahren durch Beschluss vom 10. Dezember 2010 ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III, eingefügt durch Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (GSiFoG) vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1706), in Kraft getreten mit Wirkung vom 1. Juni 2006 (Art. 16 Abs. 3 GSiFoG), gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, insoweit durch die vorgenannte Vorschrift die Antragsfrist für die freiwillige Weiterversicherung nach § 28a SGB III teilweise nachträglich geändert und unterschiedlich - abhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung und der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in der Vergangenheit - geregelt wurde.

II.

11

Die Vorlage ist unzulässig. Sie genügt nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Das Sozialgericht hat die Entscheidungserheblichkeit der Antragsfriständerung durch § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III nicht hinreichend dargelegt.

12

1. Ein Gericht kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift, als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 <76>). Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht in den Gründen seines Beschlusses dazu ausführen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist. Das vorlegende Gericht muss die für seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>). Es muss deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu dieser Auffassung gelangt ist.

13

Im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Norm muss dem Vorlagebeschluss mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (vgl. BVerfGE 7, 171 <173 f.>; 105, 61 <67>; 125, 175 <219 f.>; 131, 88 <117>; 133, 1 <10 f. Rn. 34>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, juris Rn. 92). Damit fehlt es an der Entscheidungserheblichkeit, solange die Möglichkeit besteht, dass das Gericht den Rechtsstreit entscheiden kann, ohne die von ihm für verfassungswidrig gehaltene Norm anwenden zu müssen (vgl. BVerfGE 58, 153 <157 f.>; 64, 251 <254>; 105, 48 <56>; Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, § 80 Rn. 61; Lenz/Hansel, BVerfGG, § 80 Rn. 70). Das Fachgericht muss das Verfahren zunächst so weit wie möglich bis zur Entscheidungsreife fördern, um dann zu beurteilen, ob es für die Entscheidung auf die Verfassungsmäßigkeit einer hierfür maßgeblichen Norm ankommt oder nicht. In der Regel bedarf es dafür einer mündlichen Verhandlung (vgl. BVerfGE 79, 256 <264 f.>). Insbesondere muss der Sachverhalt so weit aufgeklärt werden, dass die Entscheidungserheblichkeit der zu prüfenden Vorschrift feststeht, bevor ein Gericht dem Bundesverfassungsgericht die Rechtsfrage der Gültigkeit eines Gesetzes vorlegt (vgl. BVerfGE 64, 251 <254>; BVerfGK 18, 222 <232 f.>). Dazu müssen auch die erforderlichen Beweise erhoben werden (vgl. BVerfGK 15, 447 <452 f.>).

14

Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich. Allerdings muss die Auffassung des Fachgerichts zumindest nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGE 126, 77 <97>; 127, 224 <244>; 131, 1 <15>; 133, 1 <10 f. Rn. 35>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 19. November 2014 - 2 BvL 2/13 -, juris Rn. 41). Außerdem muss sich das Gericht eingehend mit der einfachrechtlichen Rechtslage anhand der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen auseinandergesetzt haben und zu unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten Stellung nehmen, soweit sie für die Entscheidungserheblichkeit maßgeblich sein können (vgl. BVerfGE 105, 48 <56>; 105, 61 <67>; 121, 233 <238>; 124, 251 <260>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Juli 2014 - 2 BvL 25/09, 2 BvL 32 BvL 3/11 -, juris Rn. 28 ff.).

15

2. Diesen Anforderungen genügt der Vorlagebeschluss nicht. Ihm lässt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift des § 434j Abs. 2 Satz 2 SGB III zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit. Denn es hat nicht geprüft, ob hier im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine rechtzeitige Antragstellung zu bejahen sein könnte, so dass es auf die Gültigkeit der die Antragsfrist verkürzenden Norm nicht ankäme. Es hat sich insofern nicht mit der dafür zunächst heranzuziehenden einfachrechtlichen Rechtslage auseinandergesetzt (siehe a). Es ist für das Bundesverfassungsgericht auch nicht zu erkennen, ob das Sozialgericht den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife gefördert und gegebenenfalls erforderliche Beweise erhoben hat (siehe b). Das Sozialgericht durfte auch nicht die fehlende Rechtserheblichkeit dieser Umstände unterstellen (siehe c).

16

a) Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat zur Klagebegründung und im Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. Dezember 2010 vorgetragen, ihm sei das Ende der "Antragsabgabefrist" nicht rechtzeitig bekannt gewesen, da die ihm vorliegenden Auskünfte der Künstlersozialkasse und Hinweisblätter der Bundesagentur für Arbeit zur Antragstellung eine Frist bis zum 31. Dezember 2006 genannt hätten. Ihm sei ausdrücklich und mehrfach eine solche "Abgabefrist" mitgeteilt worden. Diese Umstände selber hat das Sozialgericht in seiner Vorlage nicht gewürdigt, obgleich es sich offenbar nicht um Behauptungen "ins Blaue hinein" gehandelt hat und wiewohl sie für die Entscheidungsfindung von Bedeutung und Grund für weitere Sachverhaltsermittlungen und rechtliche Überlegungen sein könnten.

17

Es ist nicht auszuschließen, dass die näheren Umstände der Beratung und Antragstellung hier für die Entscheidungsfindung von rechtlicher Relevanz sein könnten. Das Sozialgericht hat die tatsächlichen Anknüpfungspunkte offenbar nicht zum Anlass genommen, um zu prüfen, ob hier eine "rechtzeitige" Antragstellung im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X, der grundsätzlich sowohl für Verfahrensfristen als auch für Fristen mit materiell-rechtlichem Charakter gilt, in Betracht kommen könnte und hat sich mit der dazu heranzuziehenden sozialverwaltungsrechtlichen Rechtslage nicht befasst. Ebenso wenig hat es die daneben anwendbaren (vgl. BSGE 96, 44 <48 Rn. 20 ff.>) Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, nach denen im Einzelfall einem Sozialversicherungsträger auch der Beratungsfehler eines anderen Sozialleistungsträgers zurechenbar sein kann (vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2005 - B 5 RJ 6/04 R -, juris Rn. 29), geprüft. Jedenfalls verhält sich die Vorlage zu den beiden Rechtsinstituten nicht.

18

b) So lässt sich für das Bundesverfassungsgericht auch nicht erkennen, ob das Sozialgericht den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife gefördert hat. Das vorlegende Gericht hätte insbesondere feststellen und gegebenenfalls ermitteln müssen, wann und in welcher Form dem Kläger des Ausgangsverfahrens, wie er behauptet, "ausdrücklich und mehrfach" ein Fristlauf bis zum 31. Dezember 2006 genannt wurde; mit welcher Behörde eine konkrete Kontaktaufnahme erfolgte; ob eine sozialversicherungsrechtliche Beratung durch die Künstlersozialkasse erfolgte; was gegebenenfalls Ziel und Gegenstand der Beratung war und welches Beratungsbedürfnis dabei zu Tage trat; ob hierbei auch die tatsächlichen Voraussetzungen einer gesteigerten Hinweispflicht (vgl. BSGE 98, 108 <114 Rn. 21>) eingetreten sind und ob eine Einbeziehung der Bundesagentur für Arbeit und ihrer Formulare in die Beratung erfolgte. Ferner lässt sich nicht erkennen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens behördlich über die rückwirkende Änderung der Rechtslage informiert wurde oder hiervon in anderer Weise erfuhr und wenn ja, wann dies geschah. Außerdem fehlen Einlassungen dazu, inwieweit er auf die Beständigkeit des Fristlaufs vertraute und inwiefern ein solches subjektives Vertrauen objektiv schutzwürdig war. Das Sozialgericht geht schließlich nicht darauf ein, in welcher Art und Weise die versäumte Handlung nachgeholt und ob dabei konkludent ein Wiedereinsetzungsantrag gestellt wurde oder zumindest Anlass für eine Wiedereinsetzungsprüfung von Amts wegen bestanden haben könnte. Die in einem kurzen Satz protokollierte Anhörung des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung genügt hierfür nicht. Sie lässt nahezu alle relevanten Fragen offen, ohne dass der Sitzungsniederschrift entnommen werden könnte, dass dem Kläger nähere Angaben unmöglich waren oder von ihm verweigert worden wären.

19

c) Die fehlende Rechtserheblichkeit dieser Umstände durfte das Sozialgericht auch nicht ohne Weiteres unterstellen. Wenngleich für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich seine Beurteilung maßgeblich ist, muss die Auffassung des Fachgerichts zumindest nachvollziehbar sein. Hierfür wäre sie auch insoweit zu begründen gewesen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Möglichkeit besteht, dass das Sozialgericht den Rechtsstreit entscheiden kann, ohne die von ihm für verfassungswidrig gehaltene Norm anwenden zu müssen.

20

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Tenor

Der Widerspruchsbescheid vom 13.03.2014 wird aufgehoben, soweit darin Kosten in Höhe von mehr als 46,45 € festgesetzt werden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen einen Leistungsbescheid für eine Abschleppmaßnahme.

2

Am 21.06.2012 um 17:34 Uhr veranlasste ein Mitarbeiter der Beklagten, dass das Kraftfahrzeug der Klägerin mit dem amtlichen Kennzeichen XX-XX abgeschleppt wurde. Das Fahrzeug befand sich zu diesem Zeitpunkt linksseitig eines durch Pflastersteine gekennzeichneten Sandweges im Düsternbrooker Gehölz in Kiel. Der Sandweg befindet sich neben einem Parkplatz, auf den vom Düsternbrooker Weg aus eingefahren werden kann.

3

Unter dem 08.08.2012 erließ die Beklagte gegenüber der Klägerin einen Leistungsbescheid in Höhe von 96,80 €. Der Leistungsbescheid wird dahingehend begründet, dass sich der Mitarbeiter der Bußgeldstelle im Rahmen seines Ermessens für ein Abschleppen entschieden habe, weil die Klägerin mit ihrem Kraftfahrzeug in einer öffentlichen Grünanlage geparkt bzw. die Grünanlage außerhalb der gekennzeichneten Wege befahren habe und damit gegen § 5 der Satzung zum Schutz der öffentlichen Grünanlagen der Landeshauptstadt Kiel vom 09.04.1984 verstoßen habe.

4

Die Klägerin legte am 24.08.2012 hiergegen Widerspruch ein und begründete diesen damit, dass der Bereich, in dem das Fahrzeug abgestellt gewesen sei, nicht mit einem Halteverbotsschild beschildert gewesen sei. Vielmehr erwecke die Gestaltung dieses Bereiches den Eindruck, dass es sich um Flächen handele, welche zum Parken vorgesehen seien, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass bei der Einfahrt vom Düsternbrooker Weg ein Parkplatzschild vorhanden sei. Es sei daher in keiner Weise erkennbar gewesen, dass in dem streitgegenständlichen Bereich das Parken untersagt sei. Die Abschleppmaßnahme sei auch unverhältnismäßig. Das abgestellte Fahrzeug habe niemanden behindert und eine negative Vorbildwirkung könne nicht herangezogen werden, wobei auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.05.1992 - 3 C 3/90 - verwiesen wurde.

5

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13.03.2014 (Zugang am 19.03.2014) zurückgewiesen, wobei Kosten in Höhe von insgesamt 52,45 € (49,00 € Gebühren + 3,45 € Auslagen) festgesetzt wurden. Der Bereich vor Ort sei eindeutig durch Abgrenzung und Bewuchs als Grünfläche erkennbar. Mit dem Abparken werde zudem die vorhandene Vegetation zerstört. Bei Betrachtung der Stelle vor Ort ergebe sich, dass dort zwei durch eine Hecke getrennte Wege vorhanden seien. Der Weg, der mit Kopfsteinpflaster belegt sei, sei mit dem Verkehrszeichen 314 ausgeschildert und diene als Zufahrt zum Parkplatz. Eine Ausschilderung des Sandweges sei nicht vorhanden. Eine mit Pkw zu befahrende direkte Verbindung zwischen dem Sandweg und dem Parkplatz sei ebenfalls nicht vorhanden. Bereits optisch erkennbar handele es sich dort um eine den Fußgängern vorbehaltene Fläche.

6

Die Klägerin hat am 15.04.2014 Klage erhoben.

7

Sie verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren und macht ergänzend geltend, dass der Sandweg bei Blickrichtung vom Düsternbrooker Weg aus rechtsseitig eine durch Pflastersteine hergestellte Abtrennung aufweise, welche den Eindruck erwecke, dass hiermit die Fahrbahn von den Parkplatzflächen abgetrennt werden solle. Es werde daher gerade der Eindruck vermittelt, dass es sich rechtsseitig um Parkplatzflächen handele. Es sei für einen Verkehrsteilnehmer nicht erkennbar gewesen, dass der Sandweg nicht mehr Teil der Parkplatzanlage sei. Es fehle insoweit bereits eine für den Verkehrsteilnehmer erkennbare Regelung nach der Straßenverkehrsordnung. Ferner sei in dem Bereich, in dem das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Abschleppvorgangs abgestellt gewesen sei, keine schützenswerte Vegetation vorhanden.

8

Die Klägerin beantragt,

9

den unter dem Az.: 2105207094 ergangenen Bescheid der Beklagten vom 08.08.2012, mit welchem der Klägerin die Zahlung eines Betrages in Höhe von 96,80 € auferlegt wurde, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2014 (Az.: 030008721) vollumfänglich aufzuheben.

10

Die Beklagte beantragt,

11

die Klage abzuweisen.

12

Sie macht geltend, dass die Darstellung der Klägerin, dass der Wanderweg als Parkplatz gewirkt habe, unmöglich nachvollzogen werden könne. Die Zäsur ergäbe sich schon eindeutig aus der Pflasterung. Der Übergang zwischen Parkplatz und Wanderweg sei viel zu schmal, als dass angenommen werden könne, dass dieser ebenfalls zur Parkplatzfläche gehöre. Es sei offenkundig, dass der Sandweg nicht zum Befahren mit Fahrzeugen dienen solle. Dieser weise die typische Breite eines Wanderweges auf. Dieser werde durch den schmalen Pflasterstreifen vom Wald getrennt. Dass das Befahren der Waldvegetation und auch das Parken verboten seien, ergebe sich aus § 17 Abs. 2 Ziffer 3 Landeswaldgesetz. Darüber hinaus liege auch eine Ordnungswidrigkeit nach § 5 der Satzung zum Schutz der öffentlichen Grünanlagen der Landeshauptstadt Kiel vor.

13

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der Kammer erklärt. Das Gericht hat die örtlichen Gegebenheiten in der mündlichen Verhandlung, die vor Ort durchgeführt worden ist, in Augenschein genommen. Insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12.02.2015 verwiesen.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

15

Die zulässige Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO ist nur hinsichtlich eines Teils der im Widerspruchsbescheid festgesetzten Kosten begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

16

Der Leistungsbescheid vom 08.08.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

17

Rechtsgrundlage für den Leistungsbescheid sind § 249, 238 LVwG. Hiernach werden für Amtshandlungen nach dem Abschnitt IV Kosten (Gebühren und Auslagen) erhoben.

18

Ein Leistungsbescheid nach §§ 249, 238 LVwG erweist sich nur als rechtmäßig, wenn zum einen der Zwangsmitteleinsatz rechtmäßig ist und zum anderen die festgesetzten Kosten der Höhe nach nicht zu beanstanden sind.

19

Die dem Leistungsbescheid zugrundeliegende Ersatzvornahme ist rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Ersatzvornahme sind §§ 230, 238 LVwG (Ersatzvornahme im Wege des sofortigen Vollzuges).

20

Rechtsgrundlage des Zwangsmitteleinsatzes sind nicht die §§ 229 Abs. 1 Nr. 2, 238 LVwG. Diese Vorschriften kommen zur Anwendung, wenn ein Verkehrszeichen, das eine Allgemeinverfügung darstellt, vorhanden ist. Vorliegend ist der Bereich, in dem das Fahrzeug sich zum Zeitpunkt des Abschleppvorganges befand, jedoch nicht mit einem Halteverbotsschild ausgewiesen.

21

Nach § 230 Abs. 1 S. 1 LVwG ist der Verwaltungszwang ohne vorausgegangenen Verwaltungsakt (sofortiger Vollzug) im Wege der Ersatzvornahme oder des unmittelbaren Zwanges zulässig, wenn eine gegenwärtige Gefahr auf eine andere Weise nicht abgewehrt werden kann und die Behörde hierbei innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse handelt. Erforderlich ist demnach ein rechtmäßiger hypothetischer Grundverwaltungsakt, der das Gebot beinhaltet, das Auto wegzufahren. Dogmatisch ergibt sich dies aus der Formulierung „innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse". Rechtsgrundlage des hypothetischen Grundverwaltungsaktes ist die polizeirechtliche Generalklausel (§§ 174, 176 LVwG), welche die Ordnungsbehörde bei einer Gefahr oder einem Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit zu Gefahrabwehrmaßnahmen ermächtigt. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst als Schutzgüter u. a. die objektive Rechtsordnung.

22

Durch das Parken des Fahrzeuges linksseitig des gekennzeichneten Sandweges (vom Düsternbrooker Weg aus schauend) liegt ein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Satzung zum Schutz der öffentlichen Grünanlagen der Landeshauptstadt Kiel vom 09.04.1984 vor. Hiernach ist es untersagt, in den öffentlichen Grünanlagen außerhalb der dafür gekennzeichneten Flächen Rad zu fahren, zu reiten, mit Kraftfahrzeugen zu fahren bzw. diese oder Anhänger abzustellen.

23

Beim Düsternbrooker Gehölz handelt es sich um eine öffentliche Grünanlage im Sinne des § 1 der Satzung zum Schutz der öffentlichen Grünanlagen der Landeshauptstadt Kiel. Auch der Bereich, in dem sich das Fahrzeug der Klägerin zum Zeitpunkt des Abschleppvorganges befunden hat, ist Bestandteil der öffentlichen Grünanlage und nicht Bestandteil der daneben liegenden Parkplatzfläche, auf der das Parken ausweislich der Beschilderung (Verkehrszeichen 314 der StVO) für Kraftfahrzeuge gestattet ist. Hiervon konnte sich das Gericht, das die örtlichen Gegebenheiten in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen hat, überzeugen. Die Parkplatzfläche ist durchgehend gepflastert und besteht zum einen aus der Parkplatzauffahrt und den im hinteren Bereich des Parkplatzes liegenden Parkbuchten. Aus verständiger Sicht eines Teilnehmers des Straßenverkehrs ist eindeutig, dass das Parken nur in den Parkbuchten, die jeweils durch einzelne Reihen von Pflastersteinen voneinander getrennt sind, gestattet ist.

24

Das Fahrzeug der Klägerin parkte nicht in den für das Parken vorgesehene Parkbuchten, sondern weit entfernt davon, nämlich noch linksseitig des neben der Parkplatzfläche liegenden Sandweges. Der Sandweg ist anders als die Parkplatzfläche nicht durchgehend gepflastert. Der gepflasterte Parkplatz wird zudem vom Sandweg durch eine vorhandene Hecke abgegrenzt. Im hinteren Bereich des Parkplatzes gibt es zwar ein kleines Stück, in dem eine Heckenbepflanzung nicht vorhanden ist und daher ein Übergang von der Parkplatzfläche auf den Sandweg möglich ist. Der Bereich ist vermutlich auch so groß, dass hier die Durchfahrt mit einem Pkw von der Parkplatzfläche auf den Sandweg möglich ist. Hierdurch ergibt sich nach verständiger Würdigung jedoch keineswegs, dass der Sandweg, geschweige denn der noch neben dem Sandweg liegende Bereich, in dem das Fahrzeug der Klägerin abgestellt worden ist, Bestandteil der öffentlichen Parkplatzfläche ist. Vielmehr ist in dem Bereich des Überganges von der Parkplatzfläche auf den Sandweg eine Pflasterung nicht mehr vorhanden, weshalb offensichtlich ist, dass dieser Übergang nur geschaffen wurde, um Bürgern, die ihr Fahrzeug auf der Parkplatzfläche abstellen, vom Parkplatz aus den Übergang in das Düsternbrooker Gehölz zu ermöglichen.

25

Das Fahrzeug parkte zum Zeitpunkt des Abschleppvorgangs außerhalb des durch Pflastersteine gekennzeichneten Sandweges, weshalb ein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Satzung zum Schutz der öffentlichen Grünanlagen der Landeshauptstadt Kiel gegeben ist.

26

Ob zusätzlich ein Verstoß gegen das Landeswaldgesetz (§17 Abs. 2 Ziffer 3 LWaldG) gegeben ist, kann dahinstehen und bedarf daher keiner weiteren Erörterung.

27

Der Verstoß gegen § 3 der Satzung zum Schutz der öffentlichen Grünanlagen der Landeshauptstadt Kiel stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, die nach § 5 der Satzung mit einer Geldbuße bis 500,-- € geahndet werden kann.

28

Die gegenwärtige Gefahr konnte auch nicht auf andere Weise abgewehrt werden im Sinne des § 230 Abs. 1 S. 1 LVwG. Insbesondere befand sich der Lebensgefährte der Klägerin, der das Fahrzeug in dem streitgegenständlichen Bereich abgestellt hat, zum Zeitpunkt des Abstellvorgangs, der während der Kieler Woche 2012 (16. Bis 24. Juni 2012) stattfand, mit seinen Kindern auf dem Kinderfest auf der Krusenkoppel und war daher nicht erreichbar.

29

Die Androhung konnte nach § 236 Abs. 1 S. 2 LVwG unterbleiben.

30

Die Abschleppmaßnahme erweist sich als ermessensfehlerhaft, insbesondere als verhältnismäßig.

31

Für alle Abschleppfälle gilt, dass die Nachteile, die mit einer Abschleppmaßnahme für den Betroffenen verbunden sind, nicht außer Verhältnis zu dem bezweckten Erfolg stehen dürfen, was sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgrund einer Abwägung der wesentlichen Umstände des Einzelfalles beurteilt (BVerwG, Beschluss vom 18.02.2002 - 3 B 149/01 -, Rdnr. 4 - zitiert nach juris).

32

Zweck der Abschleppmaßnahme war der Schutz der öffentlichen Grünanlage, welche nach § 1 der Satzung zum Schutz der öffentlichen Grünanlagen der Landeshauptstadt Kiel der Gesundheit und Erholung der Bevölkerung dient. Darüber hinaus hat sich die Beklagte auf die negative Vorbildwirkung des fehlerhaften Verhaltens der Klägerin und damit auf den Gesichtspunkt der Generalprävention berufen.

33

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei der Beurteilung der wesentlichen Umstände des Einzelfalles auch die Heranziehung generalpräventiver Gesichtspunkte, wie einer negativen Vorbildwirkung, zulässig, wenngleich eine Abschleppmaßnahme nicht allein auf diesen Gesichtspunkt gestützt werden kann (BVerwG, Urteil vom 14.05.1992 - 3 C 3/90 -; BVerwG, Beschluss vom 01.12.2000 - 3 B 51/00).

34

Davon, dass dem Abstellen von Fahrzeugen in Bereichen, in denen das Parken nicht zulässig ist, eine negative Vorbildwirkung für andere Fahrzeuge zukommt, ist das Gericht überzeugt. Dies hat auch die mündliche Verhandlung ergeben, im Rahmen dessen es - wenngleich an anderer Stelle - dazu kam, dass sich in kürzester Zeit drei Fahrzeuge an einer Stelle, an der das Parken nicht erlaubt ist, hintereinander reihten. Darüber hinaus kommt es während der Kieler Woche zu einem gegenüber dem Normalmaß stark erhöhten Verkehrsaufkommen, und zwar insbesondere in der Nähe der Kiellinie sowie der Krusenkoppel und daher auch in dem hier streitigen Bereich. Es ist nachvollziehbar, dass die Beklagte dem unkontrollierten Parken früh entgegenwirken möchte, um ein Ausufern desselben zu verhindern.

35

Ferner gilt es zu berücksichtigen, dass von dem geparkten Fahrzeug eine konkrete Gefährdung der Grünanlage ausging, welche zu beseitigen war. Das Gericht geht davon aus, dass innerstädtische Grünanlagen mit ihrem Bestand an Bäumen und Pflanzenbewuchs vor unkontrolliert parkenden Autos geschützt werden müssen. Die heute noch in großstädtischen Räumen verbliebenen Grünanlagen sind in besonderem Maße schützenswert. Für den vorliegenden Rechtsstreit kommt es nicht darauf an, ob der abgestellte Pkw tatsächlich die nahe gelegenen Bäume mit ihren Wurzeln beeinträchtigt hat. Das Gericht ist überzeugt davon, dass im Umfeld von Bäumen und Sträuchern geparkte Fahrzeuge immer zu einer Gefährdung des Bewuchses führen können. Dies entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, zumal niemals auszuschließen ist, dass sich einzelne Tropfen von Öl oder Schmierstoffen von der Unterseite eines Autos lösen und Bodenbeeinträchtigungen herbeiführen. Darüber hinaus kann allein schon das Gewicht von Fahrzeugen in Grünanlagen im Boden zu Verdichtungen führen, wodurch die Wasser- und Nährstoffaufnahme von Bäumen erschwert und der Luftaustausch im Wurzelbereich beeinträchtigt wird (vgl. hierzu auch VG Frankfurt, Urteil vom 08.04.1992 - V/1 E 1309/91 -).

36

Bei einem Parken in einer öffentlichen Grünanlage kommt es nicht auf eine konkrete Behinderung von anderen Verkehrsteilnehmern an. Eine konkrete Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer ist auch nicht Voraussetzung für die Verhältnismäßigkeit einer Abschleppmaßnahme (vgl. BVerwG, Beschluss vom 01.12.2000 - 3 B 51/00 -, Rdnr. 4 - zit. nach juris). Diese beurteilt sich vielmehr aufgrund einer Abwägung der wesentlichen Umstände des Einzelfalles. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.05.1992 - 3 C 3/90 -. Hier hat das Bundesverwaltungsgericht lediglich zum Ausdruck gebracht, dass es keinem Zweifel unterliege, dass ein Abschleppen verbotswidrig abgestellter Fahrzeuge im Falle der Behinderung von anderen Verkehrsteilnehmern geboten erscheine. Von der Erforderlichkeit dieser Behinderung für jede Abschleppmaßnahme ist dort nicht die Rede (vgl. BVerwG, Beschluss vom 01.12.2000 - 3 B 51/00 -, Rdnr. 4 - zit. nach juris).

37

Die konkrete Gefährdung der Grünanlage sowie die negative Vorbildwirkung eines Parkens in dieser Grünanlage überwiegen die gegenläufigen privaten Interessen der Klägerin, nicht abgeschleppt zu werden.

38

Die Höhe der festgesetzten Kosten des Ausgangsbescheides sind ebenfalls nicht zu beanstanden.

39

Die Kosten des Abschleppunternehmers in Höhe von 53,25 € sind nach § 20 Abs. 1 Nr. 8 VVKVO erstattungsfähig. Darüber hinaus beträgt die Gebühr für die Ersatzvornahme durch die Vollzugsbehörde oder die von ihr ersuchte Behörde nach § 3 Abs. 1 VVKVO a. F. 43,-- € für den Einsatz jeder eingesetzten Mitarbeiter und jedes eingesetzten Mitarbeiters je angefangener Stunde. Die Portokosten in Höhe von 55 Cent sind nach § 10 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 VwKostG erstattungsfähig. Die Beklagte konnte daher einen Betrag in Höhe von 96,80 € festsetzen.

40

Allerdings sind die festgesetzten Kosten für den Widerspruchsbescheid teilweise, nämlich in Höhe von 6,-- €, rechtswidrig. Nach § 15 Abs. 3 VwKostG sind für den Erlass des Widerspruchsbescheides Verwaltungsgebühren und Auslagen zu erheben, soweit der Widerspruch zurückgewiesen wird, wenn gegen eine kostenpflichtige Amtshandlung Widerspruch erhoben wird. In diesem Fall ist eine Verwaltungsgebühr von mindestens 5,-- € bis zur Höhe der Verwaltungsgebühr, die für die Amtshandlung zu zahlen ist, zu erheben. Für die eigentliche Amtshandlung (Ersatzvornahme) ist jedoch nur eine Gebühr in Höhe von 43,-- € zu zahlen, weshalb auch nur bis zu dieser Höhe eine Gebühr für den Widerspruchsbescheid erhoben werden darf. Im Übrigen, d. h. in Höhe von 43,-- € sowie den Postgebühren im Zustellungsverfahren sind die Kosten im Widerspruchsbescheid jedoch rechtmäßig festgesetzt worden.

41

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO. Hiernach können einem Beteiligten die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere Teil nur zu einem geringen Teil unterlegen ist. Dies ist vorliegend der Fall, da die Beklagte nur in Höhe von 6,-- € in Bezug auf die Widerspruchsgebühr unterlegen ist.

42

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO iVm §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.